Als die junge Frau in sein Büro stürmt und ihn engagieren will, ahnt der Privatermittler Larry Hardy nichts Gutes. Aber die Geschäfte gehen schleppend, und der Vorschuss auf dem Tisch ist Bargeld. Außerdem kann der Auftrag, den Vater der jungen Frau zu finden, nicht so schwierig sein – es ist der berühmte Autor Michael McCullen, ein wie Larry in Berlin lebender Amerikaner. Zunächst findet Larry jedoch nur die Ehefrau des Vermissten, und zwar tot in der Badewanne. Dummerweise gerät er in Verdacht, selbst der Täter zu sein.

Zum Ärger mit der Polizei kommen der Ärger mit seiner Exfrau und der Ärger mit russischen Verbrechern. Nach und nach gibt es immer mehr Verdächtige, und irgendwie überrascht es Larry kaum, als sich herausstellt, dass seine verschiedenen Probleme eine gemeinsame Ursache haben.

Ein rätselstarker Krimi, dessen Freude an immer neuen Wendungen zum Vergnügen der Leser wird.

 

Nagel & Kimche E-Book

Peter Haffner

 

SO SCHÖN WIE TOT

 

Roman

 

 

Nagel & Kimche

 

 

1

 

Larry B. Hardy hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Füße auf dem Schreibtisch, als es klingelte. Er unterdrückte den Impuls zu fragen, wer an der Tür sei: Wer jetzt etwas von ihm wollte, wollte nichts Gutes. Wahrscheinlich wieder ein Journalist, der wie eine Katze den letzten Funken Leben aus der Maus zu kitzeln versucht. Larrys Missgeschick war in allen Blättern breitgetreten worden. Er war so gut wie tot. Bloß weil er den falschen Mann erschossen hatte.

Aber Larry brauchte Geld. Er war Oksana einen Monatslohn schuldig; alles war draufgegangen für den Anwalt, der ihn vor dem Knast gerettet hatte.

Es klingelte zum dritten Mal. Larry drückte die Taste und sagte: «Ja bitte?»

Der Name ging im Heulen einer Polizeisirene unter. Eine Mädchenstimme. «Sie müssen mir helfen.»

Larry zögerte. Es klang mehr nach einem Befehl als nach einer Bitte. Er seufzte. «Kommen Sie rauf. Dritte Etage, zweite Tür rechts.»

Er drückte den Türöffner. Wenigstens war es nicht Silke, der noch etwas in den Sinn gekommen war, was sie ihm vorwerfen konnte. Larry blickte auf die Bürotür, als es klopfte. Durch die Milchglasscheibe war niemand zu sehen. Er wollte «Herein!» rufen, da ging die Tür schon auf.

«Einen schönen guten Tag, Mister Hardy.»

Sie konnte keine sechzehn sein. Umstandslos setzte sie sich auf den Stuhl vor Larrys Schreibtisch und hielt den Kopf schräg wie ein Kanarienvogel. «Darf ich Sie Hardy-Boy nennen?»

Sie trug ein mausgraues T-Shirt mit einem großen gelben Smiley drauf, ein schwarzes Lederjäckchen, einen blauen Minirock und Sneakers, die so weiß waren, als hätten sie nie den Boden berührt. Larry starrte auf ihre Beine. Auf die Innenseite ihres linken Oberschenkels war der Stiel einer Rose tätowiert. Mit Stacheln und kleiner werdenden Blättern, die unter dem Mini verschwanden.

«Sie vermuten richtig, wo die Blüte ist. Vergessen Sie’s einfach, Larry», sagte sie in dem Frageton, den auch sein Sohn draufhatte.

Sie schob die riesige Sonnenbrille hoch. Ihr Haar war schwarz mit einem Schimmer von Blau. Sie hatte dünne Lippen und hochgeschwungene Augenbrauen in einem feingezeichneten Gesicht. Ein scharfer Blick, und es würde in tausend Stücke zerspringen.

«Mit wem habe ich die Ehre?», fragte Larry.

«Madeleine McCullen. Maddie für meine Freunde. Sie sind doch mein Freund?»

«Miss McCullen, ich bin Privatdetektiv. Ich lasse mich nicht mit Minderjährigen ein und betrachte meine Klienten nicht als Freunde.»

«Das weiß ich. Sonst würden Sie sie ja nicht erschießen.» Sie lächelte ihn an, als habe sie ihn gerade seines Versagens wegen ausgewählt.

«Sie sind nicht etwa die Tochter von Michael McCullen?»

Sie hievte ihre Schultertasche aus orangefarbenem Leder auf die Knie, wühlte darin herum und ließ einen Pass über den Tisch schlittern. «Von wegen minderjährig.»

Es war ein amerikanischer Pass, voller Stempel all der Urlaubsorte, wo die Sorte Leute, die nie Economy flogen, für einen doppelten Whiskey den Preis eines Economyflugs hinblättern. Larry schlug die Seite mit dem Foto auf. Sie war achtzehn, etwas mehr als fünf Fuß, ein Meter dreiundfünfzig. Im Umrechnen der Maße war Larry schnell. Schließlich war er der Mann, zu dem die Amerikaner in Berlin gingen, wenn sie in Schwierigkeiten waren.

«Und was führt Sie zu mir, Miss Maddie?»

«Mein Instinkt. Sie brauchen Knete, und ich habe welche. Wir sind das ideale Paar.»

«Sie wollen Gutes tun, einen Gestrauchelten aufrichten. Sie hätten Missionarin werden sollen.»

Sie schlug das untätowierte Bein über das tätowierte. «Wir wollen jetzt nicht über Stellungen reden, Larry. Ich habe einiges über Sie gelesen, und ich weiß, dass Sie gut sind. Und dass Sie nun, wo Sie am Ende sind, der Beste sein werden. Wer wieder hochkommt, hat Stehkraft. Und sagen Sie jetzt nicht, ich sei das Kind meines Vaters.»

Larry fragte sich, weshalb sie Sprüche klopfte, als hätte sie schon ein halbes Leben hinter sich. Wie eine niedliche sprechende Puppe, die dreckige Witze reißt. Vielleicht wurde in einem Schriftstellerhaus so geredet?

Michael McCullen, «The Big Mac». Kind irischer Einwanderer in Boston, der jüngste von sieben Söhnen, der die ausgelatschten Schuhe seiner Brüder tragen musste und sich zum erfolgreichen Krimiautor hocharbeitete, dessen Bücher in jedem Flughafenkiosk auslagen. Als er kurz nach dem Mauerfall mit seiner Familie nach Berlin zog, hatten die Zeitungen viel über ihn berichtet – die Tellerwäscher-Millionär-Nummer zog immer noch.

«Mein Vater ist verschwunden. Ich will, dass Sie ihn finden.» Sie kramte einen Briefumschlag aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch.

Larry sah sie an. «Miss Maddie, ich bin vielleicht auf die Schnauze gefallen. Aber ich wedle nicht mit dem Schwanz, wenn man mir einen Knochen unter die Nase hält.»

«Werden Sie nicht anzüglich, Larry. Ich könnte mich noch vergessen.» Zur Illustration wechselte sie, aufreizend langsam, die Beine erneut. Es summte in ihrer Tasche. Sie holte das Smartphone heraus und ließ die Daumen über das Display tanzen, während sie sprach. «Das ist eine Anzahlung. Was es auch kostet, Sie müssen meinen Vater finden. Er ist schon seit einer Woche weg.»

«Finden und Suchen sind zweierlei. Ich kann nur das eine. Das andere ergibt sich oder ergibt sich nicht.»

«Suchen Sie ihn so, dass Sie ihn finden.»

«Und Ihre Mutter? Weiß sie, dass Sie mich anheuern wollen?»

«Meine Mutter wollte zur Polizei, aber ich habe es ihr ausgeredet. Wenn die Bullen ihn suchen, weiß es bald die ganze Welt. Mein Vater würde das nicht wollen. Es ist nicht das erste Mal, dass er verschwindet. Er ist Schriftsteller. Er braucht das, sagt er. Ein Milieu studieren, das er nicht kennt. Unbeobachtet sein beim Beobachten.»

«Weshalb dann die Sorge?»

«Weil ich das hier gefunden habe.» Sie fischte einen Stift aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. Es war ein schwarzer Füllfederhalter, ein einfaches Modell der Marke Kaweco. Larry hatte selber so einen. «Sein Glücksfüller», sagte sie. «Mit dem hat er seinen ersten Roman geschrieben.»

«Daughter of Darkness», sagte Larry.

Ihr Lachen war ein bisschen zu laut. «Genau», sagte sie und zog eine Schnute. «Die Tochter der Finsternis. Die Geschichte vom schlimmen Mädchen.»

Wieder hob sie die Stimme am Ende des Satzes. Sie schaute Larry an mit schwimmenden Augen wie eine Lehrerin, die vergessen hat, die Brille aufzusetzen. «Nie, überhaupt nie ist er aus dem Haus und auf Recherche ohne diesen Füller. Er ist für ihn das, was der Glückszehner für Dagobert Duck ist. Das erste selbstverdiente Geld. Sein Talisman.»

«Sie meinen deshalb, Ihrem Vater sei etwas passiert?»

«Ist das nicht naheliegend?»

«Es drängt sich nicht auf. Keine Meldung von irgendwelchen Entführern? Erpressung, Lösegeld?»

«Nein, das nicht.»

«Ihre Mutter glaubt auch an ein gewaltsames Verschwinden?»

Maddie senkte den Blick. Als sie den Kopf hob, waren ihre Augen feucht. «Meine Mutter …» Sie musterte erneut die Tischplatte. Ihre Stimme war leise, mit einer Spur von Trotz. «Sie …»

Larry sah sie fragend an, doch sie schüttelte den Kopf. Er griff nach dem Briefumschlag, schlitzte ihn auf und blätterte das Bündel durch. Zehntausend Euro, in Fünfhundertern. Oksana würde ihr Geld bekommen.

Larry gab sich einen Ruck. «Erzählen Sie alles von Ihrem Vater, was mir nützlich sein könnte. Die Leute, mit denen er verkehrt. Seine Gewohnheiten, seine Freunde, seine Feinde. Seine Bewunderer und seine Neider. Einfach alles.»

«Er hatte keine Feinde», sagte sie. «Bis auf seine Frau.»

 

 

2

 

Sie war charmant wie eine frischgeschlüpfte Kobra. Die Freunde ihres Vaters beschrieb sie als einen Haufen von Höflingen, die ihm den Reichtum neideten. Oder ihn, wenn sie selber reich waren, seiner Herkunft wegen verachteten. Bis auf die «Boston Buddys», die Jungs, mit denen er aufgewachsen war und mit denen er im Pub abhing, wenn er in der Stadt war.

«Sie bestehen darauf, dass er nicht jede Runde zahlt», sagte Maddie. «Sie sind die Einzigen, die sich nicht kaufen lassen.»

«Was ist mit Frauen?», fragte Larry. «Mit Ihrer Mutter?»

«Fest steht, dass er sie einmal ficken durfte. Den Beweis sehen Sie vor sich.»

Sie wandte den Kopf. In der Verbindungstür zum Vorzimmer stand Oksana, den Mund offen.

Larry breitete die Arme aus in Richtung der beiden Frauen. «Darf ich vorstellen: meine Assistentin, Oksana Petrenko. Miss Madeleine McCullen, unsere Klientin.»

Maddie ließ ihren Blick über Oksana schweifen. Was sie sah, schien sie zu amüsieren. «Oksana Petrenko.» Sie wiederholte den Namen nachdenklich. «Kommen Sie aus Tschernobyl? Wo die Kälber zwei Köpfe haben und die Säuglinge Wodka nuckeln?»

«Ich bin aus der Ukraine», sagte Oksana wie zu sich selber. Sie wandte sich um, hängte ihren grauen Mantel an den Garderobenständer und drapierte ihn mit dem blauen Schal aus dicker Wolle, als würde sie eine Schaufensterpuppe ausstaffieren. Maddie musterte die halbhohen praktischen Schuhe, den grauen Rock, der bis über die Knie ging, die weiße Bluse mit den Rüschen. Beim hochgesteckten blonden Zopf hielt sie inne.

Oksana nahm die Brille ab, hauchte auf die Gläser und polierte sie mit einem kleinen Tüchlein, das sie dem Etui in ihrer Handtasche entnommen hatte. Sie trat zu Larry und legte eine dicke Akte vor ihn hin, so sanft, als sei es ein Baby. «Das ist alles, was ich über die Korolenko-Brüder herausgefunden habe, Herr Hardy.»

«Larry», sagte Larry und seufzte. Oksana hatte sich immer noch nicht an seinen Vornamen gewöhnt. Nicht zu reden von seiner amerikanischen Hemdsärmeligkeit, die sie bisweilen verschreckte.

«Ich will ja nicht unhöflich sein», sagte Maddie. «Aber ich dachte, die Ukrainerinnen hier in Berlin putzen Wohnungen und machen die Beine breit, um sich einen Mann zu schnappen und seine Kröten zu verputzen.»

Oksana fixierte sie kühl. «Ich habe in der Tat viel mit nackten Männern zu tun gehabt in meinem Leben, Miss McCullen, sehr viel», sagte sie. «Die meisten habe ich mit dem Messer zerlegt, sobald sie vor mir lagen.»

Larry konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Vielleicht hatte er sie deswegen angestellt. Ein stilles Wasser, und darin ein Hai mit dolchscharfen Zähnen. Er machte eine Handbewegung hin zu Maddie. «Oksana ist Pathologin.»

«Igitt», sagte Maddie und verzog das Gesicht. «Im Ernst?»

«Nein», sagte Oksana. «Mir hat es Spaß gemacht.» Sie wandte sich an Larry. «Ich bin drüben, wenn Sie mich brauchen, Herr Hardy.»

Larry zuckte resigniert die Schultern. «Wie immer Sie mich nennen wollen, Miss Petrenko. Wenn es nur nicht Hardy-Boy ist.»

Oksana schaute ihn fragend an.

«Die Krimiknüller aus dem letzten Jahrhundert für amerikanische Jungs. Die Abenteuer der ‹Hardy Boys›, der beiden Söhne eines Privatdetektivs, die ihm die Fälle lösen helfen. Kein Ami kann sich den Witz verkneifen. ‹Larry B. Hardy? Steht das B für Boy?›»

«Aha», sagte Oksana und zog leise die Tür zum Vorzimmer hinter sich zu.

«Pathologin», sagte Maddie. «Larry, haben Sie nicht genug Probleme wegen dem Kerl, den Sie umgelegt haben? Müssen Sie jetzt noch eine messerschwingende Assistentin beschäftigen und damit Ihre einzige Klientin verschrecken?» Sie machte eine Pause. «Ich bin doch Ihre letzte Chance, nicht wahr?»

«Keine Sorge, Oksana praktiziert nicht mehr», sagte Larry. «Das war in Kiew, bevor sie nach Deutschland kam. Und sie ist die beste Assistentin, die ich je hatte.» Er verschwieg, dass sie erst seit drei Monaten bei ihm war. Der Zeit nach dem Fiasko, in der er keinen neuen Auftrag mehr bekommen hatte und in der Korolenko-Geschichte keinen Schritt vorangekommen war.

«Haben Sie sie schon gebumst? Muss ein schönes Stück Arbeit sein, sie aus all den Kleidern zu kriegen. Ich hoffe, sie hat Ihnen wenigstens den Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel überlassen.»

Larry kniff die Augen zusammen und sah sie scharf an. «Miss Maddie, damit wir uns verstehen: Ich verkaufe den Respekt, den ich von Ihnen Oksana und mir gegenüber erwarte, nicht für zehntausend Euro.»

«Wie wär’s mit einer Million?»

«Funktioniert vielleicht in Ihrer Welt, nicht in meiner.»

«Da, wo ich herkomme, verkauft sich niemand für eine lausige Million.»

«Vielen Dank, dass Sie mich so preisgünstig taxieren. Wo waren wir stehengeblieben?» Larry ließ die flache Hand auf den Tisch fallen. «Ach ja … Hat Ihr Vater … nun ja … etwas übrig für Frauen?»

«Etwas?» Sie sah ihn an wie ein Kind, das nach dem Storch fragt. «Eine ganze Menge hat er übrig für sie, fein säuberlich geordnet in seiner Brieftasche. Auf nichts fliegen Frauen mehr als auf den Geruch von Geldscheinen. Wussten Sie das nicht?»

«Eine bestimmte Frau, von der Sie Kenntnis haben? Mit der er jetzt zusammen ist? Oder die er kürzlich verlassen hat?»

«Sie können mich geradeso gut nach einem bestimmten Ei in der Legehennenbatterie fragen. Ich habe es vorgezogen, sie mir nicht zu merken. Das erspart mir die Mühe, sie vergessen zu müssen.»

Larry klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch und sah zur Decke. Wenn Michael McCullens Frau ihm den Tod wünschte, würde sie auf eine Erpressung von Entführern nicht reagieren. Sie würde das tun, was sie laut Maddie tun wollte, nämlich die Polizei rufen. Und eine Nachricht von Entführern verschweigen. An die Entführer heranzukommen war in so einem Fall, wo die Spuren von einer Angehörigen des Opfers selber getilgt wurden, noch schwieriger. Wenn McCullen jedoch nicht gekidnappt worden war, um Geld zu erpressen, sondern um sich an ihm zu rächen, war es weniger schwer. Ein Täter oder eine Täterin, die kein finanzielles Motiv hatte, musste ihn persönlich kennen, und zwar ziemlich gut.

«Ich muss mit Ihrer Mutter reden», sagte Larry. «Wird sie das erlauben?»

«Hängt davon ab, ob sie high ist oder nicht. Ist sie es, wird sie Sie an ihre Brust drücken, dass Sie ersticken. Andernfalls … vergessen Sie’s.»

«Wo wohnen Sie?»

«In Spandau.»

«In Spandau? Der Bronx?»

«Ein Bezirk mit Potential, wie mein Freund sagt. Der einzige, in dem man nicht fürchten muss, von naturverbundenen, kinderwagenschiebenden Kampfvätern über den Haufen gefahren zu werden. Rudolf Hess hat da gewohnt.»

«Dem gefiel es so, dass er gar nicht mehr wegwollte, habe ich gehört», sagte Larry. «Und Ihre Mutter, wo wohnt sie?»

«Am Wannsee natürlich. Wo sonst.»

«Sie müssen für eine Weile in Ihr Elternhaus zurück. Geht das?»

«Hängt wiederum davon ab, ob sie high ist oder nicht.»

«Nun, dann klären Sie das mal. Ich werde mich bereithalten.»

«Der gute Pfadfinder. Allzeit bereit.» Sie schaute sich um und nickte anerkennend der Pflanze zu, die in der Ecke in einem hohen Topf stand und ihre stachligen Arme in die Luft reckte. «Ein Westernkaktus, wie passend. Und wo binden Sie Ihr Pferd an?» Sie stand auf, ging auf den Kaktus zu und streckte vorsichtig den Zeigefinger aus, als fürchtete sie, gebissen zu werden.

«Nicht berühren!», rief Larry lauter als beabsichtigt.

Sie fuhr zurück und kam mit schnellen kleinen Schritten auf ihn zu, als suchte sie Schutz. Sie setzte sich hin und glättete ihren Mini.

Larry klaubte eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und reichte sie ihr. «Meine Handynummer. Rufen Sie mich an, sobald der Wind günstig ist.»

Sie betrachtete die Karte. «Die Handynummer von Larry B. Hardy, wie aufregend.» Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. «Wofür steht denn das B?»

«Nicht für Boy», sagte Larry.

Es klopfte an der Tür. Als Oksana eintrat, stand Maddie auf, hielt ihre Fingerspitzen an die Lippen und blies Larry einen Kuss zu. Sie würdigte Oksana keines Blickes, als sie an ihr vorbei zur Tür hinausging.

 

 

3

 

Oksana war anzumerken, dass sie sich nichts anmerken lassen wollte. «Fräulein Müller hat angerufen», sagte sie. «Es sei dringend.»

Larry stieß einen Seufzer aus. «Man sagt nicht mehr ‹Fräulein›, Oksana. Das war vor hundert Jahren, als ein Mann noch ein Mann und eine Frau noch kein Mensch war.»

«Aber Sie sind doch nicht verheiratet?»

«Nicht mit ihr, nein.»

Oksana machte große Augen.

«Oksana, Silke ist immer noch meine Frau. Obwohl wir nicht mehr zusammen sind. Und auch nicht mehr zusammenkommen werden. Wir haben die Scheidung aufgeschoben, bis Philip seine Pickel hinter sich hat. Sonst noch was?»

Oksana streckte ihm eine Klarsichthülle hin. «Noch etwas über die Korolenko-Brüder. Sie haben ein Haus am Kurfürstendamm gekauft kurz nach dem Brand. Wie sagt man doch bei uns in der Ukraine: ‹Schwarze Seelen tragen weiße Hemden.›»

«Sieh mal einer an.» Larry wischte eine graue Fluse von seinem weißen Hemdsärmel und nickte. «Vielen Dank, Oksana.»

«Noch etwas, Herr Hardy?»

«Larry, Oksana, Larry … Nein, Sie können gehen. Einen schönen Abend noch. Hauen Sie nicht über die Stränge.»

«Was sind Stränge, Herr … Larry?»

«Nur so ein Ausdruck. Sie dürfen sich betrinken, aber nicht betrunken einem Mann in die Arme werfen.»

Oksana schaute ihn entgeistert an. «Herr Hardy, ich …»

«Ich weiß. Sie würden sich nie mit einem Mann einlassen, der nicht so steif ist, dass er sich nicht mehr rühren kann. Nicht wahr?»

«Ich betrinke mich nicht. Ich trinke überhaupt keinen Alkohol.»

«Weil Sie ihn zum Desinfizieren der Leiche brauchen, habe ich recht?»

«Herr Hardy, ich …»

«Ist nur ein Scherz. Bis morgen dann.» Larry blickte ihr nach, als sie verschwand. Die Tür fiel ohne einen Laut ins Schloss. Alles, was Oksana in die Hand nahm, behandelte sie mit einer Sorgfalt, als wäre es ein Teil von ihr selbst.

Sie war nicht schlecht, das musste er zugeben. Dank ihrer Verbindungen in die Ukraine hatte sie über die Korolenko-Brüder mehr herausgefunden, als er selber gekonnt hätte. Was sie ihm vorlegte, war präzise wie ein Obduktionsbericht. Fakten, keine Plaudereien. Er hatte ihr sagen müssen, dass sie Gerüchte und Vermutungen nicht unterschlagen sollte. Sie hatte sich erst schwergetan damit, dann aber am Ende ihrer Berichte jeweils einen Abschnitt unter dem Titel «Gerüchte und Vermutungen» angehängt und hinter jeder Bemerkung notiert, woher die Informationen stammen. Und dass «keinerlei Beweise für ihren Wahrheitsgehalt vorliegen» würden.

Das Problem mit den Korolenko-Brüdern war, dass fast alles, was man über sie zu wissen glaubte, auf Gerüchten basierte. Eureka Technologies, die amerikanische Firma, die Larry beauftragt hatte, den Brand ihres Forschungszentrums in Marzahn in der «Berlin Eastside» zu untersuchen, vermutete Sabotage. Unterlagen eines Projekts waren verschwunden, das intern unter der Bezeichnung «Enigmagic» lief. Keine Datenträger, sondern Papiere, hieß es, aus Vorsichtsgründen. Was drinstand, wurde Larry nicht mitgeteilt. Doch wenn die Nervosität seiner Auftraggeber ein Maßstab war, ging es um nichts weniger als den Heiligen Gral.

Eureka Technologies hatte ihm zunächst jede Menge Zeit eingeräumt, ihm dann aber plötzlich den Auftrag entzogen. Es war eine kleine Firma, und Brad Spiner, der Gründer, der am MIT in Boston Computerwissenschaft studiert hatte, war noch keine dreißig. Brad hatte es mit der Angst zu tun bekommen und war zurück nach Amerika gegangen. Larry nahm es ihm nicht übel und stocherte noch ein bisschen in der Geschichte herum, da er nichts Besseres zu tun hatte. Außerdem hasste er es, etwas ungeklärt liegenzulassen.

Oksana war nicht besonders erpicht gewesen auf den Job bei Larry. Er hatte eine neue Assistentin gesucht, nachdem Pamela ins Ausland geheiratet hatte. Das war bei den ersten Recherchen für Eureka Technologies mit dem Ergebnis, dass vermutlich die Korolenko-Brüder hinter der Sache steckten. Sein Freund Matt hatte ihm Oksana empfohlen, auf die ihn einer seiner ukrainischen Kontakte aufmerksam gemacht hatte. Oksana war ernst gewesen beim Vorstellungsgespräch, hatte ihre Worte mit Bedacht gewählt und Larrys Fragen knapp und sachlich beantwortet.

«Weshalb wollten Sie Pathologin werden?», hatte er gefragt.

«Ich wollte wissen, wie der Mensch funktioniert. Und das kann man nur, wenn man weiß, warum er nicht mehr funktioniert. Weshalb etwas im Körper versagt und was für Folgen das hat. Ein gesunder Mensch ist vom medizinischen Gesichtspunkt aus nicht interessant.»

«Deshalb sind Sie nicht Ärztin geworden?», hatte Larry gefragt.

«In einen lebenden Menschen kann man nur beschränkt hineinsehen. Es ist, wie wenn Sie durch ein verschmutztes Fenster blicken. Weniges ist klar, das meiste verschwommen.»

Larry wusste nicht so recht, was er damit anfangen sollte. Erst als er sie fragte, weshalb sie die Pathologie aufgegeben habe, hatte er aufgemerkt.

«Ich hatte geglaubt, es sei der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der mich interessiere», hatte sie gesagt. «Doch dann erkannte ich, dass das, wonach ich suchte im Menschen, nicht die Fakten waren. Sondern das, was ihn antreibt, motiviert. Und das ist mit dem besten Mikroskop nicht zu sehen.»

Vielleicht war es ihre Direktheit, die den Ausschlag gab, es mit ihr zu versuchen. «Haben Sie eine Waffe, Herr Hardy?», hatte sie gefragt.

Er hatte bejaht, und sie wollte wissen, was für eine. Er hatte die Schublade geöffnet und ihr seine Beretta Compact gezeigt.

«Haben Sie damit schon mal auf jemanden geschossen?»

Er hatte ihr Gesicht gemustert, aber sie schien von dieser Geschichte nichts zu wissen. Er hatte genickt.

«Und diese Person getötet?», hatte sie nachgefragt.

Larry hatte wieder genickt und auf ihren Kommentar gewartet. Aber sie hatte nichts gesagt.

Es war fünf Uhr nachmittags und schon dunkel. Larry steckte den Briefumschlag mit dem Geld in die Innentasche seines Jacketts, öffnete die Thermosflasche, goss sich eine Tasse heißen Gunpowder-Grüntee ein und griff nach der Schachtel American Spirit. Er legte die Füße auf den Tisch und blies den Rauch zur Decke, als die Tür aufflog.

Er brauchte kein Licht, um zu sehen, dass sie beide eine Heckler & Koch MP5 im Anschlag hatten.

 

 

4

 

Tommy führte das Mäusegitter in die Nuten der Kiste und schob es vor das Flugloch. Er hob den Deckel ab und legte ihn auf den Boden. Vorsichtig schlug er die steife, transparente Folie zurück. Die Tiere wuselten durcheinander. Bald würden sie sich zur Wintertraube formen und die Königin wärmen, die in ihrer Mitte saß.

Tommy liebte Bienen. Sie schenkten ihm Honig, und sie stachen jeden, der nicht mit ihnen umzugehen wusste. Sie waren wie die Rosen, die dieses Jahr so schön gediehen. Duftende Blüten, mit Stacheln an den Stielen. Sie hatte sich daran verletzt. Ein Blutstropfen war aus ihrer weißen Haut gesprossen, rot und glänzend wie die Blüte selbst.

Er war froh, den Schrebergarten bekommen zu haben. Ein Holzhäuschen, solide Zimmermannsarbeit, mit einer Schlafkoje unter dem Dach. Eine warme, behagliche Höhle. Jesus war Zimmermann gewesen.

Er hatte ihr gefallen, sein kleiner Garten Eden. Hohe Hecken schirmten ihn vor neugierigen Blicken ab. Einmal, an einem Sommerabend, hatten sie es draußen getrieben. Sie hatten die Spaziergänger reden gehört, die Schritte auf dem Kiesweg, das Kreischen der Kinder. Es hatte sie erregt. Sie war gekommen mit einem Schrei.

Und es war so nahe zur Wohnung. Alle hatten gelacht, als er nach Spandau gezogen war. Spandau, das war nicht mehr Berlin. War aber älter, die Havelstadt. Darauf waren die Spandauer stolz. Gab ja sonst nichts zu rühmen. Ein Ort weit weg von allem, wo die Versager lebten. Döner-Buden, Spielcasinos, Nagel- und Tattoo-Studios und ein Shisha-Shop so groß wie ein Kaufhaus. Sie hatte sich ihr Tattoo hier in Spandau stechen lassen.

Unterschätzt zu werden ist ein Vorteil, das hatte Tommy schon immer gewusst.

Rudolf Hess hatte vierzig Jahre in Spandau gelebt. Der Stellvertreter des Führers. Im Kriegsverbrechergefängnis. Der letzte Häftling, einundzwanzig Jahre allein in der Festung. Gleich nach seinem Tod wurde sie abgerissen. Die Backsteine pulverisiert und in der Nordsee verklappt. Keine Erinnerungsstücke wie die von der Mauer. Tommy musste lachen. Je mehr man etwas zu vergessen versucht, desto besser bleibt es im Gedächtnis. Warum er bloß nach Spandau gezogen sei, wurde er gefragt. Wegen Rudolf Hess, sagte er. Die Leute lachten nervös. Wenn sie überhaupt noch wussten, wer das war.

Tommy nahm die Bibel vom Regalbrett über dem Küchentisch und setzte sich draußen in die Sonne. Bald würde es kühl. November, der Trauermonat. Der Schlachtmond, wie die Norweger sagen. Wegen der Schweine, die dann abgestochen werden. Judas war ein Schwein. Er hatte Jesus verraten. Ans Kreuz geliefert. Für dreißig Silberlinge. Was für ein Wort, Silberling. Klang, als wäre es ein Fisch. «Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen!»

Sie wollte noch immer Tiere essen. So weit hatte er sie noch nicht. Kein Fleisch, kein Fisch, nur das, was über und unter der Erde wächst. Und Honig. Gemacht von Tieren aus dem Nektar von Blüten.

Tommy goss sich ein Glas Milch ein. Weiß wie ihre Haut. Sie würde besser schmecken, wenn sie kein Fleisch essen würde. Sollte nicht riechen wie eine Mülltonne zwischen den Beinen.

Er fasste sich ans Kinn. Warum der verdammte Pickel nicht wegging. Wurde nie reif, blieb hart und hässlich.

Jesus war der beste Mensch, der je auf Erden gelebt hatte. Woher er das hatte? Sicher nicht von seinen Eltern. Der Vater bescheuert, die Mutter eine Hure. Mit dem Heiligen Geist gebumst. Was der wohl für einen Schwanz hatte. Hart wie der Teufel.

Der Herr der Fliegen. Nein, der Bienen. Er, Tommy, wird der Herr der Bienen sein. Sie werden alles machen für ihn. Honig aufs Brot, den Stachel ins Fleisch seiner Feinde.

Tommy legte die Bibel auf den Gartentisch und holte aus der Küche ein leeres Marmeladeglas. Er öffnete die Kiste mit den Bienen nochmals, fischte drei Tiere mit dem Glas heraus und deckte die Öffnung rasch mit dem Notizblock zu. Er stellte das Glas auf den Gartentisch und ging zum Medikamentenschrank in der Toilette. Er schloss ihn auf, nahm das braune Fläschchen mit dem Äther heraus und zupfte einen Bausch Watte aus dem Plastikbeutel, der nebenan an einem Haken hing.

Nur die Dosis macht das Gift, hatte Paracelsus gesagt. Großer Medizinmann und Mystiker. Tommy nahm mit der Pipette etwas Äther auf und ließ ein paar Tropfen auf den Wattebausch fallen. Er zog den Notizblock ein Stückchen zurück, stopfte die Watte durch die Öffnung und schloss sie gleich wieder. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig … Die Bienen bäumten sich auf und taumelten wie trunken. Schließlich lagen sie still. Dreizehn Sekunden.

Tommy nahm das Notizbuch vom Glas und wartete. Das war der spannendste Moment. Zu sehen, wie sie sich fast unmerklich rührten. Sich aufrappelten, beduselt und entschlossen. Und dann wieder ganz die Alten waren. Emsig, fleißig, summ summ summ …

Ein paar waren draufgegangen bei den Experimenten. Tommy schoss das Wasser in die Augen. Er hatte es nicht gewollt. Sie waren für eine gute Sache gestorben. Unschuldig, wie Jesus. Aber er war es, der sie getötet hatte. Wie Judas, der verantwortlich war für sein Leiden, sein Sterben. Seine Himmelfahrt, seine Mission als Schmerzensmann, Erlöser der Menschheit. Was wäre aus Jesus ohne Judas geworden? Einer von vielen, denen niemand glaubte.

Tommy stellte die Bibel zurück aufs Regalbrett und griff nach dem Linné. Systema Naturae, 1735 erstmals erschienen. Der Kanzleibeamte des Herrgotts. Hatte Steine, Pflanzen und Tiere in ein System gebracht. Nach Klassen, Ordnungen, Gattungen und Arten gegliedert. Der Mensch, die Krone der Schöpfung, bei den «Herrentieren». Wie der Orang-Utan.

«Der Herr ist mit ihm gewesen, wo er hingegangen ist, und hat alle Feinde von ihm ausgerottet und hat ihm einen großen Namen gemacht, wie der Name der Großen auf Erden.» Zweites Buch Samuel, sieben, neun. Über König David, den Knecht Gottes. Zitiert Linné in seiner Autobiographie als Aussage über sich selber. Der dritten von fünf, die er schrieb. Der Führer im Reich der Natur.

Sein Garten Eden. Bis zum Weiher waren es nur ein paar Schritte. Als Tommy ihn gesehen hatte, wusste er, dass dies der Ort ist. Das heimliche Wasser im Walde, voll Glück. Worüber der Dichter schrieb: «Wir dürfen böse sein und Schmerz erleiden.»

Das Wundmal. Es juckte wieder, war warm und gerötet. Tommy schloss die Hand.

Die zündende Idee war ihm gekommen, als er die Musik hörte. Eine singende Säge. Die Melodie blieb im Ohr, nistete sich ein in seinem Kopf. Klänge von strahlender Schönheit, scharf wie eine Sense.

Schnitter Tod.

 

 

5

 

Der Kleinere der beiden trat die Tür mit dem Fuß hinter sich zu, ohne Larry aus den Augen zu lassen. Er tastete nach dem Lichtschalter. Sein stahlblauer Anzug glänzte wie geölte Muskeln.

«Falsche Adresse», sagte Larry. «Ich habe keine Pizza bestellt.»

«Spar dir die Töne, Schnüffler», sagte der Kleine mit slawischem Akzent. Er zog ein Messer aus der Hosentasche und ließ die Klinge aufspringen. Er wandte sich dem Großen zu. «Soll ich ihm die Nase wegputzen?»

«Gute Idee», sagte Larry. «Ich kann Typen wie euch nicht riechen.»

«Wir kommen in Frieden», sagte der Große und grinste. «Wollen uns nur ein bisschen umsehen.» Er war schlank und trug seine Maschinenpistole an der linken Schulter wie ein schickes Accessoire.

«Das kennen wir», sagte Larry. «Frisch vom Mars, und dann haut ihr alles in Stücke und schleimt herum, dass man die Schuhe nicht mehr sauber kriegt.»

Der Große ließ seinen Blick durch Larrys Büro schweifen und nickte anerkennend. «Sieht aufgeräumt aus bei dir. Nicht so ein Saustall wie sonst bei Amerikanern.»

«Kreatives Chaos, meinst du. Was habt ihr eigentlich erfunden außer dem Erdöl?»

«Die Werkspionage», sagte der Große und machte eine Kopfbewegung hin zum Kleinen. «Sieh dich mal um.»

Der Kleine war aufgeräumt wie ein Terrier nach einem Napf Espresso. Er ließ seine Sporttasche zu Boden fallen und verstaute das Messer, um die Hände frei zu haben. Die Maschinenpistole baumelte an seiner rechten Seite. Larry überlegte, wie er an seine Beretta kommen und den Kleinen als Schutzschild benützen könnte.

«Die Arme hinter dem Kopf verschränken», sagte der Große und behielt die Waffe im Anschlag. «Wenn du dich rührst, rutscht mir der Finger aus. Täte mir echt leid, Larry. Ich mag dich nämlich.»

«Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Wie wär’s, wenn ihr euch erst mal vorstelltet?»

«Wie recht du hast. Eile ist keine Entschuldigung für schlechte Manieren, nicht wahr?» Der Große wies auf den Kleinen, der sich zu überlegen schien, ob er Larrys Schreibtisch mit ein paar Salven in Stücke schießen oder sich die Mühe machen sollte, die Schubladen von Hand zu öffnen. «Das ist Leonid», sagte der Große. «Und ich bin Lew.»

«Lew und Leonid, sieh mal an», sagte Larry. «Klingt wie die Kurzfassung von Das dreckige Dutzend. Ein Gläschen Wodka gefällig?»

«Wir sind im Dienst.»

«Im Dienst?» Larry machte ein erstauntes Gesicht. «Du bist nicht dein eigener Herr und Meister, Genosse Lew? Wer ist es dann? Katharina die Große?»

«Frag nicht, wenn du weiterhin gut schlafen willst. Mit wem auch immer.» Lew zwinkerte verschwörerisch.

Larry sagte nichts. Klein-Leonid machte sich an den Schubladen zu schaffen. Larry verfluchte seinen Ordnungssinn. Keine Minute, und er würde alles haben. Die Beretta. Die Dokumente zu den Korolenko-Brüdern. Fast alles. Gott sei Dank hatte er den Umschlag mit dem Geld eingesteckt.

«Hübsches Ding», sagte Lew, als er Larrys Beretta in der Hand hielt. «Du hast Stil, Larry. Anzug von Brooks Brothers, Hut von Borsalino, eine Beretta für die blauen Bohnen. Scheint eine Vorliebe, B wie Ballermann.» Er blätterte die Dokumente durch. «Nun fehlt dir nur noch ein Plan B», sagte er. «Denk gut darüber nach. In unserer Branche ist es nicht so wie mit den Frauen: Rauskommen ist schwerer als Reinkommen.»

Lew schlug sich mit der Hand aufs Herz. Klein-Leonid verstand den Wink. «Taschen leeren, und keine Tricks», sagte er in einem Ton, als sei er selber draufgekommen.

Larry legte alles auf den Tisch. Brieftasche, Schlüssel, ein zerknülltes Taschentuch, Zigaretten, ein Streichholzbriefchen, ein Kugelschreiber, ein kleiner Notizblock, ein Bleistift mit Schutzkappe, Visitenkärtchen, zwei Kondome und ein paar Münzen. Als er in die linke Innentasche seines Jacketts langte, befühlte er flüchtig den Briefumschlag mit dem Geld und zog die Hand leer heraus.

«Aufstehen», sagte Klein-Leonid. «Futter heraus.»

«Bist du hungrig?», fragte Larry. «Tut mir leid, der Kaviar ist gerade aus.»

Leonid knurrte. «Taschenfutter», sagte er. «Heraus damit.» Er hob die Waffe, Finger am Abzug.

Larry seufzte und zog ein Taschenfutter nach dem anderen heraus; kleine Stoffsäckchen, die läppisch abstanden. Es war würdelos. Er ließ den Umschlag mit den zehntausend Euro zu Boden fallen, ohne hinzusehen.

«Aufheben», sagte Leonid.

Larry bückte sich und hob den Umschlag auf.

Leonid schnappte danach. Er pfiff durch die Zähne, als er ihn öffnete. Er reichte ihn Lew, der das Notenbündel herauszog und in sein eigenes Jackett steckte.

«Kleingeld für die Obdachlosen», sagte er. «Wohl nichts dagegen, wenn ich das für den Straßenfeger ausgebe?»

Larry hob die Schultern. «Warum nicht. Die New York Times hast du ja im Abo.»

«Ich mag dich wirklich, Larry.»

«Werde bloß nicht schwul. Das mag man nicht, wo du herkommst, Lew. Die machen dich noch um die drei Zentimeter kürzer, mit denen du pinkelst.»

Lew lachte. «‹Kürze ist die Schwester des Talents›, wie Tschechow sagt. Nächstes Mal treffen wir uns zum Wodka. Und spielen eine Runde.»

«Russisch Roulette. Sechs Kugeln in der Trommel, und du fängst an», sagte Larry.

Klein-Leonid leerte das Magazin der Beretta und steckte die Patronen ein. Er warf die Pistole Larry zu. Dann nahm er Lews Maschinenpistole entgegen und packte sie zusammen mit seiner in die Sporttasche.

«War nett, dich kennenzulernen, Larry», sagte Lew. «Und übrigens, was du mit diesem Ami gemacht hast, diesem Saunders? Saubere Arbeit. Right between the eyes, wie im Wilden Westen. Ein Schuss, kein Schrei. Alle Achtung.»

Er warf einen Blick auf den mannshohen Westernkaktus, den Larry in einem Baumarkt gekauft hatte, formte seine Hand zu einer Pistole, feuerte auf die Pflanze, hob den Finger an den Mund und pustete darauf. Als er bei der Tür war, blieb er stehen, wandte sich um und fischte das Notenbündel aus der Jacketttasche. Er zog einen Fünfhunderter heraus und legte ihn auf die Ablage bei der Garderobe.

«Kauf was Schönes für deine Freundin, ein Spitzendessous vielleicht? Sie mag doch so was», sagte er. «Wie heißt sie noch mal? Französisch, nicht? Françoise? Und dann was Deutsches? Müller oder was?»

 

 

6

 

Larry starrte noch auf die Tür, als die beiden längst weg waren. Die Uhr auf dem Schreibtisch zeigte halb sechs. Ein Erbstück seines Vaters aus dem Bomber, den er im Krieg geflogen hatte, eine Boing B-17 «Flying Fortress». Die Borduhr hatte ein Achttagewerk, einen Sekundenzeiger, den man stoppen konnte, und grellgrüne Leuchtziffern. Larry griff nach dem Handy.

«Chérie? Finalement!» Sie war verärgert. «Larry, wir wollten doch in die Paris Bar? Hast du reserviert?»

Larry hielt den Atem an. «Francine, Honey, ich bin …»

«Du hast es vergessen.» Es war eine Feststellung, keine Frage. «Und du hast auch vergessen, was heute für ein Tag ist.»

«Le jour de gloire», wie sie ihn genannt hatte. Der Tag, an dem sie beide zum ersten Mal gemeinsam unter einer Bettdecke steckten.

«Sweetie, das habe ich nicht. Es ist nur … ich will gleich versuchen, ob ich noch einen Tisch kriege, ja?»

«Mach das. Und sag, du seist Marylin Monroe. Dann klappt’s bestimmt.»

Sie hatte recht. Es war aussichtslos, und heute war außerdem Freitag. «Chérie …»

«Lass das ‹Cherry›, ich bin keine Kirsche. Und wenn, dann beißt du dir einen Zahn aus. Warum habe ich mich bloß mit einem Ami eingelassen.»

«L’Ami, l’amour, Cherry Pie …»

Sie seufzte. Es war einer dieser französischen Seufzer, die sie so gut draufhatte. Leicht wie ein Seidenschleier in einem Windhauch.

«Ich möchte dich küssen, Honey Bunny», sagte Larry. «Auch auf den Mund.»

Sie stöhnte leise. Larry fand, es höre sich ganz gut an.

«Wir gehen zum Hahn im Korb. Bestellen einen Coq au vin. Und trinken eine Flasche Taittinger», sagte er. «Zum Apéro.»

«Very good, Mister Bond», sagte sie mit einem Akzent wie eine Pariserin in der ersten Englischstunde.

Larry atmete erleichtert aus. «Um acht?»

«Um acht, Mister Bond. Oder darf ich Sie James nennen?»

«Alles, nur nicht Hardy-Boy», sagte Larry.

«À toute à l’heure, Hardy-Boy.»

Vor Viertel nach brauchte er nicht dort zu sein. Wenn sie um neun hereinschwebte, hatte er noch Glück. Genug Zeit, sich zu überlegen, was er Oksana sagen würde. Dass sie ihren Lohn nicht bekam, war weniger das Problem als die Erklärung dafür. Wenn sie erfuhr, dass die Russen hinter ihm her waren und Maddies Anzahlung kassiert hatten, würde sie einen Flug zum Nordpol buchen. In ihrer Rangliste der Bösewichter nahm der Teufel hinter den Russen den zweiten Platz ein.

Er schaute aufs Handy. Vielleicht sollte er jetzt Silke anrufen. Sie hatte ein halbes Dutzend Mal versucht, ihn zu erreichen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Was nichts Gutes bedeutete. Sie wollte nicht, dass er sich vorbereiten konnte. Die Ausrede bereit hatte, die er dringend brauchen würde. Wenn er bloß wüsste, wofür.

Er beschloss, sie morgen früh anzurufen. Vielleicht wusste sie etwas über seine Besucher. Die Typen der Korolenko-Geschichte. Er hatte bislang nicht mit ihr darüber gesprochen. Einfach so würde sie ihm bestimmt nichts sagen über die Ermittlungen im Brandfall Eureka Technologies, von denen sie vielleicht das eine oder andere mitbekommen hatte. Nun, nach dem Besuch der beiden Pitbulls, war es anders. Gleichgültig war er ihr nicht. Außerdem brauchte sie ihn, nur schon wegen Philip, ihrem Sohn. Der auch sein Sohn war. Zumindest glaubte Larry das.

Er holte die Flasche Kräuterschnaps aus dem Kühlschrank, goss drei Fingerbreit ein und steckte sich noch eine Zigarette an. Er hatte mit dem Rauchen aufgehört und dann, nach dem Fiasko, wieder angefangen. Doch er rauchte nur, wenn er entspannt war. Das heißt, nach dem Sex oder nach einer Prügelei. Was auf dasselbe herauskam. Vorbei war vorbei, galt für jede Art von Erregung. Francine hatte nichts dagegen. Es war so à la française. Nur die Zigarette danach, natürlich. Nicht die Prügelei.

Die Tür ging auf, und er schreckte hoch. Sie war in Uniform. Larry fragte sich nicht, wie sie unten hereingekommen war. Silke war Polizistin und liebte überraschende Auftritte. Neben ihr stand Philip, in einem schwarzen Hoodie, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

«Schön, euch zu sehen», sagte Larry. «Ich wollte gerade …»

«Sag lieber nichts», sagte Silke. «Es könnte gegen dich verwendet werden.»

«Gut siehst du aus», sagte Larry. «Die Frisur steht dir.»

«Findest du? Ich trage das Haar schon ein halbes Jahr so. Wo hast du hingeschaut, Hardy-Boy?»

Larry hob die Hände und schnitt ein schuldbewusstes Gesicht wie ein Junge mit dem Finger im Marmeladeglas.

«Beim nächsten Mal, wenn du so was machst, ziehe ich meine Pistole und schieße.»

«Typisch Bulle. Erst schießen und dann Fragen stellen.»

«Du bist gerade der Richtige, das zu sagen.» Silke hielt die Hand vor den Mund. «Enschuldige, Larry, ist mir herausgerutscht.»

«Können wir endlich gehen?», stieß Philip hervor, ohne aufzuschauen.

«Ich bin Sonntagabend wieder zu Hause», sagte Silke.

«Du hattest doch schon letztes Wochenende Dienst?»

Silke schwieg. Er schaute sie an. Sie sah müde aus, aber in ihren Augen war ein frischer Glanz. Vorfreude?

«Gut für dich», sagte Larry. «So gegen achtzehn Uhr am Sonntag?»

«Zwanzig Uhr», sagte Silke, milder gestimmt. «Wäre besser.»

«Einverstanden», sagte Larry.

Silke umarmte Philip, der still stand wie ein Statue. Sie warf einen Blick auf die Flasche Schierker Feuerstein und unterdrückte eine Bemerkung. «Bis bald und viel Vergnügen», sagte sie.

Sie ging zur Tür, wandte sich um und hob die Hand zum Abschied. Philip blieb still.

«Magst du eine Cola?», fragte Larry seinen Sohn.

Philip brummte etwas, offenbar ein «Nein».

«Also, lass uns was essen gehen.»

«Hab schon gegessen.»

«Aber ich nicht. Ich habe einen Appetit wie Obelix», sagte Larry. Er wusste, dass es ein Fehler war, noch bevor er den Satz beendet hatte.

«Wir gehen mit ihr essen», stellte Philip fest.

Er sprach Francines Namen nie aus, und die Asterix-Bände, die sie ihm geschenkt hatte, lagen ungelesen in Larrys Wohnung. Obwohl sie auf Deutsch waren. Was Francine eigentlich unmöglich fand.

Larry kippte den Rest des Halbbitters hinunter und stand auf. Er nahm Hut und Regenmantel von der Garderobe, schlüpfte im Gehen in den Mantel und legte den Arm um seinen Sohn.

«Wenn wir essen gehen, dann in einen Kentucky Fried Chicken», sagte Philip.

Larry schwieg. Jetzt galt es, eine Bombe zu entschärfen, und ihr Name war Teenager. Nein, nicht eine, sondern zwei. Er wollte sich nicht vorstellen, was für ein Gesicht Francine machen würde, wenn sie kam und ihn mit Philip im Hahn im Korb sitzen sah. Nicht zu reden davon, wenn Philip darauf bestand, das Huhn im Kentucky Fried Chicken zu essen statt im französischen Gourmettempel.

Er brauchte es sich nicht vorzustellen. Sie saß bereits am Tisch, als er mit dem Jungen das Restaurant betrat, und machte eine Miene, als seien ihr die Haare ausgefallen. Wenn sie etwas hasste, dann die Zumutung, auf ihn warten zu müssen. Da gab es keine Gleichberechtigung. Dass er immer auf sie warten musste, war sein Privileg. Die Gunst, die sie ihm gewährte.

Larry setzte sein breitestes Lächeln auf. Er konnte fühlen, wie es sein Gesicht verzerrte. «Francine, je suis désolé», sagte er und streckte ihr den Bund roter Rosen hin, den er vor der Tür dem Pakistaner zum Sonderpreis abgekauft hatte.

«Nimm den Kaugummi aus dem Mund und bestell den Taittinger. Ich brauche was, worüber ich mich freuen kann», sagte Francine und wandte sich lächelnd an Philip. «Eine heiße Schokolade für dich, Filou?»

Philip hasste es, wenn sie ihn Filou nannte.

Larry fasste seinen Sohn mit beiden Händen an den Schultern. «Hey, Buddy, mal sehen, ob die einen Burger grillen können, ja?» Larry rückte einen Stuhl für Philip zurecht, setzte sich auf seinen und winkte dem Kellner. Er sah Francine an. «Dann wollen wir mal den Vogel bestellen, ja? Den Coq au vin?»

Philip holte sein Smartphone aus der Hosentasche und spielte Grand Theft Auto.