Nagel & Kimche E-Book

Golnaz Hashemzadeh Bonde

 

Was bleibt von uns

 

Roman

 

Aus dem Schwedischen von Sigrid C. Engeler

 

 

Nagel & Kimche

 

 

Für Noor Koriander

 

 

Meine Mutter sagte: Wenn du die Umstände als mildernde betrachten könntest, würdest du mich glimpflicher davonkommen lassen.

 

Athena Farrokhzad, Vitsvit

 

 

ICH GLAUBE, DER Tod war immer bei mir. Vielleicht ist das banal, vielleicht sagen das alle, die sterben müssen. Aber ich möchte gern glauben, dass ich besonders bin, darin genau wie in allem anderen. Ich glaube das tatsächlich. Als Masood starb, habe ich gesagt, unsere Zeit war geliehen. Wir hätten nicht so lange leben sollen. Wir hätten während der Revolution sterben sollen. In ihrem Nachbeben. Im Krieg. Aber ich bekam noch dreißig weitere Jahre. Mehr als mein halbes Leben. Das ist viel. Dafür muss man dankbar sein. Das sind genauso viele Jahre, wie meine Tochter alt ist. Ja, so kann man das betrachten. Ich durfte sie formen. Aber sie hat mich nicht so lange gebraucht. Eigentlich hat das niemand.

Als Elternteil meint man, man würde gebraucht. Das stimmt nicht. Menschen kommen immer zurecht. Wer sagt denn, dass die Summe aller Belastungen, für die ich verantwortlich bin, geringer sein sollte als die Summe aller Entlastungen. Ich glaube nicht, dass sie es ist. Ich bin kein Mensch, der mehr entlastet als belastet. Das sollte ich sein. Als Mutter. Das ist mein Job. Entlasten, andere entlasten. Ich habe das nie für jemanden getan.

 

 

«SIE HABEN NOCH maximal ein halbes Jahr zu leben», sagte die blöde Hexe.

Sie sagte es so, wie man eben etwas Bedauerliches mitteilt. Wie die Erzieherin in der Kita, die mir mitteilt, Aram habe sich gestoßen. Bedauernd. Etwas schuldbewusst. Die Hexe sah mich dabei nicht an, starrte auf den Bildschirm des Computers. Als wäre da die Wahrheit zu sehen. Als hätte der Bildschirm zu leiden. Dann liefen ihr die Tränen über die Wangen, und sie sah zu Boden. Jetzt war sie die Betroffene. Diejenige, die Trost brauchte.

Halt den Mund!, möchte ich schreien. Wer bist du, mir zu sagen, dass ich sterben werde? Wer bist du zu weinen, als hätte mein Leben in irgendeiner Weise mit dir zu tun? Aber ich schrie nicht. Nicht dieses Mal. Ich überraschte mich selbst.

«Ich will mit Ihrer Chefin sprechen», sagte ich stattdessen.

Sie war verblüfft. Fand wohl, das sei die falsche Reaktion. Dass ich auch weinen müsste. «Es ist schwer, das verstehe ich … Schwer, sich das anzuhören. Aber mit wem Sie sprechen, bedeutet keinen Unterschied», sagte sie. «Die Tomographie, das Ergebnis der Gewebeprobe. Alles ist eindeutig. Sie haben Krebs. Und der ist … Der ist weit fortgeschritten.»

Sie schwieg und sah mich an. Erwartete einen Gesichtsausdruck, der ihr bestätigte, dass ich begriffen hatte. Aber der kam nicht, so dass sie fortfuhr. «Es handelt sich um Stadium vier. Bei dem Krebs. Das bedeutet, dass Sie nicht mehr lange haben.»

«Halten Sie die Klappe!» Jetzt sagte ich es. «Ich bin Krankenschwester, ich habe fünfundzwanzig Jahre lang in der Pflege gearbeitet. Ich weiß, dass Sie so etwas nicht zu mir sagen dürfen. Sie haben keine Ahnung, wie lange ich leben werde. Sie sind nicht Gott!»

Sie zuckte auf ihrem Stuhl zusammen. Sie war aufgeregt, das sah ich. Sie war in den Dreißigern. Hatte die Haare zu zwei kindlichen Rattenschwänzen frisiert. Auf dem Schreibtisch das Foto eines Babys. Ich schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung von dem, was sie wusste und was nicht.

Wir schwiegen beide, bis sie die Tränen mit dem Ärmel abwischte und ging. Eine Weile blieb ich wie versteinert sitzen, dann bückte ich mich nach der Handtasche und nahm das Handy heraus. Ich sollte jemanden anrufen. Ich sollte meine Tochter anrufen. Sagen: Hallo, mein vom Unglück verfolgtes Kind. Jetzt wird deine Mutter auch sterben.

Verdammt. Stattdessen beginne ich, Zahra eine SMS zu schreiben. Aber ich lösche sie. Was sagt man? Hallo, meine Freundin, all das Kämpfen, und jetzt ist Schluss. Ich kann nicht.

Ich höre zwei Stimmen näher kommen, die Ärztin und ihre Chefin. Sie bleiben vor der Tür stehen. Flüstern. Hier im Behandlungszentrum begegnen sie dem Tod wohl nicht so oft. Sie diskutieren, wer hineingehen und das Gespräch mit mir führen soll. Sie wollen weiterkommen. Sich dem nächsten Patienten zuwenden. Bei einer sterbenden Frau sitzen und sich um ihren Mist kümmern, das ist das Letzte, was sie wollen. Ich überlege. Soll ich zusammenpacken und einfach gehen? Es ihnen ersparen. Es mir selbst ersparen. Ich greife nach dem Mantel. Er ist rot. Ich bücke mich nach der Tasche. Die ist auch rot. Ich blicke auf meine Stiefel. Auch rot. Alle diese banalen Dinge, die mir wichtig sind. Wichtig waren. Meine Hände beginnen zu zittern, dann die Schultern. Ich lasse die Tasche auf den Boden fallen. Versuche, das Schluchzen zurückzuhalten. In dem Moment öffnen sie die Tür. Kommen herein. Sehen mich. Ich merke, dass sie kehrtmachen und gehen wollen. Ich will sie nicht erschrecken. Ich versuche zu lächeln. Aber es überfällt mich kalt. All das, wovon sie keine Ahnung haben. All das, was keiner in diesem verdammten Land versteht, trotz all ihrem Wissen. All das, was mit Schmerz und Verlust und Kampf zu tun hat. Ich weine. Ich weine und weine. Sie weint auch, die erste Ärztin. Die Arme. Sie glaubt, sie hätte etwas zu weinen.

 

 

JEDENFALLS ENTSCHULDIGT SIE sich. Die ältere Ärztin. Sagt, sie hätten keine Ahnung, wie lange ich noch leben werde. Es könnten einige Wochen sein, es könnten einige Jahre sein.

«Aber Sie werden an Krebs sterben», sagt sie. «Es ist am besten, dass Sie offen damit umgehen, dass sie es Ihren Angehörigen mitteilen. Besonders Ihren Kindern …»

Sag du es doch meinem Kind, denke ich. Ich glaube nicht, dass ich das wirklich sage, denn sie fährt fort. «Wissen Sie, das kann schwer sein. Ehrlich sein, gerade seinen Kindern gegenüber. Aber sie müssen es wissen. Damit sie sich vorbereiten können.»

Erstaunt sehe ich sie an. Sie versteht mein Erstaunen nicht, aber sie versteht, vermute ich, dass es für mich keine andere Art gibt, sie anzusehen.

«Masood ist gerade gestorben … ihr Vater. Er ist vor kurzem gestorben», sage ich.

Sie nickt.

«Er starb plötzlich, unerwartet. Glauben Sie nicht, dass das besser ist? Für Aram, meine Tochter? Als mit dem Tod zu leben. Auf ihn zu warten. Ist es nicht besser, wenn ich einfach eines Tages sterbe?»

«Ich weiß es nicht», sagt sie. Als hätte ich eine richtige Antwort erwartet. «Aber Sie werden Ihre Tochter brauchen. Das wird nicht leicht.»

Sie hält mir eine Broschüre hin. Sich auf den Tod vorbereiten oder etwas in der Art. Ich schüttle den Kopf. «Ich werde nicht sterben! Ich werde kämpfen. Ich will sofort mit der Behandlung beginnen!»

Sie zögert. «Ja, wir überweisen Sie. Aber es gibt eine Wartezeit. Jetzt ist ja bald Ostern. Es kann einige Zeit dauern, bevor Sie eine Behandlung bekommen, Nahid.»

Ich lehne mich vor. «Aber Sie haben doch gesagt, dass ich sterben werde. Ich sterbe, wenn wir nichts tun. Es ist dringend!»

Sie schüttelt den Kopf. «Krebs ist nicht so dringend. Einige Wochen früher oder später spielen keine Rolle, Nahid.»

«Und was ist es dann, wenn es nicht dringend ist?»

«Also. Sie müssen Ihren Krebs als chronische Erkrankung betrachten.»

Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich sie an. «Chronisch? Wie kann Krebs chronisch sein, wenn ich bald sterben werde?»

«Es tut mir leid.» Sie lehnt sich an den Türrahmen, hat nicht einmal den Raum betreten. Sie bleibt dort stehen, mehrere Meter von mir entfernt. Als wäre er ansteckend. Der Krebs. Der Tod. «Es tut mir leid.»

Ich stehe auf. «Es braucht Ihnen nicht leidzutun. Noch bin ich nicht tot.»

Ich nehme den Lippenstift und male mir die Lippen an. Zeige, dass ich stark bin. Ich gehe. Gehe an ihnen vorbei. Sie rufen hinter mir her, aber ich gehe weiter. Eilig. Ich beeile mich, um mich nicht umdrehen zu müssen und mich in ihre Arme zu werfen und sie um Trost zu bitten. Um Zuspruch und um Trost zu bitten.

Erst zuhause sehe ich, dass die Wimperntusche über die Wangen gelaufen ist. Ich habe über den Rand der Lippen gemalt und sehe erschreckend aus. Ich bin die Hexe. Die Vogelscheuche. Ein ausgestopfter Mensch. Ein toter Mensch. Jemand, der nicht weiß, wie es ist, am Leben zu sein.

 

 

MIR BLEIBEN NOCH sechs Monate zu leben. Oder ein paar Wochen. Oder ein paar Jahre. Ohne erst mein Gesicht zu säubern, setze ich mich aufs Sofa. Die Hände auf dem Schoß, sitze ich einfach da und frage mich, was man jetzt tut. Was tut man, wenn man erfahren hat, dass man sterben wird?

Die Körbe mit den Papieren auf dem Teppich. Sie stehen dort seit Monaten, vielleicht seit Jahren. Ich denke, wenn sie dort stehen, werde ich mich um sie kümmern. Sie auflösen. Vielleicht sollte ich das jetzt tun. Meine Papiere durchsehen. Zusehen, dass alles in Ordnung kommt. Alte Telefonrechnungen. Kontoauszüge. Steuererklärungen. Eigentlich gab es für diese Körbe doch überhaupt nie einen Grund. Das kann alles weggeworfen werden. Man muss es nur tun.

Das muss dann Aram tun. Dann. Anschließend.

Ich nehme Block und Stift vom Tisch. Beginne zu notieren. Erinnere mich, dass auch alle meine Aufzeichnungen in diesen Körben liegen. Sollte die wenigstens herausnehmen, wegwerfen. Was wird sie denken, wenn sie darin liest? Sie wird verstehen, wie einsam ich gewesen bin. Wie wütend ich gewesen bin. Ich sollte sie schützen wollen, aber ich will nicht. Lass sie! Lass sie meinen Schmerz kennenlernen. Ich weiß, dass es falsch ist, dass mein Mutterinstinkt mir etwas anderes sagen sollte. Aber das tut er nicht, also lass es.

Der Stift gleitet übers Papier. Ich will wissen, was ich zurücklasse. Als ich von Masood geschieden wurde, nahm er alles. Ich bekam nichts. Seither habe ich gesammelt. Gesammelt und aufgebaut. Sicherheit aufgebaut. Eine Zukunft aufgebaut. Und dann gibt es keine? Ich lache auf. Es gibt keine Zukunft. Wenn die Menschen das wüssten. Da verwendet man so viel Zeit darauf, sich eine Zukunft vorzustellen und sie zu planen; und dann auf einmal gibt es keine. Wer hätte das gedacht.

Hätte ich anders gelebt, wenn ich das gewusst hätte? Darauf gepfiffen, einen Schichtdienst nach dem anderen zu übernehmen? Auf Kreditkarte gelebt und große Schulden hinterlassen? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht. Vermutlich. Ich meine, warum denn nicht. Welche Überlegung hätte mich aufhalten sollen?

Ich schreibe. Die Wohnung, in der ich lebe. Der Goldschmuck im Bankschließfach. Die verdammten Telia-Aktien, mit denen sie uns reingelegt haben. Das Geld auf dem Sparbuch. Das Reservegeld im Schrank. Ich schreibe, addiere. Das ist viel. Das ist viel Geld!

Einen Moment lang denke ich, das ist viel Geld für eine wie mich. Aber nein, das ist falsch. Es gibt in diesem Land mehr als genug Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, die nichts haben, die nichts können, nichts konnten. Die zu bequem waren, zu faul. Die nicht haben, was ich habe. Die nichts hinterlassen.

Das ist nicht nur viel Geld für eine wie mich. Es ist viel Geld. Es ist viel Geld für Aram. Wenn sie das nicht begreift, kann sie es sich an den Hut stecken! Kriegskind. Sie muss dankbar sein. Sie wird dankbar sein, das weiß ich. Eigentlich hat sie mehr von dem Geld als ich. Sie hat das Zeug zu leben, etwas vom Leben zu haben, mehr als ich. Nicht nur weil ich sterben werde. Sondern weil ich sie nie hatte. Die Kraft, etwas vom Leben zu haben. Die Fähigkeit zu überleben, damit wurde ich geboren. Ich wuchs heran zu einer Überlebenden. Das ist etwas ganz anderes als das Leben hier. Ich weiß nicht, ob meine Tochter sie hat, die Fähigkeit zu überleben. Vielleicht, sie ist ja fast in einem Schutzraum geboren. Aber ihre Freunde nicht. Kein in Schweden geborenes Kind.

Mir fällt wieder die Ärztin ein, die Ärztin im Behandlungszentrum. Ihre Tränen. Um wen weint sie?

 

 

MEINE MUTTER WURDE mit neun Jahren verheiratet. Ich kann es kaum aussprechen, schäme mich dafür. Als würde ich es billigen, wenn ich es in Worte fasse. Also tue ich es nicht. Sie war neun Jahre alt und mein Vater siebenundzwanzig. Das war damals nicht ungewöhnlich. Aber ich glaube nicht, dass das für sie etwas bewirkte, dass der Brauch Einfluss darauf hatte, wie sie sich fühlte, als sie ihre Eltern verlassen und eine sexuelle Beziehung zu einem fremden erwachsenen Mann eingehen musste.

Ich kann meinem Vater nicht böse sein, denn er tat, was man tat. Aber ich denke an sie, an dieses kleine Mädchen, und der Gedanke daran weckt in mir mehr mütterliche Gefühle, als ich sie sogar für mein eigenes Kind hatte. Ich denke an dieses Mädchen, und ich denke, wenn ich es retten könnte, könnte ich auch mich selbst retten. Wenn ich es retten könnte, könnte ich auch meine Tochter retten.

Mutter war zwölf, als sie Maryam bekam. Mir blutet das Herz für beide. Die Zwölfjährige mit dem Baby auf dem Schoß. Das Baby mit einer Zwölfjährigen als Hort der Geborgenheit. Was mag in ihr vorgegangen sein? Ich vermute, dass sie abschaltete. Weil man nichts sonst tun konnte. Die Zwölfjährige mit dem Baby auf dem Schoß. Was sollte sie mit uns anderen?

Sie blieb früh allein. Als Vater starb, war sie siebenunddreißig und Mutter von sieben Kindern. Sein Verschwinden bedeutete praktisch keinen Unterschied. Er war lange krank gewesen. Für sie war er vielleicht wie noch ein weiteres Kind. Ich weiß es nicht, sie sprach nicht über ihn. Sie sprach nicht über Männer. Auf allen unseren Hochzeitsfotos steht sie sehr aufrecht da, die stolze Mutter der Braut, aber niemals lächelnd. Männer und Ehe waren in ihren Augen ein notwendiges Übel. Oder vielleicht nicht einmal notwendig, vielleicht nur unausweichlich.

Meine Mutter. Wie sie unter der Revolution litt. Man meint, eine Frau, die sieben Töchter geboren hat, sollte etwas inneren Frieden gefunden haben. Keine Söhne, die sie in den Krieg ziehen lassen musste. Keine Söhne, die sie zu betrauern hatte. Aber es war das falsche Jahrzehnt, oder aber wir waren die falsche Art Frauen. Wir führten auf den Straßen Krieg, und sie saß nächtelang wach. Ruhelos wartend, weinend.

 

 

EIN PAAR WOCHEN. Ein halbes Jahr. Ein paar Jahre. Ist das ein Unterschied? Ich bin mir nicht sicher. Die Zeitspanne ist unterschiedlich lang. Das ist mir klar. Aber was für einen Unterschied bedeutet Zeit an diesem Punkt? Was soll ich mit mehr Zeit? Kranke Zeit. Einsame Zeit. Zeit in der Erwartung des Todes. Was macht man mit Zeit, wenn man damit keine Zukunft aufbaut? Ich weiß es nicht. Vielleicht passiert es deshalb ausgerechnet mir, vielleicht hat mich der Krebs deshalb ausgewählt? Weil ich nicht weiß, was man mit Zeit anfängt. Weil ich nicht weiß, was man mit Leben anfängt.

Ich halte es nicht aus, ausgerechnet diesen Gedanken ertrage ich nicht.

Ich stehe auf und hole das Telefon. Wähle eine Nummer. Das ist die einzige Nummer, die ich anrufen kann.

«Allo?»

Ich sehe sie vor mir. Sie ist auf den Sitz neben dem Telefon gesunken und hat tief geseufzt, ehe sie den Hörer abnahm. Sie erwartet schlechte Nachrichten. Sie bereitet sich darauf vor, aus Selbstschutz.

«Salam, maman.» Ich schlucke, um zu unterdrücken, was aufsteigen will.

«Nahid? Nahid, bist du das? Ist etwas passiert? Ist alles in Ordnung?»

«Alles in Ordnung. Bestens. Ich … Ich vermisse euch nur.»

«Das ist das Leben, Nahid. Das ist das Leben.»

Einen Moment lang schweigen wir beide, dann fängt sie wie üblich an zu erzählen. Von den Nachbarn, von den Preisen für Tomaten, von ihrem Rheumatismus. Ich höre zu. Das gleiche Gespräch haben wir letzte Woche geführt, es unterscheidet sich in nichts von allen Telefonaten. Ein Gespräch, das in jeder Hinsicht unberührt ist von allem, was heute war, außer dass ich mir ein Kissen vors Gesicht presse, damit sie mich nicht hören kann.

«Nahid, bist du noch da?»

Weil ich weiß, dass meine Stimme nicht halten wird, lege ich auf. Sie wird glauben, das Gespräch sei wie so oft in all den Jahren unterbrochen worden. Wenn ich das nächste Mal anrufe, ist es vergessen.

 

 

ES DÄMMERTE SCHON, als ich schließlich wieder nach dem Telefon griff. Warum ich von allen ausgerechnet Zahra anrief, weiß ich nicht. Aber ich habe es getan, und das war gut so. Es tat so gut, davon zu erzählen, und es tat so gut, einen anderen Menschen weinen zu hören. So gut zu hören, dass sie mich vermissen wird. So gut zu hören, dass man so reagiert. Dass man so reagieren darf. Eine Weile hörte ich ihren Tränen still zu, und dann begann ich, sie zu trösten.

«Keine Sorge», sagte ich. «Ich hatte kein schlechtes Leben.»

Wir wurden still. Waren uns nicht sicher, ob das stimmte. Aber wir sagten nichts dazu. Wir hörten einfach dem Schweigen der anderen zu, und das reichte uns.

«Hast du es Aram gesagt?», fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

«Hallo?»

«Entschuldige», sagte ich. «Ich habe es ihr nicht gesagt. Weder ihr noch irgendwem sonst.»

Sie nickt. Ich kann es hören.

«Möchtest du, dass ich es tue?»

Erleichtert seufze ich. «Ja. Ja. Danke. Kannst du das?»

«Ich weiß es nicht», antwortet sie.

Was kann man eigentlich von Menschen verlangen? Alles, nehme ich an. Hier und jetzt kann ich um jeden Gefallen bitten. Jeden.

«Aber ich wäre dankbar, wenn du es tun würdest. Tu es, sei so lieb.»

Sie weint wieder, das höre ich. Aber sie wird es hinbekommen, irgendwie wird sie es hinbekommen.

«Ich komme zu dir», sagt sie, und wir legen auf.

Dann lege ich mich auf den Rücken. Schließe die Augen. Ein paar Wochen, ein halbes Jahr, ein paar Jahre. Im Moment möchte ich nur einnicken.

 

Sie kommen tatsächlich. Meine Freundinnen, sie kommen alle. Ich liege noch auf dem Sofa, schaue sie aus halbgeschlossenen Augen an. Das lassen sie zu. Sie sagen nicht so viel. Das Kinn in die Hand gestützt, sitzen sie da. Sehen sich manchmal an und schütteln den Kopf. Schütteln ihn so langsam, so anders. Wie man es tut, wenn ein Schmerz größer ist, als es zunächst scheint. Wenn ein Kummer für allen Kummer steht. Ich weiß, was sie denken. Wir haben so viel verloren. Wir haben schon so viel verloren. Warum müssen wir noch mehr verlieren. Warum muss das so sein? Ich denke wie sie. Sie sehen es nicht, denn sie trauen sich nicht, mich anzuschauen, aber ich liege mit halbgeschlossenen Augen da und schüttle den Kopf wie sie. So anders. Wenn ein Kummer für allen Kummer steht.

Zahra und Leila und Anne und Firozeh, alle sind gekommen. Sie kamen sofort, innerhalb einer Stunde waren sie hier. Ich hatte noch nicht die Augen geöffnet, da waren sie schon gekommen. Ich denke an meine Aufzeichnungen dort im Korb. Die von meiner Einsamkeit handeln. Ich will sie ihnen zeigen, will sagen: Warum kommt ihr erst jetzt? Warum seid ihr nicht früher gekommen, damals, wenn ich einsam war? Ach, ich weiß nicht. Denn gleichzeitig denke ich, dass ich die Seiten in tausend Stücke zerrreißen sollte. Ich war doch nie einsam. Oder? Ich weiß es nicht. Was ist Einsamkeit? Heißt einsam sein, wenn man sich Unterhaltung gewünscht hätte? Oder heißt einsam sein, wenn man sterben wird? Vielleicht war ich nie einsam.

Sie fangen an zu flüstern. Erst verstehe ich sie nicht, aber schnell wird es mir klar: Sie haben es Aram nicht gesagt. Ich bin kurz davor, eine Szene zu machen. «Ich habe nur um einen Gefallen gebeten! Nur einen einzigen Gefallen!» Aber ich halte mich zurück. Weiß, dass es bei weitem nicht der erste ist, um den ich bitte. Weiß, dass es zu viel ist, worum ich bitte.

Zahra steht auf, telefoniert. Spricht flüsternd. Ich höre, dass sie nicht mit Aram spricht, nein. Sie spricht mit jemand anderem. Sie bittet ihr eigenes Kind, es meiner Tochter zu sagen. Was sind wir feige! Wir, die Revolutionäre. Keine von uns hat Schneid. Vielleicht verfügt man in seinem Leben nur über eine begrenzte Menge an Schneid? Vielleicht ist unsere auf den blutigen Straßen der Demonstrationen liegengeblieben. Wer wird Aram sagen, dass ich sterben muss? Ich weiß es nicht, und ich werde mich auch nicht erheben, um mich darum zu kümmern.

 

 

OFT STEHE ICH am Fenster, schaue hinaus. Die Aussicht ist phantastisch, wie ein Gemälde. Neuen Besuch mache ich darauf aufmerksam.

«Schau mal», sage ich. Als könnte man sie übersehen.

Ich wohne im dreizehnten Stockwerk, und eine Wand besteht aus Fenstern. Draußen sieht man nur Himmel. Himmel, Himmel, ohne Ende. Unten liegt der See, bis zum Horizont kann man ihn mit dem Blick verfolgen. Und rings um ihn her der Wald. Die Bäume stehen dicht an dicht, sie fangen die Jahreszeiten ein.

Für die meisten ist das nichts Besonderes. Himmel und Wasser und Wald. Ich will meinen Besuchern erklären, warum das so besonders ist. Aber das widerstrebt mir. Ich möchte erzählen, möchte sagen: Weißt du, wie die Umgebung aussah, in der ich aufwuchs? Wenn ich über die Straße ging, auf meinem Schulweg? Sand und Steine. Sandige Steine. Vielleicht kann man sich das nur schwer vorstellen. Gelber Sand. Er bedeckte die Schuhe, die Häuser. Mutter musste ihn mehrmals am Tag hinausfegen. Und jetzt lebe ich, die ich aus dem Sand komme, mit Himmel und Wasser. Als hätte ich die Elemente getauscht. Das möchte ich sagen, denn es ist gewaltig, großartig. Irgendwie ist es auch traurig. Weil das, was man war, weg ist. Von etwas anderem ersetzt wurde.

Aber ich sage nichts, und ich weiß auch warum. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ich käme aus der Wüste, ich sei ein Wüstenmensch. Das glauben sie längst, aber ich weigere mich, ihnen weitere seltsame Bilder von mir zu zeigen. Ich rede von Sand, nicht von Wüste. Das sind zweierlei Dinge, aber das begreifen sie nicht.

 

 

ICH KANN EINFACH nicht den Mund halten. Oft genug weiß ich, wenn ich schweigen sollte. Jedenfalls anschließend. Aber ich kann es einfach nicht lassen, dieses Sagen, was ich denke. Man sollte das nicht tun. Als Mensch. Als Mutter. Wenn die eigenen Gedanken einem anderen schaden, sollte man schweigen. Aber ich kann es nicht.

Ich bin einsam in meinem Schmerz. Das habe ich inzwischen eingesehen. Es wäre an Aram, den Kummer mit mir zu teilen, aber sie tut es nicht.

Erst vier Stunden und fünfundvierzig Minuten, nachdem ich den Bescheid erhalten habe, war sie hier. Nachdem ich erfahren habe, dass ich sterben werde. Ich weiß, dass es ihr niemand vorher sagte. Ich weiß, dass sie nichts wusste. Und doch spüre ich eine Irritation. Ja, andere sind hier. Aber das ist etwas anderes. Sie sind traurig. Sie werden mich vermissen. Aber für meine Tochter … Davon wird sie sich nie erholen. Das teilen wir. Ich will, dass sie es mit mir teilt. Die Endgültigkeit.

Als sie kommt, liege ich immer noch mit halbgeschlossenen Augen auf dem Sofa. Alle stehen auf und empfangen sie. Ich höre ihre müde Stimme. Ich will, dass sie schreiend hereinkommt, schreiend und weinend. Aber das tut sie nicht. Sie kommt herein, begrüßt meine Freundinnen und klingt müde. Ich stehe nicht auf. Lasse sie zu mir kommen. Sie lässt sich Zeit. Steht eine Weile auf dem Flur. Stellt Fragen. Versucht zu verstehen. Ich weiß, dass es so ist, aber so fühlt es sich nicht an. Es fühlt sich an, als stehe sie plaudernd da draußen, und das macht mich wütend. Hier liege ich, alles liegt in Scherben, aber sie kommt erst vier Stunden und fünfundvierzig Minuten später. Und dann stürzt sie nicht einmal zu mir herein, sondern bleibt da draußen stehen. Mein Körper spannt sich an, Waden, Hintern, Hände, sogar das Gesicht. Als sie sich dann auf den Teppich setzt, neben mich, sage ich nichts. Ich mache die Augen fest zu.

«Hallo, Mama», sagt sie.

«Du hast keine Mutter», sage ich. «Du hast überhaupt niemanden. Du bist eine Waise.»

Ich höre, wie sie die Luft anhält, wie alle im Zimmer das tun. Ich kann den Schmerz hören, den ich ausgelöst habe, den Schmerz, den ich herausgefordert habe. Ich höre den Kummer. Meine Tochter schreit und weint nicht, das weiß ich. Aber ich kann hören, wie sich der Kummer durch ihren Körper fortpflanzt und ihren Atem stocken lässt. Es dauert eine Weile, einige Minuten, glaube ich. Dann hat sie sich erhoben und ist weg. Sie geht ins Badezimmer, kümmert sich um sich. Wie sie es immer getan hat.

Ich spüre die Tränen aufsteigen und mir übers Gesicht laufen. In die Halskuhle. Als meine Freundinnen das sehen, kommen sie näher. Nehmen meine Hand, streicheln meinen Kopf. Alle sind ganz nahe. Sie ist dort drüben, allein. Ich möchte jemanden bitten, zu ihr zu gehen, aber die Worte kommen nicht. Sie muss sich daran gewöhnen, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Wenn sie noch nicht daran gewöhnt ist, wird es Zeit.

 

 

ARAM LAS MIR Gedichte vor. Ich war erstaunt, denn eigentlich macht sie das nicht. Sie tat das für Masood, glaube ich. Hofft sie, dass ich den Platz ihres Vaters ausfüllen kann? Das kann ich nicht. Wir saßen auf dem Sofa, sie hatte die Beine unter sich gezogen.

«Mama, hör zu: Mein Vater sagte: Da niemand, der zu dir gehört, in dieser Erde begraben wurde, gehört diese Erde nicht zu dir.»

Mit leerem Blick sehe ich sie an.

«Verstehst du?», fragte sie mich. «‹Da niemand, der zu dir gehört, in dieser Erde begraben ist, gehört diese Erde nicht zu dir.› Aber jetzt haben wir hier Vater begraben.»

Sie sieht mich an und ergänzt, als würde das gegen mein Schweigen helfen: «Das hat eine junge Perserin geschrieben.»

Das ist lächerlich, möchte ich sagen. Zuallererst einmal gehört die Erde niemandem, das ist nichts als patriotischer Blödsinn. Keinem gehört irgendwelche Erde. Dein Vater wurde kremiert, denke ich. Einzig und allein seine Urne ist in der Erde. Er ist kein Teil der schwedischen Erde. Ich bin so eine, die so etwas sagt. Und also sagte ich es. Ich hörte es mich laut sagen. Und bereute es sofort. Denn ich konnte sehen, wie der Schmerz in ihr hochschoss, wie sie einen Kloß im Hals hatte.

Sie steht auf und geht in die Küche. Öffnet den Wasserhahn, tut so, als hole sie Wasser, vermute ich. Ich sollte ihr nachgehen, tue es aber nicht. Ich nehme die Fernbedienung und wechsle den Kanal. Es dauert, bis sie zurückkommt. Sie sagt nicht mehr viel. Nach einer Weile erklärt sie: «Ich muss jetzt nach Hause fahren.»

«Ich bin vier Stunden hier gewesen, Mutter. Ich muss jetzt fahren.»

Sie nickt. Sie geht. Ich kann sie nicht zum Bleiben bewegen. Es ist lange her, seit mir das gelang.