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Impressum

Abkürzungshinweise

Hinsichtlich gängiger juristischer Abkürzungen wird auf das Verzeichnis von Kirchner, Hildebert/Böttcher, Eike, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 8. Aufl. 2015, Berlin verwiesen.
Spezielle Ausdrücke, die nur für die vorliegende Untersuchung relevant sind, werden vor ihrer ersten abgekürzten Verwendung in Klammern eingeführt. Der Ausdruck „Predictive Analytic“ wird aus Gründen der leichteren Lesbarkeit sowohl im Singular als auch im Plural einheitlich verwendet.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.



ISBN 978-3-8005-1707-7

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© 2019 Deutscher Fachverlag GmbH, Fachmedien Recht und Wirtschaft, Frankfurt am Main


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Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang

Printed in Germany

Inhaltsübersicht

  1. Abkürzungshinweise
  2. Vorwort
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Erster Teil: Fehlerhafte Predictive Analytic
    1. A. Problemaufriss, bisheriger Forschungsstand, Ziel der Arbeit und Gang der Untersuchung
    2. B. Einführung in Predictive Analytic
    3. C. Technische Grundlagen
    4. D. Fehlerhafte Predictive Analytic-Ergebnisse
  5. Zweiter Teil: Haftung für fehlerhafte Predictive Analytic-Ergebnisse gegenüber dem Betroffenen
    1. A. Einführung in die Haftung
    2. B. Fehlerhafte Predictive Analytic-Ergebnisse als Verletzung (vor-)vertraglicher Pflichten
    3. C. Fehlerhafte Predictive Analytic-Ergebnisse als Verletzung von Datenschutzrecht
    4. D. Fehlerhafte Predictive Analytic-Ergebnisse als Anknüpfungspunkt deliktischer Haftung
    5. E. Fehlerhafte Predictive Analytic-Ergebnisse als Anknüpfungspunkt einer Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG
    6. F. Fehlerhafte Predictive Analytic-Ergebnisse als vorsätzlich sittenwidrige Schädigung nach § 826 BGB
    7. G. Fehlerhafte Predictive Analytic-Ergebnisse als Verletzung spezifischer Verkehrssicherungspflichten nach den Grundsätzen der Produzentenhaftung
    8. H. Ergebnisse und Fazit
  6. Literaturverzeichnis

Predictive Analytic
und die Haftung für fehlerhafte Ergebnisse
gegenüber betroffenen Einzelpersonen

Susanne Mentel

Fachmedien Recht und Wirtschaft | dfv Mediengruppe | Frankfurt am Main

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2018 von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mich während meiner Promotion begleitet, unterstützt und angespornt haben.

An erster Stelle gilt mein Dank meinem Partner Daniel Elsesser. Er hat mich nicht nur täglich motiviert und in meiner Arbeit bestätigt, sondern mir auch den nötigen Freiraum und Rückhalt geschenkt, damit dieses Buch entstehen konnte. Meinen Eltern danke ich für ihre bedingungslose Unterstützung während meiner gesamten Studien- und Promotionszeit. Darüber hinaus möchte ich mich herzlich bei Nadine Heckl bedanken. In endlosen Gesprächen über die Höhen und Tiefen einer Promotion hatte sie immer ein offenes Ohr und konnte mir jedes Mal aufs neue Mut zusprechen. Ein besonderer Dank gilt auch meiner Cousine Monika Wagner, die mich bei meinen Aufenthalten an der Universität Münster stets mit offenen Armen empfangen und jede Etappe freudig begleitet hat.

Ausdrücklich hervorheben möchte ich meinen Doktorvater Herrn Prof. Dr. Thomas Hoeren, dem ich die fesselnde Thematik der vorliegenden Arbeit zu verdanken habe. Mein Dank gilt auch der außergewöhnlich zügigen Erstellung des Erstgutachtens sowie den Lehrstuhlmitarbeitern des ITM Münster für den anregenden Austausch. Darüber hinaus bedanke ich mich bei Herrn Prof. Dr. Nikolas Guggenberger für die ebenfalls äußert rasche Erstellung des Zweitgutachtens.

Literatur und Rechtsprechung wurden bis Juni 2018 berücksichtigt.

Erster Teil: Fehlerhafte Predictive Analytic

A. Problemaufriss, bisheriger Forschungsstand, Ziel der Arbeit und Gang der Untersuchung

I. Allgegenwärtigkeit von Predictive Analytic

Ob benutzerdefinierte Angebote, variable Preisfestsetzungen im Online-Shopping, auf Fitness- und Gesundheitsdaten basierende Angebote der Krankenkassen, vorbeugende Kundenpflege bei wahrscheinlichem Anbieterwechsel oder besseres Mitarbeitermanagement durch Kündigungsvorhersagen, die Vorhersage menschlichen Verhaltens rückt durch neue datengetriebene Analyse-Software namens Predictive Analytic in den Bereich des Möglichen. Diese und weitere „Vorhersagen der Zukunft“ bieten sich einerseits durch die enorm gestiegenen technischen Möglichkeiten, andererseits durch die massenhafte Existenz von Daten an. Letztere stellen sowohl durch Unternehmen erhobene Daten dar als auch zu einem nicht zu unterschätzenden Teil freiwillig preisgegebene persönliche Daten.

Der anhaltende Erfolg dieser „algorithmischen Orakel“ kann auf „das Zusammentreffen von drastisch verbilligtem Speicherplatz und Computerkapazitäten mit der Verfügbarkeit von immer mehr digital erfassten Lebensäußerungen“ zurückgeführt werden.1 Im Laufe dieser Entwicklung erkennen sowohl private Unternehmen als auch staatliche Stellen immer öfter die Chance, diese Daten durch systematische Auswertungen und darauf basierende Analysen zu nutzen.2 Durch die zunehmende Verbreitung sog. vorhersagender Analysen3 beschränken sich Datenanalysen nicht mehr nur auf die Vergangenheit, sondern versuchen, bestimmte Verhaltensweisen in der Zukunft vorherzusagen. Dadurch erhalten die Anwender dieser Instrumente Einblicke in die verschiedensten Bereiche des Lebens. Unternehmen nutzen dies zu Marketingzwecken und als Kundenbindungsmaßnahme. Arbeitgeber, um die Loyalität ihrer Mitarbeiter zu berechnen. Versicherer und andere Dienstleister entdecken zukunftsorientierte Vorhersagen zur Einschätzung von Schadensrisiken, zur risikobasierten Tarifierung ihrer Beitragszahler und zur generellen Optimierung ihrer Geschäftszahlen.

Vorhersagende Bewertungen des Einzelnen finden sich so in den unterschiedlichsten Lebensbereichen wieder und sind aus vielen Geschäftsbereichen nicht mehr wegzudenken. Dies gilt vor allem, aber nicht nur, für den Online-Handel als Plattform der heutigen Geschäfte des täglichen Lebens. Der Wunsch, vorhandene Daten auszuwerten, ist aus Sicht der Unternehmen verständlich. Predictive Analytic stellen auch ein geeignetes Werkzeug dar, um die Unmengen an Daten, die ein Unternehmen besitzt, sinnvoll auszuwerten. Predictive Analytic können auf diese Weise einen hohen Mehrwert für ihre Anwender bieten, vorausgesetzt, die Ergebnisse dieser Vorhersagen stellen eine verlässliche Grundlage für Entscheidungen dar. Entsprechen die Vorhersagen aber nicht den realen Gegebenheiten, wohnt ihnen ein hohes Gefahrenpotenzial vor allem für die von ihr analysierten Einzelpersonen inne. Erreichen diese nicht die seitens der Unternehmen festgelegten Grenzwerte für ein positives Ergebnis des Wahrscheinlichkeitswertes und stellt sich der Wert im Nachhinein als falsch4 dar, können fehlerhafte Vorhersagen den Einzelnen auf vielfältige Art betreffen. Dazu gehört, dass dem in dieser Weise Betroffenen Informationen, Vergünstigungen sowie Geschäftsmöglichkeiten vorenthalten werden und es zu Rechtsverkürzungen bis hin zu Diskriminierungen kommen kann.5 Die Risiken fehlerhafter Vorhersagen gegenüber den von ihnen betroffenen Einzelpersonen werden seitens der Anwender solcher Analysemethoden dessen ungeachtet ausgeblendet.

II. Bisheriger Forschungsstand

Die eingangs genannten Beispiele lassen bereits erahnen, welch weitreichende Auswirkungen Predictive Analytic-Anwendungen mit sich bringen können, wenn die Vorhersagen den Betroffenen falsch einschätzen. Obwohl sich Predictive Analytic-Verfahren in den vergangenen Jahren mehr und mehr ausgebreitet haben,6 wird die Frage nach einer Haftung für fehlerhafte Predictive Analytic-Ergebnisse bislang kaum gestellt. Es existiert auch noch keine Rechtsprechung, die sich speziell mit Predictive Analytic-Verfahren und ihren Auswirkungen beschäftigt hat. Dies mag an der rasanten technischen Entwicklung von Datenanalyseverfahren liegen, der die Rechtsprechung aus natürlichen Gründen oft hinterherhinkt. Es fehlt jedoch grundsätzlich an einer kritischen Auseinandersetzung mit den potenziellen Folgen von Predictive Analytic für die Gesellschaft. Dies erstaunt auch deshalb, da öffentlichkeitswirksamere Anwendungsgebiete wie die vorhersagende Verbrechensbekämpfung (sog. Predictive Policing7) von Anfang an kritisch begleitet wurden.8 Gegenüber anderen Anwendungsgebieten von Predictive Analytic tritt erst langsam ein Bewusstsein über die Gefahren ein, welche in den letzten Jahren auch in der Tagespresse thematisiert wurden.9

In der Fachliteratur bringt die Suche nach dem Schlagwort „Predictive Analytic“ bislang hauptsächlich englischsprachige Literatur zu Tage, die sich zumeist an Manager und Entscheider in Unternehmen richtet.10 Daran lässt sich bereits ablesen, dass die Auseinandersetzung mit Predictive Analytic in der deutschsprachigen Literatur noch keine große Verbreitung gefunden hat, geschweige denn bereits juristische Beiträge zu den rechtlichen Auswirkungen veröffentlicht wurden. Einen viel größeren Platz nimmt dagegen auch in der deutschsprachigen Literatur das Thema Big Data11 ein, welches nicht mit Predictive Analytic verwechselt werden sollte.12 Sind Predictive Analytic Bestandteil von wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, so beziehen sich diese meist auf die praktischen Anwendungsmöglichkeiten und die wirtschaftlichen Vorteile, die derartige Analysen für ihre Anwender bringen können.13 Fatalerweise entwickeln sich diametral zur ausbleibenden Auseinandersetzung in der juristischen Literatur die Anwendungsgebiete von Predictive Analytic aufgrund des technischen Fortschritts immer schneller fort.

III. Ziel der Arbeit und Gang der Untersuchung

Mit der fehlenden Auseinandersetzung geht einher, dass auch die Fehleranfälligkeit von datengetriebenen Verhaltensvorhersagen, und die damit verbundenen schwerwiegenden Folgen von Predictive Analytic für den Betroffenen, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesellschaft viel zu wenig kritisiert und beinahe als Begleiterscheinung der Digitalisierung hingenommen werden. Sogar unter einem Gros an Juristen wird die Meinung vertreten, dass diesem neuartigen Phänomen der Datenanalyse mit den bestehenden juristischen Mitteln kein Einhalt geboten werden könne. In der Folge wird eine mögliche Haftung für fehlerhafte Predictive Analytic erst gar nicht diskutiert.14

Es soll daher Ziel der vorliegenden Arbeit sein, unter dem Arbeitstitel der Haftung für fehlerhafte Predictive Analytic-Ergebnisse einschlägige Haftungsmöglichkeiten zu untersuchen, die der von einer fehlerhaften Vorhersage betroffenen Einzelperson zur Seite stehen können.

Im Zuge der Untersuchung zeigt sich, dass auch die von großer rechtlicher Bedeutung geprägte Frage, wann für fehlerhafte Informationen über eine Person gehaftet werden muss, in der juristischen Literatur in jüngster Zeit vernachlässigt wurde.15 Es ist deshalb ebenso das Ziel der Arbeit, einen Beitrag für die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten einer Haftung für fehlerhafte Informationen zu leisten. Hierfür wird im zweiten Teil der Arbeit die für Druckwerke entwickelte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Haftung für fehlerhafte Informationen ebenso herangezogen wie die datenschutzrechtlichen Vorschriften zur Richtigkeit und Qualität von Daten.

Bevor eine Haftung im Detail untersucht werden kann, bedarf es einer Auseinandersetzung mit den Grundlagen von Predictive Analytic. In einem einführenden ersten Teil wird deshalb zunächst der Begriff Predictive Analytic untersucht. Nach einer ersten Annäherung wird eine deutsche Definition des zumeist im Englischen verwendeten Begriffes Predictive Analytic aufgestellt. Im Anschluss wird die Entwicklung vorhersagender Analysen zu den heute möglichen Verfahren dargestellt. Desweiteren werden zahlreiche Anwendungsgebiete beschrieben, um eine Referenzmöglichkeit für die anschließende rechtliche Auseinandersetzung zu schaffen. Ein Hauptaugenmerk der Arbeit liegt auf der Darstellung der möglichen Folgen fehlerhafter Predictive Analytic-Anwendungen sowie auf der Frage, ob diese grundsätzlich ersatzfähig sind.16 Diese Auseinandersetzung wird deshalb so umfangreich geführt, da nur eine Ersatzfähigkeit im Ergebnis dem Betroffenen zu seiner Rechtsdurchsetzung verhelfen kann. Aller Skepsis zum Trotz muss jedoch für jede Befassung mit der Materie klar sein, dass der technische Fortschritt, der Predictive Analytic ermöglicht hat, nicht mehr aufzuhalten ist und in Zukunft mit einer weiteren Verbreitung von Predictive Analytic zu rechnen ist. Es hilft deshalb nicht, die Augen vor dieser Entwicklung zu verschließen. Vielmehr muss eine Auseinandersetzung damit stattfinden, unter welchen Umständen derartige Analysemethoden rechtlich zulässig sind.

Um einen Impuls für die rechtliche Diskussion zu geben, beschäftigt sich die Arbeit, neben konservativen Ansätzen wie der Verletzung von klassischen Vertragspflichten, auch mit den Haftungsmöglichkeiten der noch jungen Europäischen Datenschutz-Grundverordnung. Zudem enthält die Untersuchung den Vorstoß, die Produzentenhaftung sowohl auf die Hersteller von Predictive Analytic-Software als auch auf deren Anwender anzuwenden.

B. Einführung in Predictive Analytic

I. Herkunft des Begriffes und Annäherung

Der aus dem Englischen stammende Begriff der Predictive Analytic lässt sich als vorhersagende oder prophezeiende Analyse frei ins Deutsche übersetzen. Der Duden versteht unter Analyse eine Untersuchung, die ein Ganzes in seine Bestandteile zerlegt.17 Dieses klassische Verständnis bezieht den Begriff der Untersuchung auf einen bestehenden Sachverhalt, welcher in seinen Einzelteilen ergründet werden kann. Eine solche Auslegung erfasst jedoch nicht die Eigenschaft einer Predictive Analytic. Deren Zweck ist es nicht, vergangene Ereignisse zu analysieren, sondern Sachverhalte, Ereignisse sowie Verhalten in der Zukunft vorherzusagen. Der Wortteil Predictive (prediction, engl. für Vorhersage/Prognose) charakterisiert die Analyse als zukunftsgerichtet und stellt damit den entscheidenden Unterschied zur sog. Descriptive Analytic dar. Unter dieser ist eine rein beschreibende Analyse zu verstehen, welche sich entsprechend dem oben genannten Verständnis einer Analyse damit befasst, die Vergangenheit zu untersuchen. Descriptive Analytic liefern, ebenso wie Predictive Analytic beide keine Erkenntnisse darüber, warum eine Entwicklung stattgefunden hat.18 Dies ist Aufgabe der sog. Prescriptive Analytic. Im Unterschied zur erklärenden (Prescriptive) und beschreibenden (Descriptive) Analyse stellen Predictive Analytic reine Vorhersagen für in der Zukunft liegende Ereignisse auf. Das Ergebnis einer solchen Vorhersage ist ein Wahrscheinlichkeitswert, der ausschließlich auf Korrelationen beruht, jedoch keine Aussage über die Kausalität des vorhergesagten Ereignisses trifft.19 Dieses Grundverständnis muss für die folgenden Überlegungen stets im Hinterkopf behalten werden.

II. Definition

Für den Begriff Predictive Analytic gibt es erst wenige Versuche, diesen zu definieren. Noch wenigere von diesen wurden im wissenschaftlichen Kontext geäußert. Definitionsversuche werden meist sehr reduziert gehalten wie jener, nach dem es sich bei Predictive Analytic um analytische Verfahren handelt, die künftiges Verhalten vorhersagen.20 Häufig werden Predictive Analytic auch als Teilgebiet21 der sog. Business-Intelligence (BI) erfasst oder als „Technik, die auf BI basiert“.22 Der Begriff Predictive Analytic wird teilweise auch mit Big Data-Analyse umschrieben oder als Prognoseanwendung bezeichnet, die auf Big Data basiert.23 Dieser Definitionsversuch vermengt Big Data und Predictive Analytic, ohne auf die beiden Begriffe näher einzugehen. Das gleiche geschieht mit Begriffen wie Data Mining oder Business Intelligence, die ebenfalls häufig in einem Atemzug mit Predictive Analytic genannt werden.24 Richtig ist, dass sich alle diese Schlagwörter auf das gegenwärtige Phänomen beziehen, Daten nutzbar zu machen und Erkenntnisse aus ihnen abzuleiten. Der heute allerorts verwendete Begriff Big Data sollte jedoch nicht für alle Phänomene der modernen Datenanalyse verwendet werden. Das Schlagwort Big Data stand zunächst lediglich für eine „große Ansammlung möglichst vieler unterschiedlicher Daten, die aus möglichst vielen Quellen stammen.“25 Das „Big“ in Big Data bezog sich darauf, dass diese Daten zu voluminös oder zu unstrukturiert sind, um von gewöhnlichen Datenbanken verarbeitet zu werden.26 Inzwischen, mehrere Jahre nach dem ersten Aufflammen der Big Data-Bewegung, werden unter dem Begriff Big Data zuweilen auch die computergestützten Methoden und Programme gezählt, die zur Analyse der Daten genutzt werden.27 Nichtsdestotrotz sollten einzelne Verfahren, die sich aufgrund ihrer Vorgehensweise von anderen Datenanalyseverfahren unterscheiden, nicht durch die viel zu breit gefasste Bezeichnung als Big Data verallgemeinert werden.28 Predictive Analytic stellen eine konkrete technische Möglichkeit dar, um Vorhersagen für die Zukunft aus Datenmengen gleich welcher Größe zu generieren.29 Die Verwendung von Big Data im Sinne einer sehr großen und heterogenen Datenmasse kann Teil eines Predictive Analytic-Prozesses sein, dies ist jedoch nicht zwingend.

Eine Definition von Predictive Analytic könnte im Deutschen daher wie folgt verwendet werden:

„Predictive Analytic bezeichnet ein computergestütztes Vorgehen zur Vorhersage von Mustern, welches sich auf die Auswertung einer zum Teil großen Menge von Daten aus der Vergangenheit stützt und mittels der gewonnenen Erkenntnisse Vorhersagen für die Zukunft aufstellt.“

III. Entwicklung von vorhersagenden Analysen

Auch wenn der Begriff der „Analytic“ aktuell in aller Munde ist, darf dabei nicht übersehen werden, dass analytische Technologien keineswegs neue Erfindungen sind, sondern in Form von statistischen und mathematischen Analysen schon lange praktiziert werden.30 Die Präsenz der scheinbar allgegenwärtigen Predictive Analytic ist vor allem auf die gestiegenen technischen Möglichkeiten zurückzuführen. Der Wunsch, zukünftige Ereignisse oder menschliches Verhalten vorherzusehen, ist ebenfalls kein Phänomen des Internetzeitalters – seit jeher sehnt sich die Menschheit, sei es mit Hilfe des griechischen Orakels oder der Bemühung von Wahrsagern, Propheten oder Astrologen danach, einen Blick in die Zukunft werfen zu können.31 Anstelle der Orakel der Vergangenheit kann heute auf selbstverständliche Services wie die tägliche Wettervorhersage, aber auch Börsen- und Aktienvorhersagen zugegriffen werden. Auch die eingangs erwähnte Verbreitung von Predictive Analytic zur Prognose von Kundeninteressen, Kaufverhalten und Verhaltensmustern gehört inzwischen zu einer modernen Unternehmensführung. Während Prognosen und Wahrscheinlichkeiten anfangs noch auf mathematisch-statistische Berechnungen einer natürlichen Person zurückzuführen waren, konnten mit zunehmender Entwicklung der Computertechnik Ergebnisse allein durch programmierte Algorithmen gewonnen werden. Eine solche und seit Jahrzehnten bekannte algorithmen-basierte Vorhersage ist das Kredit-Scoring, das im allgemeinen Sprachgebrauch auch gern auf sein Ergebnis, die Bonitätsauskunft, reduziert wird. Aufgrund der Überschneidungen von Predictive Analytic und Scoring-Verfahren sollen das Kredit-Scoring sowie weitere Ausprägungen von Scoring-Verfahren kurz beleuchtet werden.

1. Frühe Scoring-Verfahren zur Kriminalitätsbekämpfung

Scoring-Verfahren werden zwar gemeinhin mit den von der SCHUFA und anderen Auskunfteien vorgenommenen Bonitätsauskünften in Verbindung gebracht, die Methode des Scorings wurde jedoch bereits in den 60er- und 70er-Jahren zur Kriminalitätsvorbeugung genutzt, wie eine Studie des Unabhängigen Datenschutzzentrums Schleswig-Holstein (ULD) zeigt. Dabei wurden „straftäterspezifische Merkmale extrahiert und polizeilich aufgefallenen Personen oder der gesamten Bevölkerung zugeordnet, um sie durch präventive Maßnahmen von der Begehung von Straftaten abzuhalten.“32 Zwar sind diese Verfahren nach ihrer Entwicklung schnell wieder verworfen worden; das Prinzip wurde vor einigen Jahren aber wieder aufgenommen und vermehrt in den USA, aber auch in Teilen Deutschlands, unter dem Schlagwort Predictive Policing genutzt.33

2. Klassisches Kredit-Scoring

Das Paradebeispiel für eine vorhersagende Analyse stellt das von der SCHUFA und anderen Auskunfteien eingesetzte Kredit-Scoring dar. Die erstmalige Verwendung von Scoring-Verfahren durch die SCHUFA wird auf das Jahr 1997 datiert.34 Durch die Vergabe eines sog. Kredit-Scores versuchen Auskunfteien eine Vorhersage über die Bonität einer Person aufzustellen, d.h. vorherzusagen wie zahlungsfähig diese ist. Die Grundlage des Verfahrens beruht auf der Analyse von Daten aus der Vergangenheit, mittels derer eine Prognose für ein ähnliches Ereignis in der Zukunft aufgestellt werden soll.35 Die Idee dieses Vorgehens gründet auf der Annahme, dass sich Personen vergleichbar verhalten. Liegen bei einer Gruppe von Personen ähnliche Merkmale vor, so wird davon ausgegangen, dass auch ihr Verhalten sich ähnelt. Die Einordnung des Einzelnen erfolgt dann über die Zuordnung zu einer vergleichbaren Gruppe von Personen. So werden persönliche Merkmale eines Einzelnen mit den statistischen Werten einer sog. Vergleichsgruppe abgeglichen. Das Ergebnis dieses Abgleichs wird in einem Punkte- oder Prozentwert, dem sog. Score-Wert, ausgedrückt.36 Der so errechnete Punktewert gibt die Höhe der Wahrscheinlichkeit an, mit der eine Person ein bestimmtes Verhalten zeigen wird.37 Auf Basis des entwickelten Wertes entscheidet der Auskunftnehmer, ob der von dem Scoring Analysierte einen Kredit erhält oder nicht. Ursprünglich erfreute sich die Nachfrage solcher Bonitätsauskünfte hauptsächlich aus dem Bankensektor heraus.38 Über die Auskunfteien machten sich Banken ein Bild über die Bonität des anfragenden Kreditnehmers und zogen den Score-Wert als Faktor in ihre Entscheidung über die Kreditgewährung mit ein. Bekannt und marktüblich ist die Einholung einer Bonitätsauskunft auch durch den Vermieter vor Abschluss eines Mietvertrages. Darüber hinaus ist seit einigen Jahren ein Trend zu erkennen, wonach branchenübergreifend Auskünfte bei Auskunfteien eingeholt werden. So ist bei Abschluss eines Mobilfunkvertrages die Einwilligung in eine SCHUFA-Auskunft Standard und auch Online-Shopping ist immer häufiger mit einer gleichzeitigen Bonitätsabfrage verbunden.39 Hintergrund dieses zunehmenden Trends ist der Umstand, dass ein Kauf auf Rechnung trotz der Zunahme elektronischer Zahlsysteme nach wie vor bei Verbrauchern beliebt ist. Er bietet jedoch auch Betrügern die Möglichkeit, Ware zu bestellen und unbezahlt einzubehalten.40 Aus diesem Grund haben auch Online-Händler Scoring-Abfragen für sich entdeckt.41 Auskunfteien reagierten daraufhin mit einem Angebot,42 das Bonitätsauskünfte sogar in Echtzeit übermittelt.43 Die binnen Sekunden eingeholten Scoring-Werte entscheiden dann darüber, ob einem Kunden ein Kauf auf Rechnung in den Zahlungsmöglichkeiten angeboten wird.

3. Erweiterte Scoring-Verfahren

Die Vorgehensweise von Scoring-Verfahren ist jedoch nicht, wie eingangs bereits erwähnt, auf die Vorhersage von Kreditwürdigkeit beschränkt. Mit dem Stichwort „Scoring 2.0“44 oder „Scoring im weiteren Sinne“ werden seit längerem Anwendungsfälle bezeichnet, die weit über die Vorhersage von Bonität hinausgehen.45 Gerade in den letzten Jahren konnte ein Trend beobachtet werden, nach dem klassische Scoring-Verfahren auf verschiedenste Lebensbereiche ausgeweitet wurden.46 Das Prinzip des Scorings, als Einordnung eines Sachverhaltes oder einer Person in ein Ranking, ist heute Bestandteil des alltäglichen Lebens. Ein prominentes Beispiel hierfür ist das Ergebnis einer Suchanfrage bei Google. Das Ranking, welches der Google-Algorithmus von den gefundenen Suchergebnissen erstellt, ist nichts anderes als die Prognose einer Wahrscheinlichkeit, was den Nutzer in diesem Moment interessieren könnte.47 Eine solche Vorhersage von Interessen kann auch zu Marketingzwecken verwendet werden, wenn herausgefunden werden soll, welches Produkt ein Kunde demnächst kaufen will. Derartige Scoring-Verfahren sind auch unter dem Namen Predictive Behavioural Targeting bekannt.48 Durch die enorm gestiegenen technischen Möglichkeiten und die Verfügbarkeit vielfältiger Datenquellen, hat in den letzten Jahren der gesamte Bereich des Marketings Scoring-Verfahren für sich entdeckt. Neben dem Marketing nutzen auch Vertriebsabteilungen Wahrscheinlichkeitswerte, um den Erfolg von Märkten, Standorten und Zielgruppen zu untersuchen. Gleichwohl es sich bei solchen Fällen nicht um klassisches Kredit-Scoring handelt, ist die Methode von derartigen Verfahren mit dem der Bonitätsvorhersage vergleichbar. Überschneidungen werden auch dadurch deutlich, dass Auskunfteien wie die Creditreform solche Markt- und Standortanalysen neben ihren standardmäßigen Bonitätsauskünften anbieten.49 Hinzu kommt, dass sich auch andere menschliche Verhaltensweisen, über Bonität und Kaufinteressen hinaus, mittels Scoring-Methoden prognostizieren lassen. Erwähnenswert sind dabei vor allem die Versuche der Versicherungsbranche mittels datengetriebener Vorhersagen die Risiken ihrer Versicherten besser einzuschätzen und ihren Tarif dementsprechend anzupassen.50 Immer größerer Beliebtheit erfreuen sich auch Scoring-Verfahren für die Bewertung von Arbeitnehmern.51 Diese und viele weitere Beispiele machen deutlich, dass Scoring-Verfahren nicht mehr nur auf die Vorhersage von Kreditwürdigkeit beschränkt sind. Der Anwendungsbereich von Wahrscheinlichkeitsprognosen wandelte sich immer mehr hin zu einer generellen Bewertung menschlichen Verhaltens.52