Dieses Buch dient Menschen, deren Interesse primär ihrem persönlichen Wachstum und ihrer psychischen Gesundheit gewidmet ist. 

Was die Leserinnen und Leser damit in der Praxis anfangen, unterliegt ihrer eigenen Verantwortung. Insbesondere ist der Inhalt nicht als Ersatz für ärztliche oder psychotherapeutische Behandlungen zu verstehen.

Einleitung

Für wen ist dieses Buch?

Workout für die Seele richtet sich an alle1, die etwas für ihre „seelische Fitness“ tun möchten. Während uns in der Regel bewusst ist, dass wir aktiv etwas für unsere körperliche Gesundheit tun müssen, um Krankheiten vorzubeugen, wird die Gesundheit unserer Psyche noch viel zu oft als selbstverständlich angesehen.

Wir achten auf unsere Ernährung oder wissen zumindest, worauf es ankommt, damit unser Körper alle wichtigen Nährstoffe erhält. Wir treiben Sport oder beabsichtigen, uns zukünftig mehr zu bewegen, wenn wir längere Zeit inaktiv waren. Beschwerden machen uns darauf aufmerksam, dass wir unseren Körper vernachlässigt haben: Rückenschmerzen erinnern uns zum Beispiel daran, dass regelmäßige Bewegung in der letzten Zeit zu kurz kam, ein Blick auf die Waage ermahnt uns, den Süßigkeitenkonsum dringend zu reduzieren.

Doch wie steht es um unsere seelische Gesundheit? Die Möglichkeiten, positiven Einfluss auf unsere Psyche auszuüben, scheinen weniger eindeutig und wesentlich komplexer zu sein. Wie kann man denn seelischen Beschwerden vorbeugen? Kleinere Einschränkungen unseres seelischen Wohlbefindens werden meist eher übergangen oder nur unzureichend wahrgenommen. So können sich Beschwerden, die anfangs unbedeutend sind, im Laufe der Zeit zu massiven psychischen Störungen auswachsen. Dann wird es schwierig zurückzuverfolgen, wie sich zum Beispiel aus einer anfangs öfter auftretenden schlechten Laune eine krankheitswertige Depression mit tieftrauriger Stimmung, Verzweiflungs- und Sinnlosigkeitsgefühlen entwickelt hat. Ebenso kann sich Unsicherheit in bestimmten Situationen so zuspitzen, dass Betroffene ihre Wohnung praktisch nicht mehr verlassen.

In diesen Beobachtungen steckt aber eine große Chance: Wenn wir unser Innenleben und auch schon geringfügige seelische Beschwerden achtsamer wahrnehmen, haben wir die Möglichkeit, früher vorbeugend einzugreifen. Und wenn wir dann auch noch wissen, was wir für unsere seelische Fitness aktiv tun können, finden wir schnell zur inneren Balance zurück.

Dieses Buch richtet sich an die vielen Menschen, die mit einer diffusen Unzufriedenheit und / oder anderen seelischen Beschwerden kämpfen, an Menschen, die sich zwar nicht so seelisch krank fühlen, dass sie zwingend eine psychotherapeutische Behandlung brauchen, die aber dennoch merken: Irgendwas stimmt (noch) nicht!

Vielleicht gehören auch Sie zu den Menschen, die nach dem richtigen Input suchen, der ihnen hilft, wieder ausgeglichener, energiegeladener und zufriedener zu werden.

Wenn Sie sich von diesen Beschreibungen angesprochen fühlen, wird Ihnen dieses Buch viele Anstöße geben für die nächsten Schritte in Richtung seelische Gesundheit.

Worum geht es genau?

Kennen Sie das Gefühl, getrieben zu sein? Gelebt zu werden, statt selbst zu leben? Kennen Sie das Gefühl, ständig auf Ansprüche Ihrer Mitmenschen zu reagieren? Oder den Drang, ständig etwas zu kaufen, zu konsumieren und anderen zu gefallen? Und kennen Sie auch den starken Wunsch, endlich innere Ruhe und Ausgeglichenheit zu verspüren? Sehnen Sie sich danach, das Leben endlich wieder selbst in die Hand zu nehmen?

Die Redewendung „das Ruder in die Hand nehmen“ passt hier sehr gut. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Boot ohne Ruder und werden mal hierhin und mal dorthin getrieben. Das mag eine Weile reizvoll sein, aber auf Dauer führt es zu Gefühlen von Ohnmacht, Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit. Wenn Sie das Ruder in die Hand nehmen, können Sie selbst entscheiden, in welche Richtung es gehen soll. Doch nur einmal kurz zu rudern reicht nicht. Um sich in die Richtung eines Zieles zu bewegen, müssen wir beständig rudern, wir müssen aktiv bleiben.

Und so ist es auch in unserem Leben, wenn wir etwas erreichen wollen, zufrieden sein und Erfüllung finden wollen. Das bedeutet eine beständige Weiterentwicklung. So wie jemand, der im Rudern besser werden will, trainieren muss, so sind auch wir herausgefordert, unsere „seelischen Muskeln“ zu trainieren.

Was ist wichtig, damit ein solches Training erfolgreich sein kann? Zum einen ist ein „Trainingsprogramm“ mit unterschiedlichen Einheiten sinnvoll. Diese sollten abwechslungsreich und anregend sein. Sie sollten gut durchdacht sein und vielfältige Fähigkeiten trainieren.

Mindestens genauso wichtig für den Erfolg eines Trainings ist die Motivation. Ohne Motivation wird das Training zur „Eintagsfliege“: Man fängt mit Elan an und hat (zu) hohe Ansprüche, doch schon kurz darauf ist die Motivation verschwunden. Die Folge: Wir erreichen nicht nur unsere Ziele nicht, sondern dieses Misserfolgserlebnis verpasst unserem Selbstwertgefühl auch noch einen gehörigen „Dämpfer“.

Wenn wir etwas in unserem Leben verändern und verbessern möchten, ist es also unabdingbar, dass wir engagiert und motiviert dranbleiben. Und wenn ich von „verändern und verbessern“ spreche, meine ich in erster Linie die Alltagsdinge, auf die wir den meisten Einfluss haben: gelassener und mit einer optimistischen Grundhaltung den Herausforderungen des Lebens begegnen, „toxische“ Beziehungen beenden und gesunde Freundschaften aufbauen, endlich den Job, der nicht zu uns und unseren Werten passt, wechseln …

Zum Thema Veränderung habe ich einmal folgenden Satz gehört (leider weiß ich nicht mehr, von wem er stammt): „Menschen verändern sich nur aus zwei Gründen: große Schmerzen oder große Ziele.“ Nach fast zwei Jahrzehnten psychotherapeutischer Tätigkeit kann ich das nur bestätigen. Wir Menschen hängen sehr am Gewohnten. Manchmal sogar so stark, dass wir lieber am „vertrauten Elend“ festhalten, als uns auf das „ungewohnte Glück“ einzulassen. Deshalb funktioniert Veränderung nur mithilfe einer starken Veränderungsmotivation: großer Leidensdruck oder hohe Ziele.

Workout für die Seele ist also eine Art „Trainingsprogramm für Veränderung und Weiterentwicklung“. Es soll ein Grundverständnis dafür vermitteln, wie persönliches Wachstum und die dazugehörigen Veränderungsschritte nachhaltig gelingen können. Beispiele aus meiner Arbeit als Psychotherapeutin und Coach machen die Ansätze für Sie greifbarer und besser übertragbar auf das eigene Leben.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Spaß und Gesundheit – physisch wie psychisch!

Ihre Alice Romanus-Ludewig


1  „An alle“ ist ein gutes Stichwort: Ich werde im Folgenden zwischen der männlichen (Klient, Psychotherapeut etc.) und der weiblichen Form (Klientin, Psychotherapeutin etc.) wechseln. In allen Fällen sind alle Geschlechter inbegriffen.

1. Nachhaltige Veränderungen: Warum Ratgeber allein nur wenig helfen

Der „Psychoratgeber“-Markt boomt! Ein Blick auf die Bestsellerlisten macht deutlich, dass es einen großen Bedarf an psychologischer Unterstützung gibt. Das ist einerseits bedenklich, andererseits finde ich es aber auch erfreulich, denn es zeigt, dass Menschen sich mit ihrem Innenleben beschäftigen, dass sie versuchen, sich selbst besser zu verstehen, und sich aktiv Rat für ihre Lebensprobleme einholen. Doch ein Buch allein macht noch keinen (Gesundheits-)Meister!

Das Leben stellt uns ständig vor neue Herausforderungen, die wir nur bewältigen können, wenn wir uns weiterentwickeln, Neues dazulernen. Stellen wir uns diesen Herausforderungen nicht, verharren wir in altbekannten Positionen und weigern uns, Veränderung aktiv anzugehen, dann bedroht das unsere seelische Gesundheit. Wir können nicht mehr flexibel auf die sich wandelnden Anforderungen des Lebens reagieren, erstarren und entwickeln vielleicht Krankheitssymptome. Aus diesem Grund bedeutet seelische Stabilität und Gesundheit immer auch: Veränderungsbereitschaft.

1.1 Umsetzen und dranbleiben – leichter gesagt als getan

Ob jemand wirklich nachhaltig von einem Ratgeber (oder anderen Gesundheitstipps und -vorsätzen) profitiert, hängt sehr stark davon ab, ob er nur einen weiteren „Informationsinput“ konsumiert oder ob eine wirkliche Umsetzung (der hoffentlich gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten) erfolgt. Eine Umsetzung besteht – vereinfacht ausgedrückt – aus zwei Schritten:

Meiner Beobachtung – und natürlich auch meiner persönlichen Erfahrung – nach bleiben wir oft beim ersten Schritt stehen. Das führt dazu, dass das neue Verhalten, die neue Erkenntnis, der gute Rat … zwar in der Praxis ausprobiert wird, sich möglicherweise sogar als erfolgreich herausstellt, aber schnell wieder in Vergessenheit gerät.

Was wir dringend brauchen, um Neues nachhaltig zu etablieren, sind sogenannte Anker. Ohne diese Anker „verpufft“ der Veränderungswille und im Sinne des „Eintagsfliegenphänomens“ erleben wir einen Misserfolg mit einer Verletzung unseres Selbstwertgefühls. Ich will es noch etwas überspitzen: Wenn wir nicht bereit sind, uns mit dem zweiten Schritt der Umsetzung zu befassen, können wir uns auch gleich fragen, wie ernst uns der Veränderungswunsch überhaupt ist.

Das Alarmsystem der Seele

Zum Glück haben wir eine Art „Alarmsystem der Seele“, das uns darauf hinweist, dass etwas nicht stimmt, dass etwas verändert werden will. Wir merken es an unserer Stimmung und an unserer Angstbereitschaft. Ich spreche hier bewusst nicht von Depressionen oder Angststörungen, weil es mir darum geht, genau diese leisen Veränderungen wahrzunehmen, die im Vorfeld, als Vorboten einer möglicherweise krankhaften und behandlungsbedürftigen Störung auftauchen. Genau darin steckt die große Chance: dass wir uns vorbeugend um leichtere Störungen unserer seelischen Befindlichkeit kümmern, ihre Botschaft entschlüsseln und entsprechend reagieren. Und ich gehe noch einen Schritt weiter: dass wir gar nicht erst auf diese Veränderungen „warten“, sondern uns durch persönliche Weiterentwicklung seelisch so fit halten, dass Beeinträchtigungen unserer Stimmung seltener auftauchen.

Dabei geht es nicht um Optimierungswahn! Ich möchte Ihnen hier keine Anleitung zur Selbstperfektionierung vorstellen. Ein Leben ganz ohne zeitweise Missstimmung oder verstärkte Ängstlichkeit wird es wohl nicht geben. Es geht mir vielmehr um das (Wieder-)Finden einer inneren Balance, um das Immer-wieder-Zentrieren.

Klingt das für Sie kompliziert? Das ist es nicht. Alles, was wir dazu brauchen, ist ein Grundverständnis von der Funktionsweise unseres Gehirns und den in ihm ablaufenden Lernprozessen. Denn Veränderung heißt Lernen und Lernen findet im Gehirn statt. Dies gilt für alle Lebensbereiche. Deshalb beschäftigt sich dieses Buch nicht mit einem einzelnen Ausschnitt, sondern es geht um Veränderungs- und Lernprozesse im Allgemeinen.

Erfreulicherweise hat es auch in der Psychologie einen Paradigmenwechsel gegeben: von der anfänglich intensiven Beschäftigung mit seelischen Krankheitssymptomen hin zu der Beleuchtung jener Faktoren, die Menschen seelisch stabil und gesund machen. Ein wichtiger Begriff ist in diesem Zusammenhang Resilienz. Wenn Sie die Ausführungen zum Resilienzbegriff aufmerksam lesen, werden Sie verstehen, dass es sich nicht um festgelegte Eigenschaften handelt, sondern um Merkmale, die sich beständig weiterentwickeln und Veränderungsbereitschaft erfordern.

1.2 Zum Modebegriff Resilienz und was wir von ihm lernen können

Wenn wir uns mit seelischer Gesundheit oder, wie ich es ausdrücke, mit seelischer Fitness beschäftigen, taucht unweigerlich der Begriff Resilienz auf. Resilienz ist in aller Munde und Thema vieler Fachbücher und Ratgeber. Die Resilienzforschung beschäftigt sich damit, welche nachweisbaren Faktoren Menschen befähigen, den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen, gesund zu bleiben und sich weiterzuentwickeln. Doch was genau bedeutet Resilienz? Am eingängigsten, um diese Frage zu beantworten, erscheint mir der Vergleich eines resilienten Menschen mit einem Material, welches biegsam und widerstandsfähig zugleich ist. Es bricht selbst bei großem Druck nicht, sondern kehrt nach der Belastung wieder in seine ursprüngliche Form zurück. Ähnlich ist es bei resilienten Menschen: Sie lassen sich von Schicksalsschlägen nicht unterkriegen, sie brechen nicht unter der Last, die einem das Leben manchmal auferlegt. Immer wieder richten sie sich auf, um ihren Weg fortzusetzen. An einer Stelle hinkt der Vergleich allerdings etwas, denn ein resilienter Mensch findet nach einer starken Belastung nicht nur in seine „ursprüngliche Form“ zurück, sondern wächst sogar noch an ihr.

Die Säulen der Resilienz

Es gibt eine ganze Reihe von Studien zum Thema Resilienz. Sie dienen als Basis bei der Beantwortung der spannenden Frage, welche Resilienzfaktoren es gibt und welche gewissermaßen universell gelten. Die wichtigste und meines Erachtens beeindruckendste Resilienzstudie ist die Kauai-Studie:

Die Pionierstudie zur Resilienzentwicklung: die Kauai-Studie

Unter den Ureinwohnern auf der hawaiianischen Insel Kauai herrschten in den 1950er-Jahren sehr widrige Umstände. Inmitten der paradiesischen Landschaften gab es auf der Insel bei den Ureinwohnern massive Probleme. Das Leben vieler Familien war von Armut, Alkoholismus und Gewalt geprägt. Die Kinder vieler Familien wuchsen somit unter ungünstigen Bedingungen auf, wurden oft misshandelt oder vernachlässigt, hatten aber in der Regel eine positive Bindung zu einzelnen Bezugspersonen. Lernen und Schulbildung spielten nur eine untergeordnete Rolle.

In diesem Kontext fand eine der größten psychologischen Längsschnittstudien statt: 40 Jahre lang befragte und beobachtete die amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner gemeinsam mit ihrem Team von der University of California Jungen und Mädchen von Kauai. Es handelte sich um exakt 698 Kinder, alle Kinder, die dort im Jahre 1955 geboren wurden. Von diesen Kindern wuchsen 201 in besonders problembelasteten Familien auf. Sie hatten psychisch kranke oder alkoholsüchtige Eltern, sodass es in diesen Familien häufig zu Streit und zum Teil auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. Diese Kinder waren also schon in frühester Kindheit traumatischen Situationen ausgesetzt. Von den 201 besonders belasteten Kindern entwickelten sich ungefähr zwei Drittel, nämlich 129 Kinder, sehr problematisch gemäß den allgemein erwarteten negativen Folgen ihres ungünstigen Lebens- und Familienumfeldes. Sie hatten schon im Alter von zehn Jahren erhebliche Lern- und Verhaltensprobleme. Bevor sie das Erwachsenenalter erreichten hatten, waren sie kriminell geworden oder zeigten Symptome psychischer Erkrankungen.

Ein Drittel der besonders belasteten Kinder jedoch (exakt 72) gelang es, ihre schwierige Situation zu meistern. Entgegen der eigentlich schlechten Prognose kamen sie gut zurecht, zeigten keinerlei Verhaltensauffälligkeiten, waren sozial gut integriert, schulisch erfolgreich und hatten realistische Ziele für ihr Leben. Auch bei einer Untersuchung dieses resilienten Drittels im Alter von 40 Jahren war keine der Personen arbeitslos, auf Sozialhilfe angewiesen oder straffällig geworden. Alle waren zu beruflich und sozial erfolgreichen Menschen herangewachsen, die selbstbewusst ihr Leben bewältigten.

Diese Ergebnisse von Emmy Werners Studie waren bahnbrechend für die Erkenntnis, dass Kinder selbst unter katastrophalen Ausgangsbedingungen nicht zwangsläufig scheitern, sondern es einigen von ihnen gelingen kann, ihr Leben trotz der widrigen Umstände zu meistern. Emmy Werner hat mit dieser Pionierarbeit erstmals die wesentlichen Faktoren aufgezeigt, die Menschen trotz widrigster Bedingungen gesund erhalten.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Resilienz hauptsächlich auf folgenden Säulen beruht:

Bindungssicherheit

Der Psychologe und Kriminologe Friedrich Lösel (Lösel & Bender, 1999) stellt heraus, dass zwischenmenschliche Bindungen der größte Schutzfaktor gegen die Widrigkeiten des Lebens sind. Gute Beziehungen stellen einen starken Schutz gegen kriminelle Entwicklungen und andere Fehlentwicklungen dar. Die überragende Bedeutung von positiven, fördernden zwischenmenschlichen Bindungen wird von vielen anderen Studien bestätigt.

Aktivität und Lernbereitschaft

Resiliente Charaktere gehen Probleme aktiv an, statt sie passiv auszuhalten. Darüber hinaus sind sie lernbereit und in der Lage, Neues auszuprobieren. Sie erproben gerne neue Gedanken und Handlungen und können sich gut selbst motivieren. Durch „Versuch und Irrtum“ finden sie eher gute Lösungsmöglichkeiten als passive Menschen. Sie sind geprägt durch Neugier und Offenheit.

Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit

Das Selbstwertgefühl hängt eng mit frühen Erfahrungen, vor allem mit den nahen Bezugspersonen, zusammen. Sind diese liebevoll und feinfühlig, wird ein gesundes Selbstwertgefühl im Laufe der kindlichen Entwicklung aufgebaut. (Wie zentral die Bedeutung des Selbstwertgefühls auch für Veränderungsprozesse ist, erfahren Sie in Abschnitt 4.2).

Der etwas sperrige Begriff der Selbstwirksamkeit meint die Erfahrung, durch eigenes Handeln etwas erreichen zu können. Es ist erstaunlich, wie früh Menschen die Erfahrung der Selbstwirksamkeit suchen. Schon kleine Babys haben großes Vergnügen daran, selbst etwas zu bewirken: Etwa wenn sie es schaffen, mit ihren Händen etwas zu berühren, was sich daraufhin bewegt (zum Beispiel ein über ihnen hängendes Mobile). Auch das spätere Greifen-Können bereitet ihnen größten Spaß.

Als Erwachsene brauchen wir ebenfalls immer wieder die Erfahrung, Dinge gestalten und bewegen zu können. Ist uns dies verwehrt oder misslingt es, sind Traurigkeit, Angst und Wut die Folge.

Optimismus und Zielorientierung

Optimistische Menschen gehen davon aus, dass sich etwas an ihrer Lage bessern kann. Sie sind deshalb motivierter, die Dinge anzupacken. Sie nehmen sich etwas vor und rechnen auch damit, es umsetzen zu können. Optimismus hat seine Wurzeln in einem „Urvertrauen“, dem Gefühl und der Überzeugung: „Es wird gut, es macht Sinn“ – selbst unter widrigen Umständen.

Auch Optimismus hat etwas mit frühen stärkenden Bindungserfahrungen zu tun. Er kann aber auch bewusst erlernt werden, zum Beispiel durch „Reframing“ (siehe Abschnitt 2.4). Optimistische oder pessimistische Gedanken sind „Verschaltungen im Gehirn“, die veränderbar sind (siehe Abschnitt 1.3).

Sinnfindung

Sich selbst als Teil eines großen Ganzen sehen, Ziele und Überzeugungen haben, die über die eigene Person hinausgehen, Glaube und Spiritualität – kurz: Sinnfindung – ist ein weiterer wichtiger Resilienzfaktor. Gerade in Krisen, in denen nicht nur Aktivität, sondern vor allem auch Akzeptanz gefordert ist (z. B. angesichts von irreversiblen Unfallfolgen oder Verlusten von nahen Bezugspersonen), kann der Glaube an eine höhere Macht enorm Kraft geben.

Resilienz trainieren?

Dieses Buch ist kein allgemeiner „Resilienzratgeber“. Den Begriff der Resilienz habe ich hier erläutert, um zu verdeutlichen, dass Widerstandskraft keine feste, sondern eine elastische und somit „trainierbare“ Eigenschaft ist. Wie Sie erfahren haben, besteht Resilienz aus verschiedenen Bestandteilen, aus unterschiedlichen Ansatzpunkten, die man getrennt voneinander betrachten kann, die aber zusammenkommen sollten, um ihre volle Wirkung zu entfalten. Resilienz, die Robustheit gegenüber widrigen Einflüssen, ist also ein eher übergeordneter Begriff, so, als würde ich generell von körperlicher Fitness sprechen, aber darunter „Muskelkraft“, Ausdauer, ein starkes Immunsystem usw. subsumieren.

Richtig spannend wird es erst am konkreten Beispiel und an konkreten Herausforderungen. Wenn wir im Alltag gefordert sind, Dinge zu verändern, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen und unsere einmal gesteckten Ziele zu erreichen. Dann müssen wir unsere Resilienz unter Beweis stellen.

Denkanstöße und Impulse zu diesen und ähnlichen Fragen finden Sie in den folgenden Kapiteln.

Wenn Resilienz als eine „Eigenschaft“ verstanden wird, kann schnell der Eindruck entstehen, es handele sich um etwas, was man ist – oder eben nicht. Der „Trainingsaspekt“ von seelischer Widerstandskraft und Gesundheit, die eigene Verantwortung dafür, wie ich mit Krisen umgehe und was ich aus ihnen lerne, und die Einflussmöglichkeiten, die ich habe, um Krisen vorzubeugen, werden bei einem solchen Verständnis fast völlig vernachlässigt.

Den Titel Workout für die Seele habe ich gewählt, weil dieses Buch aufzeigen soll, dass wir uns noch weiter seelisch stärken können, unabhängig von unserem aktuellen „Resilienzstatus“.

Wir können uns die einzelnen Elemente der Resilienz vornehmen und sie gezielt stärken, fördern und „ausbauen“. Auch dazu finden Sie in den folgenden Kapiteln Übungen und Gedankenanregungen.

1.3 Neuroplastizität: die Formbarkeit des Gehirns

Seit etwa zwei Jahrzehnten ist bekannt, dass Gehirnstrukturen nicht nur erfahrungsabhängig entstehen, sondern auch lebenslang durch unsere Erfahrungen umgeformt werden. Der Wissenschaftler Eric Kandel hat für diese Entdeckung den Nobelpreis bekommen.

Glücklicherweise befindet sich unser Gehirn also in ständigem Umbau. Darauf beruht unsere Fähigkeit, lebenslang Neues zu lernen – wenn auch mit abnehmender Schnelligkeit, je älter wir werden. Das gilt nicht nur für Faktenwissen und Handlungsabläufe, sondern auch für neu erworbene Eigenschaften, Fähigkeiten und Denkweisen.

Lernt ein Mensch zum Beispiel die Blindenschrift (Braille), so muss er mit dem rechten Zeigefinger Millionen von kleinen Erhebungen ertasten. Dadurch vergrößert sich das Hirnareal, dass für die Fingerkuppe des rechten Zeigefingers zuständig ist. Ähnlich ist es beim Erlernen des Geigen- oder Gitarrenspiels. Es verändert bzw. erweitert sich das Hirnareal, dass für die Finger der linken Hand zuständig ist, da diese besonders genau greifen müssen. Hingegen verkleinert sich das für eine Hand zuständige Hirnareal, wenn die Hand amputiert wurde.

Gewohnheiten – die „Autobahnen“ in unserem Gehirn

Aber warum fällt es uns trotz der beeindruckenden Form- und Veränderbarkeit unseres Gehirns so schwer, alte Denk- und Verhaltensmuster zu durchbrechen und Dinge zu verändern?

Das hat genau mit dieser Neuroplastizität zu tun: Wenn wir bestimmte Gewohnheiten entwickeln, seien es Denk- oder Handlungsweisen, dann werden ganz bestimmte Nervenverbindungen, sogenannte Synapsen, geknüpft. Werden diese Verknüpfungen häufig aktiviert, verfestigen sie sich und die Neigung, unserer Gewohnheit zu folgen, nimmt zu.

In einem Bild gesprochen: Das erstmalige Verknüpfen einer neuronalen Verbindung gleicht dem Gang durch einen dichten Urwald. Jeder Schritt ist mühsam, es muss ein Weg durch das Dickicht geschlagen werden, denn bisher gibt es noch keinen Pfad, der uns das Durchkommen erleichtert. Auch beim zweiten Mal ist dieser Weg noch mühsam, der Unterschied zum ersten Mal kaum merklich. Wird dieser Weg jedoch täglich benutzt, entsteht irgendwann ein fester und gut begehbarer Pfad, man kommt auch ohne Buschmesser durch und die Pflanzen sind unter den Füßen platt getreten. Wird dieser Weg dann immer öfter genutzt, wird er immer breiter und fester. Irgendwann kann aus dem Pfad eine Straße werden (hier hinkt das Beispiel natürlich ein wenig, denn wer möchte schon eine Straße im Urwald …?!) und aus der Straße kann eine Autobahn werden (okay, auch die möchte man nicht im Urwald).

Haben wir eine Gewohnheit – im Denken oder Handeln – entwickelt, gleicht das dieser „Autobahn im Gehirn“. Ein Reiz von außen und ruckzuck sind wir wieder da, wo es leicht rollt. Wollen wir jedoch eine Gewohnheit verändern, müssen wir erst einmal mühsam neue Synapsen knüpfen. Wir müssen also wieder unser Buschmesser zücken und uns einen neuen Weg durch das Dickicht „erkämpfen“. Und auch diese Anstrengung wird nicht beim zweiten Gang leichter, sondern vielleicht erst beim 100. Was brauchen wir also, um uns nachhaltig zu verändern? – Die Bereitschaft und die Ausdauer, diesen mühsamen Weg zu gehen.

Vielleicht klingt das jetzt für Sie sehr anstrengend und abschreckend. Aber andererseits werden Sie vielleicht schneller als erwartet an den Punkt kommen, an dem sich der „Kampf mit dem Urwald“ als etwas sehr Spannendes herausstellt. Sehnen wir uns nicht alle nach ein bisschen mehr Abenteuer in unserem Leben? Wenn wir unserer kindlichen Entdeckerfreude und Neugier wieder mehr Platz geben, werden wir es auch aufregend finden, neue Erfahrungen zu machen. Denn wir tragen nicht nur den Hang zur Gewohnheit in uns, sondern auch den Wunsch nach Veränderung.

2. Psycho-GPS: Wo stehe ich?

Es ist manchmal gar nicht so einfach, für sich selbst zu entscheiden: Bin ich seelisch gesund? Oder krank? Oder etwas dazwischen, vielleicht „kränkelnd“? Oder einfach nur unzufrieden?

Es gibt eine Reihe von standardisierten Kurztests, die Aufschluss darüber geben können, ob Anzeichen seelischer Belastung oder gar einer psychischen Störung vorliegen. Meistens zielen diese Tests jedoch darauf ab, Anzeichen für ganz bestimmte Erkrankungen zu überprüfen oder die Gesamtbelastung anhand verschiedener Krankheitssymptome einzuschätzen.

Bevor man „offizielle“ Fragebögen o. Ä. zurate zieht, kann man aber auch erst einmal damit beginnen, sich selbst zu beobachten und einen achtsamen Umgang mit sich selbst zu lernen. Erst wenn wir den Autopilotmodus, in dem wir uns im geschäftigen Alltag häufig befinden, stoppen, wenn wir innehalten und bewusst wahrnehmen, was um uns und in uns abläuft, kommen wir wieder bei uns an. Und erst so – mit dem nötigen Abstand – wird es möglich, Gefahren für unsere Gesundheit zu erkennen. Für diese erste Bestandsaufnahme gebrauche ich gerne den von mir entwickelten „Stressregler“.

2.1 Der innere Stressregler

Dieser stellt eine Art „innere Stressskala“ dar und zeigt uns unser inneres Stressniveau auf. Als optische Hilfe ist der Stressregler in drei Bereiche unterteilt (siehe auch Tabelle 2.1):

Tabelle 2.1: Der Stressregler (Vorlage)

Auf der linken Seite des Stressreglers ist Platz zum Beantworten der Frage „Was passiert?“. Das dient dem genauen Beschreiben dessen, was mit den Sinnen wahrgenommen wird (z. B. Kloß im Hals oder Herzrasen). Das Besprechen und Notieren der eigenen Wahrnehmungen ist der erste Schritt. Er setzt einen Prozess in Gang und sorgt nach etwas Übung dafür, dass wir im Alltag genauer nachspüren, was in uns seelisch und körperlich geschieht. Auf diese Weise lernen wir, adäquat einzuschätzen, wann die Spannung zu steigen droht und welche Sinneswahrnehmungen auf welchem Stresslevel typischerweise vorkommen.

Der zweite Schritt besteht darin zu prüfen, welche Strategien und Regulierungsversuche bereits unternommen werden und mit welchem Erfolg. Wirksame Strategien werden auf der rechten Seite des Stressreglers („Was kann ich tun?“) auf Höhe des entsprechenden Stresslevels notiert (z. B. aus dem Raum gehen, Verzögerung einbauen, auf den Atem achten etc.).

Die nächste Herausforderung besteht darin, Ideen zu sammeln für neue Verhaltensweisen, die in ähnlichen Situationen eventuell ebenfalls helfen können. Diese werden ausprobiert und auf Wirksamkeit überprüft. Man kann zu unterschiedlichen Alltagsthemen auch verschiedene Stressregler anlegen (z. B. einen zum Thema „Kinderbetreuung“ und einen zum Thema „Partnerschaftskonflikte“), je nachdem, ob die Strategien auch bei unterschiedlichen Themen greifen oder sehr unterschiedlich ausfallen (müssen).

 Mein Tipp:

Kopieren Sie den Stressregler und malen Sie die entsprechenden Bereiche in den Farben Grün, Gelb und Rot an. Markieren Sie die Linie zwischen sieben und acht mit einem dicken roten Stift. Dann suchen Sie sich eine typische Stressreaktion heraus, die Sie vielleicht sogar häufig erleben. Geben Sie ihr einen Namen, den Sie oben auf das Blatt schreiben (z. B. „Streit mit Partner über Haushaltsaufteilung“ oder „abendlicher Stress beim Zubettbringen des Kindes“).