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Natalie Simanowski
Detlef Dreßlein



Wieder aufstehen

Natalie Simanowski
Detlef Dreßlein



Wieder aufstehen


Die bewegende Geschichte einer Sportlerin, die sich nach einem Attentat an die Weltspitze kämpfte









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Widmung



Dieses Buch widme ich ganz Besonders und zuallererst meinem Mann Oliver. Er war in den letzten neun Jahren immer an und auf meiner Seite. Gerade in den Jahren seit dem Attentat 2003. Ich war nicht immer nett zu ihm und manchmal sehr rücksichtslos. Dafür, dass er dennoch immer hinter dem gestanden hat, was ich tat, danke ich ihm sehr.


Ebenfalls widme ich dieses Buch meiner Familie mit meinen Eltern Gregor und Maria, meinem Bruder Ingo mit seiner Frau Kathy und deren Sohn Magnus sowie meinem Bruder Holger mit seiner Frau Sanja. Auch sie waren immer für mich da, haben mich unterstützt und mir bei Problemen weitergeholfen. Zu meiner Familie gehören auch meine Schwiegereltern Katharina und Horst sowie meine Oma, die mich unterstützt und vor dem Fernseher kräftig mitgefiebert haben.


Auch den kleinen Jonas und dessen Eltern, Gaby und Oliver, möchte ich in die Widmung mit einbeziehen. Ich hoffe sehr, dass mich der Kleine noch einige Jahre begleiten wird und ich immer mit seinen Eltern in Kontakt bleiben werde.


Natürlich gehören an diese Stelle auch meine besten und allerbesten Freundinnen und Freunde sowie meine Bekannten. Gerade Petra und Heike, für die ich in vielen Monaten leider sehr wenig, zu wenig, Zeit gefunden habe, möchte ich für ihr Durchhaltevermögen danken. Birgit Meitner danke ich für ihr unermüdliches Reden für die Eröffnungsfeier in Peking. Constanze mit dem kleinen Louis wünsche ich viel Kraft für die Zukunft.


Mein Physiotherapeut Richie Bayerle vom Olympiastützpunkt Augsburg/Friedberg war und ist immer für mich da, wenn ich gesundheitliche Probleme habe. Ebenso unsere Verbandsärztin Frau Dr. Anja Hirschmüller. Außerdem danke ich Bernd Thurner, Ralf Weggemann und Christof Baur sowie meinen Bundestrainern Adelbert Kromer und Bohumil Pavlicek zusammen mit unserem ehemaligen Sportkoordinator Tobias Engelmann, der TG Viktoria Augsburg mit Frank Lauxtermann, dem TSV Bayer 04 Leverkusen mit Diana Bourrouag und Jörg Frischmann, der RSG Augsburg mit Albert Hofstetter, dem RSV Murnau, USC München, SV Reha Augsburg und meinen ehemaligen Physiotherapeuten Birte Lexow und Tobias Haag.


Zu guter Letzt bleibt mir noch der Dank an meine Sponsoren. Allen voran meine Chefin, Manuela Götz von der ambulanten Kinderkrankenpflege. Sie hat es mir ermöglicht, Profisport zu betreiben, und mir damit einen Traum erfüllt. Ebenfalls ein Dank für die Unterstützung geht an die Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege mit der Klinik in Murnau und deren Ärzten, dem Top-team Peking des Deutschen Behindertensportverbandes mit den Sponsoren Allianz und Telekom sowie die Firmen Pharmacare, Radel Bluschke Lingen und Univega, Bela ciclismo, Schwalbe, Schmolke Carbon, Orthopädietechnik Münsterland, Otto Bock, dem Radlabor Freiburg und der Stiftung Deutsche Sporthilfe.


Ein besonderer Dank geht an meinen Co-Autor Detlef Dreßlein, der seine Sache richtig gut gemacht hat.

Das Attentat

Messer im Rücken



Wie fühlt es sich an, wenn dich jemand umbringen
will?


Bei mir so: Ein Schlag, wie mit der Faust, nicht mit der flachen Hand, auf den Rücken. Wie wenn man in ein Schlagloch fährt und die Wirbelsäule gestaucht wird. Ein Schlag also, kein Stich, was wahrscheinlich mit den Nerven zu tun hat. Oder mit den Gedanken – das Hirn schickt dir einfach eine andere Info. Wer denkt denn so was. Dass dich jemand abstechen will, ein Messer in den Rücken rammt, niemand denkt an so was. Also sagt das Gehirn: Schlag auf den Rücken. Der Kofferraumdeckel ist zugeklappt. Dachte ich zuerst. Wie idiotisch. Bin ja nicht eingeklemmt.


Gleichzeitig: erschrecken, wegsacken. Die Ladekante meines VW Golf, ich packe sie, versuche zu klammern, mich festzuhalten, stehen zu bleiben. Meine Beine haben mich doch immer getragen, an Tausenden Tagen, durch sportliche Wettkämpfe, durch das ganze Leben.


Die Beine nicht mehr spüren. Daliegen. Die Leute. Sie reden. Ich höre sie komische Wörter sagen: »Blutlache«, »Verband«, »Messer«. Was ist eigentlich los? Jemand sagt aufgeregt zu mir: »Der hatte ein Messer, hat zugestochen und ist dann weggerannt«. Ich höre ihr ungläubiges Erschrecken. Muss Oliver anrufen. Wo ist mein Handy? Ich muss ihm doch Bescheid sagen. Die Patientenakten. Die sind doch vertraulich. Und ich Trottel lasse sie auf dem Bürgersteig liegen. Eine klare Verletzung meiner Arbeitsrichtlinien. Verdammt. Wenn das mal keinen Ärger gibt … Solche Sachen denke ich. Und, ja, ich werde vielleicht nie mehr laufen können. Auch das denke ich.


Umwege des Schicksals


Ein Messer also. Eine Klinge, 3 Zentimeter breit, 17 Zentimeter lang, davon 7 Zentimeter in meinem Rücken, zwischen dem elften und dem zwölften Rückenwirbel. Der Täter: Ein psychisch Kranker, ein Freigänger, seit drei Monaten draußen. Hatte einfach seine Medikamente abgesetzt. Und lief seitdem als potenzieller Mörder durch die Gegend. Ich hasse ihn nicht, aber ich kritisiere die, die das zugelassen haben. Warum muss immer erst etwas passieren, bis ein gefährlicher Mensch kontrolliert oder weggesperrt wird? Er habe Stimmen gehört. Die hätten ihm gesagt: »Bring eine Frau um!« Er gehorchte und fast hätte er Erfolg gehabt. Die Lunge hat er nur knapp verfehlt. Das wäre dann sicher tödlich gewesen. Ich wusste sofort, was los war. Ich bin ja Kinderkrankenschwester. Gelähmt. Ein Querschnitt.


Der 25. Juni 2003 war eigentlich ein schöner Tag. Sonnenschein, wie immer in diesem sehr heißen Sommer. Ich war Kinderkrankenschwester und arbeitete im ambulanten Pflegedienst. Immer unterwegs, um zu helfen. Ich war noch in der Probezeit. Meinen letzten Job hatte ich verloren. Weil ich wegen einer langwierigen und mich an meine Grenzen bringende Knieverletzung zehn Monate nur auf Krücken oder gar nicht laufen konnte. Und danach einige Zeit arbeitslos war. Ich war also sehr aufgeregt, wollte alles besonders gut machen. Am Morgen war ich noch bei einem anderen kleinen Patienten gewesen. Etwas außerhalb von München. Ein Kind mit Rückenmarkschädigung, das einen Katheter brauchte. Das arme Ding. Und weil es sich diesen noch nicht selbst legen konnte, kam ich zu Hilfe. Wie paradox, dass mein letzter Patient an dem litt, was kurz danach auch mein Leben behindern würde. Unter anderem.


Danach Freizeit. Ich wollte ein wenig shoppen gehen. Noch ein Gedanke beschäftigte mich: Am Tag zuvor war ich in Schwabing, im Münchner Zentrum, unterwegs. Auch ein Kind, das ich versorgen musste. Im Auftrag des Sozialamts. Schwierige familiäre Verhältnisse, das hatte ich leider oft. Ich klingelte zur vereinbarten Zeit, aber keiner machte auf. Da bleibt immer ein ungutes Gefühl. Und deshalb musste ich nachsehen. Obwohl ich eigentlich frei gehabt hätte. Erster Umweg für mein Schicksal.


Normalerweise parkte ich hinten im Hof. Das ging diesmal nicht, denn der Radweg vor der Einfahrt wurde repariert. Zweiter Umweg. Eine Seitenstraße weiter war eine Baustelle, erst in der nächsten Straße konnte ich endlich parken. In einer Gegend, wo ich noch nie zuvor gewesen war. Dritter Schicksalsumweg. Eigentlich hätte ich dort nicht sein sollen. Nicht an diesem Ort, nicht zu dieser Zeit.


Mit dem Kind war alles in Ordnung. Nach einer Stunde bin ich wieder an meinem Golf, sitze auf dem Fahrersitz und fülle den obligaten Bericht aus. Die Tür steht offen, ein wenig Frischluft tut gut bei der aufgestauten Hitze. Das Radio dudelt, Bayern 3, seichter Gebrauchspop. Dazu arbeitet sich’s am besten. Natürlich reicht der Platz auf dem Formblatt mal wieder nicht aus. Ich muss zum Kofferraum, ein neues Blatt holen. Den Ordner lege ich auf dem Bürgersteig ab – ich werde ja gleich wieder da sein. Wer denkt denn schon daran, dass dieser Gang von zwei, drei Metern irgendwo in Schwabing, halb um mein Auto herum, der letzte war, was ich in meinem alten Leben tun würde. Keiner denkt so was. Verrücktes Leben.


In der Blutlache


Das Nächste, woran ich mich bewusst erinnere, ist diese alte, dünne Frau, die meine Füße hochhebt. Ein paar Minuten muss ich ohnmächtig gewesen sein, nachdem ich zu Boden gesackt bin. So genau weiß das keiner. Die Kripo ist da und ein Krankenwagen. Ich bin völlig klar im Kopf, diktiere dem Beamten brav Adresse und Telefonnummer. Und gleichzeitig bin ich komplett verwirrt. Warum sonst ist es mir so wichtig, dass die Patientenakten ins Auto geräumt werden? Weil sie doch vertraulich sind. Und dass man mir mein Handy gibt, damit ich Oliver, meinen Freund, anrufen kann. Nachher wird mir das albern vorkommen, angesichts dessen, was passiert ist. Sätze kreisen durch meine Erinnerung. »Holt sie doch mal aus der Blutlache raus« und: »Ich schneide Ihnen jetzt das T-Shirt auf.« Geht es hier um mich? Kann ja gar nicht sein. Noch so ein blöder Gedanke: Dass ich den Sport jetzt erst mal abhaken kann, verdammter Mist, wo ich doch gerade erst wieder fit wurde. Endlich, nach zehn Monaten mit Gehstützen, Hunderten Arztbesuchen, endloser Quälerei.


Bestimmt 20 Minuten liege ich so auf der Straße, der Notarzt verbindet mich und prüft, was ich noch bewegen kann. Das ist nicht viel: Meine Arme, meinen Kopf und einen Teil vom Rumpf. Der Rest ist tot. Taub. Gelähmt. Die Wunde nässt wie verrückt. Ein zweites Mal wird sie verbunden, bevor sie mich in den Krankenwagen verfrachten.


Und schon hier in diesem Moment, zwischen all den Stimmen, formt sich ein ganz klarer Gedanke: So also ist es jetzt! Wir können uns hier alle denken, was ich habe, und man kann nichts mehr dran ändern. Ich schau jetzt nach vorne. Zwei Ziele habe ich: Ich will wieder arbeiten und ich will wieder Sport treiben. Ganz egal welchen. Auch wenn es unglaublich klingt, aber ich habe weder in diesem Moment noch irgendwann später wesentlich anders gedacht. Ich glaube, das hat mir unheimlich geholfen. Warum ich nie darüber gegrübelt oder lamentiert habe, dass ich niemals wieder meine Beine richtig bewegen können werde? Ich kenne viele Rollstuhlfahrer und ich kenne viele behinderte Kinder und wusste deshalb, dass auch so ein Leben sehr angenehm und sehr schön sein kann. Vielleicht bin ich auch deswegen selten verzweifelt.


Ich spüre das Ruckeln des Notarztwagens auf dem Kopfsteinpflaster, starre an die Decke und höre, wie sie Sirene und Blaulicht einschalten. Ich albere mit dem Notarzt herum, der mir diese schwarze Kanüle legen will. Schwarz, weiß ich, das sind die größten, die im Angebot sind. Ich sage: »Habt ihr keine kleineren für meine dünnen Ärmchen?« Danach wird es dunkel. Er hat mir eine Kurznarkose gegeben. Erst in der Notaufnahme werde ich wieder wach.


Notaufnahme


Viele Leute wuseln um mich herum. Sechs oder sieben sind es wohl. Eine Schwester will mich beruhigen. Ich sehe es ihr nach, sie ist jung und so haben sie es ihr halt beigebracht – immer schön die Patienten beruhigen. »Warten Sie mal ab«, sagt sie mechanisch, »das wird schon wieder.« Ich sage ihr: »Sie brauchen mich nicht zu beruhigen, ich bin ruhig.« Und dass es nicht wieder wird, das weiß ich auch.


Dazu brauche ich auch nicht den Arzt, der mich auffordert, meine Zehen zu bewegen, meine Füße zu bewegen, was ich nicht kann. »Ich vermute, das ist ein Querschnitt. Eine Rückenmarksverletzung«, sagt er ernst. Ich sage: »Ich weiß.« Er sagt: »Es ist möglich, dass Sie nie mehr werden laufen können.« Weil mir das von Anfang an völlig klar war, erschrecke ich auch nicht. Ich sage zu ihm: »Daran kann ich nichts ändern. Aber ich hab neue Ziele. Ich möchte wieder arbeiten und Sport treiben. Ganz egal welchen. Und dann bei den Paralympics starten.«


Oliver, damals mein Freund und heute mein Ehemann, ist inzwischen auch da. Der Arzt geht zu ihm, flüstert ihm zu: »Sie können jetzt zu ihr. Aber sie ist noch etwas verwirrt.« Um das zu unterstreichen, gibt er unseren Dialog kurz wieder. Da sagt Oliver nur: »Wieso verwirrt? Das meint die völlig ernst.« Er kennt mich eben.


Ich war wirklich schon immer so. Nüchtern, pragmatisch – und ehrgeizig. Mein Bruder Ingo sagte einmal zu mir: »Irgendwann wird dich dein Ehrgeiz noch mal umbringen.« An diesem Tag hat er das revidiert. Er weiß nun, wie gut es ist, großen Ehrgeiz zu haben. »Sonst wärst du nicht da, wo du heute bist«, hat er mir später bestätigt. Denn ich setzte vom ersten Tag an alles daran, das Beste aus der Situation zu machen. Natürlich hatte ich die Hoffnung, irgendwann wieder irgendwie laufen zu können. Auch wenn man genau weiß, wie gering sie ist. Aber genauso unmöglich, wie die Kette der Zufälle anmutet, die mich hierher gebracht hat, genauso kann ja andersherum Unmögliches möglich werden. Aber neben der winzigen Hoffnung ging ich vor allem ganz pragmatisch an das nun Notwendige heran. Und ich habe zum Beispiel das Rollstuhlfahren gelernt. Hoffen auf ein Wunder ist ja gut und schön, aber nie sollte man darüber das Notwendige vergessen.


Warum denken viele Leute so negativ? Ich habe mich das schon immer gefragt und dieses Attentat hat diese Sicht auch nur bestärkt. Ich wundere mich darüber, wie sich viele von Kleinigkeiten runterziehen lassen. Regen am Morgen, Stau auf der Autobahn, Streit mit dem Chef. Also bitte! Mir muss es schon über lange Zeit hinweg sehr, sehr schlecht gehen, damit ich schlechter Laune bin. Ein Jahr vor dem Attentat hatte ich eine schwere Knieverletzung, die mich fast ein Jahr vom Sport abgehalten hat. Vom Laufen, meinem Lebenselixier. Da war ich oft nah am Verzweifeln. Wieso musste ich zu fünf Ärzten gehen, von denen mir jeder etwas anderes erzählte, bevor mir der sechste endlich half und sagte, dass es doch ganz einfach wäre. Klar frage auch ich mich dann, was das jetzt soll. Wo ist der Sinn? Eine Antwort finde ich aber ja nicht, also kann ich es mir auch sparen, darüber nachzudenken. Ich wäge das regelrecht ab: Was habe ich davon, über solchen Ärger nachzudenken? Außer schlechter Laune – nichts. Oder kann mir jemand sagen warum ich an diesem Tag an diesem Ort war?


Besuche


Für Oliver änderte sich natürlich an diesem Tag auch alles. Als der Anruf vom Krankenhaus kam, dachte er anfangs, ich hätte wieder irgendwas mit dem Kreislauf, was öfter vorkam. Als die ihm dann erzählten, was wirklich passiert war, da funktionierte er nur noch. Auch er schien wie betäubt, aber ganz ohne Medikamente. Viel geredet haben wir auch nicht. Eher banale Dinge. Irgendwann kam dann der unvermeidliche Satz: »Das kriegen wir schon hin.« Er ging dann irgendwann wieder, nachdem ich ihn gebeten hatte, ein paar Sachen für mich von zu Hause zu holen. Das zeigt, wie verwirrt ich eigentlich wirklich war. Denn was brauchte ich auf der Intensivstation eigene Kleider?


Auch meine Mutter wurde angerufen. Sie erreichten sie nicht, aber die Nummer des Krankenhauses war per ISDN bei ihr im Telefon gelandet. Als sie zurückrief, bat ich den Pfleger, mir den Hörer zu geben. Ich wollte es ihr selbst sagen. Weil ich mit Betäubungsmitteln ja völlig abgeschossen war, tat mir nichts weh und ich war sogar relativ gut drauf. Also krähte ich ins Telefon: »Ja, hallo Mama. Mich hat jemand mit dem Messer abgestochen, ich lieg hier im Krankenhaus. Ich kann zwar nichts mehr bewegen, aber sonst geht’s mir prima.« Völlig verrückt, die Menschen um mich müssen ja eine Heidenangst gehabt haben. Aber das wurde mir in diesen Stunden gar nicht bewusst.


Auch eine meiner Chefinnen, Katja, besuchte mich. Sie fragte natürlich ebenfalls, wie es mir denn ginge, und auch hier antwortete ich fast schon zynisch: »Außer, dass ich meine Beine nicht mehr bewegen kann, sehr gut.« Ich muss schrecklich ausgesehen haben, weiß wie die Wand hinter mir, benebelt von den Schmerzmitteln, fast vollständig gelähmt und dann so eine Aussage. Als Katja draußen war, musste sie sich erst mal hinsetzen und hat minutenlang geheult.


Ich lag ja auch immer noch auf der Intensivstation. Die Atmosphäre dort macht dieses: »Es geht mir gut«, auch nicht wirklich überzeugend. Für mich war das aber eine gewohnte Umgebung, schließlich habe ich noch ein Jahr zuvor auf einer Intensivstation gearbeitet. Es war also interessant: Ich habe mir mein EKG auf dem Monitor angesehen, habe geschaut, was sie mir für Infusionen anhängen und so weiter. Was will man auch sonst machen auf so einer Intensivstation. Nachgegrübelt habe ich jedenfalls nicht viel.


Ach ja, die Kripo war auch noch da. Ein sehr netter Beamter mit dem hübschen Namen Obereisenbuchner. Er hatte zuvor meine Chefin angerufen, was sich in etwa so angehört hatte: »Guten Tag, Mordkommission. Arbeitet bei Ihnen eine Natalie Heskamp? Ja, die wird in den nächsten Tagen nicht zur Arbeit kommen.« Dass Katja da erst mal völlig geschockt war, schien ihm gar nicht bewusst zu sein. Ich habe ihn später mal gefragt, ob er nicht etwas taktvoller hätte sein können. Da meinte er nur: »Ach, für so einen Scheiß haben wir keine Zeit. Wir haben einen Mordversuch aufzuklären.«


Ein sehr direkter Mensch also, der mich körperlich spontan an einen Schrank erinnert hat. Aber ein toller Polizist. Ihm und seinem Kollegen bin ich bis heute freundschaftlich sehr verbunden. Er hat mich noch mal befragt, meine Fingerabdrücke abgenommen und mir versichert, man werde den Kerl in weniger als drei Tagen kriegen. Und er hat Wort gehalten. Für mich war das enorm wichtig, denn es sollte nicht noch einem Mensch dasselbe passieren wie mir. Eine reicht! Das war wirklich mein vorherrschender Gedanke.


Und auch folgenden Gedanken hatte ich später: Ich war froh, dass es mir passiert ist und nicht jemandem, der nicht so gut damit klarkommen würde. Na ja, vielleicht denke ich manchmal etwas zu sozial.


Ich bin dann irgendwann eingeschlafen. Ich habe sehr gut und sehr tief geschlafen, was natürlich auch an den Betäubungsmitteln lag. Albträume hatte ich keine und habe sie bis heute nicht.


Neues Leben, Tag 1


Am nächsten Morgen. Tag 1 meines neuen Lebens beginnt um sieben Uhr. Kurz bin ich verwirrt. Aber dann wird mir schnell klar: Ach ja, hier bist du. Schmerzen habe ich ja nach wie vor keine. Ein bisschen gefrühstückt, nur Joghurt, danach werde ich von der Intensivstation auf ein Vierbettzimmer verlegt. Mit drei älteren Damen, die ausgiebig über ihre banalen Wehwehchen klagen. Dass da jemand neben ihnen liegt, der sich nicht bewegen kann, sich nicht ohne fremde Hilfe auch nur um Millimeter drehen kann, das scheinen sie nicht zu registrieren. Der einen tut der Arm weh, der anderen der Fuß. Das nervt fürchterlich. Und zeigt mir, was für komische Gründe, ja was für lächerlich nichtige Gründe für viele Menschen ausreichen, um sich schlecht zu fühlen. Als würde es besser werden, wenn sie nur genug jammerten.


Eine der alten Ladys blättert in der heutigen Zeitung. Ich sehe die Titelseite und denke mit einigen Momenten Verzögerung: Hoppla, die kennst du doch. Das bin ich! Ein Foto aus dem Internet. Ich in blauen Trainingshosen bei einem Crosslauf. Endlich bin ich in der Zeitung, sogar auf der Titelseite. Nur auf diese Schlagzeile hätte ich verzichten können: »Unheimlicher Messerstecher in Schwabing.« Und: »Läuferin Natalie (24) hatte keine Chance …« Müßig zu erwähnen, dass ich davon nichts geahnt hatte. Wenn so etwas passiert, gibt die Polizei einen Bericht heraus, in dem der volle Name des Opfers genannt ist. Die Journalisten haben es dann relativ leicht, an Bilder heranzukommen, es gibt ja heutzutage kaum jemanden, der auf Google keinen Treffer liefert. Immerhin wird der volle Name nicht genannt, aber dennoch finde ich es krass, dass man zum Opfer eines Mordanschlags wird und sich dann noch selber in der Zeitung findet. Mit Foto. Und Lebensgeschichte. Ob man will oder nicht. So viel zum Thema Opferschutz. Auch hatten am Tag davor (wie ich später erfuhr) einige Journalisten versucht, zu mir auf die Intensivstation vorzudringen. Sagten einfach, sie seien Freunde von mir. Glücklicherweise war der Pfleger aufgeweckt genug, erst mal nach ihren Namen zu fragen. Natürlich kannte ich sie nicht und sie wurden weg geschickt. Aber schon skurril, was dem Opfer eines Mordanschlags nach dem Attentat alles noch zugemutet wird.


Am Nachmittag kommt meine Mutter. Ich hatte sie am Vorabend am Telefon gerade noch davon abhalten können, sich sofort in einen Zug zu setzen und die 700 Kilometer aus meiner Heimat Gleesen im Emsland nach München zu fahren. Was hätte es gebracht? Ich hätte eh geschlafen, wenn sie angekommen wäre. Aber nun ist sie da. Es ist eine Wohltat, sie zu sehen. Es tut mir gut und ihr auch. Zusammen mit meiner Mutter gelingt es mir dann auch recht schnell, aus diesem unerträglichen Vierbettzimmer rauszukommen. Das Zweierzimmer, in das ich verlegt werde, ist wesentlich angenehmer. Obwohl auch meine dortige Nachbarin nicht ganz Herr ihrer Sinne ist.


Meine Mutter ist Krankenschwester und hat dann kurzerhand meine komplette Pflege übernommen. Das ist leider nötig, denn die Angestellten des Krankenhauses waren völlig überfordert. Ich glaube einfach, die hatten noch nie einen frischen Querschnitt hier. Die mussten mich alle paar Stunden umlagern, damit ich keine wunden Stellen krie


Ich dachte zu diesem Zeitpunkt eigentlich sehr wenig darüber nach, dass ich nun wohl für immer gelähmt sein werde. Zu akut waren die direkten Folgen, unter denen ich zu leiden hatte. Das Schlimmste, das wirklich Allerschlimmste, das absolut Härteste, was ich jemals in meinem Leben erlebt habe, war das, was ich hier die »Situation des Magen-Darm-Trakts« nenne. Auch so ein Nebeneffekt einer Lähmung. Aufs Klo konnte ich nicht mehr gehen. Drei Tage habe ich gegessen und getrunken und dann musste ja irgendwie der Darm entleert werden. Allerdings hat mir das, ich wiederhole mich, völlig überforderte Pflegepersonal die falschen Abführmittel gegeben. Die hätten vielleicht gewirkt, wenn ich gesund und munter herumgesprungen wäre. Bei einer Gelähmten und Bettlägerigen bewirkten sie aber überhaupt nichts. Und anstatt das zu begreifen, kamen die mit noch mehr und noch mehr. Irgendwann habe ich mich übergeben, vier-, fünfmal. Ich habe alles vollgekotzt. Da sind Tabletten mit rausgekommen, die hatte ich zwölf Stunden vorher eingenommen. Die waren noch im Urzustand. Durchfall hatte ich auch, ich konnte ja nichts mehr kontrollieren und so lag ich dann da, weil es jedes Mal mindestens zehn Minuten dauerte, bis überhaupt jemand kam. Irgendwann erklärte man mir dann feierlich: »Wir wissen jetzt, dass es an den Betäubungsmitteln liegt.« Na großartig. Ich hab dann Windeln getragen und das war dann wieder so eine Situation, wo man schon auch hätte heulen können. Mitte zwanzig, vor kaum zwei Tagen noch Leistungssportlerin und jetzt auf Windeln angewiesen. Ich habe aber die Windeln Gott sei dank nicht gespürt und deshalb nicht allzu viel darüber nachgedacht. Obwohl ich sie ja aus der Pflege als gutes Hilfsmittel kenne, war es ein komisches Gefühl zu wissen, sie selbst tragen zu müssen.


Aber schlimmer ist das Gefühl der kompletten Hilflosigkeit. Ich, ein Sportmensch durch und durch, süchtig nach Bewegung, liege hier und kann mich nicht bewegen. Da dachte ich: Scheiße, was ist denn das? Das muss sich aber wieder ändern.


Das andere, was mich plagt, ist die Flüssigkeitsansammlung in meinem Rücken. Durch das Messer wurde ja das Rückenmark und auch die Rückenmarkshaut verletzt. Das kann man sich wie ein Kabel vorstellen: Die Haut umfasst lauter kleine Nervenstränge, die gebündelt sind. Durch die verletzte Haut sickert beständig Gehirnflüssigkeit aus der Wunde. Die Folge ist, dass ich durch den Unterdruck irrsinnige Kopfschmerzen habe und sich auf meinem Rücken eine faustgroße Ausbeulung gebildet hat. Und die Verbindung Nerven–Gehirn sorgt für die irrsinnigen Schmerzen bei jeder Bewegung. Wahrscheinlich hätte man es gleich operieren müssen, aber weil die Nerven geschädigt waren und man sie nicht noch mehr reizen wollte, entschieden sich die Ärzte, noch ein wenig zu warten. Später hat man mir in der Reha in Murnau erzählt, dass man das auf jeden Fall sofort hätte operieren müssen. Aber das kannte ich ja schon aus meiner bisherigen Sportkarriere: Hast du fünf Ärzte, hast du fünf Meinungen.


So vergingen die ersten Tage. Nach drei Tagen kam auch mein Vater und wir haben uns zu dritt das ohnehin schon spartanische Krankenhaus-Essen geteilt, weil wir alle nicht viel runterbrachten. Viel habe ich ansonsten nicht mitbekommen, weil ich immer wieder eingeschlafen bin. Wenn ich wach war, habe ich entweder Harry-Potter-Hörbücher angehört oder ich hatte Besuch. Viele Freunde waren da, alle waren sehr betroffen und auch sehr zögerlich, haben nachgedacht über die Dinge, die sie sagen dürfen. Die Angst habe ich ihnen schnell genommen und am Ende der meisten Besuche war ich es dann, der meinen Besuch getröstet hat – »Bleibt mal ruhig, ich lebe ja noch. Und irgendwie wird es schon weitergehen.«