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   Tamara Hinz– Du bist dir anvertraut– Geistlich und persönlich wachsen– SCM R.Brockaus

Edition

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Herausgeber: Ulrich Eggers

ISBN 978-3-417-22801-4 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26655-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI books GmbH, Leck

2. Auflage 2015

Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: Miriam Gamper-Brühl | Essen | www.dko-design.de

Für die Erforschung des Weltalls haben wir einiges Geschick entwickelt, aber für die Erforschung unseres persönlichen inneren Raums haben wir ähnliche Fähigkeiten nicht entwickelt. Die längste Reise ist die Reise nach innen.

Dag Hammarskjöld1

Inhalt

Inhalt

Dora und Heiner

Teil 1: Was unser Leben ausmacht

Gewollt und geliebt!

Unser innerer und äußerer Mensch

Die DNA des inneren Menschen: unsere Persönlichkeit und unsere Begabungen

Unsere Biografie

Teil 2: Wachsen wollen und Veränderung zulassen

Verantwortlich für das eigene Werden

Tief verwurzelt

Was uns guttut

Veränderungen gestalten

10 Fallen und wieder aufstehen

11 Vergebung gewähren und loslassen

12 Dürreperioden überstehen

Teil 3: Das Ziel im Blick

13 Stark und widerstandsfähig

14 Zur Liebe befähigt

15 Ein Geschenk für andere

16 Du bist dir anvertraut

Anmerkungen

Kapitel 1

Dora und Heiner

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen.

Rainer Maria Rilke

Ich sitze bei Dora und Heiner im Wohnzimmer. Heinerle, wie er von seiner Frau liebevoll genannt wird, reicht mir mit einer Hand, die von Altersflecken übersät ist, einen Teller mit köstlichem Käsekuchen. Den esse ich hier immer, seit Dora weiß, dass dieser Kuchen zu meinen Favoriten zählt. Dora schenkt mir mit etwas zittrigen Händen eine Tasse Kaffee ein, bevor sie vorsichtig und langsam wieder auf das Sofa neben Heiner sinkt. Der lässt seinen Blick kurz über den gedeckten Tisch schweifen und sagt wie nebenbei: „Danke, Jesus!“ Dora legt ihre runzlige in Heiners altersfleckenübersäte Hand und beide strahlen mich erwartungsvoll, mit hellwachen und blitzenden Augen an.

„Na, dann erzähl mal, Kindchen (Dora sagt immer Kindchen zu mir – ungeachtet der Tatsache, dass ich die fünfzig schon längst überschritten habe), erzähl mal, was dein Leben so macht!“

Und ich erzähle, „was mein Leben so macht“. Erzähle von dem, was ich in der letzten Woche erlebt habe, erzähle von meinen Siegen genauso wie von meinen Niederlagen, von lustigen Begebenheiten und solchen, die mich nachdenklich oder traurig gestimmt haben. Ich erzähle von meiner Angst, etwas falsch zu machen, von meiner Unsicherheit und meinem Versagen, aber auch von Momenten, in denen sich alles richtig angefühlt hat und absolut rund- und perfekt gelaufen ist.

Ich erzähle, weil ich mich hier, in diesem Zimmer, bei diesen beiden alten Menschen, absolut verstanden, absolut geliebt und absolut angenommen fühle. Die beiden strahlen solch eine Wärme und Herzensgüte aus, dass man eigentlich gar nicht anders kann, als sich rundherum wohlzufühlen.

Von Heiner und Dora hört man keine selbstgerechten Sätze, wie: „Das hätte es bei uns früher nicht gegeben!“ Man sieht bei ihnen keinen erhobenen Zeigefinger und bekommt keine frömmelnden Vorträge zu hören. Von ihnen fühle ich mich nie auf unangenehme Weise belehrt, obwohl das Zusammensein mit ihnen und das, was sie sagen, Lehre pur ist!

Wenn Heiner und Dora etwas sagen, dann reden sie entweder von sich persönlich oder sie sagen „uns“ und „wir“. So, als würden sie ihre Arme weit öffnen und mich in ihre Erfahrungen und Lernprozesse mit hineinnehmen. In ihrer Gegenwart gibt es kein „oben“ und kein „unten“, sondern nur ein Nebeneinander, ein Zusammen und ein gemeinsames Unterwegssein in der Nachfolge.

Und noch etwas lässt mich ihre Gegenwart so genießen: Die beiden sind abgrundtief ehrlich. Als ich ihnen letzthin von einer Situation erzähle, in der ich mich meinem Mann gegenüber sehr unschön benommen habe, nickt Heiner. „Du, das kenn ich leider auch“, sagt er mit bekümmerter Miene, „ich war gegenüber Dora und unseren Kindern manchmal ein richtiger Stieselkopp und habe ihnen damit oft sehr wehgetan. Für manche Szene schäme ich mich noch heute.“

Ich kann mir zwar nicht so richtig vorstellen, dass dieser liebenswürdige alte Herr auch ein „Stieselkopp“ sein kann, aber da Dora wissend nickt, scheint es zu stimmen. „Ich bin so dankbar, dass unser Herr mir immer wieder vergibt. Und meine Dorle tut das – Gott sei’s gedankt – auch“, schiebt er hinterher und umfängt seine Frau mit einem liebevollen Blick.

„Unser Herr“ ist in diesem Raum allgegenwärtig. Jesus ist hier so stark und spürbar anwesend, dass ich kein bisschen überrascht oder irritiert wäre, säße er leibhaftig und sichtbar zwischen Dora und Heiner auf der Couch. Von ihm reden die beiden mit einer einzigartigen Mischung aus Achtung, Respekt und großem Vertrautsein. Sie reden von einem Jesus, der unglaublich faszinierend, begeisternd und uns zugewandt ist, und malen mir dabei immer wieder vor Augen, wie das Leben mit ihm sein kann und wie es ursprünglich gedacht war. Wenn ich bei Dora und Heiner bin, bekomme ich eine irre Lust, diesen Jesus noch besser kennenzulernen, und möchte sofort alles für ihn stehen und liegen lassen. Mit „ihrem“ Jesus zusammen zu sein, scheint ein Fest zu sein – und bei diesem Fest will ich unbedingt dabei sein!

Ich könnte den beiden stundenlang zuhören, wenn sie mir dann erzählen, „was ihr Leben so macht“. Wie sie mal sehr humorig (dann stoßen die beiden sich an und kichern wie zwei alberne Teenager), mal sehr verletzlich, mal sehr sachlich oder auch zu Tränen gerührt von ihrem Leben erzählen. Und ich? Ich will eigentlich immer nur eins wissen: Wie wird man so? So authentisch, so souverän, so humorvoll, so geradlinig, so stark, so liebevoll und wertschätzend, so unglaublich … jesusähnlich?

Darauf angesprochen, antwortet mir Heiner mit einem Rilkezitat: „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“, sagt er und erklärt: „Weißt du, wir kommen in unserem Leben (da ist es wieder, dieses ‚wir‘) immer wieder an die gleichen Stellen, haben immer wieder die gleichen Themen zu bearbeiten, immer wieder die gleichen Knackpunkte. Das hat etwas mit unserer Persönlichkeit, mit unseren Wunden und mit unseren ganz eigenen Versuchlichkeiten zu tun. Aber wenn wir dranbleiben und uns in diesen Situationen immer wieder entscheiden, Jesus hinterherzulaufen, dann wachsen wir spiralförmig nach oben.“

„Genau“, ergänzt Dora, „das sind aber meistens gar keine gewichtigen Momente, sondern in unzähligen kleinen Situationen des Alltages entscheiden wir, wie wir leben wollen. Ob wir nach rechts gehen oder nach links. Ob wir mit Jesus gehen oder ohne ihn. Ob wir geistlich wachsen oder stehen bleiben.“ Sie blickt mich nachdenklich an. „Weißt du, du bist dir anvertraut und bist verantwortlich dafür, was du aus dir und deinem Leben machst … Ich zeig dir mal was.“

Überraschend kraftvoll steht sie von der Couch auf, geht zu einem Schrank und öffnet ihn. Im mittleren Fach stehen, ordentlich gestapelt und beschriftet, jede Menge Pappkartons. Dora greift wahllos nach einem der Kartons, zieht ihn heraus, stellt ihn auf den Tisch und hebt den Deckel ab. Neugierig schiele ich hinein und sehe jede Menge alte Schreibhefte. Manche sind bereits etwas vergilbt, andere arg zerfleddert. „Hier“, sie nimmt das oberste Heft in die Hand, schlägt es auf und hält es mir hin, „ich habe mir beim Bibellesen, bei Predigten oder im Hauskreis oft Notizen gemacht. Das war und ist meine persönliche Wachstumshilfe.“

Ich nehme ihr das Heft aus der Hand und blättere darin. Tatsächlich: In ordentlicher Handschrift steht oben das Datum, dann kommt der Bibeltext, um den es ging, und darunter folgen einige Stichworte zum Inhalt. Dann ein kurzer Absatz und …

„Was ist das?“, frage ich und zeige auf die Zeilen, die da noch stehen. „Da“, sagt Dora, „habe ich mir aufgeschrieben, was ich aus dem, was ich gelesen habe, lernen möchte, was ich ändern will oder was meine nächsten Schritte in dieser Sache sein sollen. Diese konkreten Schritte, die sind so wichtig, weil …“, sie überlegt einen Moment und sucht nach Worten, „… weil du dir damit einen Weg für dein geistliches und persönliches Wachstum bahnst.

Und da“, sie zeigt mit ihrem zittrigen Runzelfinger auf die nachfolgenden Zeilen, „da habe ich mir noch weitere Bibelstellen aufgeschrieben, die mir zu diesem Thema eingefallen sind, und hab sie dann noch einmal nachgelesen.“ Sie beugt sich zu mir hinüber und zwinkert mir verschwörerisch zu: „Weißt du, ohne Bibel geht da nix.“ Sie lehnt sich zufrieden wieder zurück. „Du glaubst es nicht, aber diesen ganzen Spuren zu folgen – das war manchmal richtig spannend!“

Erstaunt sehe ich sie an. So, so – richtig spannend war das also … Ich bin erst mal sprachlos und denke an gefühlte tausend Predigten, die ich schon gehört, Bibeltexte, die ich gelesen, und Bibelgesprächsgruppen, denen ich beigewohnt habe. Und wie wenig sie mich und mein Leben verändert haben – weil ich nicht drangeblieben bin, weil ich zu abgelenkt oder zu bequem war und daher eine Stunde später schon wieder alles vergessen hatte, was Jesus mir vielleicht hatte sagen wollen.

„Und das hast du dann auch alles in deinem Leben umgesetzt?“, frage ich neugierig. Bevor Dora antworten kann, meldet Heiner sich mit einem verschmitzten Grinsen zu Wort. „Das hätte meine liebe Dorle gerne alles umgesetzt“, feixt er und erntet dafür einen liebevollen Klaps von seiner Frau.

Während die beiden noch hin- und herplänkeln, mache ich mir so meine Gedanken. Man wird also tatsächlich nicht „einfach so“ zu solch einem Menschen wie Dora oder wie Heiner. Geistliches und persönliches Wachstum passieren offenbar nicht automatisch und gänzlich ohne unser Zutun, sondern das Ganze scheint das Ergebnis von vielen kleinen und großen Entscheidungen und einer ehrlichen Auseinandersetzung mit sich selbst zu sein. Hat anscheinend auch mit intensivem Bibelstudium zu tun, mit konkreten Schritten und beharrlichem Dranbleiben. Wie hat Dora das genannt? „Dem geistlichen und persönlichen Wachstum einen Weg bahnen …“

Eigenartigerweise erzeugen diese Gedanken in mir weder Druck, noch geben sie mir das Gefühl, eine geistliche Niete zu sein, weil ich vermutlich niemals so diszipliniert und strukturiert vorgehen werde, wie Dora es mir vormacht. Solche frustrierenden Gedanken und Gefühle stellen sich bei mir in Gegenwart von dermaßen vorbildlichen Menschen normalerweise im Bruchteil von Sekunden ein. Aber das ist eben auch typisch für diese beiden wunderbaren Menschen: Ich fühle mich von ihnen extrem motiviert, geistlich zu wachsen, aber immer so, wie es zu mir passt. Dora und Heiner spornen mich an, mein Bestes zu geben, aber fordern niemals von mir, ihr Bestes zu kopieren. Sie ermutigen mich, die Quintessenz aus dem, was sie sagen, herauszufiltern und diese dann in meinem Tempo, mit meinen Möglichkeiten und in meiner Lebenswirklichkeit umzusetzen. Und mehr als alles andere hat dieser von mir ersehnte Entwicklungs- und Reifungsprozess ganz eindeutig mit dem zu tun, was diese beiden aus allen Poren verströmen: einer absolut vertrauensvollen, fröhlich-entspannten Beziehung zu Jesus.

Ich bin neugierig geworden, möchte mich ebenfalls auf Spurensuche begeben und will nachforschen, was es mit solch einem Leben in wachsenden Ringen auf sich hat. Möchte dem Geheimnis geistlicher und persönlicher Reife nachspüren. Und dabei meine Frage mitnehmen: Wie wird man so? So authentisch, so souverän, so humorvoll, so geradlinig, so stark, so liebevoll und wertschätzend, so unglaublich … jesusähnlich?

Und genau wie Dora und Heiner möchte ich „Wir“ und vielleicht das eine oder andere Mal auch „Ich“ sagen und damit uns alle, die wir Jesus hinterherlaufen, mit hineinnehmen. Möchte ausmalen, wie es sein könnte und wie es ursprünglich vielleicht gedacht war. Möchte dabei aber zutiefst ehrlich bleiben und aufzeigen, wo es bei uns manchmal „hakt“.

Und wie Dora möchte ich, nachdem ich die guten Wahrheiten erarbeitet habe, nicht in der Theorie hängen bleiben, sondern konkret werden, Schritte in die richtige Richtung gehen und damit einen Weg bahnen. Einen Weg, der andere dazu einlädt, mitzugehen – gemäß ihrem Tempo, ihren Möglichkeiten und ihrer Lebenswirklichkeit. Aber vor allem will ich forschen, was die Bibel zu diesem Thema sagt. Denn, so viel habe ich bereits verstanden: „… ohne Bibel geht da nix!“

Ein Satz von Dora hat sich bei mir ganz tief eingegraben. Es ist, so glaube ich, fast der einzige Satz, den sie nicht in dem für sie typischen „wir“ formuliert hat, sondern mit dem sie mich direkt angesprochen hat: „Weißt du“, hat sie gesagt, „du bist dir anvertraut …“

TEIL 1

WAS UNSER LEBEN AUSMACHT

Kapitel 2

Gewollt und geliebt!

Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch.

Irenäus von Lyon

Geliebt! – Immer noch atme ich tief durch, wenn ich diese Aussage über mein Leben höre. Denn für mich ist dieser Zuspruch alles andere als selbstverständlich. Ich habe meine liebenswerten und starken Seiten, mit denen ich ganz passabel und vorzeigbar bin – durchaus. Aber ich kann auch anders. Ich kann anstrengend, schwierig und kontrollierend sein. Manchmal kann ich richtig fies und ungerecht werden. Ich kann dichtmachen, mich abwenden und dem anderen die kalte Schulter zeigen oder mich komplett in meinen Emotionen vergaloppieren. Ich kann in einem Moment sehr selbstüberzeugt sein und im nächsten ein Häufchen Elend, das nach etwas Lob und Anerkennung lechzt. Ich kann rachsüchtig und stolz sein.

Und manchmal, wenn diese unangenehmen und dunklen Seiten aus mir hervorbrechen und andere Menschen mich auf diese Weise kennenlernen, dann packt mich die nackte Angst, ob ich dieses Mal den Bogen nicht überspannt habe. Ob mein Mann, meine Kinder oder gute Freunde und Mitarbeiter sich nicht doch irgendwann von mir abwenden werden und sagen: „Jetzt reicht’s! Das Maß ist voll!“ Ob nicht doch irgendwann der Punkt kommt, wo der andere geht – weil ich zu weit gegangen bin. Weil ihre Liebe mich nicht aushält.

Ich weiß – und das wird wohl der Grund für meine Angst sein –, dass mir mit Menschen so etwas tatsächlich passieren könnte. Weil es eben Menschen sind und ihre Liebesfähigkeit daher auch begrenzt ist.

Der Einzige, bei dem ich diese Angst nicht habe, ist Jesus. Ich habe bei ihm absolut keine Angst, dass er sich irgendwann vielleicht doch von mir abwenden wird. Ich kenne niemanden, der mich so bedingungslos liebt wie er. Er wird tatsächlich niemals gehen und wird mich niemals alleinlassen. Auch wenn ich es noch so sehr vermasselt habe.

Das Verrückte dabei ist: Ich käme nie auf die Idee, diese bedingungslose Liebe auszunutzen. Im Gegenteil: Diese absolute Sicherheit, die ich bei Jesus erlebe, macht mir Mut, Schädliches loszulassen und Sünde zu überwinden. Spornt mich an, alles für ihn zu geben, was ich habe und zu geben vermag. Diese Liebe zaubert das Beste und Schönste in mir hervor!

Die Überschrift Geliebt! steht aber nicht nur über meinem Leben, sondern über dem Leben eines jeden Menschen. Warum ich das mit großer Gewissheit und aus tiefster Überzeugung sagen kann? Für die Antwort müssen wir einen Blick in die Bibel werfen („… ohne Bibel geht da nix!“) und nachforschen, wie alles begann. Müssen uns ansehen, was es mit dieser Liebe Gottes auf sich hat und ob sie tatsächlich so tragfähig und belastbar ist wie von mir geschildert. So tragfähig, dass wir das Leben, welches uns anvertraut wurde, auf diesem Fundament aufbauen können.

Eine der wichtigsten Grundaussagen über unser Leben finden wir in einer der beiden Erzählungen über die Erschaffung des Menschen.

Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.

Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.

Und Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und behüte.

1. Mose 2,7-9.15

Wie alles begann

Mit sehr viel Liebe zum Detail, mit wunderschönen und aussagekräftigen Bildern wird in der Schöpfungserzählung das Wesentliche dessen, was unser Leben ursprünglich ausmacht, entfaltet. Der eigentliche Grund, warum wir leben, ist Gott. Gott will uns! Was für eine großartige Überschrift über unserem Leben: Ich bin gewollt!

Je nachdem, wie unser Leben verläuft, müssen wir in unserem Lebensbuch immer wieder zu diesem Anfang zurückblättern und uns die Überschrift „Von Gott gewollt“ erneut vergegenwärtigen. Denn wir alle kennen Situationen, in denen wir uns ungewollt und überflüssig fühlen. „Ob ich da bin oder nicht, interessiert doch keine Sau“ – diese Aussage eines Jugendlichen mag etwas drastisch klingen, spiegelt aber ein Lebensgefühl wider, was uns durchaus auch als Erwachsene ab und an überfallen kann. Befinden wir uns gerade in einer sehr erfüllenden Phase und werden gebraucht oder haben wir eine wichtige Aufgabe, die uns Bedeutung verleiht, dann mag dieses Gefühl in den Hintergrund treten. Aber haben wir den Eindruck, irgendwie nutzlos zu sein, dann fühlen wir uns einsam. Werden wir von Menschen zurückgewiesen, ist diese „Keine Sau interessiert sich für mich“-Stimmung ganz schnell wieder da. Für uns und unser Wohlgefühl ist es eben existenziell wichtig, gewollt zu sein. Deshalb versuchen wir unsere Beziehungen, unser Leben und Arbeiten so zu gestalten, dass dieses „Du bist gewollt“ an vielen Stellen erfahrbar wird. Und das ist gut so! Letztlich steckt jedoch in diesem Bedürfnis eine Ursehnsucht nach Gott und er ist auch der Einzige, der diese Sehnsucht mit seinem „Ich will dich“ wirklich stillen kann.

Dieser Gott, der nun den Menschen erschafft, ist nicht irgendein Gott, sondern der Gott, der sich seinen Menschen später vorstellt. Im hebräischen Grundtext steht hier statt „Gott, der Herr, formte den Menschen“ „Jahwe Elohim formte den Menschen“.

Elohim war die ganz allgemeine Bezeichnung für Gott. Jahwe hingegen war der Name Gottes, mit dem er sich später auch Mose vorgestellt hat. Auf die Frage von Mose, wie er ihn denn nennen solle, antwortete Gott: „Ich bin Jahwe“, was so viel bedeutet wie: Ich bin der „Ich bin, der ich bin“ oder der „Ich bin da“ oder, besser noch: der „Ich bin für dich da“ (2. Mose 3,13-15). Denn Gottes Dasein in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ja, darüber hinaus auch außerhalb von Raum und Zeit war nie etwas Abstraktes, sondern manifestierte sich in der Geschichte und suchte immer die liebende Beziehung zu uns Menschen. Bis heute! Sein Dasein war und ist handfest in seinem „Für uns sein“ erlebbar.

Der, der sagt: „Ich will dich“, schmeißt uns also nicht einfach ins Leben und überlässt uns dann desinteressiert unserem Schicksal. Wenn er mit uns spricht, dreht er uns nicht den Rücken zu, sondern ist uns zugewandt, schaut uns aufmerksam an und hört uns interessiert zu. Sein Reden und Handeln in unserem Leben ist auf unser Wohl ausgerichtet. Gott ist unser Verbündeter, der uns fördern und unterstützen will und der an unserer Seite kämpft. Auf diese Überschrift müssen wir uns im Laufe unseres Lebens immer wieder zurückbesinnen.

Von Staub und Sehnsucht

Dieser „Ich bin für dich da“, der will, dass der Mensch ins Leben gerufen wird, formt nun aus der Erde des Ackerbodens einen Menschen. Das hebräische Wort, welches hier mit „Ackerboden“ übersetzt ist, lässt sich besser mit dem Wort „Staub“ wiedergeben. Der Mensch wurde aus Staub geformt. Bei dem Wort „Ackerboden“ könnte man noch an nahrhafte, vielleicht lehmhaltige und gut formbare Erde denken. Da bringt der Boden gewisse Qualitäten mit, die das Modulieren des Menschen unterstützen oder erleichtern. Aber Staub? Staub zerrinnt zwischen den Fingern. Staub ist Staub-trocken, ihm fehlen Substanz und Voraussetzungen, um daraus etwas zu gestalten. Staub pustet, wischt oder fegt man weg. Er ist der Inbegriff von Vergänglichkeit. Zerfällt etwas zu Staub, ist nichts Substanzielles mehr übrig. Staub ist eigentlich … nichts.

Was für eine Einsicht über den Menschen! Wir bringen in diesen Schöpfungsvorgang nichts mit und leisten keinen eigenen Beitrag. Alles, was wir haben, und alles, was wir sind, haben und sind wir ausschließlich durch den „Ich bin für dich da“. Wir sind Abhängige, die ohne Gott überhaupt nicht existieren können. Da bleibt kein Raum für unangebrachten Stolz oder sich selbst auf die Schulter klopfende Eitelkeit, aber umso mehr für Staunen und Dankbarkeit. Aus Staub etwas zu formen – das bringt nur Gott fertig!

Und jetzt hält er dieses kleine Staubmännchen in den Händen und bläst ihm ganz vorsichtig den Lebensatem in die Nase. Wie viel Zärtlichkeit, wie viel Vorsicht und wie viel Achtsamkeit schwingen dabei mit! Durch den Lebensatem Gottes wird der Mensch ein lebendiges Wesen. Hier steht eigentlich: „So wurde der Mensch zu einer lebendigen Seele.“ Dieses Wort „Seele“ meint im Hebräischen in seiner Grundbedeutung die Kehle oder den Schlund eines Lebewesens und damit seine Bedürftigkeit, sein Angewiesensein und seine Verletzlichkeit. Wir sind wie junge Vögel, die ständig ihren Schnabel aufsperren, den Eltern ihre offene Kehle hinhalten und erwarten, dass da immerfort etwas hineingestopft wird.

Ich finde, dieses Bild ist sehr passend, trifft es doch unser Lebensgefühl nur zu gut! Wir leben unser Leben immer mit einer ganz tiefen Bedürftigkeit und ständigen Sehnsucht nach Erfüllung und Sättigung. Diese Sehnsucht tragen wir in uns, weil Gott sie in uns hineingelegt und uns so geschaffen hat. Deswegen sind unsere Sehnsucht nach Leben und unser Verlangen nach Erfüllung in sich niemals etwas Schlechtes, sondern gehören wesensmäßig zu unserem Menschsein. Wir sollten uns davor hüten, unsere Sehnsüchte und Bedürfnisse zu verdrängen oder zu verleugnen. Im Gegenteil: Je stärker sich unerfüllte Sehnsüchte und unklare Bedürfnisse in uns melden, umso genauer sollten wir hinschauen, uns mit ihnen auseinandersetzen und verantwortlich dafür sorgen, dass sie im Sinne Gottes gestillt werden.

Gott setzt den Menschen nun in einen Garten mit verlockend anzusehender Vegetation und köstlichen Früchten. Er bietet seinem Geschöpf einen grandiosen Lebensraum an, in dem er in vollen Zügen genießen und sich freuen kann, in dem er nach Herzenslust ausprobieren und kreativ tätig werden kann, in dem er gestalten und die von Gott geschenkten Begabungen entfalten kann.

Das ist unser Leben: auf Beziehung zum Schöpfer hin angelegt, mit einer tiefen Sehnsucht und Bedürftigkeit, die nur von ihm gestillt werden kann, mit einem ungeheuren Potenzial, das entfaltet und entwickelt werden möchte, und mit einer großen Lebens- und Daseinslust, die in uns hineingelegt wurde.

Misstrauisch

Direkt am Anfang der Bibel wird aber auch erzählt, dass wir Menschen es nicht hinbekommen, in dieser Beziehung zu leben. Wir glauben Gott sein „Ich bin für dich da“ nicht. Wir misstrauen der Lebens- und Daseinslust, die er uns anbietet. Wir glauben nicht, dass unsere Sehnsucht und Bedürftigkeit bei ihm absolut gestillt und beantwortet werden können. Wir kriegen es nicht hin, all die guten Absichten Gottes in unserem Leben umzusetzen. Wir machen uns auch nur selten bewusst, dass wir nur Staub sind, der ausschließlich durch Gottes Schöpfungshandeln Formen annehmen kann, und dass wir jeden Tag neu den Lebensatem Gottes eingehaucht bekommen müssen, um überhaupt lebendig zu sein.

Wir misstrauen, wir verdrehen, wir verzerren, wir schaden und verletzen uns selbst … und Gott. Die Geschichte von der Abwendung des Menschen von Gott, die uns in 1. Mose 3 erzählt wird, findet in unserem Leben tagtäglich in unzähligen Situationen statt, und die misstrauische Frage: „Sollte Gott gesagt haben?“, kommt uns sofort in den Sinn, wenn unser Vertrauen herausgefordert ist.

Dennoch hört bei Gott die Geschichte an dieser Stelle nicht auf. Das Staubmännchen wird nicht fallen gelassen, weggewischt oder weggepustet. Der „Ich bin für dich da“ macht weiter und setzt noch einmal an:

„Als aber die Güte und Menschenliebe Gottes, unseres Retters, erschien, hat er uns gerettet – nicht weil wir Werke vollbracht hätten, die uns gerecht machen können, sondern aufgrund seines Erbarmens“ (Titus 3,4-5a; EÜ). Da tritt er noch einmal auf den Plan, der „Ich bin für dich da“, und offenbart sich wieder als Menschenliebhaber und Menschenfreund! Schafft wieder aus dem Nichts etwas Neues. Denn das, was wir ihm anbieten können, unsere Werke, ist nichts und zerfällt bei genauerem Hinsehen sofort zu Staub. Gott tut wieder alles und wir können dem nichts hinzufügen. Seine Güte und Menschenliebe haben uns gerettet! In Jesus hat diese Menschenliebe und Menschenfreundlichkeit Gottes ihren Höhepunkt erreicht. Sie hat unter uns gelebt und ist unseren Tod gestorben. Gott hat sein „Ich bin für dich da“ noch einmal unter Einsatz seines Lebens unter Beweis gestellt. Mehr „Ich bin für dich da“ geht nicht. Einen noch größeren Beweis für seine Liebe kann es nicht geben.

Diese Liebe ist also tatsächlich das Fundament, das trägt, egal wie unser Leben verläuft und wie es sich gestaltet. Und von dieser Liebe kann uns nichts mehr trennen! Paulus bringt es in seinem Brief an die Römer auf den Punkt: „Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder der Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Römer 8,38-39).

Die wichtigste Botschaft, die uns mitgegeben wurde und die eine unveränderliche Grundvoraussetzung für unser Leben ist, heißt: „Du bist eine von Gott Geliebte! Du bist ein von Gott Geliebter!“

Die meisten von uns werden diese Aussage als theologische Richtigkeit durchwinken. Wir alle haben diese Wahrheit wahrscheinlich schon zigmal gehört und gelesen. Doch meine Sehnsucht ist, dass diese Wahrheit in meinem Herzen immer tiefere Wurzeln schlägt und mich und mein Leben nachhaltig verändert. Denn es macht einen großen Unterschied, ob ich in dieser Liebe lebe oder ob ich sie nur als theologische Richtigkeit im Kopf habe. Es macht einen Unterschied, ob ich das mir anvertraute Leben unter dem Aspekt des Geliebtseins gestalte oder ob mich andere, vielleicht sogar fromm verbrämte Motive antreiben. Lebe ich als Geliebte, dann wird meine Beziehung zu Gott nicht von Angst oder Zwang dominiert, sondern diese Liebe befreit mich zu einer sehr intimen, vertrauensvollen, entspannten Beziehung mit Gott. Eine Beziehung, die einer guten Freundschaft gleicht.

Befreit zu einer vertrauensvollen Begegnung mit Gott

Wir sind bei solchen guten Freunden eingeladen. Schon den ganzen Tag freuen wir uns auf das Zusammensein, wissen wir doch, wie wohltuend diese Begegnung sein wird. Wir werden zusammen essen und im Laufe des Abends das eine oder andere Gläschen guten Wein leeren. Wir werden uns viel Neues und Interessantes zu erzählen haben, werden so manch „heißes Eisen“ anpacken und kontrovers diskutieren, werden an unseren Träumen und Visionen weiterspinnen, werden ungeheuer viel zusammen lachen, aber auch mit Tränen in den Augen unsere Not miteinander teilen. Wir werden von Schwierigkeiten erzählen, die wir mit uns selbst, in unseren Ehen oder unseren Familien haben, und dabei auch unsere Begrenztheit, unsere Fehler und Schwächen nicht aussparen. Wir können das tun, weil wir uns vertrauen und weil wir uns in der Gegenwart des jeweils anderen verstanden und angenommen fühlen. Wir sind völlig entspannt, müssen uns nicht profilieren, müssen voreinander nicht besser dastehen, als wir sind, brauchen uns aber auch nicht zu verstecken mit dem, was uns richtig gut gelingt. Vielleicht reicht die Zeit auch noch für ein Spielchen, bevor wir, gesättigt mit leckerem Essen und gutem Wein, mit vielen neuen Impulsen und leichtem Herzen, ermutigt und fröhlich wieder auseinandergehen. Nach dieser Begegnung, die ein kleines Fest mitten im Alltag ist, werden wir uns, das wissen wir schon jetzt, richtig, richtig gut fühlen und mit neuer Energie in die Woche starten.

Ein Fest mitten im Alltag – so fühlt sich eine Begegnung mit jemandem an, der uns vertraut ist und von dem wir uns absolut geliebt und angenommen wissen. Mit dem wir Lasten teilen und bei dem wir ganz entspannt bleiben können, weil wir keine Kraft darauf verschwenden müssen, etwas zu verstecken oder uns aufzuplustern. So fühlt sich eine Beziehung an, die uns neue Lebensenergie verleiht, weil wir aus der Begegnung mit einer Fülle an neuen Impulsen und Ideen weggehen, wie wir unser Leben kreativ und fruchtbringend gestalten können.

So oder ähnlich müssen sich die Menschen in der Gegenwart von Jesus gefühlt haben. In der Gegenwart des Menschenliebhabers, des Menschenfreunds. In seiner Nähe fühlten sie sich zufrieden, gesättigt, entspannt, verstanden, inspiriert und durch viele interessante und spannende Impulse ermutigt, ihr Leben schöpferisch zu gestalten und in gute Bahnen zu lenken. Nicht umsonst hat er die Menschen, vor allem die, welche ihre Bedürftigkeit eingestanden haben, magisch angezogen. Seine Nähe hatte etwas unglaublich Wohltuendes – auch oder gerade da, wo er mit seinem Reden und Handeln manch wunden Punkt traf. Das „Ich bin für dich“ muss bei ihm so stark spürbar gewesen sein, dass Schuld bekannt wurde, Menschen umgekehrt sind und Neues gewagt wurde.

Ich bin überzeugt: So kann sich auch heute die Begegnung mit Gott anfühlen, wenn wir ihn als Menschenfreund und Menschenliebhaber kennenlernen und ihn ganz persönlich als den „Ich bin für dich da“ erfahren. Letztlich können wir ihn auch nur so erfahren. So, wie er sich selbst vorgestellt hat. Seine Nähe tut gut, inspiriert, sättigt und macht gleichzeitig Lust auf mehr. Macht Lust, loszulassen, umzukehren und Neues zu wagen.

Befreit zu einem freundlichen Umgang mit uns selbst

Je nachdem, welche geistliche Prägung wir „genossen“ haben, steckt uns aber möglicherweise das Gefühl, Gott sei gegen uns, tief in den Knochen. In mir steckte dieses Gefühl jedenfalls sehr lange. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, sehe ich, dass trotz gegenteiliger, „erwachsener“ Lippenbekenntnisse dennoch lange Zeit tief in mir ein kleines, verängstigtes Kind hockte, welches befürchtete, von Gott ausgeschimpft, von ihm vor versammelter Mannschaft heruntergeputzt und dann mit dem Vermerk „unbrauchbar“ weggeschickt zu werden. Das Erleben, ein Sünder zu sein, ohne die Gnade als tiefsten Ausdruck der Liebe Gottes wirklich erfahren zu haben, führte dazu, dass ich in der Gegenwart Gottes statt dankbarer Freude häufig nur tiefe Beschämung empfand. Und manches, was in meinem Leben nicht so rundgelaufen war wie von mir ersehnt und erhofft, nährte in mir die Zweifel, ob Gott es wirklich gut mit mir meint.

Das hatte natürlich Auswirkungen auf mein Leben: Wenn es mir richtig gut ging, wenn ich in Beziehungen oder Tätigkeiten Erfüllung fand, wenn ich mir etwas von Herzen wünschte, wartete ich nur darauf, dass mir der „Ich bin gegen dich“ den Weg versperrte und mir die Tour vermasselte. Wenn ich mich dagegen bei einer Sache unwohlfühlte und viel lieber „Nein“ statt „Ja“ sagen wollte, wenn mir etwas überhaupt keine Freude bereitete und mir mehr Last als Lust war, dann rechnete ich fest damit, dass dieser „Ich bin gegen dich“ mich mit Handschellen gerade an diese Situationen, an diesen Dienst und diese Beziehungen fesseln würde.

Solch ein Gottesbild führt dazu, dass wir uns nicht mehr nach vorne bewegen und uns sehnsüchtig dem Leben, das Gott uns schenken will, entgegenstrecken, sondern stattdessen in den Rückzug gehen. Wir sperren unsere „bedürftige Kehle“ nicht mehr weit auf und halten uns Gott mit unseren Sehnsüchten hin, sondern „halten den Schnabel“ und bleiben in der hintersten Ecke hocken, weil wir von ihm sowieso nichts Gutes erwarten. Auf Veränderungsimpulse, auf Korrektur, auf den Ansporn, loszulassen, zu überwinden, zu wachsen und zu reifen, lassen wir uns erst recht nicht ein. Warum auch?! Schuld bekennen? Fehlverhalten ablegen? Umkehren? Neues einüben? Pah! Es wäre ja dumm, auf die Ratschläge eines „Ich bin gegen dich“ zu hören.

Diese verzerrte Vorstellung von Gott hat fatale Auswirkung auf unseren Umgang mit uns selbst. Denn die gesunden und von Gott angelegten Impulse, unser Leben erfüllend, zu uns passend und befriedigend zu gestalten und uns gegen Lebensfeindliches zur Wehr zu setzen, werden im Keim erstickt und unsere natürlichen Abwehrkräfte geschwächt. Mit uns selbst in Beziehung zu treten, gut für uns zu sorgen, auf uns achtzugeben und eigene Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren – all das verkneifen wir uns und treten gegen uns selbst als Gegner an. Denn – so ist unser Grundgefühl: Gott ist ja auch unser Gegner, der ständig an uns herumkorrigiert und uns „irgendwie“ anders haben will oder uns permanent auffordert, Dinge zu tun, die uns selbst absolut widerstreben. Wenn er nicht für uns ist, dürfen wir selbst auch nicht für uns sein – das ist die logische Konsequenz eines Glaubens, der in Gott nicht den Verbündeten, sondern den Feind sieht.

Doch Gott hat sich nicht als der „Ich bin gegen dich“ vorgestellt, sondern als der „Ich bin für dich“! In Jesus kam die Menschenliebe Gottes zu uns mit der Absicht, uns zu retten und erfülltes Leben zu schenken – nicht damit, uns zu vernichten und uns das Leben zu rauben. Der „Ich bin gegen dich“ ist das Zerrbild einer schädlichen Frömmigkeit, von dem wir uns getrost verabschieden dürfen.

Aus meinem Leben weiß ich, dass dieser Abschied nicht leicht ist. Der „Ich bin gegen dich“, der sich unberechtigterweise in unserem Herzen breitgemacht hat, ist ganz schön hartnäckig! Nur durch die unsägliche Geduld von Jesus konnte dieser Abschied gelingen. Was hat er alles versucht, wie viele Ideen hat er gehabt und wie viele zärtliche und werbende Worte hat er gefunden, um das kleine, verängstigte Kind in mir hervorzulocken! Wie oft hat er mich ermutigt, mir gut zugeredet und es wieder und wieder versucht, wenn ich mich dann doch erneut verkrochen habe. Wieder und wieder! So lange, bis ich ihm sein „Du bist geliebt“ wirklich glauben konnte. Bis ich, so wie am Anfang dieses Kapitels erwähnt, von Herzen sagen konnte: Der Einzige, bei dem ich keine Angst habe, ist Jesus. Ich habe bei ihm absolut keine Angst, dass er sich irgendwann vielleicht doch von mir abwenden wird. Ich kenne niemanden, der mich so bedingungslos liebt wie er. Er wird tatsächlich niemals gehen und wird mich niemals alleinlassen. Auch wenn ich es noch so sehr vermasselt habe.

Paulus sagt: „Was ergibt sich nun, wenn wir das alles bedenken? Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?“ (Römer 8,31). Ja, wer könnte da noch gegen uns sein? Etwa wir selbst? Nein, das wäre unsinnig! Gott ist für uns und geht liebevoll und freundlich mit uns um – also können wir selbst erst recht einen liebevollen und freundlichen Umgang mit uns pflegen!

Was macht unser Leben also aus? Was ist eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für gesundes Wachstum? Die Antwort auf diese Frage lautet zuallererst: Wir sind gewollt und in jeder Sekunde unseres Lebens geliebt von dem „Ich bin für dich da“. Das ist eine großartige Ausgangsbasis, um das Leben, welches uns anvertraut wurde, zu gestalten!

Einen Weg bahnen

Wie oft habe ich schon gehört und gelesen, dass ich von Gott geliebt bin und dass er für mich ist! Es gibt Momente, in denen ich diesen Worten von Herzen glauben und vertrauen kann. Aber genauso oft zweifle ich an ihnen oder kann sie nur schwer erfassen. Ich erlebe Dinge, die so gar nicht dazu passen wollen. Ich bete voller Sehnsucht um sein Eingreifen, sein heilendes Handeln, um Befreiung aus Bindungen und um Veränderung der Situationen, die mir das Leben schwer machen – und nichts passiert. Sein Schweigen und Nichthandeln, an dem ich so sehr leide, nährt in mir das Misstrauen, dass er es vielleicht doch nicht gut mit mir meint.

In mir sitzen auch alte Prägungen, die mich zutiefst dieser absoluten und grenzenlosen Liebe misstrauen lassen. Diese alten Prägungen lassen mich befürchten, dass ich Gott gar nicht so wichtig bin und er einfach nur – ohne Rücksicht auf Verluste – sein „Reich Gottes“-Ding durchziehen will. In mir sitzt oft genug das Bild eines strengen, lebensfeindlichen Gottes, der ein Höchstmaß an Einsatz, Gehorsam und Disziplin fordert und ein Minimum an Lebensfreude und Daseinslust gewährt.

Deswegen habe ich mein Herz für das Reden und Handeln dieses Gottes verschlossen. Ich bin in eine Frömmigkeit abgeglitten, die reicht, um gerade noch dabei zu sein und mein Mindestsoll zu erfüllen.

Aber da ist noch ein kleiner Funke Sehnsucht in mir, dass es (noch einmal) anders werden könnte und diese großartige Liebe Gottes, von der ich lese und auch andere immer wieder reden höre, auch in meinem Leben erfahrbar wird.

Diesen kleinen Funken will ich nähren und die Worte von seiner Liebe noch einmal hören und auf mich wirken lassen. Meine Fragen, Ängste und Zweifel werde ich nicht verdrängen oder so tun, als seien sie nicht existent, sondern ich werde sie vor Gott aussprechen und sie unter seine „Liebesworte“ stellen. Gespannt werde ich abwarten, was dann passiert …

Zum Nachlesen

Zefanja 3,17; Johannes 10,9-10; Römer 5,5-8; Römer 8,31-39; Epheser 2,4-5; 1. Johannes 3,1a; 1. Johannes 4,9; Judas 21.

Kapitel 3

Unser innerer und äußerer Mensch

Ein fröhliches Herz tut dem Leib wohl, ein bedrücktes Gemüt lässt die Glieder verdorren.

Sprüche 17,22

Neulich traf ich nach längerer Zeit einen alten Bekannten wieder und fragte ihn nach seinem Ergehen. „Ich bin in letzter Zeit ganz schön k.o. und mein Rücken macht mir immer wieder ziemlich zu schaffen“, antwortete er, „aber innerlich geht’s mir total gut. Bei meiner Arbeit“, erklärte er dann weiter, „läuft es seit einem Jahr super: nette Kollegen, eine gute Auftragslage, aber alles noch im grünen Bereich und nicht zu stressig. Und auch an der , Familienfront‘ ist zurzeit alles ruhig. Ausnahmsweise mal kein Zickenalarm bei unseren Teenietöchtern!“ Er grinste. „Allerdings“, fuhr er fort, „muss ich mich jetzt wirklich langsam mal aufraffen und mehr Sport machen, damit diese blöden Rückenschmerzen weggehen. Wenn die noch schlimmer werden, bin ich bald nämlich nicht mehr so gut drauf!“

Innerlich „gut drauf“, obwohl man körperlich angeschlagen ist, oder andersherum körperlich fit und gesund, aber innerlich „schlecht drauf“, weil man gestresst, besorgt, deprimiert oder verärgert ist – das hat wahrscheinlich jeder von uns schon einmal erlebt.

Tatsächlich wurden wir von Gott mit einem inneren und einem äußeren Menschen geschaffen (2. Korinther 4,16), die einerseits getrennt „funktionieren“, aber dennoch in gleicher Weise unser Lebensgefühl mitbestimmen und auf geheimnisvolle Weise zusammenwirken. Das ist eine weitere unabänderliche Gegebenheit, die jedem von uns mitgegeben und anvertraut wurde.

Für den äußeren Menschen kennt die Bibel unter anderem Wörter wie „Leib“ oder „Fleisch“. Nach ihrem Verständnis haben wir keinen Körper, sondern sind Leib und sind Fleisch. „Leib“ und „Fleisch“ bezeichnen dabei immer auch den gesamten Menschen.