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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Das Buch

Die Autorin


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~ 1 ~

Ich hätte auf Hille hören sollen.

Das ist der erste klare Gedanke, der zwischen zerfließenden Bildern und vagen Halbsätzen auftaucht. In meinem Kopf flirren rötliche Punkte vor einem violetten Untergrund, die zu orangefarbenen Kreisen anwachsen und nach und nach an den Rändern im Violett zerfasern. Als ich blinzelnd die Augen öffne, sehe ich erst Grün und dann Blau und dann klar und unverrückbar vor mir, über mir, das schwarze Möbel gewaltig aus dem grünen Wasser ragen. Es ist ganz still um mich her. Nur die Straße rauscht weit entfernt, und nahebei knistert leise der in sich zusammensackende Badeschaum. Ich muss kurz weg gewesen sein. Bewusstlos? Der Schreck, ein Schock? Hilles berühmter gesunder Menschenverstand. Ich kann nur für Sekunden weg gewesen sein. Denn das Wasser ist noch warm.

Da sitzt du nun fest in deiner geliebten Badewanne!, sage ich mir. Hätte ich auf Hille gehört, wäre ich jetzt nicht in dieser Lage.

Badewannen sind überholt, hatte sie erklärt, als ich das Bad renovieren ließ, und mir empfohlen, stattdessen eine Dusche einzubauen. Das spart Platz – und wer badet heute noch?

Ich! Ich will baden!

Heute duscht man, erklärte Hille. Es geht zügiger, man tut es täglich, mal abgesehen von dem gewaltigen Wasserverbrauch beim Baden.

Aber ich denke gar nicht daran, täglich zu duschen. Davon bekommt man nur Allergien. Ich will wie in alten Zeiten einmal in der Woche und in besonderen Stimmungen mein Wannenbad. Ich finde Baden nun mal unvergleichlich genüsslicher.

Du wirst älter, verkündete Hille düster, als sei es eine gewichtige Prophezeiung, und du willst doch hier bis an dein Lebensende wohnen. Die Badewanne ist der Engpass im hohen Alter, da kommst du später vielleicht noch rein, aber nicht wieder raus.

Ich habe vor, noch mindestens zwanzig Jahre lang allein in meine Wanne hinein-und wieder aus ihr herauszusteigen, höhnte ich. Du gehst doch auch nicht schon jetzt ins Altersheim, weil du es mit Mitte neunzig vielleicht nötig hast. – So oder so ähnlich verlaufen Gespräche mit Hille gern. Ihre apodiktischen Behauptungen machen mich manchmal rasend. Dennoch ist sie meine beste Freundin.

Und jetzt hocke ich hier in meiner Badewanne, ich werde im Frühjahr sechzig, ich schmeichle mir, noch einigermaßen beweglich zu sein für mein Alter, trotz der fünf oder sieben Kilo Übergewicht, und komme nicht wieder heraus. Das ist komisch. Das ist beinahe zum Schreien komisch.

Noch einmal packe ich das Möbel über mir mit beiden Händen, versuche es erst zu stemmen, dann dagegen zu drücken, zuletzt daran zu ziehen. In den Armen hatte ich noch nie viel Kraft. Es ist ein schweres, altmodisches Teil, Massivholz, mit Rückenwand, und es rührt sich keinen Millimeter. Mein linkes Bein schmerzt. Es ist unter einer Seitenwand des Regals eingeklemmt. Ich lasse den Oberkörper zurück in das besänftigende warme Nass gleiten.

Nun siehst du, was du von deiner Badewanne hast, sagt Hille in meinem Kopf. Nun erntest du, was du gesät hast. Wie man sich bettet, so liegt man.

In gewisser Weise trifft es zu, dass ich mich selber so gebettet habe – obwohl »betten« viel zu sanft klingt für meinen harten Fall. Hochmut kommt vor dem Fall.

Jetzt hör aber mal auf mit den dummen Sprüchen!

Im Übrigen ist eine Badewanne nicht der schlechteste Ort, wenn man schon einen Fall tun muss. Ich hätte zum Beispiel auch in der Küche ausrutschen und im Stürzen den Geschirrschrank über mich ziehen können – dann läge ich jetzt vielleicht mit gebrochenem Bein und Schnittwunden zwischen Scherben. Die Badewanne ist dagegen vergleichsweise kommod, und ist es nicht ein Glück, dass sich nur ein Bücherregal über mir entleert hat? Außerdem kann ich mit dem ausgestreckten Arm noch immer den Heißwasserhahn erreichen. So kann ich immerhin warmes Wasser nachlaufen lassen, wenn mir kühl und ungemütlich wird.

Der Punkt ist nur: Läge ich jetzt zwischen Scherben auf dem Küchenfußboden, dann könnte ich vermutlich selbst mit gebrochenem Bein noch immer zum Telefon robben und jemand um Hilfe bitten.

Ich habe die Bücher, die das Regal über mir und der Wanne ausspuckte, so schnell wie möglich, eins nach dem anderen, aus dem Wasser gefischt und auf den flauschigen Teppich geworfen, wo sie hoffentlich etwas trocknen werden. Fontane, über den der Badeschaum kroch, die schöne alte Ausgabe, das traf mich noch härter als das Absaufen der aktuellen Neuerscheinungen. Instinktiv begann ich, als ich wieder zu mir kam, sofort mit der Erste-Hilfe-Aktion für die Bücher, gleich nach dem vergeblichen Versuch, mich aus der Wanne zu befreien. Meine kleine Badezimmerbibliothek wird scheußlich zugerichtet sein.

Hille hat schon recht: Bücher gehören eben nicht ins Bad. Jetzt bedauere ich es, dass ich sie alle so weit weggeworfen habe. Ich hätte mir wenigstens einen Schmöker in Reichweite lassen sollen. Falls das hier länger dauert.

Meine Mutter hatte Tränen in den Augen, als sie die aufgequollenen Bücher in der Badewanne schwimmen sah, nachdem wir im Frühsommer 1945 wieder in Großmutters Haus zurückgekehrt waren, das die Amerikaner für ein paar Wochen beschlagnahmt hatten. Vermutlich war die Besatzung wieder abgezogen, weil ihnen das große alte Haus am Hang viel zu unbequem war, mit den hundertundsieben Treppenstufen bis zum Eingang und den hohen, nur schwer zu beheizenden Räumen und dem einzigen altmodischen Bad. Bevor die amerikanischen Soldaten das Haus verließen, hatten sie kistenweise Bücher in die Badewanne und die Toilette gekippt und beide voll Wasser laufen lassen. Was haben die Bücher ihnen getan?, klagte Mutter. Vielleicht wollten sie damit zum Ausdruck bringen, was sie vom Volk der Dichter und Denker halten, meinte meine Tante. Wenn es noch die Russen gewesen wären, rief meine Mutter, aber die Amerikaner? War es der Hass auf alle Deutschen, oder nur auf Deutsche mit vielen Büchern, oder speziell auf uns? Sie werden einfach nur besoffen gewesen sein!, mutmaßte meine Großmutter, der mehr wegen der zerschmetterten Einmachgläser zum Weinen war. Wie sollten wir ohne Eingemachtes den ersten Nachkriegswinter überleben? Die amerikanischen Hausbesetzer hatten sie ausnahmslos aus dem Fenster auf die Terrasse geworfen, wo sie in tausend Scherben zersprungen waren, ebenso wie die wenigen im Keller noch verbliebenen Weinflaschen, natürlich erst, nachdem sie die geleert hatten. Ich war damals noch ein Baby, aber ich sehe es deutlich vor mir; sie haben so oft davon erzählt.

Bücher gehören nicht ins Badezimmer, weil sie dort feucht werden, sagte Hille missbilligend, als ich ihr mein renoviertes und neu eingerichtetes Badezimmer vorführte. Ich bin stolz darauf, dass es wie ein kleines Wohnzimmer ausschaut, so ein ganz besonders gemütliches kleines Wohnzimmer, das genaue Gegenteil von der sterilen und keimfreien Nasszelle der Deutschen. Gegen die Feuchtigkeit hilft das Dachflächenfenster direkt über der Wanne, das man mit einem Metallstab aufstoßen kann. Ich habe es vorhin geöffnet, bevor ich ins Bad stieg. Dort hinaus können die feuchten Dämpfe entfleuchen!, erklärte ich Hille. Ich finde es herrlich, auf dem Rücken im warmen Wasser zu liegen, mein ganz persönliches Stück Himmel zu betrachten, fein säuberlich im Rechteck ausgeschnitten. Auch jetzt ist der Himmel ein tröstliches blaues Deckengemälde über mir, mit einem weißen Kumuluswölkchen, das gemächlich durch das Rechteck zieht.

Ich bin in einer misslichen Lage und muss etwas unternehmen. Um Hilfe rufen wäre albern. Außerdem würde mich niemand hören. Zwar steht das Dachfenster offen und dazu noch einen Spaltweit das kleine Fenster am Fußende der Wanne. Doch obwohl es zum Hinterhof hinausgeht, hätte ich keine Chance, den gleichmäßigen Geräuschpegel der Durchgangsstraße vor dem Haus zu übertönen.

Ich bin auch in einer lächerlichen Lage, nackt in der Badewanne. In der Badewanne ist man meistens nackt. Sich nackt in der Badewanne zu befinden ist ein Synonym für Verletzlichkeit und Lächerlichkeit! Denk an Jean-Paul Marat, der in der Wanne saß, als er von Charlotte Corday mit dem Küchenmesser erstochen wurde. Denk an Agamemnon, der sich nach seiner Rückkehr aus Troja von Staub und Blut reinigen wollte; vermutlich lag er völlig entspannt im warmen Wasser, ganz und gar mit sich und seinen Heldentaten zufrieden, als Klytemnästra und Ägisthos mit ihren Dolchen über ihn herfielen. Zuvor fixierten sie ihn mit einem Netz im Zuber, damit er sich nicht wehren konnte. Der Tote in der Badewanne bei Dorothy Sayers war dagegen bereits eine Leiche, als er dort deponiert wurde, übrigens in voller Montur. Die Badewanne ist ein gefährlicher Ort. Meines Wissens ist eine umfassende Geschichte aller Badewannenmorde in Mythologie, Fiktion und Wirklichkeit bisher nicht geschrieben worden. Es müssen unzählige Morde gewesen sein. Ein profunder Gedanke, aber er hilft mir jetzt auch nicht weiter.

Das Schlimmste, was mir passieren kann – leider auch das Wahrscheinlichste – , ist, dass ich in dieser lächerlichen Lage ausharren muss, bis morgen früh um acht Frau Bisam kommt, meine Putzfrau. Das wird peinlich genug sein. Hoffentlich bekommt sie das sperrige Regal aus der Wanne gewuchtet. Ich kann dazu aus meiner jetzigen Position, in der Rückenlage, nicht viel beitragen. Und ich sollte jetzt schon einen Plan B machen für den Fall, dass sie es nicht schafft.

Die Feuerwehr? Willst du dich zum Gespött der Leute machen? Vielleicht ist der freundliche Nachbar aus der Erdgeschosswohnung das kleinere Übel? Peinlich, einfach peinlich! Bernd Süssmeyer, der vorzeitig in den Ruhestand versetzte Gymnasiallehrer (Geschichte und Geographie) – fast alle Lehrer, die ich kenne, sind vorzeitig pensioniert! – , ist im Treppenhaus immer sehr freundlich und bemüht und hat mich schon zweimal zum Tee eingeladen. Die dritte Einladung habe ich noch nicht angenommen, nachdem er schon nach der ersten eine übertriebene Anhänglichkeit entwickelte. Wer hätte geglaubt, dass ich mal in einem Haus voller alter Leute wohnen würde? Ich gehöre hier noch zu den Jüngsten.

Frau Bisam bitten, Annegret und Heinz zu benachrichtigen? Hille? Die schafft das körperlich erst recht nicht, wenn die Bisam es nicht hinkriegt. Doch beide zusammen? Hille ist jedenfalls immer gut für pragmatische Lösungen. Ich habe noch ein paar Stunden, um darüber nachzudenken.

Verhungern werde ich nicht, nur weil ich heute mal kein Abendbrot bekomme. Ich hatte mich so auf den gemischten Meeresfrüchtesalat beim Italiener gefreut, wo ich mich mit Sebastian Bleibtreu treffen wollte. Ich gehe nur noch selten zum Essen aus, und wenn, dann meist mit Hille – mit Männern so gut wie gar nicht mehr. Immerhin beruhigend, dass ich mit einiger Mühe die halbe Tafel Bitterschokolade auf dem Kosmetikschränkchen erreichen kann, die ich dort in Vorfreude und zur Beruhigung meiner Nerven deponiert hatte. Die spare ich mir noch ein bisschen auf. Es gibt auch noch einen Rest Tee in der Thermoskanne. Verdursten werde ich am wenigsten, von Wasser umgeben.

Vermutlich ist es nicht gesund und ganz bestimmt nicht zuträglich für die alternde Haut, stundenlang im warmen Wasser zu liegen und aufzuweichen. Doch ich glaube nicht, dass schon mal jemand an Aufweichung gestorben ist. Sicher ist im Guinness Book of Records längst ein mehrwöchiges Marathon-Dauerbaden verzeichnet, gegen das die paar Stunden, die wohl auf mich noch warten, sich ziemlich bescheiden ausnehmen werden. Vielleicht war überhaupt Marat der erste Dauerbader; irgendwo habe ich gelesen, er sei »seiner Hautkrankheit wegen an die Badewanne gefesselt« gewesen, als die Corday ihn erstach, so wie andere Kranke ans Bett gefesselt sind. Er litt an Skrofulose, einer offenbar aus der Mode gekommenen Krankheit, die zugegebenermaßen reichlich unappetitlich klingt. Meines Wissens gibt es keine Todesursache »unaufhaltsame irreversible Verschrumpelung«. Was mit Wasserleichen geschieht, passiert doch wohl nur, weil und wenn sie schon tot sind. Vermute ich mal. Also kein Grund, mir wirklich ernsthafte Sorgen zu machen. Sollte ich wider Erwachen einschlafen und unter Wasser sacken, werde ich schon von selber wieder wach, wenn es in Mund oder Nase dringt.

Aber vielleicht versuche ich doch noch mal, mein Bein irgendwie unter dem blöden Regal hervorzukramen.

Infame Schmerzen. Das lass mal gleich wieder bleiben! Übrigens auch etwas Kopfweh. Sollte ich im Fallen mit dem Hinterkopf auf den Wannenrand geschlagen sein? Tatsächlich ist da eine Beule, ich kann sie deutlich fühlen. Mit dem rechten ausgestreckten Arm kann ich die Tabletten im Kosmetikschränkchen erreichen, wenn ich mich ein bisschen dehne und strecke. Aber noch schmerzt das Bein zu sehr für ein neues Expansionsabenteuer. Und noch ist es auch so einigermaßen bequem. Glücklicherweise habe ich ein sehr komfortables Badewannenkopfkissen, eines von diesen Luftkissen, die man an den Badewannenrand klebt.

Ich habe inzwischen mehrfach versucht, aus der verdammten Wanne auszusteigen. Vergeblich. Die rechte obere Ecke des Bücherregals hat sich so unglücklich darin verkeilt, dass ich es einfach nicht schaffe, den eingeklemmten linken Unterschenkel unter ihm vorzuziehen. Glücklicherweise ist er nicht gebrochen – ich nehme das jedenfalls an, sonst müsste es stärker schmerzen. Wenn ich das Bein nicht bewege, tut es kaum weh, nicht mehr als man von einem eingeklemmten Bein erwarten würde. Aber was weiß ich – vielleicht spürt man auch von einem Bruch wenig, solange man in mehr oder weniger warmem Wasser liegt und das entsprechende Glied nicht sonderlich bewegt. Als ich es herauszuziehen versuchte, schmerzte es scheußlich, wenn ich ehrlich bin.

Vorläufig versuche ich es besser nicht mehr.

Also, das war so…Ich probe meine Erklärung für Frau Bisam, die morgen früh um acht mit offenem Mund in der Badezimmertür stehen wird, hinschaut, wieder wegschaut, noch mal hinschaut, vielleicht geschockt: Ich seh nicht hin!, ruft. Vermutlich wird sie mir als Erstes mit abgewandtem Blick ein großes Badehandtuch reichen, noch ehe ich überhaupt eine Chance habe, meine Nacktheit voll zur Schau zu stellen. Immerhin bin ich zur Hälfte mit einem Bücherregal bekleidet.

Also, Frau Bisam, das war so: Ich nahm gerade ein Bad, als es plötzlich ein schepperndes Geräusch am Fenster gab, als hätte jemand etwas dagegengeworfen…Für Hille wird es eine zweite, ehrlichere Version geben: Du weißt doch, der neue Mieter auf dem mittleren Balkon im Haus gegenüber, ich hatte dir doch von ihm erzählt…Zu Frau Bisam: Ich denke, was ist denn das für ein Geräusch!, und will aufstehen, um nachzuschauen. Halte mich dabei nicht wie gewöhnlich am Wannenrand fest, weil man mich sonst durch das einen Spaltweit geöffnete Fenster von gegenüber hätte sehen können, sondern dummerweise am Bücherregal. Und dann bin ich ausgerutscht, sodass ich einen Augenblick lang mit meinem ganzen Gewicht am Regal hing und es dabei aus der Halterung gerissen habe. – Zu Hille: Das kleine Fenster am Fußende meiner Wanne war einen Spaltweit geöffnet, und ich sah, wie der Neue von Gegenüber auf seinen Balkon trat und mit einer Yoga-Übung begann. Da war es doch ganz natürlich, ein bisschen neugierig zu werden. Ich fragte mich, während ich meinen Hals nach ihm verrenkte, mich so weit wie möglich in der Wanne aufrichtete und dabei dummerweise am Regal festhielt, ob er seinen Gruß an die Sonne vielleicht nackt ausführte? So war es im Übrigen auch, weiter siehe oben, ich habe das noch registriert, während ich ausrutschte und das Regal von der Wand riss – splitternackt!

Na denn, wird Hille knochentrocken bemerken. Dann hat es sich ja wenigstens gelohnt.

Wer oder was ist also schuld an meiner gegenwärtigen Misere?

1. das Bücherregal (das laut Hille nicht ins Badezimmer gehört, also ich), 2. die Turnübungen des neuen Mieters auf seinem Balkon (beziehungsweise meine peinliche Neugier, also ich), 3. Herr Bleibtreu aus meinem Volkshochschulkurs, ohne den ich gar nicht auf die Idee gekommen wäre, heute ein Bad zu nehmen (meine alberne Hoffung auf ein nettes Date, wider alle Erfahrung unbelehrbar, also wieder ich).

Was wird er denken, wenn ich nicht beim Italiener erscheine?

~ 2 ~

Keine Ahnung, wie spät es ist. Es war kurz vor sechs, als ich in die Wanne stieg und meine Armbanduhr auf der Ablage über dem Waschbecken deponierte. Da liegt sie außerhalb meiner Reichweite.

Zwischen sieben und acht Uhr, näher an acht, schätze ich. Ich muss wohl ein bisschen eingedöst sein. Mich friert, kein Wunder, das Wasser ist fast kalt. Ich ziehe mit der rechten Hand den Stöpsel unter mir, um ein bisschen Wasser ablaufen zu lassen, und drehe dann sofort den Heißwasserhahn auf. Mir scheint, das Licht da draußen bekommt schon diese pastellene Dämmerungsnote. Vielleicht war ich auch minutenlang fest eingeschlafen. Als ich hochschreckte, schmerzte das linke Bein. Wenn es nun doch gebrochen ist?

Ich erwachte davon, dass ich sagte: »Und wer spricht da?« Ich glaube, ich meinte mich selber. Keine Ahnung, was in meinem Kopf gesprochen wurde, während ich träumte. Ganz im Ernst frage ich mich heutzutage manchmal, wer es ist, die da »Ich« sagt. Die meiste Zeit meines Lebens war ich mir meiner Identität einigermaßen sicher. Doch seit kurzem (seit wann eigentlich? Seit ich nicht mehr im Beruf bin? Hat es mit Bodo zu tun? Mit dem Altern allgemein?) habe ich das klare Bild von mir selber verloren.

Äußerlich wäre ich leicht zu beschreiben: eine ältere Frau, würden die Leute sagen, um die 60 – ich finde zwar, dass ich wesentlich jünger aussehe als meine 59 Jahre, aber ich weiß nur zu gut, dass alle beinahe 60-Jährigen das von sich denken. Unauffällig, würden die Leute sagen, eine Frau undefinierbaren Alters. Ein Mensch von dem Geschlecht, das man vom Mittelalter an nicht mehr sonderlich wahrnimmt, chronisch unauffällig ist vielleicht noch das Beste, was andere von einem denken können, wer unauffällig ist, macht sich wenigstens nicht lächerlich.

Jedenfalls schon eine ganze Weile entfernt von der Zeit, als sich die Männer die Mühe machten, ein zweites Mal hinzuschauen, aber glücklicherweise noch weiter entfernt von dem Alter, in dem man Hilfe beim Ein-und Aussteigen in die Badewanne benötigt. Ich habe lange gebraucht, mich an diese Unsichtbarkeit zu gewöhnen, auch wenn ich mich damit trösten konnte, dass es für Frauen, die in ihrer Jugend sehr gut aussahen, noch schwerer sein muss. Ich habe übrigens nie zu den Frauen gehört, die die Männer durch ihre bloße Erscheinung faszinieren, ich musste mir auch früher schon was einfallen lassen, damit die, die mich interessierten, auf mich aufmerksam wurden. Und trotzdem ist dieses Unsichtbarwerden im mittleren Alter kränkend! Ob sich wohl die Japanerinnen in diesem Punkt mit dem Altern leichter tun; ich habe mir sagen lassen, dass die Männer die Frauen dort niemals direkt anschauen, sondern immer über sie hinweg oder durch sie hindurch. Dann vermissen die vielleicht auch jenseits der vierzig oder fünfzig nichts.

Ich könnte mich mit Miss Marple trösten, die es sich zunutze zu machen wusste, dass sie ihrer farblosen Ältlichkeit wegen von sämtlichen Gegenspielern stets chronisch unterschätzt wurde. Aber ich will nun mal nicht unauffällig ältlich sein! Ich wollte im Gegenteil immer eine skurrile Alte werden! Soweit ich überhaupt eine Vorstellung von meinem Alter hatte, war es diese.

Ich habe es damals mit großer Erleichterung regi striert, als die Lebensphase vorüberging, in der einem die Bauarbeiter vom Gerüst aus hinterherpfiffen. Von wegen »schöne Jugend«! Diese Zeiten, in denen es geschehen konnte, dass ich, wenn ein Autofahrer mich über sein heruntergekurbeltes Seitenfenster nach dem Weg fragte und ich mich hilfsbereit zu ihm hinunterbeugte, plötzlich in den Busen gekniffen wurde – und das Auto dann fröhlich hupend davonfuhr. Das dummdreiste Grinsen des Fahrers sah ich noch im Seitenspiegel. Die ohnmächtige Wut darüber, dass man nicht darauf gefasst war und deswegen nicht schnell genug eine beißende Bemerkung parat hatte, dass nie Gelegenheit war, zurückzukneifen, dass man viel zu selten den Mut hatte, solchen Männern eine Ohrfeige zu verpassen! Da war ich noch zu jung, um zu wissen, dass dergleichen nur verklemmte Männer tun, die ihr Mütchen an den jungen und ängstlichen Frauen kühlen müssen, und dass sie es nicht mehr wagen, wenn deren körperliches Selbstbewusstsein gewachsen ist. Danach kam die gute Zeit, in der man sich vom Hals halten konnte, wen man nicht mochte, und sich mit ein bisschen Courage und Glück nehmen konnte, was einem gefiel – doch leider ist diese Zeit, auf das ganze Leben gerechnet, bedauerlich kurz, vielleicht ein oder zwei Jahrzehnte.

Der nächste Einschnitt ist ungefähr Anfang vierzig, zu einer Zeit, in der man sich im Spiegel eigentlich noch recht gut gefällt. Eines Tages registriert man, dass die flirtigen Blickkontakte beim Autofahren von Fahrersitz zu Fahrersitz seltener werden. Wie gewohnt schaut man, wenn man an einer Ampel warten muss, gelangweilt in den Nachbarwagen, sieht da vielleicht einen interessanten Mann und deutet ein halbes Lächeln an, wenn der seinerseits den Kopf herüberwendet; gewöhnlich lächelt der andere breit zurück. Doch eines Tages gleitet der Blick des Mannes im Nachbarwagen leer über einen hinweg. Das erfährt man zweimal, fünfmal, vielleicht zehnmal, bis man endlich begriffen hat und für immer mit dem erwartungsvollen Lächeln aufhört.

Na, sagte Hille, als ob das ein großer Verlust wäre! Auf derlei Bestätigung konnte ich immer ganz gut verzichten.

Nicht dass ich je mit Autozufallsbekanntschaften angebändelt hätte. Das war auch nicht mein Genre. Doch es war ein Zeichen. Es signalisierte, dass man für anonyme Betrachter schon alt wurde, als man sich noch gar nicht alt fühlte. Auch wenn die Männer im Freundeskreis immer noch ausriefen: Blendend siehst du aus, meine Liebe! Lass dich umarmen!, und diesen Umarmungen gern eine pikante Note gaben. Da dämmerte einem allmählich, dass dergleichen längst nur noch nostalgisches Zitat war. Anlässe, zu denen noch einmal etwas inszeniert wurde, für beide Seiten – harmlos für Gutgläubige!

Umso erstaunlicher ist es gewesen, dass es danach in meinem Leben nochmal ganz anders kommen konnte. Die Begegnung mit Bodo war wie ein Wunder, nach den langen Jahren der Dürre. Doch an Bodo will ich mich nicht erinnern, schon gar nicht in der Badewanne. Es wäre auch mehr als lächerlich, jetzt beschwörend an Sebastian Bleibtreu aus meinem Volkshochschulkurs zu denken. Ein sympathischer Mensch, aber als Gegengift taugt er kaum. Ich sollte mir die Zeit mit anderen Reminiszenzen vertreiben.

Am vernünftigsten wäre es allerdings – und definitiv souveräner! – , wie Hille zu sagen: Dieses Kapitel ist ein für alle Mal abgeschlossen! Du hast es doch wohl nicht nötig, dich auf diese Facette deiner Identität zu reduzieren, als wärest du zeitlebens nichts als ein Weibchen gewesen!

Es geht mir doch derzeit nicht schlecht im Leben, ich bin zufrieden, im Großen und Ganzen jedenfalls, von dem peinlichen Missgeschick jetzt einmal abgesehen. Das muss ich nun mit Geduld aussitzen. Grundsätzlich bin ich mir selbst genug, ich brauche niemanden! Das Dumme ist nur, dass sich das mit mehr Nachdruck denken ließe, wenn ich aus meiner Badewanne ganz einfach wieder aufstehen könnte.