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Alfred Bodenheimer
Haut ab!
Die Juden in der Beschneidungsdebatte

Alfred Bodenheimer

Haut ab!

Die Juden in der
Beschneidungsdebatte

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Alfred Bodenheimer ist Professor für Religionsgeschichte
und Literatur des Judentums an der Universität Basel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2012

Inhalt

Paradigmenwechsel

Einlassungen zur Sachlage

Restrangement

Vom Wiederfremdwerden der Juden

Toulouse Köln

Von den Schockzuständen einer defensiven Religion

Die Ähre und das Brötchen

Religions- und kulturhistorischer Abriss

»Ein Selbstmord ist keine Reform«

Beschnittensein und Moderne

Der rational nicht begründbare Nutzen

Ein deutsches Missverständnis?

Verstaatlichung, Kolonisierung, Projektion

Drei Merkmale des Diskurses

Der Kampf des Phallus um den Penis

Die neopaulinische Wende

Schluss

Anhang:

LG Köln Urteil vom 7. Mai 2012. Az. 151 Ns 169/11

Paradigmenwechsel

Einlassungen zur Sachlage

Im Mai 2012 erschien im Band »Wertewandel mitgestalten« von Brun-Hagen Hennerkes und George Augustin mein Artikel »Das Judentum im Wertewandel – Innen- und Außenperspektiven«. Darin habe ich die Erwartung ausgedrückt, dass der Wertewandel in der westlichen Gesellschaft hin zu einer humanistischen Ethik hinsichtlich einer Beschneidung von Knaben noch Konsequenzen für die jüdische Gemeinschaft haben dürfte. Ich bezog mich dabei auf das 2001 eingeschränkte Recht zur Knabenbeschneidung in Schweden sowie Vorstöße von einzelnen Politikern in der Schweiz und den USA, die Knabenbeschneidung zu verbieten. In einer Gesellschaft, in der sich die Freiheit des Individuums in der allgemeinen Wahrnehmung als Wert über die Freiheit von religiösen Gemeinschaften zu schieben beginne, stellte ich in meinem Fazit fest, könne der Wertewandel der Gesellschaft den Juden bald zum Problem gereichen und schloss den Satz an:

Während sich die Mehrheitsreligion Christentum tendenziell eher im Einklang mit dem Wertewandel der Öffentlichkeit bewegt oder Werte in der westlichen Welt oft sichtbar oder zumindest latent christlich grundiert sind, ist zu befürchten, dass die Sensitivität gegenüber Minderheiten, deren Bräuche und Gesetze leichter diskreditierbar erscheinen, rasch schwinden könnte.1

Als ich diesen Artikel in der zweiten Jahreshälfte 2011 fertiggestellt hatte, konnte ich dennoch nicht ahnen, dass unmittelbar nach seinem Erscheinen ein Urteil des Kölner Landgerichts anlässlich aufgetretener Komplikationen bei der Beschneidung eines vierjährigen muslimischen Knaben in Deutschland und der Welt höchste Wellen schlagen und für lange Zeit die Medien, die Öffentlichkeit und die Politik in höchstem Maße beschäftigen würde.

In der Pressemitteilung »Urteile des Amtsgerichts und des Landgerichts Köln zur Strafbarkeit von Beschneidungen nicht einwilligungsfähiger Jungen aus rein religiösen Gründen« vom 26. Juni 2012 wurde der Entscheid des Landgerichts, als Korrektur eines Entscheids der Vorinstanz, folgendermaßen dargestellt:

Das Amtsgericht Köln sprach den wegen gefährlicher Körperverletzung Angeklagten mit Urteil vom 21.09.2011 frei (Az. 528 Ds 30/11). Zur Begründung führte der Richter aus, dass der Eingriff aufgrund der wirksamen Einwilligung der sorgeberechtigten Eltern gerechtfertigt gewesen sei. Die Entscheidung habe sich an dem Wohl des Kindes ausgerichtet, da die Zirkumzision als traditionelle Handlungsweise der Dokumentation der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit diene, womit auch einer Stigmatisierung des Kindes entgegengewirkt werde. Ferner dürfe nicht verkannt werden, dass die Zirkumzision auch im amerikanischen und angelsächsischen Raum aus hygienischen Gründen einen wichtigen Stellenwert einnehme.

Soweit die Zusammenfassung der Entscheidung der ersten Instanz. Es ist offensichtlich, dass es nicht um den beschneidenden Arzt geht, sondern um den Akt, den er vollzogen hat. Das Amtsgericht führt kulturelle und religiöse Gründe an, die es im Sinne des Kindeswohls (das primäres Kriterium der Urteilsfindung ist) als entscheidend ansieht, um das Vorgehen des Arztes und seiner Auftraggeber, der Eltern, zu rechtfertigen. Die Erwähnung der hygienischen Gründe für ein solches Vorgehen im angelsächsischen Raum, also in Staaten, die von medizinischem Standard und Menschenrechtsverständnis her Deutschland vergleichbar sind, soll wohl vor allem einer positiven Absetzung gegenüber anderen Praktiken gelten, deren Legitimation sich im Kulturellen (und allenfalls nach regionalem Verständnis Religiösen) erschöpfen würde wie der in Deutschland und der gesamten EU strafbaren Klitorisbeschneidung bei Mädchen.

Die Staatsanwaltschaft gibt sich mit diesem Urteil nicht zufrieden und trägt den Fall vor die nächste Instanz, das Landgericht Köln. Dieses fällt am 7. Mai 2012 ein Urteil, das zu den meist interpretierten und diskutierten der vergangenen Jahre gehört. Das im Internet publizierte Urteil des Landgerichts,2 auf das im Folgenden zum Teil Bezug genommen wird, ist im Anhang dieses Textes abgedruckt.

Das Landgericht kommt hinsichtlich der Strafsache des betroffenen Arztes zum selben Schluss wie das Amtsgericht und wirft dennoch mit seinem Entscheid alles um, was bei dessen Entscheid noch gegolten hat. Der Schluss liegt sehr nahe, dass damit das Ziel der Staatsanwaltschaft erreicht ist, dass es um eine faktische Verurteilung dieses Beschneiders nicht oder in zweiter Linie ging, da ihm zu keinem Zeitpunkt irgendeine Art von grober Fahrlässigkeit vorgeworfen wurde, er also gemessen an der Ausführung seiner Tat über diese hinaus sich nichts zuschulden hat kommen lassen. Vielmehr gilt: Wenn dieser Beschneider strafbar ist, ist es jeder – und wenn er es in diesem Falle nicht ist, so nur deshalb, weil er im »unvermeidbaren Verbotsirrtum« handelte und mit Strafbarkeit für eine Tat, die hiermit aber als strafbare klassifiziert ist, nicht rechnen musste.

Das Landgericht Köln richtet sein Augenmerk wie das Amtsgericht primär auf das Wohl des Kindes, setzt aber die Prioritäten anders. Die Unversehrtheit des Körpers wird zum höchsten Gut erklärt. Dieses ist vom Staat zu schützen, und andere möglichen Werte wie die Relevanz religiöser Gründe für die Eltern als gesetzliche Vertreter des Kindes wie auch »Sozialadäquanz« haben hintanzustehen. Die Selbstbestimmung des Kindes, die in der Regel also bis zu seiner Fähigkeit, diese wahrzunehmen, in die Hände seiner gesetzlichen Vertreter (in diesem Fall der Eltern) gegeben ist, wird hier diesen entzogen und faktisch aufgehoben, da in die Zukunft der selbständigen Beschlussfähigkeit des Kindes verlegt.

Hierbei muss in Betracht gezogen werden, dass schon fünf Jahre vor dem Kölner Urteil, im August 2007 das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Zivilsenat) einen Entscheid gefällt hatte, mit dem es ein Urteil des Landgerichts Hanau korrigiert hatte. Dieses Frankfurter Urteil, das jenseits von Fachkreisen kaum zur Kenntnis genommen worden ist, basierte auf dem Antrag eines damals vierzehnjährigen muslimischen Jungen, der Schmerzensgeld einforderte für eine Beschneidung, die im Alter von zwölf Jahren an ihm vorgenommen worden war. Aus dem Leitsatz der Entscheidung des OLG Frankfurt wird deutlich, worin die Differenz zum Kölner Fall besteht:

Veranlasst der nicht sorgeberechtigte Vater ohne Zustimmung der sorgeberechtigten Mutter die Beschneidung eines noch nicht einwilligungsfähigen Kindes, so liegt darin eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes des Kindes, die schon wegen der Genugtuungsfunktion einen Schmerzensgeldanspruch des Kindes begründet.3

Die Unterschiede zum Kölner Urteil sind markant: Es handelt sich in Frankfurt nicht um ein strafrechtliches, sondern um ein zivilrechtliches Urteil, so dass auch nicht der Beschneider, sondern der vom Knaben belangte Vater zur Rechenschaft gezogen wird. Dieser Vater ist nicht sorgeberechtigt, das Kind wohnte nur auf Urlaub bei ihm, als er die Beschneidung des Kindes initiierte, und die sorgeberechtigte Mutter, die selbst nicht Muslima ist, war schon im Vorfeld der Beschneidung immer gegen das Vornehmen dieses Akts. Gerade der Umstand, dass der Vater das Sorgerecht nicht besaß, wird vom Frankfurter OLG in der Begründung des Entscheids wiederholt angeführt, ganz abgesehen davon, dass auch erklärt wird, dass das Kind nicht muslimisch erzogen worden war. Entsprechend erklärt das Gericht, dass der Vater »in Kenntnis des gegenteiligen Standpunkts der Mutter des Antragstellers sich mit der Beschneidung das Sorgerecht in einem Punkt angemaßt hat, der für den Lebensweg des Antragstellers von bleibender Bedeutung sein kann. Es handelt sich aus diesen Gründen um einen schweren Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht.« Anders ausgedrückt: Es ist die Anmaßung des ihm nicht zustehenden Sorgerechts, das dem Vater zur Last zu legen ist. Hätte er dieses Sorgerecht besessen, hätte er auch einen für den Lebensweg des Sohnes so weitreichenden Entscheid fällen dürfen. Da er es nicht besitzt, hebt das OLG Frankfurt auch das Argument der Sozialadäquanz der Beschneidung im muslimischen Lebens- und Kulturkreis auf, das das Landgericht Hanau als Vorinstanz noch angeführt hatte – denn die Sozialadäquanz kann der nicht sorgeberechtigte Vater auf seinen Sohn nicht übertragen. Interessant ist ferner die Einschätzung des Beschneidungsakts selber durch das Gericht: Die Beschneidung von Knaben wird in ihrem Charakter radikal von der Klitorisbeschneidung bei Frauen unterschieden, da sie keine verstümmelnde oder die Sexualität beeinflussende Bedeutung besitze.

Es lässt sich erkennen, dass das Kölner Amtsgericht im Wesentlichen der Argumentation des Oberlandesgerichts in Frankfurt gefolgt war, während das Kölner Landgericht sein Urteil auf eine weitgehend andere Basis stützt. Dessen neue Einschätzung äußert sich darin, dass das Sorgerecht nicht mehr ausschlaggebend ist für die Kompetenz, eine Beschneidung aus religiösen Gründen anzuordnen. Außerdem ist der Akt der Verstümmelung, der zum grundlegenden Verbot bestimmter Eingriffe am Körper von Kindern (etwa bei der Mädchenbeschneidung) geführt hat, zur »Verletzung der körperlichen Unversehrtheit« erweitert worden. Das ist mit großen Paradigmenwechseln verbunden, sowohl was die Einschätzung der Kompetenz der Eltern in der Fürsorge für ihr Kind als auch was die Definition von Kindswohl betrifft. Dass das Kölner Landgericht sich veranlasst sah, diese starke Veränderung der Einschätzung des Beschneidungsakts gegenüber dem Frankfurter Gerichtsspruch von 2007 vorzunehmen, ist mit der ab 2008 zu diesem Thema erschienenen juristischen Literatur in Verbindung zu bringen. Verschiedene Autoren, darunter Holm Putzke, Günter Jerouschek und Wolf Dietrich Herzberg haben zwischen 2008 und 2010 engagierte Artikel gegen die Knabenbeschneidung verfasst. Diese sind in der Begründung des Urteils z.T. zitiert, aber auch in den Wortlauten wiedererkennbar. Dennoch ist erstaunlich, dass das Kölner Urteil (in offensichtlicher Anlehnung an einen Artikel des Strafrechtlers Holm Putzke) von einem »unvermeidbaren Verbotsirrtum« des Arztes spricht, denn als nächstliegende juristische Entscheidung in der Sache lag zum Zeitpunkt von dessen Tat das Urteil des OLG Frankfurt vor, das jedenfalls in diesem Fall kein Verbot nahegelegt hätte. Allerdings liest das Landgericht Köln das anders.

1 Vgl. Alfred Bodenheimer: Das Judentum im Wertewandel – Innen- und Außenperspektiven, in: Brunhagen Hennerkes, George Augustin (Hgg.) Wertewandel mitgestalten. Gut handeln in Gesellschaft und Wirtschaft, Freiburg, Basel, Wien 2012, 159-166, 166.

2 http://openjur.de/u/433915.html (15.7.2012).

3 Vgl. http://www.lareda.hessenrecht.hessen.de/jportal/portal/t/dz2/page/
bslaredaprod.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=
Trefferliste&documentnumber=1&numberofresults=1&fromdoctodoc=
yes&doc.id=KORE244012007%3Ajuris-r01&doc.part=L&doc.price=0.0&doc.hl=1
(8.8.2012).

Restrangement

Vom Wiederfremdwerden der Juden