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Petra Ernst/Eleonore Lappin-Eppel (Hrsg.)

Jüdische Publizistik und Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs

 

 

 

Schriften des Centrums für Jüdische Studien

Band 25

Reihe: Literatur und Sprache, hrsg. v. Petra Ernst und Olaf Terpitz

Petra Ernst/Eleonore Lappin-Eppel (Hrsg.)

Jüdische Publizistik und Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs

StudienVerlag

Innsbruck
Wien
Bozen

 

 

 

© 2016 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: order@studienverlag.at

Internet: www.studienverlag.at

Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder

Umschlag: Studienverlag/Georg Toll

Satz: Studienverlag/Karin Berner

Umschlagabbildung: „An meine lieben Juden“, Lithografie von Max Liebermann

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-7065-5835-8

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Inhaltsverzeichnis

Petra Ernst und Eleonore Lappin-Eppel

Vorwort

Madleen Podewski

Krieg in ‚kleinen Archiven‘:
Überlegungen zum Umgang mit der Medienspezifik der Zeitschrift

Eva Edelmann-Ohler

Orte des Krieges – Zur Raumpoetik des Schlachtfelds in zionistischer Presse und Literatur (1914–1918)

Markus Winkler

Der Erste Weltkrieg: Wahrnehmung und Deutung aus der Perspektive deutschsprachiger Juden aus der Bukowina

Eleonore Lappin-Eppel

Kaiserbilder in der Wiener jüdischen Presse während des Ersten Weltkriegs

Caspar Battegay

In Gottes Krieg. Staat, Volk und Nation bei Nathan und Uriel Birnbaum (1914–1918)

Hans-Joachim Hahn

Latenzen jüdischer Weltkriegserfahrung –
Die Zeitschrift Esra als Medium zionistischer Vergemeinschaftung

Dieter J. Hecht

Kriegsanleihen, Postkarten, Todesanzeigen –
Der Nachlass eines jüdischen Soldaten

Gerald Lamprecht

Kriegserinnerungs- und Identitätsdiskurse am Beispiel des „Bundes jüdischer Frontsoldaten“ und der Zeitschrift Jüdische Front 1932–1938

Michael Nagel

„Ich hatt’ einen Kameraden“ – Inklusion und Exklusion durch das Weltkriegs-Erlebnis im Schild. Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten 1921–1938

Marsha L. Rozenblit

Jews in the Bohemian Lands during World War I

Nurit Pagi

The Jewish Journalist’s (Inter)national Mission:
Max Brod’s Articles during the Great War, 1914–1918

Marta Marková

Alice Rühle-Gerstel und der geistige Aufstand europäischer Kulturschaffender gegen Krieg und Militarismus

Ruth Nattermann

Zwischen Pazifismus, Irredentismus und nationaler Euphorie.
Italienische Jüdinnen und der Erste Weltkrieg

Amália Kerekes und Katalin Teller

„… dass das Jüdische in uns nicht zu verstummen braucht, wenn das Vaterländische spricht.“
Zur deutschsprachigen zionistischen Presse Ungarns 1914–1918

Katalin Fenyves

Im Kreuzfeuer der Fremdwahrnehmungen:
Die jüdische Presse in Ungarn und der Erste Weltkrieg

Petra Ernst

Das Verschwinden der Ghettogeschichte und die Erfindung des Ostjuden im Zeichen des Ersten Weltkriegs

Autorinnen und Autoren

Petra Ernst und Eleonore Lappin-Eppel

Vorwort

Am Grazer Centrum für Jüdische Studien bilden Forschungen zum Ersten Weltkrieg schon seit Jahren einen Schwerpunkt, der sich in verschiedenen Veranstaltungen und Publikationen widerspiegelt.1 Der vorliegende Band ist zum Teil aus dem internationalen und interdisziplinären Forschungskolloquium Deutschsprachig-jüdische Publizistik zur Habsburgermonarchie im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Medialität, Ästhetik, Sinnvermittlung hervorgegangen.2 Er versammelt erstmals literatur- und geschichtswissenschaftliche Beiträge, die sich vorwiegend am Beispiel zeitgenössischer jüdischer Publizistik aus einer länderübergreifenden zentraleuropäischen Perspektive mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzen (mit einem Schwerpunkt auf der Habsburgermonarchie sowie Deutschland und Italien). Der zugrunde gelegte Literaturbegriff wird von den Autoren und Autorinnen in einem weit gefassten Sinn verstanden; sie knüpfen damit an Prämissen der Kriegsliteraturforschung an, die sich seit den 1980er Jahren3 im Zuge der zahlreichen historischen Untersuchungen über Kriegserlebnis und Kriegsalltag4 zunehmend auch auf dokumentarische und nichtfiktionale Texte beziehen. Mit dem Blick auf Zeitschriften, aber auch auf private Korrespondenzen und Aufzeichnungen rücken gleichzeitig deren mediale Spezifika in den Vordergrund. Daher befassen sich manche der vorliegenden Beiträge mit methodischen Fragen, z. B. zur Medialität oder historischen Quellenkritik. Inhaltlich beziehen sich die Artikel u. a. auf die kriegsbedingte künstlerische Entwicklung einzelner Schriftsteller (Caspar Battegay, Nurit Pagi), auf kulturelle und politische Debatten in Zeitschriften (Hans-Joachim Hahn, Michael Nagel, Katalin Teller, Amália Kerekes, Katalyn Fenyves), auf ‚poetologische‘ Fragen in ausgewählten Texten und Zeitschriften (Madleen Podewski, Eva Edelmann-Ohler), auf gesellschaftlich und politisch relevante Diskursfiguren in der deutschsprachig-jüdischen Publizistik und Literatur (Eleonore Lappin-Eppel, Petra Ernst), auf Positionen weiblichen Engagements im Krieg (Marta Marková, Ruth Nattermann), auf die Wahrnehmung und Deutung des Krieges aus regionaler Perspektive (Marsha Rozenblit, Markus Winkler) und schließlich auf individuelle und kollektive Erinnerungspraktiken (Gerald Lamprecht, Dieter J. Hecht).

Dabei werden exemplarisch sich verändernde Konzeptionen jüdischer Identitätsvorstellungen, ideologische und weltanschauliche Orientierungen einzelner Persönlichkeiten und Gruppen sowie literarische und kulturelle Entwicklungslinien in verschiedenen Phasen des Krieges sichtbar gemacht. Als erkenntnisleitend erweisen sich die Kategorien Erwartung – Erfahrung – Erinnerung, die auch das Grazer Forschungsprojekt maßgeblich bestimmt haben. Entlang dieser Trias konturieren sich in der Literatur und Publizistik der Kriegsjahre und unmittelbar danach Motive und Narrative der (kollektiven) Sinnverständigung. Obwohl sich daran eine enorme Bandbreite an individuellen und gruppenspezifischen Standpunkten hinsichtlich der Erwartungen und Befürchtungen, Erfahrungen und Erinnerungen ablesen lässt, bildeten sich – wie auch in den vorliegenden Beiträgen deutlich wird – einige dominante Themen, Topoi und Images heraus: Flucht und Vertreibung, Heimat und Exil, „der Ostjude“, Kaiser-Bilder, soldatischer Mut und zivile Opferbereitschaft.

Aus historiographischer Sicht ist es ein übergeordnetes Ziel des Bandes, zumindest in einzelnen Bereichen die Situation der jüdischen Bevölkerung in unterschiedlichen Kronländern der Habsburgermonarchie und in Deutschland während der Kriegsjahre näher zu beleuchten. Geographisch rückt dabei die damalige Ostfront (bzw. Nordfront) in den Fokus, mithin jene Regionen und Gebiete, wo die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung der Donaumonarchie lebte. Sie waren seit Kriegsbeginn jahrelang umkämpft und wurden mehrmals (von unterschiedlichen Armeen) erobert und verloren, was zu einer weitgehenden Zerstörung der Lebensgrundlagen der Juden Galiziens sowie Russisch-Polens führte. Diese Entwicklungen lösten einen enormen Flüchtlingsstrom in Richtung Westen aus, die in ihrer Heimat verbliebenen russischen, aber auch galizischen und Bukowinaer Jüdinnen und Juden wurden oft ins Innere des Russländischen Reiches verschleppt. Die zehntausenden jüdischen Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina, die in Ungarn, Niederösterreich – hier vor allem in Wien –, Böhmen und Mähren Zuflucht suchten, wurden von ihren einheimischen Glaubensbrüdern und -schwestern zwar als Belastung und Problem gesehen, dennoch fehlt in der Publizistik der Donaumonarchie – und zwar in Österreich ebenso wie in Ungarn – die breite „Ostjudendebatte“, wie sie aus Deutschland bekannt ist. Dieses Spezifikum wurde bisher weder in der Weltkriegsforschung noch in Studien über „Ostjuden“ bzw. osteuropäisches Judentum beachtet. Und doch spiegelt sich gerade in den publizistischen Auseinandersetzungen um die jüdischen Kriegsflüchtlinge die unterschiedliche identitäre Verortung der Juden der beiden Reichshälften. Die einst blühende Czernowitzer jüdische Presse verstummte auf Jahre. Ungarn betrachtete die Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina staatsrechtlich korrekt als österreichische Staatsbürger und damit als Ausländer, für deren Aufnahme und Betreuung es nicht zuständig war. Diese Argumentationslinie übernahmen auch die ungarischen Jüdinnen und Juden, die in der Flüchtlingshilfe eine menschliche, keineswegs aber eine nationale Verpflichtung – sei diese nun jüdischnational oder als ungarische Staatsbürger – sahen und daher die Ausweisung der Flüchtlinge durch ihren Staat hinnahmen. Die Juden in der cisleithanischen Reichshälfte hingegen sahen in der Flüchtlingshilfe zwar eine patriotische Pflicht gegenüber österreichischen Kriegsopfern, lehnten die entsprechende zionistische jüdischnationale Interpretation aber ab. Daher blieben die Kriegsflüchtlinge in beiden Teilen der Donaumonarchie Fremde, deren Heimkehr jedenfalls erwünscht war. Diejenigen Flüchtlinge, die bis zum Kriegsende in Österreich blieben, wurden mit den Friedensverträgen gewissermaßen über Nacht zu Ausländern. Ihre neuen Heimatstaaten Polen und Rumänien erwiesen sich als nichts weniger als judenfreundlich, was die endgültige Zerstörung der alten Lebenswelten bedeutete. Dass die politische Neuordnung nach dem Krieg auch eine (schwierige) identitäre Neuorientierung verlangte, wird anhand der Tschechoslowakei gezeigt, obwohl hier die politische Führung den Juden freundlich gesinnt war. Die Zionisten versuchten die Frage nach Fremdheit und Zugehörigkeit mit der Hinwendung nach Palästina zu lösen, andere wandten sich der Religion zu. In Italien wiederum zeigt sich eine völlig andere Situation, die weder mit der in Deutschland noch in Österreich vergleichbar ist.

Anhand der verschiedenen Aspekte, die in dem vorliegenden Band beleuchtet werden, zeigt sich – wie wir hoffen – der Facettenreichtum jüdischen Selbstverständnisses während des Krieges und nach dem Ersten Weltkrieg; zusammenfassend und sehr pauschal lässt sich feststellen, dass Juden und Jüdinnen durchaus nicht eine Erwartung oder eine Erinnerung an den Krieg und auch nicht eine Erfahrung des Krieges teilten. Von der Literatur- und der Geschichtswissenschaft sind die Texte, die darüber Auskunft geben, allerdings weitgehend vergessen, zumindest vernachlässigt. Insofern versteht sich der vorliegende Band nicht zuletzt als Initiative und ein ‚Baustein‘ für zukünftige Projekte und Studien im weiten Feld der Weltkriegsforschung im Bereich der Jüdischen Studien.

Gedankt sei an dieser Stelle all jenen Institutionen und Personen, durch deren finanzielle Unterstützung das Grazer Forschungskolloquium 2012 und die Drucklegung dieses Bandes ermöglicht wurde: dem Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF (Projekt: P 22723-G18 German-Jewish Literature in the Context of WW I), der Abteilung für Wissenschaft und Forschung des Landes Steiermark, dem Vizerektorat für Forschung und Nachwuchsförderung sowie dem Forschungsmanagement und -service der Karl-Franzens-Universität Graz, dem Zukunftsfonds der Republik Österreich und der Kulturabteilung der Stadt Wien sowie der Fritz Thyssen Stiftung. Für ihre Geduld und verlegerische Betreuung seien Ruth Mayr und Linda Müller vom Studienverlag herzlich bedankt.

Anmerkungen

1      https://juedischestudien.uni-graz.at/de/forschung/.

2      Das internationale Forschungskolloquium Deutschsprachig-jüdische Publizistik zur Habsburgermonarchie im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Medialität, Ästhetik, Sinnvermittlung fand vom 11. bis 13. Juni 2012 am Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz statt. Es wurde im Rahmen des von 2011 bis 2015 laufenden FWF-Projekts German-Jewish Literature and Journalism in the Context of the First World War (P 22723-G18; Projektleitung Petra Ernst) durchgeführt.

3      Vgl. stellvertretend Klaus Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, sowie ders., Die Apokalypse in Deutschland, München 1988.

4      Vgl. stellvertretend Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch …“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Frankfurt/Main 1996; Aribert Reimann, Der große Krieg der Sprachen. Untersuchungen zur historischen Semantik in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Weltkriegs, Essen 2000; Bernd Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933, Essen 1997.

Madleen Podewski

Krieg in ‚kleinen Archiven‘:
Überlegungen zum Umgang mit der Medienspezifik der Zeitschrift

Medienordnungen: Zeitschriften als ‚kleine Archive‘

In den Literaturwissenschaften beginnt sich die Einsicht, dass Zeitungen und Zeitschriften zentrale Orte für literatur- und kulturgeschichtliche Entwicklungen sind, allmählich und auch nachhaltig durchzusetzen.1 Schwierig geblieben ist gleichwohl die Konzeptualisierung dieser Medien, was ganz sicher sehr viel mit dem komplexen Material selbst zu tun hat. Denn dem ist mit den kurrenten Interpretationsmodellen ganz offensichtlich nicht so recht beizukommen: Das gilt für den (traditionelleren) Fokus einer Sozialgeschichte der Literatur, der Zeitungen und Zeitschriften schon seit längerem für einen Zugriff auf das Sozialsystem Literatur nutzt – auf die Prozesse der Produktion, Distribution, Rezeption und Speicherung von Literatur also –, der aber den Zusammenhang mit dem Symbol-system literarischer Bedeutungskonstitution weitgehend ausgespart lässt.2 Das gilt aber auch für Ansätze, die stattdessen von einem ganz unmittelbaren funktionalen Zusammenhang zwischen (Massen-)Medien und literarischen Themen und Schreibverfahren ausgehen. Partiell ist hier immer noch das alte kulturkritische Argument im Schwange, dass Massenkulturen – und mit ihnen auch die populären Publikumszeitschriften, in denen Literatur erscheint – heteronome Kulturen sind: Die Literatur, die hier abgedruckt wird, sei – genau wie die Zeitschrift auch – Unterhaltungsbedürfnissen und dem „Schraubstock moderner Marktmechanismen“ unterworfen,3 wogegen sich autonome, ästhetisch „wertvolle“ Literatur von solchen Bedingungsfaktoren freihalten könne. Dass diese Aufteilung in zwei Literaturen eine Fiktion ist, die für den Bereich der kanonisierten autonomen Literatur auf einer eklatanten Medienvergessenheit der Literaturwissenschaft beruht, ist jüngst gezeigt worden. Allerdings behält auch hier das Modell eines direkt-funktionalen Zusammenhangs zwischen Zeitschriften und Literatur weiterhin seine Geltung, wenn auch nun ohne die alten kulturkritischen Implikationen und deren Unterscheidung von autonomen und heteronomen Kultursegmenten: Literatur erscheint nun durchweg spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als so sehr an den Zeitschriftenmarkt gebunden, dass von einem eigenständigen Literatursystem nicht mehr die Rede sein kann. Und damit ist sie in Gänze – also nicht nur die so genannte Schema- oder Formelliteratur – den Selbstreproduktionslogiken des Massenmediums Zeitschrift unterworfen; deren Code, Programm und Funktionen determinieren die Textstrukturen ebenso wie die Werk- und Autorkonzeptionen.4

Es zeichnen sich also für den Umgang mit dem Zusammenhang zwischen Literatur und Zeitschriften zwei Grundtendenzen ab. In der einen Richtung wird Literatur von ihrem medialen Erscheinungskontext distanziert bzw. gänzlich abgelöst: Die Zeitschrift als einer ihrer wichtigen Publikationsorte bleibt hier entweder von vornherein irrelevant oder sie hat als Teil des Sozialsystems mit der Bedeutungsorganisation der Texte selbst nicht unmittelbar zu tun, oder aber diese Bedeutungsorganisation behauptet sich – allerdings nur im Fall ästhetisch „wertvoller“ Literatur – als eine strikt autonome gerade gegen die heteronomen Zentralfunktionen der im Grunde als kunstfremd gedachten populären Medien. In der anderen Richtung lassen sich dagegen Verfahren der Homogenisierung ausmachen: Zeitschriften werden dabei als kohärente Einheiten modelliert, deren Zusammenhang auf einem grundlegenden, auf alle Elemente der Zeitschrift gleichermaßen durchschlagenden Prinzip basiert. Das gilt vor allem für die Funktion der „Unterhaltung“, die für Massenmedien als konstitutiv angesetzt wird, das betrifft aber auch die Modellierung von Zeitschriften als Medien der (Volks-)Bildung und Identitätsstiftung. Und es zeigt sich in Versuchen, Zeitschriften in Orientierung an den literaturwissenschaftlichen bzw. semiotischen Kategorien „Werk“ bzw. „Text“ als eine Bedeutungseinheit zu konzipieren, die sich über bestimmte Schreib- und Darstellungsverfahren – etwa als „Kunstwerk“, „Essay“ oder als „Interdiskurs“ – herstellt.5

So unterschiedlich die Formen und Funktionen, die mit dem zuletzt skizzierten Zugriff ins Spiel gebracht werden, auch sind, sie haben allesamt denselben Status: Sie charakterisieren die Pressegattung ebenso wie das Text- und Bildmaterial, aus dem sie besteht, und sie sind in den meisten Fällen so abstrakt (und dabei zum Teil geradezu essentialistisch) konzipiert, dass kaum diachrone, geschweige denn synchrone Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen Zeitschriftentypen möglich sind.6 Die Rolle, die die Literatur innerhalb einer Zeitschrift übernehmen könnte, ist hier nur schwer zu bestimmen, weil auf diese Weise unterschiedslos alle Elemente demselben Funktionsprinzip unterworfen sind und Binnendifferenzierungen letzten Endes unmöglich werden. Unberücksichtigt bleibt so in jedem Falle das, was hier als das Spezifikum von Publikumszeitschriften herausgestellt werden soll: ihre formale und thematische Vielfalt einerseits und die je spezifische Zeitschriftenordnung, die sich mit ihr herstellt, andererseits. Zeitschriften sind komplexe Funktions- und Formenbündel, die formal unterschiedliche Textsorten versammeln (etwa literarische, populärwissenschaftliche Texte, Essays, Nachrichten, Notizen, Werbung), die wiederum von verschiedenen Autoren verfasst sind, dabei außerdem ein breites Themenspektrum abdecken können, ergänzt werden um diverse Text-Bild-Kombination von Bildserien über Karikaturen bis hin zu den Werbeanzeigen, darüber hinaus um Bildmaterial aus Reproduktionen unterschiedlichster Gattungen der bildenden Kunst, Fotografien, Vignetten, Zierbändern, und schließlich ergänzt durch eine große Vielfalt an typografischen Gestaltungsmöglichkeiten.

Eben dass sie eine solche Vielfalt auf solch vielfältige Weise präsentieren, macht, so die Grundüberlegung dieses Beitrags, die Medienspezifik von Zeitschriften aus. Dabei funktionieren sie wie ‚kleine Archive‘:7 Im Zusammenbinden von Papierseiten und mit Heft- und nachträglichen Jahrgangsdeckeln werden sie zu ganz konkreten, materiell hergestellten „Sammelorten“, die zugleich auf eine eigene Weise sortiert und strukturiert sind: durch die Wahl der Themen und deren Verteilung auf bestimmte Argumentations-, Schreib- und Bildformen, durch interne Strukturierungsformen wie etwa die Graduierung von Relevanz über die Positionierung des Text- und Bildmaterials (z. B. als Leitartikel oder im hinteren, bereits mit kommerzieller Werbung durchsetzten Teil), in der Steuerung der Aufmerksamkeit auf Textsortendifferenzen (z. B. in der expliziten Zuordnung zu einer Rubrik „Lyrik“ im Heft- oder Jahresinhaltsverzeichnis oder auf der Heftseite selbst), mit verschiedenen und dabei wiederum signifikant werdenden Archivierungstechniken (z. B. mit einem Register der Jahresinhaltsverzeichnisse) oder im Umgang mit Mediendifferenzen (z. B. in Text-Bild-Konstellationen).

Die Frage nach der Rolle der Literatur in einer Zeitschrift lässt sich nur mit Blick auf dieses komplexe Gesamtgefüge beantworten und damit nicht pauschal und vornherein: Ob sie etwa die These eines Essays in einer Erzählung an einer Figur individualisierend „veranschaulicht“, „modifiziert“ oder „widerlegt“, ob sie Wissen mit Werbeanzeigen oder Bildmaterial „teilt“, ob die Zeitschriftenhefte solche Differenzen und/oder Gemeinsamkeiten dann auch typografisch oder in ihren Inhaltsverzeichnissen markieren oder ob eben das auf der Ebene des Layouts und im Jahresinhaltsverzeichnis gar nicht wichtig ist – all das muss in Einzel- und schließlich in Korpusanalysen allererst geklärt werden. Denn die Kriterien, die hier für die Beschreibung der Medienspezifik der Zeitschrift vorgeschlagen werden sollen, sind nicht nur vielfältig, sie sind darüber hinaus auch noch variabel verwendbar; wie sie jeweils gebraucht werden, macht dann das Charakteristische des jeweiligen Zeitschriftentyps aus. Ebenso wenig aber lässt sich die Frage nach der Rolle von Zeitschriftenliteratur einsinnig beantworten. Denn Funktionen und Bedeutungen werden in Zeitschriften immer auf verschiedenen Ebenen zugleich zugeteilt – etwa so, dass zum Beispiel die Gattungsdifferenz von Lyrik auf typografischer Ebene in der Wahl einer besonderen Type oder in der isolierten Präsentation auf einer Einzelseite markiert erscheint, auf inhaltlich-konzeptioneller Ebene aber wieder nivelliert sein kann, weil das Gedicht etwas ganz Ähnliches thematisiert wie ein Essay, der im selben Heft abgedruckt wird oder weil die Sprechinstanzen beider Texte auf die gleiche Weise anonym bleiben. Zeitschriften verknüpfen in ihren Materialzusammenstellungen also immer auch bestimmte Themen mit bestimmten Formen – ganz grundlegend mit Zeichensystemen (Schrift, Bild), aber ebenso mit literarischen und sonstigen Text- und Bildgattungen, und damit geht es implizit immer auch darum, welche Reichweite, welche Zuständigkeiten diesen Formen angemessen sind und welche Beziehungen zwischen ihnen bestehen.

Solche Zeitschriftenordnungen aber besitzen eine eminente historische Signifikanz, weil sie anzeigen, was in einem bestimmten Kultursegment auf welche Weise im zunächst ganz wörtlich zu verstehenden Sinne „zusammenbindbar“ ist. In den Publikumszeitschriften ist das immer mehr und Heterogeneres als in einem Buch oder einer Fachzeitschrift, so dass man sie mit gutem Recht als Medien ganz spezieller Verhandlungen bezeichnen kann; Verhandlungen, die nicht auf strukturelle, diskursive oder ästhetische Kohärenz verpflichtet sind, sondern die die Bezüge zwischen ihren verschiedenen Elementen in einer Fülle von Gestaltungsoptionen auch nonverbal, durch den jeweiligen Aufbau der Zeitschrift, regulieren können.

Deutsch-jüdische Zeitschriften bilden da ganz sicher keine Ausnahme: Auch wenn von der inzwischen erfreulich angewachsenen Forschung einleuchtend gezeigt wurde, dass mit dem Minderheitenbezug Probleme der Bildung, Erziehung und Identitätsversicherung eine zentrale Rolle spielen,8 so lässt sich doch noch immer die Frage stellen, worin denn die Spezifik gerade der Presse gegenüber anderen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen, die alle ein ähnliches Ziel verfolgen, bestehen könnte, und warum es sie also überhaupt noch „zusätzlich“ – und so durchaus zahlreich und vielfältig – gibt.

Die starke Fokussierung auf den Problemkomplex „jüdische Identität“, die sich in allen Arbeiten zur deutsch-jüdischen Presse findet, führt auf dieselbe Weise in die Separierungs- und Homogenisierungstendenzen, wie sie oben für die Beschäftigung mit nichtjüdischen Zeitschriften skizziert worden ist. Sie scheinen hier zwar weniger stark ausgeprägt und zudem plausibler, weil man sich hier ja von vornherein auf eine, eben die jüdische Thematik konzentriert und also längst nicht das breite Themen- und Formenspektrum etwa einer Gartenlaube oder einer Illustrierten der Weimarer Zeit entfaltet. Und doch lohnt es sich, auch hier nach dem Funktionieren der ‚kleinen Archive‘ zu fragen: Denn so ließe sich beobachten, wie „Judentum“ in einem bestimmten Segment der deutsch-jüdischen Öffentlichkeit zum Gegenstand medienspezifischer Verhandlungen wird – und dabei unter dem nur hier möglichen Einbezug ganz verschiedener, auch widersprüchlicher und vor allem nicht unter dem Zwang zu diskursiver Integration stehender Optionen und unter Nutzung sehr verschiedener Darstellungsformen, die vom Essay über die Literatur bis hin zur Werbeanzeige reichen.

Ost und West: Optionen (nicht nur)
für deutsch-jüdische Identität im Ersten Weltkrieg

Ost und West, von Leo Winz und Davis Trietsch im zeitschrifteneigenen Verlag in Berlin von 1901 bis 1923 als Illustrierte Monatsschrift für modernes [ab 1907 für das gesamte] Judentum herausgegeben, ist eines der wichtigsten Presseorgane der Jüdischen Renaissance. Sie versteht sich als Teil einer Bewegung, die jüdische Identität auf neue Fundamente stellen und deutlich und vor allem selbstbewusst markieren will: Gegen die traditionelle Ausrichtung an der Assimilation postuliert sie eine jüdische Eigenart und Eigenständigkeit, die nun nicht mehr ausschließlich in der Konfession, sondern hauptsächlich im „Volk“, in der „Nation“, im „Stamm“ oder in der „Rasse“ gründet. Verfolgt werden dabei eher gemäßigte Positionen: Für die Neufundierung des Judentums steht in der Zeitschrift weniger die rigide Absonderung von der deutschen Kultur im Vordergrund als die Prägung einer säkularen, gesamtjüdisch-nationalen Perspektive und die wechselseitige Befruchtung von „West- und Ostjudentum“. Darauf verweisen Titel und Untertitel ebenso wie die Beiträge und Beiträger: Die Zeitschrift wird zum wichtigen und oft ersten Publikationsort für kulturzionistische Positionen sowohl „ost- als auch westjüdischer“ Prägung und für entsprechende Debatten um das „Wesen“ und die Grenzen des Judentums, die sich zudem von den Reform- und Jugendbewegungen der Jahrhundertwende beeinflusst zeigen.9

Einem für die Eigenständigkeit des Mediums Zeitschrift sensibilisierten Blick fällt aber darüber hinaus noch anderes auf – vor allem, dass Ost und West aus einem ganzen Bündel sehr unterschiedlicher Text- und Bildformen besteht. Über ihre Jahrgänge hinweg präsentiert die Zeitschrift mehrere hundert längere Abhandlungen, die sich nicht nur kulturzionistischen Positionen zurechnen lassen, sondern unterschiedlichste Probleme des Judentums reflektieren und debattieren. Vor allem zwischen 1901 bis 1913 finden sich kleinere Beiträge, die zum Teil unter Rubriken wie „Literarisches und Miscellen“, „Literarische Rundschau“, „Revue der Presse“, „Kriegsliteratur“ oder „Aus der philosophischen Literatur“ zusammengestellt werden und informatorischen und/oder rezensierenden Charakter tragen; dazu kommen zahlreiche Nachrufe auf jüdische „Persönlichkeiten“. Von 1907 bis 1914 ist der Zeitschrift das „ostjüdischen“ Interessen einigermaßen fremd gegenüberstehende Vereinsblatt der deutschen Sektion der Alliance Israélite Universelle mit Berichten aus dem Vereinsleben, über Schul- und Kolonisierungsprojekte vor allem im Nahen Osten beigefügt, darüber hinaus finden sich hier ca. 180 Erzähltexte, 11 Dramen und ca. 150 Gedichte, in den Anfangsjahren eine regelmäßige Schachecke, mehrere hundert Reproduktionen bildender Kunst mit sowohl jüdischen wie nichtjüdischen Sujets, Noten, ethnografische Fotografien „exotischer“ Juden oder volkskundlicher Ausstellungsgegenstände und archäologischer Expeditionen, schließlich mehrere hundert Seiten Werbeanzeigen, die zumeist gänzlich jenseits jüdischer Identitätsproblematiken hauptsächlich Waren des gehobenen Bedarfs anpreisen, aber auch koscheren Sanatorien, Hotels und Restaurants gelten.

Mit diesem Material wird in Ost und West die Frage nach der jüdischen Identität verhandelt. Die hier nur knapp angedeutete Heterogenität lässt erwarten, dass in der Zeitschrift probiert und verworfen, dass eher Spektren an Optionen als ein- deutige und einsinnige Lösungen präsentiert werden und dass die Beschäftigung mit Judentum mit diversen anderen Problemkomplexen angereichert wird: mit Markt, mit Kunst und mit Text-Bild-Konzepten, wie der Einbau der Reproduktionen und die Werbeanzeigen vermuten lassen.10 Mit eben solchen Differenzierungen und Vervielfältigungen ist die Zeitschrift dann aber nicht nur Organ einer Problemgeschichte jüdischer Identität, sondern auch Teil pressegeschichtlicher Entwicklungen. Denn der Typus der Rundschau- oder Kulturzeitschrift, dem sich Ost und West zurechnen lässt, differenziert sich im deutschsprachigen Raum endgültig im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als ein „Produkt und Kophänomen derjenigen Modernisierungsprozesse [aus], die Entwicklungen der Presse insgesamt seit der Jahrhundertmitte steuern“.11 In diesem Umfeld eignen sich Journal-und Kulturzeitschriften die „Spezialfunktion Überblick“12 an und besetzen so eine Position, die auf ganz spezifische Formen von Anreicherung und Integration ausgerichtet ist.

Die Kommunikationsgemeinschaft, die die Journal- und Kulturzeitschriften zu konstituieren suchen, ist dabei zudem sehr deutlich auf Entdifferenzierung ausgerichtet. Wie noch die Familienzeitschriften, die einen „mittelständischen Sozialtyp einer mehrere Generationen umfassenden, ökonomisch autarken Haus- und Familiengemeinschaft“ modellieren, richten sich auch sie an einer „überständische[n] universelle[n] Kommunikationsnorm“ aus13 und stützen sich dabei bevorzugt auf bildungsbürgerliche Werte: auf das „Wahre“ und „Wertvolle“ und auf das „Dauerhafte“ und „Wesentliche“, das sich an Universalgrößen wie „Geist“, „Natur“, „Menschheit“ oder schlichtweg dem „Ganzen“ ausrichtet. Die Gemeinschaft, die sich über solche Bezüge konstituiert, kann sich zugleich unbetroffen fühlen von den Fragmentierungsprozessen moderner Industriegesellschaften, vor allem aber auch von den populären Massenkulturen, denen gegenüber sie sich im Rekurs auf „Bildung“ mehr oder weniger scharf als Elite von Kulturbewahrern profiliert. Als Kulturzeitschrift ist Ost und West eben auch in solche Differenzierungsprozesse involviert; die Ausrichtung aufs Judentum, die die Zeitschrift so deutlich zeigt, verweist deshalb nicht auf Identitätsbildung schlechthin, sondern sie ist in ein kleinteiliges Set von Funktionen überführt und erhält so ein spezifisches, der Kulturzeitschrift qua Pressegattung zukommendes inhaltliches Profil, und das zusammen mit einem spezifischen Maß an Flexibilität.

Das sei im Folgenden mit der Analyse des 1915er Jahrgangs, in dem fünf Nummern zu einem einzigen Heft zusammengefasst sind, gezeigt. Die rigide Umfangskürzung ist den Kriegsereignissen geschuldet und fällt hier besonders drastisch aus. Sie wird in den gleichfalls in einer Nummer untergebrachten letzten drei 1914er Ausgaben mit „ungeahnte[n] und sehr schwer zu beseitigende[n] Schwierigkeiten“ gerechtfertigt. Zugleich soll die Zeitschrift aber doch auch eingeschränkt und mit „Rücksicht auf einige wichtige aktuelle, das Judentum betreffende Fragen, die sich aus den gegenwärtigen Vorgängen ergeben haben und deren Erörterung uns schon jetzt dringend notwendig erscheint“,14 weitergeführt werden. Das Heft besteht aus insgesamt neun Textbeiträgen sehr unterschiedlichen Umfangs und moderat unterschiedlicher thematischer Ausrichtung: einem hebräischen Lied samt deutscher Übersetzung und dazugehörigen Noten, zwölf Fotografien (davon vier Porträts), sechs Reproduktionen bildender Kunst und 52 zumeist kleinteiligeren Werbeanzeigen.

Unter inhaltlichen Aspekten lassen sich hier zunächst einmal fünf Themengruppen unterscheiden: die quantitativ umfangreichste erste Textgruppe beschäftigt sich ausführlich mit Grenzziehungen zwischen Nationen, „Rassen“ und Religionen und mit der Position, die die jüdische Differenz dabei einnimmt. Im Zentrum stehen hier die höchst aggressiven Abgrenzungen der Kriegsparteien vor allem in den Beiträgen „Erziehung zum Hass“15 und „Der Krieg als Lehrmeister“,16 dann antisemitische Fremdcharakteristiken des Judentums in „Der Weltprügeljunge“,17 die Vereinbarkeit von Judentum und „Menschheit“ im Nachruf auf Jehuda Löb Perez18 und schließlich die Begründung einer grundlegenden Differenz zwischen Judentum und Christentum in „Morija und Golgatha“.19 Die zweite Textgruppe beschäftigt sich mit der Fürsorge für hilfsbedürftige Ost- und Orientjuden, und zwar im Leitartikel mit dem Nachruf auf den Mitbegründer der Alliance Israélite Universelle, Narcisse Leven,20 im Nachruf auf Abraham Berliner21 und im Beitrag über „Palästina während des Krieges“.22 Die dritte Textgruppe besteht aus nur einem Text, der sich mit dem Bildhauer Ephraim Keyser und einigen seiner Produktionen beschäftigt;23 die vierte Gruppe bildet sich aus der hebräischen und der deutschen Variante des Liedtextes „Po beerez“ bzw. „Im Lande der Väter“ und den dazu gegebenen Noten;24 die fünfte Gruppe schließlich besteht aus Werbeanzeigen, die diverse Produkte aus zumeist nicht spezifisch jüdischem Umfeld anpreisen.

Zunächst zur ersten Textgruppe, die sich intensiv und in mehrfachen Varianten mit der Frage auseinandersetzt, welche Grenzziehungen zwischen – ganz allgemein gesprochen – „Gruppen“ akzeptabel sind und welche nicht: Ganz eindeutig favorisiert ist hier über alle Texte hinweg ein Modell, in dem die Wahrung ethnischer Differenz die Zugehörigkeit zu einem übergreifenden Gesamtzusammenhang nicht blockiert, sondern in dem eine „Kulturgemeinschaft“ besteht, in der jedes Mitglied, „seinen eigenen Klang bewahrend“, zu einem „machtvoll schönen“ Gesamtklang beiträgt.25 Dieses Konzept wird in den einzelnen Beiträgen mehrfach modifiziert und dabei auf unterschiedliche Weise profiliert. So lassen sich ihm gegenüber die scharfen Abwertungen, die die Kriegsgegner wechselseitig aneinander vornehmen, entschieden abschwächen. „Erziehung zum Hass“ etwa referiert ausführlich, wie die Engländer die Deutschen als kulturlose Barbaren bezeichnen und wie sie den bisher intensiv gepflegten wissenschaftlichen Austausch mit Kriegsbeginn rigide abzubrechen suchen. Die Distanzierung gegenüber dieser Form national-ethnischer Abgrenzung erfolgt im repetitiven, zahlreiche Beispiele anführenden Nachweis, dass die dabei vorgebrachten Argumente seriöslogischen Ansprüchen nicht genügen, dass sie vielmehr in sich widersprüchlich, leicht falsifizierbar, kurzlebig und abruptem Meinungswechsel unterworfen sind. Solchermaßen falsch national engagierte Künstler überlassen sich etwa, obwohl sie doch eigentlich zu „Harmonie“ und „Veredlung“ beitragen sollten, den „Stimmungen und Wallungen des Augenblicks“, „sie schimpfen, sie keifen, sie fluchen“;26 bei den „Urgermanen“ unter ihnen kommt es nunmehr zu gravierenden Fehleinschätzungen nationaler Zugehörigkeit,27 der Krieg erzwingt Kehrtwenden, abrupte Meinungswechsel und plötzliche Verfeindung, wo doch eigentlich Verwandtschaft und Vertrautheit herrscht.28

Ganz im Gegensatz dazu bleibt die jüdische Differenz immer ankoppelbar an universale Werte, wie gerade auch ein Blick auf die „Väter“, die sich ja selbst entschieden von ihren Umgebungsvölkern distanzierten, zeigt:

Wir wollen ihnen lieber dankbar sein für die echten Worte tiefer Menschlichkeit, für die Äußerungen feinen Verständnisses fremder Eigenart, vor allem für die weise Lehre, die sie uns gaben: lernt alles Gute, das ihr bei den Fremden findet und meidet ihr Böses und trachtet, euch vor den andern durch folgende Merkmale auszuzeichnen: Barmherzigkeit, Keuschheit und Hilfsbereitschaft.29

Noch einmal neu gefasst ist eine solche Position im Nachruf auf Jehuda Leib Perez: Das Judentum des Autors, das mit Hinweisen auf seinen Gebrauch der jüdischen und hebräischen Sprache und das wohltätige Engagement für sein Volk explizit herausgestellt ist, kann im Text unmittelbar neben seiner Charakteristik als „Schriftsteller und Mensch“ stehen, dessen höchste künstlerische Fähigkeit darin besteht, „in die Seele der schlichten Menschen“30 (und also gerade nicht nur der „Juden“) zu blicken. Beide Zugehörigkeiten erscheinen so als problemlos miteinander verknüpfbar. Eine weitere Variante dieses Annäherungsparadigmas konstituiert sich im Rahmen einer Analogiebildung: Die eigenen jüdischen Erfahrungen aus der langen Geschichte des Antisemitismus werden verglichen mit den Verleumdungen der Deutschen durch die gegnerischen Kriegsparteien. Das nunmehr gemeinsame „Schicksal“ ermöglicht eine Annäherung über „Rührung und Mitgefühl“, die die Gruppenidentität gleichwohl nicht auflöst: „Wie schmerzlich haben wir Juden in den letzten dreißig Jahren ganz dieselben Empfindungen durchgekostet.“31 „Morija und Golgatha“ modifiziert das Konzept einer moderaten Differenzmarkierung schließlich ein weiteres Mal: In diesem Beitrag geht es um grundlegende Gegensätze zwischen Judentum und Christentum, die vor allem mit Bezug auf das Kreuzesopfer ganz eindeutig nicht mehr vermittelt werden können: „Und hier stoßen wir auf den Punkt in der christlichen Lehre, der dem Juden ewig unfassbar und unzugänglich bleibt.“32 Die Argumentation ist hier aber nun so aufgebaut, dass die hoch geschätzten ethischen Werte, die auch in den anderen Texten eine zentrale Rolle spielen (etwa Beständigkeit, Arbeitsamkeit, Duldsamkeit, Verlässlichkeit, Altruismus), an die jüdische Religion gekoppelt bleiben, wogegen das Christentum latent sektiererisch erscheint und zudem einen unzuverlässigen Gott konstruiert, der sich – nach der in der jüdischen Religion bereits vollzogenen Transformation des Opfergedankens bei Abraham und Isaak – die „Sache [urplötzlich] anders überlegt haben [sollte]: Er wollte ein blutiges Opfer haben.“33 Auf diese Weise kann die unversöhnliche Form der Grenzmarkierung dem Christentum angelastet werden und die Separation des Judentums vom Christentum ist damit nicht als ein gleichermaßen spezialistischer Akt anzusehen, sondern ganz im Gegenteil als ein Akt der Sicherung (auch) allgemein verbindlicher Wertkomplexe.

Von diesen Beobachtungen ausgehend, zeigt sich nun mit Blick auf die zweite Textgruppe, dass die Universalia, die in der ersten Textgruppe so wichtig für die Modellierung einer spezifischen, moderat gehaltenen jüdischen Differenz sind, auch noch für einen anderen Zusammenhang gebraucht werden: „Menschlichkeit“, „Fortschritt“, „Kultur“ samt dem daran geknüpften Bündel an ethischen Werten bewähren sich hier an der Erziehungs- und Betreuungsarbeit, die an Ost- und Orientjuden zu leisten ist. Die setzt durchweg ein hierarchisches, paternalistisch fundiertes Gefälle zwischen universalistisch denkenden und aktiv handelnden Subjekten auf der einen Seite und passiv bleibenden, auf einer niedrigeren Kulturstufe stehenden Objekten auf der anderen voraus. Die „Ost- und Orientjuden“ werden so zu den „fernen“ […] Brüder[n], die selber nichts für sich zu unternehmen vermochten“34 und die erst zur „Selbständigkeit“ erzogen werden müssen.35 Mit Blick auf das Gesamtgefüge des Heftes ist es nur diese Textgruppe, die thematisiert, in welchen konkreten Handlungskontexten die universalistisch konzipierten Wertkomplexe sich eigentlich auch praktisch durchsetzen können – eine Frage, die für die Grenzziehungstexte ja gar keine Rolle spielt, weil sie sie einfach als mit dem Judentum verkoppelte voraussetzen. Auf der Ebene der jeweiligen textinternen Argumentationen bleiben beide Aspekte mithin getrennt, im Zeitschriftenheft aber werden sie doch zusammengestellt. Sie haben so nicht diskursiv, aber medial etwas miteinander zu tun.

Im Artikel zum amerikanischen Bildhauer Keyser ist die jüdische Differenz nun gänzlich irrelevant. Im Zentrum stehen hier der gediegene und regelgerechte Ausbildungsgang eines Künstlers und seine besonderen Fähigkeiten und Charakterqualitäten: die Rückbindung an europäische Traditionen, die „vorzügliche Beherrschung der Technik wie des Materials“; an den Werkqualitäten interessiert schließlich das „tief“ Empfundene, die „schlichte Einfachheit“ und die „ruhig[e] Zurückhaltung“.36 Die beiden einzigen der abgebildeten Werke, die einen inhaltlichen Bezug zum Judentum aufweisen – ein Grabmal mit einer Menorah und der Entwurf zur Kopfleiste der Zeitschrift Jewish Comment – werden in diesem Text nur ganz knapp erwähnt, aber nicht interpretiert, wie das im Gegensatz dazu mit drei der anderen Kunstwerke – besonders ausführlich mit einer Statue des Baron von Kalb – durchaus geschieht.

Der Liedtext schließlich geht mit der jüdischen Differenz dann noch einmal auf eine andere Weise um: Auf der Ebene des Gedichtinhaltes ist der Bezug aufs Judentum äußerst abstrakt, das dafür nötige Signalwort „Thora“ taucht erst in der siebenten Zeile auf. Die Utopie, die hier entwickelt wird, erfährt keine zeitlichen und auch keine lokalen Konkretisierungen; sie ist zudem mit Abstrakta wie „Wahrheit“, „Freiheit“ und „Reinheit“ und mit einer ebenso unspezifischen Ackerbaumetaphorik verknüpft. Außerordentlich deutlich markiert ist eine Differenz dagegen im Abdruck der hebräischen Version, die nun – und das bis in die in deutsche Lettern transferierte Überschrift „Po Beeretz“ – eine genuin jüdische Sprache ins Spiel bringt. Die muss übersetzt werden, weil man offenbar nicht mehr von einer entsprechenden Sprachkompetenz ausgeht. Zugleich steht aber doch die entsprechende Kenntnis für eine Übersetzung zur Verfügung, so dass eine weitere Variante von undramatischer Differenzmarkierung zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem seinen Platz im Heft findet.

Nun sind die bisher gemachten Beobachtungen, dass sich Judentum an Universalia und Kollektivsingulare wie „Fortschritt“ und „Menschheit“ anschließt, dass konservative ästhetische Werte wie Tiefenblick und Materialbeherrschung geschätzt werden und dass die Bekannt- und Vertrautmachung mit jiddischer und hebräischer Kultur einen hohen Stellenwert besitzen, keineswegs überraschend im Rahmen einer Charakteristik nationaljüdischer Strömungen. Der Mehrwert der Perspektive, die hier mit Blick auf die spezifische Medienordnung der Zeitschrift herauszustellen war, liegt denn auch nicht in den Ergebnissen, die die Analyse der Einzeltexte erbringt, sondern in der Analyse ihrer nur so in einem Zeitschriftenheft vorkommenden Zusammenstellung.

Und dafür lässt sich nun zusammenfassend Folgendes festhalten: Erstens präsentiert das Heft mit seinen Versuchen, eine angemessene – und das heißt hier nicht in Krieg und Aggression führende – Form der Markierung jüdischer Differenz zu finden, eine Art Skala: Sie reicht von der fast vollständigen Irrelevanz von Judentum (im Artikel zum Bildhauer Keyser) bis hin zur unüberwindbaren Glaubensgrenze gegenüber dem Christentum (in „Morija und Golgatha“). Auf diese Weise bilden sich im Heft Randzonen, in denen das Verhältnis zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem auf eher einfache Weise in einem „entweder/oder“ entschieden werden kann und nicht über mehrteilige Relationen zu konturieren ist. Die Irrelevanz der jüdischen Markierung setzt sich dabei fort in den Werbeanzeigen, die bis auf eine Ausnahme kein jüdisches Publikum ansprechen, dafür aber aggressiv betonte nationale Differenzen zwischen Deutschen und Engländern (also das, was einige der im Heft abgedruckten Artikel entschieden abwerten) in zwei Werbeanzeigen des „Verbandes deutscher Schokoladenfabrikanten“37 und für „Dr. Oetker’s Gustin“38 in den Vordergrund rücken. Diese einfache Form unterscheidet sich aber vom Gros der Texte, die komplexe Verknüpfungsarbeit leisten müssen, um Judentum zugleich als universal relevant und als eine eigenständige Gruppe zu fassen. Für diese kompliziertere Form hält das Heft zudem mehrere Varianten bereit.

Aus der Zusammenschau der Beiträge ergibt sich zudem zweitens, dass die Verknüpfung des Judentums mit dem universalen Kollektiv „Menschheit“ und allgemein verbindlichen ethischen Normen und Werten nicht voraussetzungslos funktioniert: Sie braucht einerseits ein Gegenmodell, vor dem sie allererst ihr Profil gewinnt: die forciert aggressiven Abgrenzungsstrategien der Kriegsparteien, die keinerlei Aussicht auf Überwindung oder Annäherung bieten. Andererseits postuliert eine Reihe von Texten solche „Menschheits“-Werte nicht nur, sondern zeigt, wie sie von bestimmten Handlungsträgern in der Beschäftigung mit Erziehungsund Bildungsobjekten, wie den „Ost- und Orientjuden“, auch praktisch durchgesetzt werden. Signifikant ist nun, dass dieser Aspekt nicht argumentativ in die erste Textgruppe eingebaut ist. Er kommt vielmehr nur in Texten vor, die sich mit ganz Anderem als mit der Abgrenzung zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem beschäftigen, nämlich mit innerjüdischen Differenzen zwischen kultivierten und noch zu kultivierenden Juden. Dass die Universalismen, die für die Konzeption jüdischer Identität so wichtig sind, auch einen praktischen Aspekt haben, mit dem hierarchische Strukturen zwischen Juden ins Spiel kommen, ergibt sich in diesem Zeitschriftenheft also allein aus der Zusammenstellung von Beiträgen unterschiedlicher Thematik, mithin erst über die Kombination verschiedener Texte, nicht aber innerhalb eines Textes.

Über den Aufbau des Heftes wird aber nun noch ein weiterer Aspekt relevant, der über den bislang skizzierten Umgang mit der jüdischen Differenz hinausgeht und an ihn angelagert ist. Denn drittens bauen sich im Heft ganz spezifische Beziehungen zwischen Text und Bild auf. Obwohl sich vielfältiges Bildmaterial im Heft findet, wird die Festlegung von Bedeutung sehr deutlich von der Sprache gesteuert. Sie bleibt durchweg die letzte Signifikationsinstanz – und das zwar auch, aber nicht nur, weil sie quantitativ dominiert. Am deutlichsten zeigt sich das an den Reproduktionen, die dem Artikel zu Keyser beigefügt sind: Die Bedeutung der abgebildeten Plastiken wird durchweg durch den Text erklärt, in den sie zugleich eingebaut sind. Die notwendige Kooperation mit der Sprache wird also auch durch das Layout unterstützt, so dass die Kunstwerke nirgends „für sich“ – etwa isoliert auf einer Einzelseite – stehen. Eingespeist wird damit auch ein Konzept reduzierter Kunstautonomie, die sich noch einmal am Text selbst zeigt, der sehr viel mehr über die ethischen Qualitäten des Bildhauers und nicht über eigenständige ästhetische Form- oder Geniequalitäten spricht. Ähnliches lässt sich für das Gedicht „Po Beeretz“ feststellen, das gleichfalls nicht als kontextunabhängige Lyrik, sondern als Liedtext präsentiert wird.

Auch die Porträtfotografien in den Nachrufen auf Narzisse Leven, Jehuda Leib Perez und Abraham Berliner und im Artikel zu Keyserling bleiben strikt an ihren Umgebungstext zurückgebunden. Einzig die Fotografien, die dem Artikel zur Situation Palästinas beigegeben sind, erhalten eine größere Selbstständigkeit, weil nur in zwei von acht Fällen ein direkter Bezug zum Text besteht. Die anderen sechs Fotografien sind über nur sehr vage geografische Gemeinsamkeiten an den Text gebunden. Irgendwie hervorgehoben wird diese latente Bilderfreiheit aber innerhalb der Heftordnung nicht. Die Bilder sind nicht anders gesetzt als die anderen, das Heftinhaltsverzeichnis erwähnt sie gar nicht und im Jahresinhaltsverzeichnis sind sie unter der Rubrik „Illustrationen“ dem Artikel zugeordnet. Die Text-abhängigkeit des Bildes gilt schließlich auch für die Werbeanzeigen, in denen die Produkte durchweg sprachlich bezeichnet und nur ab und an durch Abbildungen ergänzt sind.

All diese Regeln, die hier aus der Heftordnung zu extrahieren waren, sind, das sei abschließend noch einmal nachdrücklich betont, nicht Gegenstand irgendeiner Rede und werden nirgends argumentativ entfaltet. Die Randzonen mit nivellierter oder verschärfter Grenzziehung um das Jüdische hat niemand als solche explizit einkalkuliert – keiner behauptet hier, dass in der Kunst das Judentum nicht relevant und dass es in der Religion unbedingt zu berücksichtigen sei oder dass sich im Bereich der Lebensmittelwirtschaft Deutsche und Engländer nun doch unversöhnlich gegenüber stehen dürften. Ganz im Gegenteil stehen einige der Bestandteile des Heftes durchaus im Widerspruch zueinander: Behaupten die einen die grundlegende Relevanz der jüdischen Differenz, spielt sie im Kunstartikel und in den Werbeanzeigen gar keine Rolle; werten einige der Artikel nationale Feindschaft entschieden ab, so kommt sie in den Werbeanzeigen doch vor. Und ebenso wenig klärt hier jemand, in welcher Beziehung Text und Bild zueinander stehen müssen und welchen Grad an Autonomie Kunst beanspruchen darf. Was hier herauszuarbeiten war, sind die Effekte, die sich aus der Zusammenstellung eines Zeitschriftenheftes ergeben. Das aber sind Ordnungsmuster, die medial hergestellt werden und die genau deshalb nicht funktionieren wie (von Autoren intendierte) Texte oder Werke, wie Identitätsbildungsinstitutionen oder ökonomische Unternehmungen.

Ost-und-West