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Copyright © 2015 Helena Zweigbergk und Marie Fredriksson. Erschienen 2015 im Piratförlaget, Schweden, unter dem Titel Kärleken Till Livet. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Kontext Agency, Stockholm.

 

 

 

 

 

 

 

Edel Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

 

Copyright © 2016 Edel Germany GmbH,

Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edelbooks.com

 

Übersetzung: Ulrike Brauns

Projektkoordination: Gianna Slomka

Lektorat: Nadia Al Kureischi

Coverfoto: Mattias Edwall

Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.de

Satz: Datagrafix GmbH | www.datagrafix.com

ePub-Konvertierung Datagrafix GmbH, Berlin

 

 

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

 

eISBN 978-3-8419-0491-1

Vorwort

Da liegt etwas sehr Besonderes in Marie Fredrikssons Blick.

Das denke ich, als wir uns an einem frühen Herbsttag 2013 treffen, um ein erstes Mal darüber zu sprechen, dieses Buch zu schreiben.

Ich bin nach Djursholm zur Villa der Bolyos gefahren, wo Marie mit ihrem Mann Micke, ihren beiden Kindern Josefin und Oscar und der Katze Sessan (Schwedisch für Prinzessin) wohnt.

Marie strahlt etwas Weises und Geheimnisvolles aus. Als hätte sie Dinge erlebt, die sich nicht in Worte fassen lassen. Schwindelerregende Erlebnisse. Lange Reisen, innerlich und äußerlich, in die Dunkelheit und hinein ins Licht, Kilometer um Kilometer weltweit.

Als Marie mir in die Augen sieht, verstehe ich sofort, wie ernst ihr Wunsch ist. Dass sie mit ihrer Geschichte ein echtes Ziel verfolgt, sowohl für sich selbst als auch für andere. Dass ihr Gedächtnis Lücken aufweist, ist eine der Folgen ihres Hirntumors. Stück für Stück kommen die Erinnerungen zurück, und jetzt möchte sie ihre Geschichte rekonstruieren.

Aber das ist nicht der einzige Grund.

„Ich möchte, dass die Leute davon erfahren.“ Entschlossenheit liegt in ihrer Stimme. „Ich möchte erzählen, wie es ist, von diesem Schicksal getroffen zu werden, das mich ereilt hat.“

Wir sitzen auf einer weißgrauen Sofagruppe in dem stilvollen Haus. Weiße Rosen in einer Kristallvase. Antike Gegenstände und ein großer, schwarzer, glänzender Flügel. Ein Gemälde von Einar Jolin, von dem man nur schwer den Blick lösen kann. Wie viele Villenbewohner dieser Gegend hat auch Familie Bolyos ein Interesse daran, sich schön und geschmackvoll einzurichten und verfügt dafür über die nötigen finanziellen Mittel.

Natürlich möchte ich Maries Geschichte erzählen.

Wir treffen uns von Herbst 2013 bis zum Sommer 2015, und in dieser Zeit passiert viel in Maries Leben. Besonders ruhig ist es dabei nicht, obwohl sie darum bemüht ist, den Frieden in sich zu wahren. Sie geht auf ihre erste Solotournee, seit bei ihr im Herbst 2002 Krebs diagnostiziert wurde. Sie bringt mit Micke die Platte „Nu!“ („Jetzt!“1) heraus. Sie spielt mit Roxette neue Lieder ein, und die Band begibt sich auf Welttournee, angefangen in Russland, weiter über Australien und Europa.

Man braucht nicht viel Zeit mit Marie zu verbringen, um zu begreifen, dass man es mit einer Kämpferin mit eisernem Willen zu tun hat. Manchmal benötigt sie Hilfe, um vom einen Zimmer ins andere zu gehen, und dennoch reist sie um die ganze Welt, um sich vom Publikum bestaunen zu lassen.

„Ja, aber was soll ich denn sonst machen?“, fragt sie. „Mich hinlegen und sterben? Dagegen habe ich mich sehr früh entschieden. Ich werde mich niemals hinlegen und sterben.“

Und dann fügt sie hinzu: „Und mit meiner Stimme gab’s verdammt noch mal nie ein Problem!“

Zwei Jahre lang treffen wir uns regelmäßig bei Marie. Sie wohnt in der Nähe der Bucht Stora Värtan in Djursholm, Stockholms exklusivstem Vorort mit vielen prunkvollen Villen hinter sorgfältig bewachten Mauern. Die Villa ist ihr Zuhause und ihre Festung. Sie verlässt sie nie allein, geht meist nicht mal ohne Begleitung in den Garten. Das eine Bein hat während der Strahlenbehandlung Schaden genommen. Sie hat Angst hinzufallen und braucht jemanden, der sie stützt.

Am häufigsten sitzen wir am Esstisch der Familie, trinken Kaffee und essen Unmengen von Zimtschnecken. Manchmal, wenn ich vor dem Tor in der Mauer stehe, die das Grundstück umgibt, und darauf warte, hereingelassen zu werden, hängt ein Blumenstrauß an der Klinke.

„Oh, die Fans“, sagt Marie, sobald ich mit Strauß und dazugehörigem Brief hereinkomme. „Die Fans sind so fantastisch.“

Sie sind sowohl hartnäckig als auch liebevoll. Als Marie im Winter 2014 allein tourt, kommen sie aus aller Welt in die Konzertsäle in ganz Schweden. Aus Argentinien und Dänemark, aus Holland und Deutschland. Sie nehmen weite Wege auf sich, um Marie zu sehen und zu hören.

Am Esstisch gehen wir es langsam an und warten darauf, dass Wörter und Erinnerungen, die sich manchmal gut verstecken, auftauchen oder sich hervorlocken lassen.

„Ach, diese Lücken“, sagt sie oft, wenn das Gespräch stockt, weil sie nach etwas Bestimmtem sucht.

Oft sind es Namen. Oder Orte.

Aber manchmal reagiert sie schnell. Als ich zum Beispiel einen Satz darüber formuliere, was für ein großer Star sie gewesen ist, berichtigt sie mich sofort: „Bin!“

Oder als ich zusammenfasse, wie viel Halt ihre Familie ihr in all der Ungewissheit gegeben hat, kommt blitzschnell: „Wie viel Halt meine Familie mir gibt.“

Ein andermal erzählt sie mir von ihren schmerzhaften Erinnerungen aus der Zeit, als ihre Krankheit viel akuter war, und ich sage: „Das verstehe ich.“ Sofort erwidert sie: „Nein, das verstehst du nicht. Das kann man gar nicht verstehen, wenn man es selbst nicht erlebt hat.“

Und wahrscheinlich hat sie recht, dass man es nicht vollkommen verstehen kann. Aber Marie erzählt auf eine Art und Weise so anschaulich von dieser Zeit, dass man eine sehr beklemmende Ahnung bekommt.

Marie nennt sich selbst gern einen „typischen Zwilling“. Für jemanden wie ihre ältere Schwester Ulla-Britt, die etwas von Astrologie versteht, ist sie sogar ein „doppelter Zwilling“, ein Mensch mit starken Gegensätzen. Und das ist sehr treffend: Auf der einen Seite ist Marie ein weiser, vernünftiger, ruhiger Mensch. Auf der anderen Seite ist sie eine Persönlichkeit, deren Gefühle sich so schnell wandeln, wie das Wetter umschlagen kann: hell, dunkel.

Das Dunkle bringt sie unmittelbar auf den Punkt: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich das ist. Ein solches Leid. Ein so furchtbares Leid.“

Tränen kullern ihr über die Wangen, die sie mit einer schnellen Handbewegung wegwischt.

„Aber es wird besser. Jeden Tag wird es besser. Außerdem muss man ja auch lachen. Das darf man nie vergessen, das ist wahnsinnig wichtig.“

Marie achtet darauf, dass das hier ihr Buch ist, ihre Geschichte. Ich spreche mit vielen Menschen aus ihrem Umfeld. Trotzdem geht es nie darum, eine Biografie zu schreiben, die alle Stationen aus Maries Leben in chronologischer Reihenfolge ­wiedergibt.

Dieses Buch fußt auf emotionalen Erinnerungen. Alles, was hier steht, will Marie erzählen, weil es sich wichtig anfühlt.

Von Anfang an weiß Marie, was dieses Buch für sie bedeutet: „Es soll ehrlich sein. Ich will nur sagen, was wichtig ist. Ohne Schnickschnack. Geradeheraus, wie es eben war.“

Die Aussagen aller Menschen, mit denen ich über Marie spreche, ähneln sich in vielen Punkten. Alle weisen sie auf Maries großes Herz hin. „Großes Herz in einem kleinen Körper“, fasst ihre Freundin Efva Attling zusammen. „Ein großer Mensch, egal wie dünn.“

„Ich fand immer, dass sie die meiste Energie von allen in der Band hat“, sagt Lotta Skoog, eine langjährige Freundin Maries und zudem Pelle Alsings Lebensgefährtin, der sowohl bei Roxette als auch in Maries Band Schlagzeug spielt. „Bevor Marie krank wurde, hat sie immer das höchste Tempo vorgelegt. Und eigentlich hat sie selbst jetzt noch die meiste Energie von allen, wenn man ihre Krankheit berücksichtigt. Dass Marie überhaupt noch die nötige Kraft hat weiterzumachen, ist einfach unfassbar.“

„Sie ist der großzügigste und mutigste Mensch, den ich kenne“, sagt Marika Erlandsson, eine der Freundinnen, die ihr in der schwersten Zeit beigestanden haben. Marika ist die Partnerin von Clarence Öfwerman, Produzent und Pianist von Roxette seit der ersten Stunde.

Marika fasst etwas in Worte, das mich selbst während meiner Zeit mit Marie zutiefst erstaunt: „Egal, wie düster es ausgesehen hat, es ließen sich nie Anzeichen von Verbitterung oder Missgunst bei ihr erkennen. Sie hat nie die Fähigkeit verloren, sich für andere zu freuen. Das macht sie wirklich einzigartig.“

„Ganz davon abgesehen, dass sie eine gute Freundin von mir ist, war sie seit den 80er Jahren mein großes Vorbild“, sagt Åsa Gessle. „Wir kannten uns schon, bevor es Roxette gab, und waren viel zusammen unterwegs. Per, Marie und Lasse Lindbom hatten damals eine Hobbyband namens Exciting Cheeses. Ich ging nach den Auftritten mit einer Tasche herum und sammelte das Geld ein. Wir hatten unglaublich viel Spaß zusammen. Ich habe aus nächster Nähe mitbekommen, wie Marie sich mit einem enormen Willen und viel Hartnäckigkeit vorangekämpft hat. Durch ihre unglaubliche Stimme und aus eigener Kraft ist aus ihr eine Künstlerin geworden, die Menschen auf der ganzen Welt berührt. Sie hat immer an sich geglaubt und so etwas Einzigartiges geschaffen. Und genau das war für mich immer eine Quelle der Inspiration.“

Aber diese Energie beweist sie auch in vielen weiteren Zusammenhängen. Der Regisseur Jonas Åkerlund, der den Großteil der Roxette-Musikvideos und außerdem den Dokumentarfilm „Den ständiga resan“ („Die ewige Reise“) über Marie gemacht hat, sagt: „Sie hatte so eine fantastische Energie. Sowohl beruflich als auch privat. Einerseits war sie eine echte Rockgöre, die nach einem langen Arbeitstag noch in die Bar ging, um Bier zu trinken. Wir hatten wirklich viel Spaß miteinander. Andererseits ist sie außerordentlich kreativ und gibt alles, wenn es um ihre Arbeit geht. Ich habe viele Superstars kennengelernt, aber Per und Marie stechen dank ihrer Bodenständigkeit und Demut hervor. Ich vermute mal, das liegt daran, dass beide im tiefsten Innern immer noch Landeier sind.“

Wenn es darum geht, Marie musikalisch einzuordnen, dann klingt das mitunter so:

„Sie ist eine Naturgewalt“, sagt Thomas Johansson, der Vorstandsvorsitzende von Live Nation und gleichzeitig langjähriger Freund und Geschäftspartner. „Ihr fällt es so leicht, Gefühle zu vermitteln. Das liegt an ihrem Wesen. Ihre Stimme hat eine Wahnsinnskraft, obwohl Marie selbst so zart ist. Noch dazu gehört sie zu den wenigen Sängern, die auch selbst Texte schreiben können. Elton John, Bruce Springsteen, Rod Stewart, Van Morrison und eben Marie sind Musiker, die diese Kunst wirklich beherrschen. Sie vermitteln mit ihren Liedern glaubwürdige Geschichten. Ich weiß nicht, wie genau das funktioniert, vielleicht finden sie einfach die richtigen Worte. Wenn ich mit meinem heutigen Wissen noch einmal von vorn anfangen müsste, ich würde nur solche Stimmen suchen.“

„Marie hat ein unglaubliches Timing, Improvisationstalent und eine ganz eigene Stimme“, sagt Pelle Alsing.

„Sie ist die beste Sängerin Schwedens“, sagt Clarence Öfwerman. „Sie und Monica Zetterlund. Marie ist so direkt und mit dem Herzen dabei. Da ist es nicht weiter erstaunlich, dass sie damit die ganze Welt in ihren Bann zieht. Sie hat das gewisse Etwas, das niemand sonst hat.“

Gerade diese „Direktheit“ betonen viele. Marie kann Themen behandeln, die sich bei anderen naiv oder sogar platt anhören würden, bei ihr hingegen klingen sie wahr. „Det här ska bli den bästa dan i mitt liv“ („Das wird der schönste Tag in meinem Leben“): Bei Marie wirkt der Text wie eine durchaus wahre Annahme. Vielleicht liegt es an ihrem Mut, sich selbst zu zeigen, oder daran, dass sie es wagt, ganz ohne Ironie oder übertriebene Weisheit von Herzen zu geben.

„Sie ist äußerst intuitiv und haucht ihrem Material Leben ein“, sagt Kjell Andersson, der bei EMI arbeitete, als Marie ihren Durchbruch hatte. „Sie ist glaubwürdig. Erreicht die Zuhörerschaft. Ich kann nicht festmachen, woran es liegt. Da ist einfach ein direkter Zugang, von mir zu dir. Das, was einem direkt zugänglich ist, hat oft etwas Naives, Blauäugiges. Und über all das hinaus hat sie einfach unüberhörbar viel Spaß am Singen, auch damit erreicht sie alle.“

Viele Menschen haben bei der Entstehung dieses Buchs geholfen, indem ich lange Gespräche mit ihnen führen durfte, durch die wir ein paar Lücken in Maries Vergangenheit schließen konnten. Bei ihnen allen möchte ich mich herzlich bedanken: dem besten Freund Pähr Larsson, Marika Erlandsson, Clarence Öfwerman, Anders Herrlin, Per Gessle, Åsa Gessle, Marie Dimberg, Christoffer Lundquist, Lasse Lindbom, Niklas Strömstedt, Efva Attling, Pelle Alsing, Lotta Skoog, Åsa Elmgren, Stefan Dernbrant, Martin Sternhufvud, Ika Nord, Thomas Johansson, Kjell Andersson, Jonas Åkerlund, Maries Familie Tina Pettersson, Gertie und Sven-Arne Fredriksson, Ulla-Britt Fredriksson, Tony Fredriksson, den Kindheitsfreundinnen Kerstin Junér, Bitte Henrysson, Boel Andersson und zu guter Letzt und dennoch vor allen anderen: Maries Ehemann Mikael Bolyos. Er hat sie während ihrer Krankheit begleitet und war nicht nur ein unschätzbarer Halt für sie, sondern auch ein wertvoller Zeitzeuge und Quell von Erinnerungen.

Helena von Zweigbergk

SOMMER 2015


1 Dieser und alle folgenden Songtitel sowie Liedtexte wurden aus dem Schwedischen sinngemäß übersetzt.

„Erst jetzt kann ich das Wort ‚Hirntumor‘ aussprechen“

MARIE ERZÄHLT VON IHRER KRANKHEIT

Am 11. September 2002 brach die Hölle los. Eigentlich sollte ich am 12. nach Amsterdam fliegen, um mit Per Gessle eine Pressekonferenz zu halten. Roxette stand eine Tournee mit der sogenannten Konzertreihe Night of the Proms bevor, einem belgischen Format. Grund der Pressekonferenz war unsere Teilnahme daran.

Vereinbart war, dass ich am 12. einen frühen Flug nehme, während Per bereits am 11. flog. Er steht ungern früh auf, schläft lieber aus. Ich hingegen wollte nicht am Jahrestag des terroristischen Anschlags auf das World Trade Center in New York in ein Flugzeug steigen, sondern hielt es für sicherer, den Tag abzuwarten und dafür früh am Morgen zu fliegen.

An diesem Morgen also las Micke mir einen Artikel aus der Zeitung vor, in dem es just um den Jahrestag des Terroranschlags ging.

Der Artikel handelte von einem jungen Schweden, der in einem der Türme gearbeitet hatte. Das Schreckliche an seinem Schicksal: Er war einfach in den Trümmern verschwunden. Seine Angehörigen hatten nie herausgefunden, was ihm tatsächlich zugestoßen war.

Ich erinnere mich daran, dass wir uns noch länger über das Schicksal dieses Mannes unterhielten. Der vermutlich am Morgen noch gedacht hatte, dass es ein Tag wie jeder andere werden würde. Der nicht hatte ahnen können, was ihn im Verlauf des Tages erwartete, damals, an jenem Morgen vor genau einem Jahr.

Wir kamen beide zu dem Schluss, wie schön es doch ist, dass man nicht weiß, was die Zukunft für einen bereithält. Dass man die Unwissenheit über das eigene Schicksal fast als Gnade verstehen kann.

Auch wir ahnten nicht, was uns nur wenige Stunden später erwartete. Dass unsere Welt auf den Kopf gestellt werden würde.

Nach dem Morgenkaffee liefen Micke und ich unsere übliche Runde. Zum Schluss wollte Micke wettlaufen, und ich rannte ihm buchstäblich davon.

Haha. Damals war ich ziemlich schnell.

Als wir wieder zu Hause waren, ging es mir plötzlich nicht mehr gut. Ich war müde, mir war schlecht, und ich hatte das Bedürfnis, mich auszuruhen. Dazu blieb eigentlich keine Zeit, ich musste ja für die bevorstehende Reise packen.

Aber es half nichts, ich musste mich hinlegen. Dann konnte ich plötzlich auf dem einen Auge nichts mehr sehen. Die Übelkeit nahm zu, und ich ging ins Bad, um mich zu übergeben. Dort brach ich zusammen und bekam schreckliche Angst. Und dann – alles schwarz.

Ich hatte einen epileptischen Anfall, zitterte am ganzen Körper und schlug so hart mit dem Kopf auf den Boden, dass ich mir eine Platzwunde zuzog. Das verstand ich zu dem Zeitpunkt natürlich noch nicht. Aber ich erinnere mich daran, dass ich ganz weit entfernt Mickes Stimme hörte: „Marie! Was ist passiert?“

Dann wurde wieder alles schwarz. Als Nächstes erinnere ich mich an den Rettungswagen. Vor meinen Augen flimmerte es, ich hörte Sirenen heulen. Dann wieder: schwarz.

Als ich das nächste Mal zu mir komme, sitzen Micke und seine Mutter Berit an meinem Bett.

„Was mache ich hier?“, frage ich. „Was ist passiert?“

Ein Arzt kommt herein und fragt nett und vorsichtig, ob ich auf Tournee gehen wolle.

„Ja, selbstverständlich“, antworte ich. Darauf sagt der Arzt mit ruhigem und freundlichem Ton, dass ich die Tournee leider absagen müsse.

Langsam wurde mir bewusst, dass ich im Krankenhaus war, auch an den Sturz konnte ich mich erinnern. Aber dass der Grund dafür ein Hirntumor sein könnte, kam mir zu dem Zeitpunkt nicht in den Sinn. Ich fragte mich natürlich, warum es mir so vor den Augen geflimmert hatte. Aber alles in allem ging ich davon aus, dass dies einfach ein Unfall gewesen war.

Irgendwann kam der Arzt mit Röntgenaufnahmen zurück und erklärte mir, dass man einen Tumor in meinem Kopf erkennen könne.

Kannst du dir vorstellen, was für ein Schock das für mich war?

Meine erste Frage war, ob ich daran sterben müsse. Der Arzt verneinte. Nicht an diesem Tumor. Den könne man herausoperieren und bestrahlen.

Mehr kam bei mir nicht an. Ich hatte einen Tumor, den man herausoperieren konnte. Ich würde nicht sterben.

Er sprach weiter, aber ich hörte nicht mehr, was er noch sagte. Oder aber ich wollte es nicht hören. Denn was er da sagte, zwischen den Zeilen, war, dass die Gefahr bestand, dass der Tumor zurückkäme und dann möglicherweise inoperabel wäre. Micke verstand das. Ich nicht.

Wie schlimm es wirklich um mich stand, erfuhr Micke auf Umwegen. Eigentlich waren wir beide nicht an schick-salsschweren Prognosen interessiert. Wir wollten kämpfen und so lange wie möglich die Hoffnung bewahren.

Ein anderer Arzt, ein Bekannter von uns, ist HNO-­Spezialist. Er kümmerte sich um die Platzwunde, die ich mir beim Sturz im Bad zugezogen hatte. Da er ein Freund war, ging man wohl davon aus, dass er sich am besten dafür eignete, die Karten auf den Tisch zu legen. Also setzte er Micke darüber in Kenntnis, dass ich noch ein Jahr zu leben hätte. Als Micke kreideweiß wurde und fast in Ohnmacht fiel, fügte er noch schnell hinzu, dass es durchaus auch noch zwei Jahre werden könnten.

Möglicherweise sogar drei.

Das war das Tröstlichste, was er sagen konnte. Dass ich im allerbesten Fall noch drei weitere Jahre leben würde.

So sah Micke sich gezwungen, darüber nachzudenken, wie er unsere Kinder darauf vorbereiten konnte, dass ihre Mutter sterben würde. Josefin war damals neun und Oscar fünf. Das war Mickes ganz persönliche Hölle. Er hat es später so beschrieben, als hätte sich ein Monster genähert, ohne dass er irgendetwas dagegen hätte unternehmen können. Er musste den Angriff des Monsters mit gefesselten Händen abwarten. Konnte nichts tun, als entsetzt dabei zuzusehen, wie ich vor seinen Augen langsam immer weniger wurde. Diese Machtlosigkeit war für ihn eines der schlimmsten Dinge.

Und seine Hilflosigkeit.

Micke konnte nichts anderes tun, als vor mir zu verbergen, wie schlecht es um mich stand. Ich war so hoffnungsvoll. Rechnete so sehr damit, dass sich das alles lösen würde. Das hatte der Arzt schließlich gesagt.

Der arme, arme Micke. Wie hätte er mir diese Hoffnung nehmen können? Mir sagen, dass ich mit größter Wahrscheinlichkeit sterben würde?

Dass er nicht ehrlich zu mir sein konnte, war für ihn, als hätte das Leben einen Keil zwischen uns getrieben. Bis dahin hatten wir offen über alles gesprochen. Immer. Hatten uns nie voneinander abgewendet, deshalb war es gar nicht erst zu Konflikten zwischen uns gekommen. Es hatte nie etwas gegeben, das wir nicht hätten klären können.

Und dann befanden wir uns plötzlich in dieser ernsten Lage, über die Micke nicht mit mir sprechen konnte. Dabei ging es um Leben und Tod. Er hielt es für besser, mich in meinem guten Glauben zu lassen. Er wollte mich aufmuntern und ermutigen, obwohl er über ganz anderes Wissen verfügte.

Über das wir nicht sprechen konnten.

Ich ahnte rein gar nichts, konzentrierte mich nur darauf, diese Krankheit zu überwinden. Aber tief in mir drin? Um ganz ehrlich zu sein, machte ich mir Gedanken darüber, dass auch alles schiefgehen könnte. Wenn in der ersten Phase dieser traumatischen Zeit die Nacht kam, überfielen mich kurz vorm Einschlafen diese Gedanken. Von denen ich meinerseits Micke nichts erzählen wollte. Und auch nicht den Kindern. Die fragten manchmal, ob ich sterben würde. Darauf antwortete ich, dass ich das nicht vorhätte, dazu hätte ich gar keine Zeit. Aber tief in mir drin, tief in der Nacht dachte ich manchmal, dass es doch so weit kommen würde.

Ich wollte aber nur darüber sprechen, dass alles gut ging. Mir nichts anderes anmerken lassen. Insofern kann man sagen, dass sowohl Micke als auch ich in der Situation ziemlich allein waren.

Folge des Sturzes im Bad war nicht nur die Platzwunde am Kopf, sondern auch eine Gleichgewichtsstörung. Deshalb gab man mir einen Rollstuhl mit, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Für Oscar war es das lustigste Spielzeug der Welt. Wie er damit durch die Gegend sauste! Auch sonst hüpfte er viel herum und war einfach gut drauf.

Als ich zu einem späteren Zeitpunkt ohne Haare dasaß und traurig war, stürmte er manchmal als Batman herein und brachte mich zum Lachen. Glücklicherweise gab es auch solche Momente.

Es wurden wahnsinnig viele Blumen zu uns nach Hause geschickt, was wirklich schön war. Von Anni-Frid Lyngstad bekam ich zum Beispiel einen überwältigenden Strauß, über den ich mich sehr freute. Micke hingegen fand die vielen Blumen manchmal richtig abscheulich. Für ihn symbolisierten sie die Tragödie und eine erstickende Trauer. In seinen Augen glich unser Zuhause dadurch einem Friedhof. Trotzdem machte es ihn auch froh, dass so viele Menschen auf diese Weise zeigten, dass sie an uns dachten.

Die Medien waren schlimmer. In der Nacht nach meiner Einlieferung rief das Boulevardblatt Expressen in Skåne an und weckte meine Geschwister, weil die Reporter Neuigkeiten hören wollten. Wir selbst waren noch nicht dazu gekommen, meine Familienmitglieder zu informieren. Verständlicherweise reagierten sie völlig verängstigt und schockiert. Sie wurden weiter von der Presse terrorisiert. Wussten sie etwas Neues? Hatten sie etwas erfahren?

Ich habe keine Ahnung, woher die Zeitungen so schnell wussten, dass ich in die Notaufnahme gebracht worden war. Vielleicht hatten sie jemanden vor unserem Haus postiert oder über den Notruf mitgehört, dass ein Rettungswagen zu uns gerufen worden war. Oder aber sie bekamen Hinweise von jemandem aus dem Krankenhaus.

In der ersten Nacht klingelten bis drei Uhr früh Journalisten an unserer Tür in Djursholm. Das hat unser Kindermädchen Inger erzählt. So jagten sie ihr und den Kindern natürlich eine Heidenangst ein. Wir stellten nach und nach drei Sicherheitsbeamte ein, die in Schichten arbeiteten und so für unseren Schutz sorgten. Darüber hinaus wurde das ganze Haus abgedunkelt, damit die Fotografen keine Bilder der schockierten Familie machen konnten. Die Journalisten folgten Inger, wenn sie aufbrach, um die Kinder aus der Schule und Vorschule ­abzuholen.

Einmal kam Micke nicht vom Grundstück, weil jemand die Ausfahrt versperrte. Er war gezwungen auszusteigen und nachzufragen, ob sie denn wirklich dort stehen und den Weg blockieren müssten. Da antwortete einer der Journalisten, dass er von seiner Redaktion damit beauftragt worden sei, genau dort zu stehen. Eigentlich wollte er das gar nicht, er wirkte sogar richtig betreten.

Wie viele der Journalisten sich schämten, können wir nicht sagen, aber wir wurden wirklich belagert.

Marie Dimberg, sowohl Roxettes als auch meine Managerin, nahm Kontakt zu meinen Geschwistern auf, um ihnen zu erklären, dass sie keine Fragen beantworten müssten, sondern am besten direkt wieder auflegen sollten, wenn die Medien anriefen. Meine Geschwister sind sehr liebe Seelen, die es nicht gewohnt sind, andere Menschen schlecht zu behandeln, sondern schon immer dazu neigten, so gut es geht zu helfen.

Marie Dimberg wurde regelrecht belagert. Kaum erfuhr sie von uns etwas Neues über meinen Zustand, meldeten sich sofort die Zeitungen bei ihr. Offensichtlich gab es beim Krankenhauspersonal jemanden oder auch mehrere Personen, die die Informationen weitertrugen. Die Presse erhielt die Neuigkeiten ungefähr zur gleichen Zeit wie wir. Und dann machten die Redakteure sofort Jagd auf Marie, um sich die Informationen bestätigen zu lassen. Die Presse wollte die Nachrichten über mich nicht ungeprüft wiedergeben, mit denen irgendwer am Karolinska Krankenhaus wohl versuchte, Geld zu verdienen. Marie Dimberg sprach sogar mit der Presseabteilung und dem Sicherheitsdienst des Karolinska, um das Informationsleck zu stopfen.

Die Presse erfuhr also recht früh von meinem Hirntumor. Und dann belästigte sie unser gesamtes Umfeld für eine Bestätigung. Deshalb sahen wir uns gezwungen, Stellung zu nehmen. Marie Dimberg veröffentlichte am Abend des Wahlsonntags eine knappe Pressemitteilung, weil sie damit rechnete, dass die Neuigkeit dann nicht auf den Zeitungsaushängen landen würde. Aber die Zeitungen druckten sie trotzdem auf eine Hälfte der Plakate.

Der Tumor wurde entfernt, und in den Folgemonaten durchlief ich eine sogenannte Gamma-Knife-Strahlentherapie. Dazu wird eine Metallkrone mit y- und x-Achse auf den Kopf gesetzt. Es ist wichtig, dass genau die richtige Stelle des Gehirns bestrahlt wird. Dabei geht es um Millimeter. Deshalb wird die Krone am Kopf festgeschraubt. All das bei vollem Bewusstsein der Patienten. Zur örtlichen Betäubung reichte eine Salbe aus, wie sie auch Zahnärzte verwenden. Trotzdem spürte ich, wie das Blut und die Tränen um die Wette liefen. Das war das Schlimmste an der ganzen Behandlung. Es war so widerlich! Wie ein Dornenkranz!

Micke hätte sich fast übergeben, als er die Krone das erste Mal sah.

Manche Situationen waren völlig absurd. Einmal lag ich nach der Strahlenbehandlung da, die Krone noch auf den Kopf geschraubt, als ein Arzt hereinkam, dem wir vorher noch nie begegnet waren. Er wollte uns von seiner Hobbyband und seiner Gitarre erzählen. Da waren wir also, warteten auf das Ergebnis der entsetzlich anstrengenden Behandlung, die Krone durfte mir nicht abgenommen werden, ehe ein eindeutiges Resultat vorlag. Und während dieser Pause erwartete ein Arzt, dass ich mich mit seiner Hobbyband beschäftigte.

Ich glaube, er arbeitete nicht mal auf der Neurologie.

Was denken solche Menschen?

Wenn man eine Person des öffentlichen Lebens ist und im Krankenhaus liegt, gibt es viele, die zu dir kommen, dich mit eigenen Augen sehen und irgendwie Kontakt aufnehmen wollen. Eine Krankenschwester erzählte von ihrem Mann, dass der in vielerlei Hinsicht nicht der Richtige sei und noch dazu dumm. Sie wollte sich von ihm scheiden lassen, aber ihr fehlten 150.000 Kronen, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können. Micke und ich hatten das Gefühl, dass sie einfach nur das Geld von uns wollte. Solche Merkwürdigkeiten erlebten wir ebenfalls oft.

Es war eine Zeit, die geprägt war von grauenvollem Warten. Monat um Monat verging voll anhaltender Sorge, wie mein Zustand sich entwickeln würde.

An manchen Abenden saßen die Kinder vorm Fernseher, während Micke und ich uns in der Küche gegenübersaßen und schweigend aßen. Unsere Tränen fielen leise in die Suppenteller. Sobald eins der Kinder zu uns kam, mussten wir die Tränen trocknen und uns zusammenreißen.

Unser Verhalten als Eltern veränderte sich. Das war nicht zu vermeiden. Wir gaben uns zwar die größte Mühe, uns nicht so sehr von der Sorge und Angst einnehmen zu lassen, trotzdem waren sie permanent vorhanden. Fraßen uns auf. Wir waren gegenüber den Kindern nicht mehr so hellhörig zuvor. Ich war in meinem Schockzustand über das Geschehene wie gelähmt, und Micke war die ganze Zeit zutiefst besorgt. Das hatte natürlich einen Einfluss auf die Kinder. Deshalb entschieden wir uns, eine Katze zu uns zu holen, Sessan, damit die Kinder sich mit etwas anderem beschäftigen konnten.

So am Boden zerstört, wollten Micke und ich uns dann aber auch etwas gönnen. Uns vor der Wirklichkeit verstecken. Oft tranken wir abends zu viel Wein und lebten jeden Tag, als wäre es der letzte.

Und obwohl die Sorge es uns erschwerte, wie gewohnt für die Kinder da zu sein, so kreiste sie doch im höchsten Maße just um die beiden. Ich konnte an nichts anderes denken. Die Kinder! Die Kinder! Was, wenn ich jetzt sterbe? Eine Mutter darf nicht sterben. Ich muss mich um die Kinder kümmern! Und um Micke! Ich trug eine so gewaltige Last. Werde ich jetzt sterben, werde ich jetzt sterben?

Aber dann meldete sich die göttliche Kraft – ich werde nicht sterben, nicht jetzt. Mein Glaube ist stark, schon seit ich klein war. Aber er ist sehr persönlich, ganz mein Eigen, tief in mir. Als Kind habe ich im Kirchenchor gesungen, was mir unglaublich viel bedeutete. Dort erfuhr ich immenses Vertrauen und Trost. Die Kraft, die mir mein Glaube schenkte, half mir durch so manche schwere Stunde.

Mein Leben stand Kopf. Wir versuchten, so gut wie möglich unser gewohntes Leben weiterzuführen, aber oft scheiterte das an den Voraussetzungen.

Einige Traditionen, die wir mit den Kindern pflegten, wollten wir beibehalten, obwohl wir die meiste Zeit im Krankenhaus zubrachten.

Zum Beispiel organisierten wir jeden Freitag eine Schatzsuche. Der Schatz bestand aus einer Tüte mit Süßigkeiten, die die Kinder finden mussten. Dieses Ritual hatte sich zu etwas Großem entwickelt, manchmal verbrachten wir einen halben Freitag mit der Planung. Als ich krank wurde, mussten wir die Schatzsuche in die Flure des Krankenhauses verlegen. Das machten wir genau ein Mal. Es zeigte nämlich einfach sehr deutlich, dass sich etwas verändert hatte. So zu tun, als wäre alles wie immer, fühlte sich total gezwungen an.

Ich kann nicht darüber sprechen, wie unzulänglich ich mich aufgrund des Hirntumors als Mutter gefühlt habe, ohne weinen zu müssen. Bevor ich krank wurde, war ich schließlich ein starker Mensch, der Ordnung und Strukturen eingehalten hat. Dass man plötzlich nicht mehr die Mutter sein kann, die man gerne wäre, ist vielleicht das Schlimmste am Kranksein.

Oft hört man ja von Menschen, die in eine schwierige Lage kommen, dass sie gar nicht wussten, wie gut es ihnen vorher ging. Aber wir wussten es. Wir sagten uns das auch oft: Wie gut wir es gehabt hatten. Liebe, Erfolg, Gesundheit. Noch immer, wenn ich mir die Schulfotos der Kinder aus der Zeit vor meiner Krankheit ansehe, denke ich daran. Wir waren unglaublich glücklich miteinander. Wir hatten alles.

Von etwas heimgesucht zu werden, sodass plötzlich alles einbricht – das kann man sich nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst durchgemacht hat.