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Stefan Karner

Im Kalten Krieg der Spionage

Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Graz – Wien – Raabs

Herausgegeben von Stefan Karner

Sonderband 17

Advisory Board

Jörg Baberowski

(Humboldt-Universität)

Csaba Békés

(Ungarische Akademie der Wissenschaften)

Günter Bischof

(University New Orleans)

Stefan Creuzberger

(Universität Rostock)

Thomas Wegener Friis

(Süddänische Universität)

Marcus Gräser

(Johannes Kepler Universität Linz)

Kerstin Jobst

(Universität Wien)

Rainer Karlsch

(Berlin)

Mark Kramer

(Harvard University)

Hannes Leidinger

(Universität Wien)

Peter Lieb

(Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam)

Ulrich Mählert

(Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur)

Horst Möller

(Gemeinsame Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen)

Verena Moritz

(Universität Wien)

Bogdan Musial

(K.W.-Universität Warschau)

Olga Pavlenko

(Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität, RGGU)

Dieter Pohl

(Universität Klagenfurt)

Pavel Polian

(Universität Freiburg)

Roman Sandgruber

(Universität Linz)

Daniel Marc Segesser

(Universität Bern)

Erwin Schmidl

(Landesverteidigungsakademie, Wien)

Ottmar Traşcă

(Universität Cluj-Napoca)

Stefan Troebst

(Universität Leipzig)

Oldřich Tůma

(Tschechische Akademie der Wissenschaften)

Alexander Vatlin

(Moskauer Staatliche Universität, MGU)

Gerhard Wettig

(Kommen/D)

Jürgen Zarusky

(Institut für Zeitgeschichte, München-Berlin)

Vladislav Zubok

(London School of Economics)

Stefan Karner

Im Kalten Krieg der Spionage

Margarethe Ottillinger
in sowjetischer Haft 1948–1955

Unter Mitarbeit von
Sabine Nachbaur, Dieter Bacher und Harald Knoll

StudienVerlag
Innsbruck
Wien
Bozen

© 2016 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: order@studienverlag.at

Internet: www.studienverlag.at

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ISBN 978-3-7065-5817-4

Korrektorat: Elisabeth Klöckl-Stadler

Satz und Umschlag: H. Lenhart, Kalsdorf

Titelbilder: Haftbild Ottillinger (groß), Dubravlag Pot’ma, Lubjanka, Ennsbrücke bei Linz

Fotos: Privatbestand Karner, Sammlung Ottillinger.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier.

Die Bildquelle, wenn nicht anders angegeben: Privatbestand Karner, Sammlung Ottillinger.

Im Fall geltend zu machender Urheberrechte ersucht der Autor um Kontaktaufnahme.

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Fall Margarethe Ottillinger

Die Verhaftung auf der Ennsbrücke

Die Verhöre der sowjetischen Spionageabwehr in Baden bei Wien

In den Gulag für 25 Jahre

Das Gulag-Lager in Pot’ma

Haft in Moskau: Lubjanka und Butyrka

Immer wieder auf Etappe: Nach Pot’ma und in die Lubjanka

Zum dritten Mal nach Pot’ma

Vom Gulag in den Polit-Isolator Vladimir

Rückkehr nach Österreich

Conclusio

Anmerkungen zum Textteil

Bildteil

Anhang

Von der Festnahme bis zur Rückkehr. Das Itinerar 1948–1955

Dokumente

Biographien

Anmerkungen zu den Biographien

Auszüge aus den MGB-Verhörprotokollen Margarethe Ottillingers

Anmerkungen zu den Verhörprotokollen

Abkürzungsverzeichnis

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Zum Autor

Grafiken zu den Geheimdiensten

Personenregister

Vorwort

Als es mir im Herbst 1991 gelang, die riesigen Akten-Bestände der ehemaligen österreichischen Kriegsgefangenen und Internierten in Moskau einzusehen, suchte ich als Erstes nach den Unterlagen von Margarethe Ottillinger, der Sektionsleiterin im Ministerium Krauland. Sie war 1948, kaum 29-jährig, unter mysteriösen Umständen von den Sowjets verschleppt worden und wurde wohl der bekannteste und spektakulärste Entführungsfall in Österreich. Eine kleine Karteikarte, handgeschrieben, im Erdgeschoß des ehemaligen Sonderarchivs des Ministerrates der UdSSR im Nordwesten von Moskau, führte mich auf ihre Spur. Das Archiv war geheim, in keinem Stadtplan eingezeichnet, es gab keine Hausnummer am riesigen Gebäude, das im Übrigen von Kriegsgefangenen aus Deutschland und Österreich erbaut worden war. In der Kartothek des Archivs lagerten die Karteikarten von über vier Millionen Kriegsgefangenen und Internierten aus über 30 Ländern, geordnet nach russischem, phonetischem Alphabet: von Deutschen, Polen, Koreanern, Amerikanern, Franzosen, Briten, Italienern, Ungarn und auch Österreichern.

Unter ihnen war auch die Karteikarte von Margarethe Ottillinger, die in den russischen Dokumenten als „Margarita“ geführt wird. Sie verzeichnete die wichtigsten Informationen: Personaldaten, Datum und Grund ihrer Festnahme und Verurteilung („amerikanischer Spion“ und „Fluchthilfe“), die Haftstrafe von 25 Jahren und das Ende der Haft im Gulag 1973 sowie die vorzeitige Repatriierung 1955 nach Österreich. Auf die wichtigste Information auf der Karte wiesen mich die Leiterin der Kartothek, Lilija A. Pylova, und der stellvertretende Archivdirektor Vladimir I. Korotaev hin: die Nummer des Personalaktes. Mit ihr war es möglich, zum ersten Mal in das Depot des Archivs zu den Millionen Personalakten zu gelangen. Der damals neu ernannte Archivdirektor Viktor Bondarev (†) gestattete mir die Kopie des Personalaktes und seine Publizierung als Faksimile.

So entstand im Herbst 1992 aus dem russischen MGB-Personalakt und zahlreichen Gesprächen mit Frau Dr. Margarethe Ottillinger mein im Verlag Leykam erschienenes Buch.* Es war das erste und bislang einzige Mal, dass ein von der sowjetischen Staatssicherheit geführter Personalakt in vollem Umfange als Faksimile publiziert wurde. Nie werde ich vergessen, wie Margarethe Ottillinger in den letzten Monaten ihres Lebens jede einzelne Seite der oft recht dürren, bürokratischen russischen Dokumente studierte und ihre Erinnerungen zu den Einträgen mitteilte. Ich konnte diese dann im Buch zu den jeweiligen Dokumenten als ihre persönliche Schilderung veröffentlichen. Es waren ihre letzten Äußerungen. Knapp vor ihrem Tod am 30. November 1992 konnte sie noch das erschienene Buch in Empfang nehmen.

Der Personalakt umfasste zwar die wichtigsten Informationen, die Inhaftierung und die lange Liste der Aufenthalte in den Lagern und Gefängnissen der ehemaligen Sowjetunion, die Beschlüsse zur Festnahme und Inhaftierung, das Geheim-Urteil und seine Begründung, die Beschwerden von Ottillinger sowie ihre vorzeitige Entlassung. Die entscheidenden Fragen blieben aber weiter offen:

–  Das vielschichtige Umfeld der Spitzenbeamtin Ottillinger, die im Ministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung wesentlich am US-Marshallplan für Österreich gearbeitet und den österreichischen Stahlplan aufgestellt hatte und dabei mit vielen Exponenten und Geheimdienstleuten der Besatzungsmächte in Kontakt gekommen war.

–  Sollte ihr Chef, Minister Peter Krauland, dem man auch eine Liaison mit der jungen, attraktiven Ottillinger nachsagte, mit ihrer Festnahme getroffen werden? Er selbst hatte diplomatische Immunität. Seine Festnahme hätte einen internationalen Aufschrei ausgelöst. Ottillinger als „Bauernopfer“, als „Schuss vor den Bug“, wie immer wieder geargwöhnt wurde?

–  Wurde Ottillinger von den Amerikanern fallen gelassen, weil sie, wie US-Agenten intendierten, keine „neuen Russen mehr bringt“?

–  Welche Beziehungen hatte Krauland zu den Geheimdiensten, namentlich zu jenen der Amerikaner und Sowjets?

–  Was wurde bei der Geheimsitzung in Linz besprochen, und welchen Einfluss hatte dies auf die Festnahme Ottillingers schon wenige Stunden später?

Fragen über Fragen, die nicht beantwortet werden konnten. Die Bücher von Ingeborg Schödl und Catarina Carsten basieren auf den persönlichen Erinnerungen von Margarethe Ottillinger, Harald Irnberger untersuchte die Spionagedrehscheibe Österreich und Peter Böhmer bearbeitete die Politik Kraulands, vor allem hinsichtlich der Vermögenssicherung des ehemaligen „Deutschen Eigentums“ für die Republik Österreich. Allein, die gestellten Fragen konnten auch sie nicht beantworten. Dazu bedurfte es der Akten der sowjetischen Staatssicherheit, in erster Linie der Verhörprotokolle, die ihrerseits quellenkritisch natürlich bedenklich sind und mit vielen anderen Informationen verglichen werden müssen. Dennoch. Sie sind eine Primärquelle und konnten eingesehen und ausgewertet werden (vgl. Anm. 1 im Teil Verhörprotokolle). Das Buch versucht Antworten auf Basis aller zur Verfügung stehenden russischen, österreichischen, amerikanischen und deutschen Dokumente sowie der persönlichen Erinnerungen von Margarethe Ottillinger zu geben.

Die Möglichkeit der Einsichtnahme in die im Zentralarchiv der russischen Staatssicherheit (FSB, ehemals KGB/MGB) aufbewahrten, geheimdienstlichen Untersuchungsakten zu Ottillinger wurde mir von der Direktion des FSB-Archivs Mitte der 1990er Jahre, nach der Publikation des Personalakts, erteilt. Das Archiv des russischen Außenministeriums öffnete die entsprechenden Dokumente des Österreichbestandes. Die Haupt-Militärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation erstellte zusätzlich zur vom Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz-Wien, betriebenen Rehabilitierung einen Entscheidungsakt, der mir ebenfalls im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten zugänglich gemacht wurde. Den Archivleitern und Beamten der genannten Archive danke ich für das erwiesene Vertrauen und die Zugänglichmachung der Unterlagen. Der viel zu früh verstorbene Generalmajor d. Justiz, Vladimir I. Kupec, hat als Leiter der Abteilung Rehabilitierungen die Möglichkeit zur Einsichtnahme der rehabilitierten Österreicherin Ottillinger gestattet. Ihm ist postum besonders zu danken. Die Recherchearbeiten wurden auch in den Arbeits-Kanon der Österreichisch-Russischen Historikerkommission, der Aleksandr O. Tschubarjan und ich vorstehen, aufgenommen.

Das Österreichische Staatsarchiv gewährte in zuvorkommender Weise Einblick in den Bestand „Ottillinger“. Ich danke hierfür den Archiv-Mitarbeitern, besonders Herrn Gen. Dir. Doz. Dr. Wolfgang Maderthaner, den Hofräten Manfred Fink, Rudolf Jeřábek und Hubert Steiner sowie Frau Mag. Pia Wallnig und Herrn Dieter Lautner.

Sr. Oberin Magdalena von der Ordensgemeinschaft der Servitinnen in Wien-Mauer gewährte großzügig Einblick in die im Orden verwahrten Unterlagen von Margarethe Ottillinger und stand mehrfach für Gespräche zur Verfügung.

Im Wiener Stadt- und Landesarchiv stand Doz. Dr. Andreas Weigl hilfsbereit und kooperativ zur Verfügung. Ebenso danke ich den Mitarbeitern der Wirtschaftskammern Österreich, Wien, und Steiermark, Graz, für wertvolle Auskünfte.

Die OMV Aktiengesellschaft förderte Recherche- und Übersetzungsarbeiten, der Zukunftsfonds der Republik Österreich förderte notwendige Archivarbeiten. Den Verantwortlichen beider Institutionen sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt.

In Niederösterreich konnte ich auch diesmal auf die tatkräftige Hilfe von Landeshauptmann Dr. Erwin Pröll und der Landesregierung/Abteilung Kultur (Hermann Dikowitsch) zählen. Über Basisförderungen unterstützen das Land Steiermark, die Stadt Graz und die Ludwig Boltzmann-Gesellschaft die Forschungen des Instituts. Die Universität Graz fördert seit Jahren durch einen Kooperationsvertrag auch die Forschungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung. Allen hier genannten Institutionen und Entscheidungsträgern sei dafür herzlich gedankt.

Die Russische Botschaft in Wien, namentlich die Botschafter Stanislav V. Osadčij, Sergej J. Nečaev und Dmitrij E. Ljubinskij (damals als Leiter der III. Europäischen Abteilung des Außenministeriums) und die Österreichische Botschaft in Moskau, besonders die Botschafter Fritz Bauer, Walter Siegl, Franz Cede, Martin Vukovich, Margot Klestil-Löffler und Emil Brix, haben den Projektarbeiten des Instituts stets ein besonderes Augenmerk geschenkt. Botschafter Hannes Eigner, Belgrad (in den 1990er Jahren Gesandter in Moskau), hat die erste Korrespondenz für das Projekt Ottillinger mit dem russischen Außenministerium betreut. Frau Sieglinde Presslinger, Moskau, hat durch viele Jahre auch die Arbeiten an unseren Projekten unterstützt. Ihnen allen gebührt mein aufrichtiger Dank.

Die epo-FILM, Wien – Graz, unter KR Dieter Pochlatko, hat mit großem Engagement auf Basis meiner Recherchen eine Spiel-Dokumentation produziert, die im ORF ausgestrahlt wird und einem großen Publikum das Leben Ottillingers, aber auch die Situation Österreichs in den Jahren der Besatzung bis zum Staatsvertrag 1955 näherbringt. Ich danke der engeren Film-Crew mit Ursula Strauss (in der Rolle der Margarethe Ottillinger), Rosmarie Lackner und Mag. Jakob Pochlatko für Produktion, Mag. Klaus T. Steindl für Regie sowie Hubert Doppler, Josef Krainer und Hans Selikovsky für Ton und Bild. Den Filmschnitt besorgte Michaela Müllner. Das Drehbuch schrieb engagiert und einfühlsam Mag. Martin Betz, der sich dazu auch ein umfangreiches Bild von den Gegebenheiten in Russland gemacht hat. Der ORF hat das Doku-Drama unter dem Titel „Die Frau die zu viel wusste“ im Rahmen des Internationalen Frauentages, 4. März 2016, in der Sendereihe „Universum History“ ausgestrahlt. Die Sendung hatte mit durchgehend 302.000 Zusehern und einem Marktanteil von 19 Prozent die besten Werte aller bislang ausgestrahlten „Universum History“-Sendungen. Den Verantwortlichen sei dafür herzlich gedankt.

Meine Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung halfen in vielfältiger Weise, und zuletzt unter großem Zeitdruck, bei Detailrecherchen, bei der Erstellung des Registers und bei Übersetzungsarbeiten. Namentlich bedankt seien besonders Frau Dr. Elena Fritzer und Frau Mag. Sabine Nachbaur sowie die Herren Mag. Dieter Bacher, Mag. Harald Knoll und Doz. Dr. Peter Ruggenthaler.

Dem StudienVerlag, Innsbruck, danke ich für die Aufnahme des Buches in sein Verlagsprogramm. Markus Hatzer hat als Verleger größtes Interesse an der Publikation gezeigt und diese unter großem Zeitdruck realisiert. Für Satz und Layout zeichnete in bewährter Art und Weise Helmut Lenhart, Kalsdorf, verantwortlich, dem ich auch diesmal zu großem Dank verpflichtet bin.

Graz, im Oktober 2015

Stefan Karner

Dass bereits ein Monat nach Erscheinen der 1. Auflage im Februar 2016 eine 2. Auflage notwendig wurde, zeigt das große Interesse am Schicksal Ottillingers und an der österreichischen Nachkriegszeit.

Die Haftorte und Haft-Transportrouten von Margarethe Ottillinger in Österreich 1948/49

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Die Haftorte und Haft-Transportrouten von Margarethe Ottillinger in der Sowjetunion 1949–1955.

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Die Haftorte wurden in deutscher Umschrift wiedergegeben.

* Vgl. zum gesamten Buch: Stefan Karner (Hg.), Geheime Akten des KGB. „Margarita Ottilinger“. Graz 1992 (= Karner, Ottilinger). – Ottillingers amtliche Vornamen waren „Margareta Anna“. In den russischen Dokumenten wird sie meist "Margarita“ genannt, sie selbst nannte sich ab 1944/45 meist "Margarethe“. Im Text des Buches wird sie mit ihrem Vornamen "Margarethe“ angeführt, wie sie auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist.

Der Fall Margarethe Ottillinger

 

 

Die Verhaftung auf der Ennsbrücke

Freitag, 5. November 1948, späterer Nachmittag, knapp nach 17 Uhr. Ein Fahrzeug erreicht den sowjetischen Kontrollpunkt an der Brücke über die Enns bei St. Valentin – hier hört die amerikanische Besatzungszone auf, beginnt die sowjetische –, eine heiße Nahtstelle im Kalten Krieg. Im Auto Peter Krauland, Minister für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, und Margarethe Ottillinger, mächtigste Beamtin der Republik und seine enge Vertraute. Es ist nicht das Ministerauto, sondern Ottillingers Dienstwagen. Die Sowjets wissen auch, was beide bei sich tragen: Eine Aktentasche voll höchst geheimer Pläne, die Stahlproduktion der Hütten Linz und Donawitz gleichmäßig auf alle österreichischen Betriebe zu verteilen und sich Mehrlieferungen an sowjetische USIA-Betriebe, die bis dahin zwangsweise gratis getätigt wurden, entsprechend bezahlen zu lassen.

Dies war wenige Stunden zuvor bei einer Geheimsitzung in der Voest1 beschlossen worden, an der Krauland, Planungschefin Ottillinger sowie Hans Malzacher als Voest-Konsulent, Kraulands Berater für den Marshall-Plan (ERP), Hans Igler2 und Kraulands persönlicher Wirtschaftskonsulent Walther Kastner3 teilnahmen. Anlass und Tarnung für das geheime österreichische Treffen war eine offizielle, programmatische Rede von Bundeskanzler Leopold Figl4 in der Vöest-Hütte Linz, der mehrere Regierungsmitglieder und der oberösterreichische Landeshauptmann Heinrich Gleißner5 beiwohnten. Die Sowjets wußten nicht nur von der öffentlichen Figl-Rede, sondern bekamen auch Kenntnis von der anschließenden Geheimsitzung. Kein Alliierter und besonders kein sowjetischer Agent war bei dem Treffen hinter verschlossenen Türen dabei, es war eine rein österreichische Besprechung mit Ottillinger und Krauland.6

Doch abgesehen hat man es nicht auf den Minister, sondern auf Ottillinger. Die junge Karrierebeamtin, zuständig für den Stahlplan der Regierung und involviert in die Planungen für den Marshall-Plan, gilt dem sowjetischen Geheimdienst schon längere Zeit als Spionin im Solde der Amerikaner. Zudem hat sie eine enge Beziehung zum sowjetischen Stahlfachmann Andrej I. Didenko, dem sie schließlich 1946 auch zur Flucht in den Westen verhilft. Aus sowjetischer Sicht ein Kapitalverbrechen, nicht nur für Didenko, sondern auch für die hohe österreichische Regierungsbeamtin. Beschattung, Observation, verklausulierte Drohungen, vermeintliche „Ratschläge“. Doch alle Warnungen bleiben wirkungslos. Auch haben die Sowjets wenig Beweismaterial gegen sie. Dies ändert sich jedoch schlagartig, als die sowjetische Gegenspionage den österreichischen Kriminalbeamten und US-Agenten Alfred Fockler festnimmt. Denn Fockler belastet im Verhör am 28. August 1948, vermutlich unter Drohungen und Folter, Ottillinger schwer.7 Nun wartet man nur noch auf eine günstige Gelegenheit. Zweieinhalb Monate später ist sie da.

Ottillinger fährt in ihrem Dienstauto, gemeinsam mit Minister Krauland, dessen Dienstwagen gerade in der Werkstatt steht, von der Geheim-Sitzung in Linz zurück nach Wien. Den Vorsitz im Alliierten Rat, der sich mit den Fällen von Kidnapping von Politikern zu befassen hat, haben noch bis zum 12. November die Franzosen. Von ihnen, so vermeinen die Sowjets, ist wenig Protest zu erwarten, was sich bald als falsche Annahme herausstellt. Daher erfolgt der Zugriff der sowjetischen Gegenspionage/Spionageabwehr auf Margarethe Ottillinger am 5. November 1948 – mitten auf der Ennsbrücke, in Gegenwart ihres Ministers.8

Doch eigentlich geht es bei der Verhaftung Ottillingers um wesentlich mehr, es geht um die wirtschaftliche Einheit Österreichs. Diese soll der von Ottillinger und ihrem Stab ausgearbeitete Stahl-Plan weiter absichern, weil er die sowjetischen USIABetriebe (die Flaggschiffe des ehemaligen Deutschen Eigentums in der Sowjetzone) nicht mehr bevorzugte.

Mehr als die Hälfte des österreichischen Stahls hat man den Sowjets bislang gratis geliefert, dies sollte mit dem Stahl-Plan ein Ende haben. Für die Sowjets ist klar, einen derartigen Schlag würden ihre schlecht geführten Betriebe nicht dauerhaft überleben. Sie würden jenen Kostenvorteil verlieren, der ihnen noch eine gewisse Konkurrenzfähigkeit erhalten hat. Sie müssten ihr Wirtschaftsimperium USIA und damit auch die Chance auf mehr Einfluss, Macht und auf eine wirtschaftlichen Zweiteilung des Landes verlieren.9 Die Festnahme Ottillingers soll aber auch Krauland, der ja Immunität besitzt und den man als „Amerikaner-Freund“ kennt, deutlich die rote Linie vor Augen führen und seinen Kurs ändern.

Die Grenzsoldaten, Staršina Petriga und Untersergeant Egorov,10 sind vorbereitet. Petriga kontrolliert die Ausweispapiere noch vor dem Schranken; jene Ottillingers besonders lange. Er gibt die Papiere jedoch zurück und das Zeichen für die Weiterfahrt. Dennoch geht der sowjetische Schlagbaum nicht hoch. Da reißt Petriga die Beifahrertür auf, setzt sich auf den vorderen Beifahrersitz und befiehlt dem Chauffeur nach vorne zu fahren. Jetzt erst geht der Schlagbaum hoch.11 Der Wagen fährt ein paar Meter zu einem Wärterhäuschen, einer Art Brücken-Kommandantur. Dort steht Untersergeant Egorov mit einer MP und lässt nur den Chauffeur aussteigen. Ab jetzt geht alles blitzschnell. Ottillinger erfasst geistesgegenwärtig die Situation, schiebt Krauland die Aktentasche mit dem geheimen Stahl-Plan, ihrem Notizbuch mit allen Telefonnummern und Namen ihrer Kontaktpersonen zu und hält den Grenzer noch an den Schultern fest, während sie ihrem Chauffeur zuruft: „Rückwärts, schnell, schnell!“ Dieser springt zurück in den Wagen, versucht den Rückwärtsgang einzulegen. Die österreichischen Grenzposten auf der amerikanischen Seite der Brücke sehen das Drama. Auch sie sind neu. Erst einen Monat zuvor, am 3. Oktober, haben sie von der amerikanischen Militärpolizei die Kontrolle an der Zonengrenze (Ennsbrücke) überantwortet bekommen.12 Um zu helfen, öffnen sie ihren Schlagbaum. Zu spät.

Der Wagen rollt nur wenige Meter rückwärts. Zu wenig. Blitzschnell hat sich der Grenzsoldat losgerissen und den Gang herausgenommen: „Stoj! Stoj!“ Der Wagen steht noch auf der sowjetischen Seite der Zonengrenze. Egorov und mehrere Grenzsoldaten laufen heran, umstellen den Wagen und fordern Krauland und Ottillinger auf, auszusteigen. Widerstand gegen die Festnahme, so vermerkt das Protokoll ausdrücklich, wird nicht geleistet. „Nix gut Papier“, hört Ottillinger, wie ein Soldat einen ersten Grund für den Stopp nennt. Beide werden, weil es Krauland vorerst ablehnt, Ottillinger allein zu lassen, auf die sowjetische Kommandantur am Ortsrand des nahen St. Valentin, mit Blick zur Enns, eskortiert.13

Dort wartet schon Oberleutnant Levitan von der sowjetischen Gegenspionage des Ministeriums für Staatssicherheit (MGB, siehe Grafik auf Seite 240)14. Krauland, kreidebleich, erklärt sofort seine Immunität als Minister, während man Ottillinger vorwirft, NS-Mitglied gewesen zu sein.15 Krauland weist dies schroff zurück, denn als Spitzenbeamtin der Republik sei sie gründlich überprüft worden. Und vielleicht wolle man ja eine andere Frau verhaften und es liege eine Verwechslung vor. „Dies muss noch geklärt werden“, entgegnet der sowjetische Kommandant, weshalb man Ottillinger hierbehalten werde. Der Minister könne weiterfahren, „weil es keinen Zweck hat zu warten“. Er tut es und lässt die kaum 29-Jährige gegen 18 Uhr allein zurück; vielleicht in dem Glauben, die Sache würde sich bald als Irrtum herausstellen und in Wien könne er, im Gespräch mit dem sowjetischen Hochkommissar Vladimir V. Kurasov, mehr für die Festgenommene erreichen. Als der Chauffeur mit dem Minister gerade losfahren will, bittet Ottillinger die Grenzorgane, noch Unterlagen aus dem Wagen holen zu dürfen, läuft in den Hof der Kommandantur, klopft an das Fenster des Autos. Sofort ist sie von Soldaten umringt. An Flucht ist nicht zu denken. Sie öffnet die Wagentür von außen, da liegt ihre Aktentasche. Schnell nimmt sie Ausweise und ihr Geldbörsel heraus. In diesem Moment versucht ein Grenzsoldat die Aktentasche an sich zu nehmen, was Krauland geistesgegenwärtig verhindert, als er diese schroff zum Eigentum des Ministeriums erklärt. Ottillinger überkommt dennoch ein Gefühl der Verlassenheit und sie spürt: „Dies ist der Moment, der über mein weiteres Leben entscheidet.“16

Nach einer ersten Aufnahme ihrer Personalien17 und einer erkennungsdienstlichen Behandlung (Fingerabdrücke) werden ihre Handtasche durchsucht und ihr von Leutnant P[etr] Fedotov (der als Dolmetsch fungiert) im Beisein von Major Bondarenko und dem Soldaten Hilsov sämtliche persönliche Dokumente abgenommen. Dazu gehören Personalausweise, die Staatsbürgerschaftsurkunde, zwei Meldescheine, verschiedene persönliche Notizblätter, zwei Briefe, neun persönliche Fotos und jene 2740.– Schilling, die sie eben aus ihrer Aktentasche geholt hat.18

Man beginnt mit dem ersten Verhör. Vier Russen sitzen ihr gegenüber: MGB-Major Bondarenko als Untersuchungsoffizier, Leutnant Fedotov als Dolmetsch, elegant sich gebend, jung, schlank, kantiges Profil, Schnurrbart, groß gewachsen, spitze Nase, sich immer wieder im Spiegel besehend, dazu ein sowjetischer Unteroffizier, etwas dicklich, gemütlich wirkend, sowie ein einfacher Soldat, der lediglich in einer Ecke sitzt und dem Verhör beiwohnt.19 Der Vorwurf lautet nun nicht mehr: NSDAP-Mitgliedschaft, sondern Spionage für die Amerikaner. Sie soll „alles“ zugeben, denn „wir haben alle Unterlagen und Beweise“. Die Einschüchterungen wirken nicht. Ottillinger unterschreibt das Protokoll nicht. Es gibt daher im Akt nur ein begonnenes Verhörprotokoll vom 6. November. Dieses wird erst am nächsten Tag fertiggestellt werden. Die vier verlassen das Zimmer. Zurück bleiben grübelnd Ottillinger und ein Wachsoldat.

Ein Soldat bringt ihr, gegen Bezahlung, Milch, Eier, Semmeln. Das Retourgeld zählt er ihr penibel vor. „Die Eier weich oder hart gekocht, oder in Fett gebraten?“ Die Milch stellt er auf den Ofen, damit sie warm hält. Dann bleibt Ottillinger mit ihrem Wächter wieder allein, ohne Waschmöglichkeit darf sie sich auf einen Diwan legen, das Gesicht im grellen Licht einer Elektrobirne, dem Wächter zugewendet.20 Jetzt ist Ottillinger endgültig klar, ihre Festnahme ist kein Missverständnis. Sie ist nun eine Gefangene der sowjetischen Staatssicherheit.

Auch die Verhörversuche am Vormittag des 6. November in St. Valentin enden wie schon am frühen Morgen: ergebnislos. Diesmal hat man es mit Anschuldigungen versucht, Ottillinger sei mit dem sowjetischen Stadtkommandanten von Wien, General-Leutnant Nikita F. Lebedenko21 in einem Auto gesehen worden, ebenso mit der Beschuldigung, Spione hätten traditionsgemäß zwei Wohnsitze: Ottillinger wohnte sowohl bei ihren Eltern in Steinbach als auch in Wien, drei Monate, vom 22. Mai bis zum 6. September 1947 (aus Gründen des Schutzes vor einer Festnahme durch sowjetische Organe, wie sie selbst oft betonte) „als Gast“ in der Wohnung ihres Ministers Krauland. Allerdings sehr zum Missfallen von Kraulands Gattin Vera.22 Ottillinger unterschreibt wieder nicht, ein Protokoll dazu fehlt. Das Verhör-Kommando zieht wieder ab.

Plötzlich, um etwa 15 Uhr, bringt Dolmetsch Fedotov ihren Necessaire-Koffer von zu Hause. Ein österreichischer Gendarm hat ihn in Steinbach geholt und den Sowjets übergeben. Eine verschlüsselte Nachricht von zuhause findet sich darin nicht.

Die Verhöre der sowjetischen Spionageabwehr in Baden bei Wien

Noch am späten Nachmittag des 6. November wird sie zum Kommando der Zentralen Gruppe der sowjetischen Streitkräfte für Ungarn und Österreich nach Baden bei Wien überstellt – auf dem Rücksitz eines schwarzen, russischen Pkw, eingezwängt zwischen zwei Soldaten mit Maschinenpistolen. Ihr gegenüber im Wagen sitzt auf einem Notsitz Leutnant Fedotov. Major Bondarenko hat neben dem ebenfalls uniformierten Chauffeur Platz genommen. Die stundenlange nächtliche Fahrt führt auf holprigen Straßen über St. Pölten und Wiener Neustadt nach Baden und verlangt ihr die letzten Kräfte ab.

Mehrfach versucht sie bei dieser Fahrt auf sich aufmerksam zu machen, besonders wenn der Wagen Gendarmen passiert, und einmal, als der Chauffeur einen Gendarmen nach dem Weg fragt. Zwecklos, der Gendarm erkennt sie nicht und läuft angesichts der sowjetischen Insassen davon.23 „Plötzlich leuchtete vor uns ein roter Stern auf, der über einem hölzernen Tor prangte. Ein österreichischer Polizist riss es auf, ohne mich zu gewärtigen. Wir hielten in einem mondbeschienenen, fast unwirklich anmutenden Hof. Alles wirkte auf mich gespenstisch, kulissenhaft: kleine, villenartige Häuser, ein langgestrecktes Gebäude“.24

Es ist schon nach Mitternacht, Sonntag, 7. November 1948. Sowjetischer Feiertag, 31 Jahre „Große Oktoberrevolution“. An Ruhe ist nicht zu denken, aber: Erstmals eine Waschmöglichkeit. Ein Topf mit Wasser wird ihr gebracht, dazu ein Becher, zum Zähneputzen. „Der Dolmetsch nahm mir meinen kleinen Necessairekoffer, der mir in St. Valentin von zu Hause gebracht worden war, ab und trug ihn ins Gebäude. Wir gingen eine kleine Stiege hinauf und dann durch einen langen Korridor. Eine Tür öffnete sich und wir betraten einen Raum, in den bald Schreibtische gebracht wurden und Uniformierte eintraten. Die Schreibtische wurden um den meinen in einem Geviert gruppiert, aus dem ich nicht mehr heraus konnte. Ich war todmüde. Auch meine Begleiter und die Uniformierten schienen müde.“25

Noch vor Tagesanbruch, um 5.30 Uhr, geht plötzlich die Tür auf und MGB-Leutnant Fedotov, der Dolmetsch, betritt den Raum. Dahinter Major Prichodko, Offizier der Spionageabwehr des Truppenteils 32750 der Zentralen Gruppe der sowjetischen Streitkräfte, sowie bewaffnete Wachsoldaten. Das Verhör wird in deutscher Sprache geführt, Fedotov „über seine Verantwortung für die Richtigkeit der Übersetzung aufgeklärt“, was dieser auch zu unterfertigen hat. Dennoch hat Ottillinger von Anfang an den Verdacht, dass er nicht alles, was sie sagt, auch übersetzt.26

Man hat sich vorbereitet. Wenige Wochen zuvor hat die Spionageabwehr einen bedeutenden Fang gemacht, den österreichischen Kriminalbeamten und US-Spion Alfred Fockler, alias Alfred Müller, alias Arthur Friedmann.27 In den Verhören belastet er, wohl unter Folter, auch Ottillinger, die er persönlich gar nicht kennt. Jetzt bekommen diese Aussagen eine große Brisanz: Sie sei eine Agentin des US-Geheimdienstes und werde von Oberst Edwin M. J. Kretzmann,28 dem Chef der politischen Abteilung der „G-2“29 geführt.

Die Anschuldigungen passen in die sowjetischen Wahrnehmungen und Recherchen über Ottillinger: Sie hat den Stahlplan gegen die Sowjets aufgestellt, die Produktionszahlen der USIA insgeheim und auch illegal erhoben und an die Amerikaner weitergeleitet und mehrfache Fluchthilfe in die westlichen Zonen geleistet: für Hans Hohn, der Fabriksmaterial aus Moosbierbaum vor den Sowjets versteckt und in die US-Zone geschafft hat,30 für den hohen Polizeibeamten Ottmar Spahn sowie für den wichtigen sowjetischen Stahlexperten Andrej I. Didenko. Jenen Mann, der mitgeholfen hat, die noch stillgestandene Vöest wieder in Betrieb zu setzen, der sie liebt, der zum Gegner übergelaufen ist und den man seit zwei Jahren in Deutschland sucht.31

Major Prichodko kommt gleich zur Sache: „Haben Sie Bekannte unter den Russen?“ Ottillinger verneint, muss aber schnell zugeben, mit einer ganzen Reihe von ihnen 1946, als sie noch im Fachverband der Eisenerzeugenden Industrie der Wirtschaftskammer am Opernring 13–15 arbeitete, bekannt geworden zu sein. Unter ihnen mit dem Leiter des Chemiereferates im sowjetischen Teil der Alliierten Kommission für Österreich, Hauptmann Ljusov, mit Ingenieur Andrej Didenko, der u. a. Ein- und Ausfuhr-Genehmigungen für Firmen von der sowjetischen in die westlichen Zonen und umgekehrt erteilte, mit Ingenieur Georgij A. Kulagin32, dem Leiter der sowjetischen Wirtschaftsabteilung, der Didenko nach Wien brachte und mit dem sich Ottillinger und Krauland in der Folge öfters trafen (in Donawitz beim Anblasen eines Hochofens oder im Juli 1948 in London bei der für Österreich erfolgreichen Konferenz zum Marshall-Plan)33, sowie mit General E. M. Borisov, dem Leiter der USIA. Dazu mit einer Reihe westlicher Experten, wie Ladenburg, Willcox und Worth, die für die Durchführung des Marshall-Plans verantwortlich waren, sowie mit den US-Agenten Edwin M. J. Kretzmann und Charles B. B. Friediger.34

1946 lernte Ottillinger auch Minister Peter Krauland kennen, immer wieder treffen sie einander bei dienstlichen Anlässen, in Donawitz, in Kapfenberg. Krauland schätzt ihre Arbeit, ihren Intellekt und ihre Verbindungen. Im Februar 1947, noch keine 27 Jahre alt, ist sie Leiterin der Planungssektion in seinem Ministerium. Eine Blitzkarriere. Und vielen altgedienten Ministerialbeamten vorgesetzt! Didenko, der von Ottillinger ebenso fasziniert ist wie Krauland, sucht ihre Nähe, macht sie mit sowjetischen Experten und Betriebsführern der USIA bekannt: Mit dem sowjetischen Direktor der „Eisen & Stahl AG“35 in Wien, Hauptmann Polinskij,36 mit dem sie sich mehrfach trifft, mit Hauptmann Korejko, der ihr Informationen über die Verteilung der Kohle in der sowjetischen Zone gibt, oder mit dem sowjetischen Emigranten Volkov, einem Beschäftigten der Handelskammer am Wiener Stubenring 8–10, den Didenko als seinen „guten Kameraden“ bezeichnet.37

Längst hat sie der sowjetische Geheimdienst im Fokus, jede ihrer Aktionen wird registriert. Prichodko liegen die Berichte der Agenten vor. Aber er braucht ein Geständnis. Und er ist erfolgreich. Ottillinger gesteht, mit „Feinden der Sowjetunion“ Kontakte gehabt zu haben und mit dem entsprungenen „Vaterlandsverräter“ Didenko näher bekannt gewesen zu sein, ja, ihm zur Flucht in den Westen verholfen zu haben. Sofort hakt Prichodko nach, denn er braucht auch einen schnellen Erfolg, immerhin intervenieren für Ottillingers Freilassung die österreichische Regierung, die USA, Frankreich und Großbritannien. Ottillinger im Verhör zu Prichodko: „Anfangs, im Frühling 1946, waren unsere Treffen im ‚Imperial‘ rein dienstlich, aber dann begann er mir den Hof zu machen. Unsere Treffen häuften sich“.

Im September 1946 sollte Didenko, auf Befehl Moskaus, seinen Urlaub in der Sowjetunion antreten, bekam jedoch wegen seiner streng verbotenen Kontakte zu Amerikanern und Briten, wie etwa auch zum britischen Geheimdienst-Oberst Watson,38 und vor allem zu Ottillinger Angst, das MGB könnte von seinen illegalen Verbindungen erfahren haben und ihn in Moskau zur Rechenschaft ziehen. Daher beschloss er, sich in die britische Zone abzusetzen, und bat Ottillinger, ihm bei seiner Flucht zu helfen. Über ihre Motive sagt Ottillinger später in einem Verhör kurz: „Ich habe ihn geliebt“.39

Ottillinger informierte Minister Krauland, der sie auf die Gefahr ihrer Beziehung hinwies, von Didenkos Absicht und erhielt von diesem, mit Hilfe von CIC40-Oberst Kretzmann, binnen zehn Tagen die Adresse einer amerikanischen Geheimdienst-Stelle in Linz. Diese würde Didenko die notwendigen gefälschten Papiere (Aufenthaltsbewilligung, Personaldokumente) und eine Arbeitsmöglichkeit beschaffen.

Tatsächlich setzte sich Andrej Didenko in seinem Urlaub, im September 1946, gemeinsam mit Volkov und mit einem von Volkov gefälschten Indentitätsausweis in einem gemieteten Taxi bei Mariazell in die britische Zone ab, und fuhr nach Graz. Hierher war auch Ottillinger für ein paar Tage „dienstlich“ gekommen. Die beiden trafen einander in der Grabenstraße 167, in der gemieteten Wohnung Ottillingers. Beiden war klar geworden, in welche gefährliche Situation sie nun geraten waren. „Didenko gestand mir, dass er mich sehr liebe und es nicht zulassen würde, dass ich in diese Sache hineingezogen werde“.41 In Graz trennten sich die beiden. „Ich gab ihm Lebensmittelkarten und die Adresse der Eisen- und Stahlwerke in Linz [spätere Voest]“.42

Ottillinger kehrte erst zu Jahresbeginn 1947 wieder ins Ministerium nach Wien zurück. Didenko ließ sich von den Briten festnehmen und wurde auf seinen Wunsch nach Linz, in die US-Zone, überstellt. Beide sahen einander nie wieder. Auf ihre Fragen nach seinem Verbleib, erhielt sie von Kretzmann keine Antwort. Was sie nicht mehr erfuhr: Didenko war von den Amerikanern angeworben worden. Von sowjetischer Seite am 27. August 1949 in Abwesenheit bereits zu 25 Jahren Haft verurteilt, wurde er am 13. April 1951 von sowjetischen Organen in Deutschland aufgespürt und verhaftet. Er landete in der schrecklichsten aller psychiatrischen Anstalten der Sowjetunion, in Kazan’, wo sich seine Spur auch verliert.43

Aufgrund ihrer engen Freundschaft mit Didenko rechnete Ottillinger täglich damit, für ihre Fluchthilfe von den Sowjets verhaftet zu werden, weil „ich genau verstand, dass mein enges Verhältnis zu Didenko den Russen nicht unbekannt sein konnte“.44 Noch während sie in Graz im Auftrag der Bundeshandelskammer weilte, waren sowjetische Offiziere aus dem Hotel „Imperial“ zu ihrer Mutter nach Mauerbach gekommen, und hatten gefragt, ob Didenko bei ihr wohne. Etwa einen Monat später tauchten zwei österreichische Kriminalbeamte im Büro Ottillingers auf und fragten ebenfalls nach dem Verbleib Didenkos. „Die Informationen benötige ein sowjetischer Major“. Im März 1947 schließlich warnte sie der ihr bis dahin nicht bekannte US-Agent Charles Friediger, „dass mich die Russen verfolgen und dass ich sehr wohl wüsste, warum!“ Prichodko hat, was er als ersten Anklagepunkt braucht: Beihilfe zum „Vaterlandsverrat“.45

Schutz vor einer Verhaftung fand Ottillinger im Februar 1947 beim US-Geheimdienst „ODI“.46 Charles Friediger brachte sie in seinem eigenen Wagen in ein vom CIC kontrolliertes Hotel im 18. Bezirk, wo sie sich einige Zeit lang auch versteckt halten konnte. Als Gegenleistung sollte sie für den US-Geheimdienst arbeiten, „weil ich“, wie sich Friediger ausdrückte, „infolge meiner Macht über Männer, Kontakte zu Männern knüpfen und Fragen, die die Amerikaner interessieren, aufklären sollte“. Friediger stellte ihr dafür „ein gutes Leben“ und einen „eigenen Wagen“ in Aussicht.47

Dass Ottillinger in der Vernehmung am 7. November 1948 versichert, die Anwerbung durch die Amerikaner ausgeschlagen zu haben, spielt keine Rolle mehr. Für das MGB ist mit dieser Aussage der zweite entscheidende Tatbestand für die Verhaftung erfüllt: Spionage gegen die Sowjetunion, oder wie auf dem Umschlag des Ottillinger-Aktes mit rotem Farbstift festgehalten wurde: „Amerikanischer Spion“.

Nachdem das 11-stündige Verhör am 7. November in Baden beendet ist, wird sie – bereits total erschöpft – zur Leibesvisitation gebracht. Diese nimmt der Gefängnisaufseher, Sergej N. Dobin, selbst vor. „[…] Man brachte mich zu einem Haus, um das ein Gitterzaun errichtet worden war. […] Es wurde aufgesperrt und ich stand in einem kleinen Raum, vor einem hochgewachsenen, schwarzhaarigen Uniformierten mit kantigen Gesichtszügen. Meine Begleiter verließen mich, und ich blieb mit dem Mann allein.

Über seine Aufforderung musste ich mich an die Wand stellen. Er kam an mich heran […] fasste mich am Arm, zog mir meine Ringe von den Fingern und nahm mir meine Armbanduhr ab. Mit [einem] dolchartigen Messer öffnete er die Uhr, montierte die Zeiger ab und schälte das gesamte Uhrwerk aus dem Gehäuse. Dieses zerlegte er dann genüsslich in alle Bestandteile und warf jeden Bestandteil in eine Militärkappe.

Dann nahm er mir den Gürtel meines Mantels ab und fuhr mir plötzlich mit seinen Fingern in die Haare. Empört schlug ich ihm die Hände zurück. Nach weiteren Versuchen hatte er endlich, was er wollte: Kamm und Spangen.

Weil keine Frau dabei war, wurde mir das Kostüm nicht ausgezogen und die Unterwäsche nicht kontrolliert. So wurde mir auch die Webschnur des Strumpfbandgürtels nicht abgenommen. […] Nur den Koffer mit den Toilette-Artikeln nahm er mir ab. […] Seife, Handtuch, Zahnbürste und Kamm warf er mir zu, alles andere blieb im [beschlagnahmten]48 Koffer.

Dann brachte er mich nach wenigen Schritten zu einer eisernen Tür, die er aufsperrte und hinter mir wieder zuschloss. Ich war in der Gefängniszelle: Bettgestell, Einsatz durchhängend ohne Matratzen, Decke oder Polster. An der Wand gegenüber der Tür sah ich ganz oben eine vergitterte Lichtöffnung. Das Fenster hatte man von außen durch eine Verschalung total verdeckt. Dafür war der Boden mit Parketten verlegt“.49

Krauland, am 5. November 1948 nachmittags, wieder im Dienstwagen Ottillingers, meldet sofort nach ihrer Festnahme auf der Ennsbrücke den Zwischenfall telefonisch vom gegenüberliegenden Gasthaus dem Innenministerium in Wien.50 Das Telefonat besorgt der Chauffeur. Daraufhin ruft Regierungsrat Johann Müller, Kraulands Sekretär, alle Mitarbeiter des Ministerkabinetts zusammen. Man wartet im Kabinett auf das Eintreffen des Ministers. Nach zwei Stunden kommt Krauland, „ohne Ottillinger, bleich, offenbar unter einem Schock stehend, in sein Büro in das erste Stockwerk der ‚Amalienburg‘ mit Blick in den inneren Burghof,51 und presst seine Aktentasche mit beiden Händen an sich“. Er begrüßt seine Mitarbeiter kaum, läuft geradewegs in sein Arbeitszimmer und lässt außer seiner Sekretärin und Müller niemanden mehr zu sich. Bevor er die Bürotür schließt, sagt er zu den Wartenden nur: „Die wollten meine Tasche haben!“ Knapp ist auch die einzige Information, die ihnen Müller später gibt: „Die [Russen] wollten wissen, was in Linz vereinbart wurde“. Im Vorzimmer wird sofort kritisiert, dass der Minister nicht versucht habe, Ottillinger, „mit der er doch befreundet war“, von den Sowjets freizubekommen. Hätte er dafür die Aktentasche mit dem geheimen Stahl-Plan „opfern“ und die Beschlüsse von Linz weitergeben müssen, fragt man sich. Klar ist allen aber, dass der Minister hinter seiner verschlossenen Tür mit den Sowjets telefoniert und über eine Freilassung Ottillingers verhandelt. Im Tausch versuchen die Sowjets, Einfluss auf den Stahl-Plan und auf die Rohstoffzuteilung für ihre Betriebe zu bekommen. Ein „No Go“ für Krauland. Denn er hofft, die Interventionen von allen Seiten würden die Sowjets umstimmen.

Und tatsächlich. Die Franzosen, die den Vorsitz im Alliierten Rat führen, protestieren sofort gegen die Festnahme Ottillingers, sehen darin einen Bruch des Kontrollabkommens und verlangen, die alliierte Kontrolle müsse auch auf die Bundesverwaltung ausgeweitet werden. Dazu bedürfe es eines einheitlichen Prozedere. Briten und Amerikaner schließen sich dem französischen Vorschlag an und bringen zudem neuerlich die Entführungsfälle Katscher, Kiridus und Marek auf die Tagesordnung.52 Krauland selbst versucht es schon am Morgen nach der Verhaftung Ottillingers und geht zum britischen Hochkommissar, Generalmajor John Winterton.53 Dieser rät ihm, in einer Protestnote auf eine Einigung der Alliierten aus dem Jahr 1946 hinzuweisen, nach der sich die Alliierten darauf verständigt hätten, „bei Schritten gegen österreichische Zivilangestellte zusammenzuwirken“, vor allem, „wenn ihnen die Einzelheiten bestimmter Fälle bekannt gegeben werden“. Winterton will den Fall nun energisch vor den Alliierten Rat bringen. In der österreichischen Verbalnote vom 6. November protestiert das Bundeskanzleramt/Auswärtige Angelegenheiten scharf gegen die Verhaftung Ottillingers und ersucht die sowjetische politische Vertretung in Österreich dringend, „entsprechende Vorkehrungen zu veranlassen, Frau Dr. Ottillinger unverzüglich zu entlassen“.54 Unabhängig davon will Figl noch die Gelegenheit des sowjetischen Feiertags am 7. November nützen und persönlich mit den Sowjets sprechen. Gelegenheit dazu hat er beim geladenen Festessen. Dort konfrontiert er die ranghöchsten sowjetischen Militärs in Österreich, Generaloberst Vladimir V. Kurasov55, und den Polit- und Nachrichtenoffizier Aleksej S. Želtov56 mit dem Entführungsfall. „Beide Herren haben sich aber nur mit spitzen Bemerkungen […] einer solchen Äußerung enthalten. Intern habe ich schon erfahren können, dass Frau Ottillinger bereits einen Anstand mit dem russischen Element hatte, der auf die Desertion eines höheren Stabsoffiziers [nicht Didenko, Anm. d. V.], mit dem sie in Verkehr gestanden war, zurückzuführen ist“, hielt ein vertraulicher Amtsvermerk des Bundeskanzleramtes/Auswärtige Angelegenheiten dazu fest.57 Dennoch versucht es Figl am 10. November abermals persönlich bei Želtov. Dieser erklärt dem Bundeskanzler, bereits in Kenntnis der ersten Verhöre und Geständnisse Ottillingers, jedoch trocken, Ottillinger habe sich „nicht nur gegen die Interessen des sowjetischen Elements als solches, sondern auch gegen die sowjetischen Streitkräfte vergangen“.58 Und Želtov drohte unverhohlen, Ottillingers Schicksal solle auch anderen Beamten der österreichischen Regierung „als Warnung dienen“.59

Winterton setzt parallel dazu eine Behandlung der Note Figls im Alliierten Rat durch. Dort entspinnt sich eine heftige Konfrontation.60 Der französische Hochkommissar Marie E. Bethouart61 kritisiert die Verhaftung Ottillingers als Teil einer Kette von Festnahmen durch die Sowjets, über die keinerlei Erklärung erfolgt sei. Kurasov fordert die alleinige „Kompetenz des sowjetrussischen Hochkommissars“, stellt die Unzuständigkeit des Alliierten Rates für derartige Fälle fest und wirft seinen westlichen Kollegen vor, sie würden österreichische Beamte gegen die Sowjets einspannen. Sehr konkret fordern schließlich die Hochkommissare Geoffrey Keyes62, General Galloway63 und Bethouart von Kurasov das Recht Ottillingers auf ein faires Verfahren, auf Verteidigung und Zeugen, auf fähige Dolmetscher und auf die sofortige Benachrichtigung der österreichischen Bundesregierung. Vergeblich. Kurasov beharrt weiter auf seiner Linie.

Die Verhaftung Ottillingers wird schnell zu einem Thema der österreichischen Zeitungen. Der „Kurier“ druckt am 8. November ein Foto von ihr ab und fragt nach ihrem Aufenthaltsort. Am 9. November titelt die „Wiener Tageszeitung“ der ÖVP „Die illegale Verhaftung Ottillingers wird von der Regierung geprüft“ und fragt auf Seite 2: „Wo ist Ottillinger? Bis zum heutigen Tag haben die Russen nicht auf den Protest der Regierung geantwortet!“ Zwei Tage später erscheint in der „Wiener Tageszeitung“ ein Leitartikel unter der Überschrift „Katscher, Marek, Ottillinger“.64 Wenige Tage darauf heißt es im „Wiener Montag“: „Nieder mit dem Terror!“ Am 16. November nimmt die „Arbeiterzeitung“ in ihrem, von Chefredakteur Oskar Pollak verfassten Leitartikel abermals Bezug auf Ottillingers Verhaftung sowie auf den Selbstmord des Chauffeurs des Klubs der Sowjetarmee, Friedrich Böhm. Für beide Fälle macht sie die sowjetischen Besatzer verantwortlich.65 Bemerkenswert auch die Rede Minister Kraulands, die nahezu von allen österreichischen Tageszeitungen am 25. November 1948 rapportiert wird: „Lieber den Tod als die Sklaverei!“ Und weiter: „Die Causa Ottillinger stellt einen Sonderfall dar, weil nun erstmals gegen ein Mitglied der Regierung [sic!] vorgegangen wird. […] Wir sind zu allem bereit, und wir lassen uns nicht unterkriegen […]. Wir fordern Gerechtigkeit und Loyalität, doch wir betreiben keine antirussische Kampagne“.66

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