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ISBN 978-3-7065-5848-8

Buchgestaltung nach Entwürfen von hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Satz: Studienverlag/Gerd Blumenstein Da-TeX, Leipzig

Umschlag: Studienverlag/Karin Berner

Umschlagabbildung: Die Freiheitsstatue, Foto von Dominik Hofmann-Wellenhof

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Dominik Hofmann-Wellenhof

Autobiographische Darstellungen von Identitätskrisen im Exil

Frederic Mortons und Ruth Klügers Suche nach ­Brücken in einer neuen Heimat

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Transatlantica

Günter Bischof, Editor

Volume 9: Dominik Hofmann-Wellenhof

Autobiographische Darstellungen von Identitätskrisen im Exil

Günter Bischof

Vorwort

Frederic Morton und Ruth Klüger haben im Exil in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg erstaunliche Karrieren als Schriftsteller bzw. Literaturwissenschaftlerin gemacht. Ich schätze Mortons historische Sachbücher A Nervous Splendor: Vienna, 1888–1889 (1979) und Thunder at Twilight: Vienna 1913 / 1914 (1989) und habe sie auch wiederholt im Unterricht verwendet. Mortons englischer Wortschatz ist so umfangreich, dass selbst ein gebildeter Leser ohne Wörterbuch nicht auskommt. Ruth Klügers Still Alive: A Holocaust Girlhood Remembered (2001) ist eine tief bewegende Autobiographie, wenn auch ihr gnadenloser feministischer Standpunkt den männlichen Leser auf die Probe stellt. Diese zwei Biographien von Migranten aus Österreich in ihrem amerikanischen Überlebensexil erhellen den schwierigen Prozess der Aus-/Einwanderung in die USA und sind repräsentativ für die Kohorte einer viel größeren Wanderungsbewegung von österreichischen Juden nach dem Anschluss 1938 (sog. „38er“). Die Forschung der Migration von Österreichern in die Vereinigten Staaten war traditionell den größeren demographischen Bevölkerungsbewegungen gewidmet, weniger Einzelbiographien von Migranten. Migrationsbewegungen wurden lange aus der Perspektive von „Push“- und „Pull“-Faktoren analysiert: Welche sozialen und wirtschaftlichen Umstände veranlassen Menschen, ihre Heimat zu verlassen bzw. was machte Amerika so attraktiv als Einwanderungsland? Die Migration in die USA hat sich immer wieder in Wellen bewegt und hing auch meist von der Begünstigung bzw. Verhinderung von Auswanderung durch die heimischen bzw. amerikanischen Regierungsbehörden und deren Aus- und Einwanderungsgesetzgebung ab.

1731 / 32 vertrieb der Salzburger Erzbischof Leopold von Firmian 20.000 Protestanten aus den Alpentälern seines Fürstbistums, wo sie seit der Reformation gelebt hatten. Diese sog. „Salzburger“ waren die erste größere Kohorte von „Österreichern“, die sich in den USA im Raume Savannah, Georgia ansiedelten. Habsburger Kaiser wie Josef II behinderten die Auswanderung nach Amerika, da es die Monarchie wirtschaftlich schwächen würde. Die nächste größere Welle kam in Folge der Revolutionen in der Monarchie 1848. Tausende von „48ern“ suchten eine neue Heimat mit mehr politischen und persönlichen Freiheiten in den USA. Die größte Welle von Auswanderung kam in den letzten zwei Jahrzehnten vor Ausbruch des 1. Weltkrieges. In diesen Jahren stellten Einwanderer aus den Kronländern der Österreichisch-Ungarischen Monarchie die größte Einwanderungsgruppe in die USA dar. Hunderttausende strömten damals nach Amerika, Jahr für Jahr, meist aus wirtschaftlichen Gründen. Überschüssige Menschen aus großen Familien verließen ihre kleinen Bauernhöfe in den Randgebieten der Monarchie und waren von den Jobs in Amerika angezogen. Dort setzte nach dem Bürgerkrieg (1861–65) eine rasche Industrialisierung und Urbanisierung ein und es wurden Millionen von neuen Arbeitskräften gebraucht. Zwischen 1861 und 1920 wanderten gut vier Millionen Menschen aus den Kronländern der Habsburger Monarchie in die USA ein.

Mit dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie 1918 erlebte „Restösterreich“ massive wirtschaftliche, soziale und politische Probleme. Das westungarische „Burgenland“ kam 1921 zu Österreich und war damals das ärmste Bundesland Österreichs. Es gab kaum Industrie und die Bauernhöfe wurden auf Grund der Erbtrennung von Jahr zu Jahr kleiner und unwirtschaftlicher. Bereits vor dem 1. Weltkrieg verließen 24.000 „Burgenländer“ ihre Heimat und emigrierten nach Amerika. Nach dem Krieg kamen noch einmal 22.000 dazu; sie ließen sich vor allem in Städten wie Chicago und New York nieder und bauten ein neues Leben auf. Das vom amerikanischen Kongress 1924 verabschiedete neue Einwanderungsgesetz brachte das Ende des großzügigen, relativ freien Zugangs aus aller Welt in die USA und reduzierte die Einwanderung aus Mittel- und Südeuropa massiv mit neuen Quotenregelungen. Die Quote für Österreich waren 1.435 Visa pro Jahr. Diese Quote reduzierte nicht nur die Einwanderung von Burgenländern massiv, sondern sollte sich auch fatal auf die 1938 nach dem „Anschluss“ vertriebenen Juden (vor allem aus Wien) auswirken. Von den gut 200.000 Juden Wiens konnten 130.000 ihre Haut retten, indem sie die von Hitler okkupierte „Ostmark“ verließen. Wo immer sie eine neue Heimat finden konnten, ließen sie sich nieder und bauten im Exil neue Leben auf – von Shanghai bis Australien, von New York bis Palästina. Trotz der strikten Quotenregelung schafften es ca. 30.000 österreichische Juden, Visa in die USA zu ergattern. Der barbarische Antisemitismus ihrer Nachbarn zu Hause sowie die Beschlagnahmung ihrer Wohnungen und der Raub ihrer Wertgegenstände („Arisierungen“) ließen viele Juden rasch zum Entschluss kommen, durch die Ausreise aus dem „Dritten Reich“ ihr Leben zu retten. Mit allerhand Schikanen wie „Reichsfluchtsteuer“ etc. machte es das Hitlerregime den Ausreisewilligen nicht leicht, das Land zu verlassen. Von den jüdischen Mitbürgern, die es nicht schafften aus der „Ostmark“ wegzukommen, wurden ca. 65.000 im Nazi-Rausch der Judenvernichtung ermordet.

Dominik Hofmann-Wellenhofs Buch erzählt symptomatische Einzelschicksale – die Lebensgeschichten von zwei Wiener Juden, denen es gelang, in den Vereinigten Staaten eine neue Heimat zu finden, wobei ihr Schicksal nicht unterschiedlicher hätte sein können. Während es der Familie von Fritz Mandelbaum (Frederic Morton) gelang, 1939 Wien zu verlassen und über Großbritannien 1940 nach New York zu kommen, hatte Ruth Klügers Familie weniger Glück – ihr Vater und Bruder kamen im Holocaust um. Ruth und ihre Mutter Alma überlebten die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt. Nach dem Krieg lebten sie als Flüchtlinge in sog. „DP-Lagern“ (DP = Displaced Person) in Bayern, bevor es ihnen gelang, Visa in die USA zu erhalten. Wie die Mortons sieben Jahre zuvor, zogen Ruth und Alma Klüger nach New York, wo sie auch Verwandte hatten.

Auf Basis seiner intensiven Studie von Mortons und Klügers Autobiographien Runaway Waltz (2005) bzw. weiter leben (1992) analysiert Hofmann-Wellenhof den schwierigen Prozess der Integration bzw. Assimilation dieser zwei Immigranten in die amerikanische Gesellschaft und die Akkulturation an das amerikanische Wertesystem. Es geht um den Verlust einer vertrauten Heimat, Entwurzelung, Entfremdung, innere Zerrissenheit zwischen der alten und neuen Welt und um den Aufbau neuer Identitäten. Mortons Leitspruch in seinem neuen New Yorker Domizil blieb das Wort des englischen Dichters Gerald Manley Hopkins: „Mine, o thou lord of life, send my roots rain.“1 Klüger fand Halt in der Dichtkunst Hölderlins. Morton und Klüger flüchteten sich in die Literatur als Überlebensstrategie. Beide lernten die englische Sprache rasch und assimilierten sich in ihrem neuen Exilland. Trotzdem verspürten beide Heimatlosigkeit und kamen nie ganz in Amerika an, obwohl sie bis heute dort leben (Morton ist im März 2015 in Wien verstorben). Morton war seiner Heimat Wien immer mehr verbunden als Klüger, die als Kind dort den unsäglichen Wiener Antisemitismus erlebte und nie vergessen konnte und dazu drei Jahre Nazi-KZs überlebte. Morton pflegte zeitlebens das Bild vom ewig Reisenden. Es gelang ihm nicht aus dem Zug, den er 1939 im Wiener Bahnhof bestieg, auszusteigen. Ruth Klüger sah sich als ewig Flüchtende, da sie die „Gespenster“ ihrer Zweiten Weltkriegsvergangenheit nie wirklich loswerden konnte. Klüger lebte den Großteil ihres erwachsenen Lebens in Kalifornien. Die dortige schnelllebige und oberflächliche Gesellschaft war das rechte Rezept für eine Holocaust-Überlebende. Kalifornien bot ihr einen „Hort der Zuflucht vor der Vergangenheit.“2 Im Zuge seiner Studie setzt sich der Germanist Hofmann-Wellenhof auch intensiv mit der Literaturgattung Autobiographie auseinander.

Der Prozess der Einwanderung in die USA und die Assimilation dieser beiden „38er“-Flüchtlinge aus Nazi-Wien war also nie so einfach und leicht, wie es E. Wilder Spaulding in seinem Buch über österreichische Einwanderer in die USA Quiet Invaders (1968) den Leser glauben macht. Spauldings These ist es, dass Österreicher, ohne viele Umstände zu machen, ihre Identität aufgaben und Amerikaner wurden, also sich rasch und meist problemlos assimilierten und quasi in der amerikanischen Gesellschaft untertauchten. Sie bildeten nie eine „Austrian Lobby“, um sich für die Interessen Österreichs in den USA einzusetzen. In der neueren Forschung wird dieser Assimilationsprozess als viel komplizierter gesehen. Der Grazer Soziologe Christian Fleck geht in seinem Buch Etablierung in der Fremde (2015) in vier Einzelstudien von ausgewanderten / vertriebenen Wienern auch auf den schwierigen Integrationsprozess im amerikanischen Berufsleben ein. Während der Ökonom Joseph Schumpeter und der Soziologe Paul Lazarsfeld sehr erfolgreich waren, konnten der Sozialphilosoph Edgar Zilsel und der Psychologe Gustav Ichheiser nie richtig Fuß fassen und nahmen sich das Leben. Der amerikanische Historiker Alan M. Kraut sieht Assimilierung als einen „Verhandlungsprozess zwischen Neuankömmlingen und Einheimischen.“ In diesem schmerzhaften Opportunitätsprozess müssen alte Identitäten abgestoßen und neue angenommen werden. Durch seine eingehende Analyse von Mortons und Klügers aussagekräftigen Autobiographien zeigt Hofmann-Wellenhof diesen Verhandlungs- und Opportunitätsprozess auf. Das Bild zur österreichischen Migration in die USA ändert sich also, wenn man vom Massenphänomen Migration wegkommt und Einzelschicksale von Migranten unter die Lupe nimmt.

Hofmann-Wellenhof beschreibt das Zustandekommen und den Prozess der Themenauswahl für diese Arbeit in seiner Einleitung. Als Stipendiat des österreichischen Wissenschaftsministeriums verbrachte er ein ergiebiges Forschungsjahr am Center Austria der University of New Orleans, wo seine intensive Arbeit am Grazer Dissertationsprojekt Gestalt annahm. Daneben arbeitete er auch am Zustandekommen des Bandes Austria’s International Position after the End of Cold War (in der Center Austria Reihe Contemporary Austrian Studies Bd. 23) mit und ließ es sich nicht nehmen, seiner Passion für den Fußball zu frönen (er trainierte ein Jugendteam und spielte selbst im semiprofessionellen Team von New Orleans mit). Dominik wollte Frederic Morton und Ruth Klüger persönlich kennenlernen und suchte das Gespräch mit ihnen. Die Transkriptionen seiner Interviews mit Morton und Klüger sind im Anhang dieses Buches untergebracht und werden für die Zukunft eine wertvolle Quelle für die Forschung über die beiden sein. Wir danken Terrance Kline und Siegfried Beer von der Botstiber Foundation für ihre Unterstützung des Forschungsprojektes „Quiet Invaders“, das am Center Austria der University of New Orleans angesiedelt ist. Hofmann-Wellenhofs Reisen nach New York und Los Angeles konnten aus diesen Mitteln bezahlt werden. Unser Dank geht auch an Barbara Weitgruber, Christoph Ramoser und an Ulrike Czura im Wissenschaftsministerium für die Zuerkennung und Verwaltung des „Ministry Fellowships“ in New Orleans. Am Center Austria ist die Unterstützung von Gertraud Griessner und Robert Dupont zu erwähnen, die den administrativen Ablauf des Stipendiums und die Unterkunft von Dominik und seiner Frau Nira besorgten. Wir danken dem Studienverlag in Innsbruck für die Aufnahme dieses Buches in meine Reihe TRANSATLANTICA. Beim Studienverlag hat sich vor allem Nina Gruber und Boris Schön bei der Gestaltung des Buches in der Endproduktion eingesetzt. Besonders möchten wir uns beim Kulturamt der Stadt Graz, bei Roberta Maierhofer und dem Zentrum für Interamerikanische Studien der Universität Graz und beim Zukunftsfonds der Republik Österreich für ihre Druckkostenzuschüsse bedanken – erst damit konnte die Publikation dieses Buches gewährleistet werden.

Günter BischofNew Orleans Juni 2015

Dominik Hofmann-Wellenhof

Vorwort des Autors

Das vorliegende Buch basiert auf meiner Dissertation aus dem Jahr 2013. Wie so oft im Leben lief auch mein Dissertationsvorhaben anders als ursprünglich geplant. Nach einem Jahr im US-Bundesstaat Georgia, wo ich als Middle-School-Lehrer unterrichtete, fasste ich im Jahre 2010 nach meiner Rückkehr nach Österreich den Entschluss, mich für das Doktoratsstudium der Philosophie an der Karl Franzens-Universität Graz einzuschreiben. Die vorgeschriebenen Lehrveranstaltungen absolvierte ich zügig und auch ein Thema für meine Dissertation war rasch gefunden: Gesellschaftskritik in Comics, genauer gesagt in Bill Wattersons Calvin und Hobbes. Nach Rücksprache mit Frau Prof. Rabelhofer begann ich mich in die Theorie der Comics einzulesen und war begeistert von meinem Vorhaben. Zu dieser Zeit bewarb ich mich auch erstmals um die Stelle als „Ministry Fellow“ an der UNO (University of New Orleans), wo ich hoffte, als „Assistant Editor“ an einer wissenschaftlichen Publikation und im gleichen Rahmen auch an meiner Dissertation arbeiten zu können. Meine Bewerbung wurde abgelehnt, als Begründung teilte mir der Leiter des Center Austria an der UNO, Prof. Dr. Günter Bischof, mit, dass er mir in puncto Comics wegen mangelnder Expertise in Privatissima an der UNO einfach nicht beratend zur Seite stehen könne.

Anfangs war ich zwar enttäuscht, arbeitete aber umso eifriger an meinem Dissertationskonzept weiter. Als ich mich nach einem halben Jahr intensiver Recherche erstmals an den Computer setzte, um wissenschaftlich über mein Lieblingscomic zu schreiben, verstand ich plötzlich, wieso Bill Watterson so ungern über den Zauber von Calvin und Hobbes spricht – er ist einfach nicht in Worte zu fassen. Langsam begriff ich, dass eine Passion für ein hochintellektuelles Comic nicht zwangsläufig als geeignetes Thema für eine akademische Arbeit herhält. In meiner Schreibtätigkeit trat ich sprichwörtlich auf der Stelle, und obwohl ich die für mich relevanten Comicstrips nach einer Weile auswendig rezitieren konnte, konnte ich sie nicht schlüssig mit gegenwärtigen Theorien über Sozialkritik verknüpfen. Einigermaßen frustriert gestand ich mir ein, dass ein frischer Start in Form eines Themenwechsels wohl die beste Lösung wäre. Just zu dieser Zeit erfuhr ich von der Öffnung des Bewerbungsfensters für den Posten des „Ministry Fellows“ an der UNO für das akademische Jahr 2012 / 13. Ich schrieb Dr. Bischof, erzählte ihm von meinem Dilemma und erkundigte mich, mit welchem Dissertationsthema er sich denn anfreunden könne. Dr. Bischof wies mich daraufhin auf den österreichischen Exilanten Frederic Morton hin, der als Jude im Zuge des Anschlusses Österreichs ans Deutsche Reich 1938 geflohen war, ab 1939 in Amerika lebte und am 20. April in seiner Heimatstadt Wien verstarb – traurigerweise einen Tag, bevor ich ihn bei einer geplanten Lesung im „Kunstraum Ewigkeitsgasse“ wieder getroffen hätte. Nach dem Lesen von Mortons Autobiographie begann ich, mich in die Thematik „Exilliteratur“ zu vertiefen. Besonders interessierte mich die Beschreibung und Wahrnehmung Amerikas in den vielen Autobiographien von Auswanderern und Exilanten, die ich im Zuge meiner Recherche las. Als jemand, der vier Jahre im Ausland (drei davon in den USA) gelebt hat, konnte ich die oftmals beschriebenen Gefühle der Isolation und Entwurzelung in vielerlei Hinsicht nachvollziehen. Zwar kam ich 2004 unter gänzlich anderen Umständen nach Amerika, erlebte als damals Zwanzigjähriger an meinem amerikanischen College im US-Staat Arkansas aber auch den viel zitierten Kulturschock am eigenen Leib. Ein Anknüpfungspunkt war gefunden. Natürlich wurde mir schnell bewusst, dass die Juden, deren Autobiographien ich las, viele Verluste erleiden mussten, deren psychologische Auswirkungen sich meiner Vorstellungskraft entziehen – allen voran natürlich der Verlust von Familienangehörigen und Eigentum, aber auch der der österreichischen Identität. Auf diese Identitätsbrüche wird im autobiographischen Schreiben von Exilanten durchwegs eingegangen – die Untersuchung der (literarischen) Form dieser Brüche sowie die Analyse der komplexen Beziehungen zu Heimat- und Exilland sind der zentrale Forschungsschwerpunkt meiner Arbeit.

Ihr Zustandekommen verdanke ich einer ganzen Reihe von Menschen, für deren Hilfe und Unterstützung ich mich hier sehr herzlich bedanken möchte. Meiner Dissertationsbetreuerin Frau Prof. Dr. Bettina Rabelhofer gilt mein besonderer Dank für ihre Flexibilität, ihre Ermutigungen und Anregungen, ihre raschen Antwortschreiben auf meine Emails aus New Orleans und ihre Geduld und Hilfsbereitschaft. Prof. Dr. Günter Bischof und Gertraud Griessner haben mich hier an der UNO wie einen Sohn in die „Familie“ des Center Austria aufgenommen. Professor Bischof gebührt außerdem mein Dank für die vielen fachlichen Anregungen und Literaturtipps, die ausführlichen und sehr hilfreichen Feedbacks zu den diversen Kapiteln meiner Dissertation sowie die Zurverfügungstellung seiner „Quiet Invaders“-Bibliothek. In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch bei Dr. Berthold Molden für dessen wertvolle Diskussionsbeiträge in den Privatissima und Rückmeldungen auf meine Dissertationskapitel bedanken. Weiters gilt mein Dank Frau Prof. Dr. Andrea Strutz für ihre fachspezifischen Ratschläge und Herrn Prof. Dr. Walter Hölbling, meinem Zweitbeurteiler und Zweitprüfer. Die Treffen mit Frederic Morton in New York und Ruth Klüger in Kalifornien waren für mich wahrlich einmalige Erlebnisse. Geduldig und bereitwillig beantworteten sie alle meine Fragen und teilten ihre Erinnerungen und Ansichten mit mir. Ich danke ihnen für die Einladungen zu sich nachhause und die Freundlichkeit, die mir dort entgegengebracht wurde. In diesem Zusammenhang sei auch der Botstiber-Stiftung herzlich gedankt, die mich bei den Reisekosten finanziell unterstützte. Meinen Eltern danke ihr für die Freiheit, mich ohne Druck für eine Studienrichtung entscheiden zu können, für die langjährige moralische Unterstützung sowie für das Korrekturlesen meiner Dissertation. Vor allem danke ich meiner lieben Frau Nira, die mich 2013 in New Orleans und während der Überarbeitung im Frühjahr 2015 in Graz auf allen Ebenen unterstützt hat. Abschließend möchte ich mich an dieser Stelle noch ganz herzlich beim Referat für Wissenschaft und Forschung des Landes Steiermark, beim Kulturamt der Stadt Wien, bei der University of New Orleans sowie beim Zukunftsfond der Republik Österreich für die Druckkostenzuschüsse bedanken. Erst ihre finanzielle Unterstützung hat diese Publikation möglich gemacht.

Dominik Hofmann-WellenhofApril 2015

Einleitung

Eines der wichtigsten Themen in den Autobiographien von Exilanten ist der Verlust der Heimat und die damit einhergehende Entfremdung und Identitätskrise. Die Juden, denen es gelang, vor oder während des Zweiten Weltkriegs das Deutsche Reich zu verlassen, waren (anders als Auswanderer!) im wahrsten Sinn heimatlos, wurden sie doch in ihrem scheinbaren Heimatland als Feinde angesehen. Ihrer Zugehörigkeit beraubt, mussten sich die jüdischen Flüchtlinge eine neue Identität konstruieren. Das autobiographische Schreiben stellte für viele Exilanten eine Möglichkeit dar, sich im neuen Heimatland durch das schriftliche Festhalten von Erinnerungen psychologisch zu verankern, sich schriftlich mitzuteilen und dadurch auch das Trauma der Vertreibung zumindest teilweise aufzuarbeiten. Ich habe mir in diesem Buch das Ziel gesetzt, die autobiographische Identitätssuche verschiedener Autoren im historischen Kontext soziologisch, psychologisch und literarisch zu durchleuchten. Nach eingehenden Studien verschiedener Autobiographien habe ich mich dazu entschlossen, mit Runaway Waltz und weiter leben. Eine Jugend zwei Bücher zu analysieren, deren Autoren ihre Heimatstadt Wien unter unterschiedlichen Umständen verlassen haben.3 Während Frederic Morton nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich 1938 fliehen konnte, wurde Ruth Klüger in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert. Sie emigrierte nach Ende des Krieges. Wie noch zu sehen sein wird, haben der Autobiograph und die Autobiographin teils recht unterschiedliche Ansichten und Haltungen der alten und neuen Heimat gegenüber. In dieser Hinsicht kann es sich als lohnend erweisen, ihre Autobiographien zu kontrastieren und durch die historische Lupe der jeweiligen Lebensumstände zu betrachten.4 Gleichzeitig werde ich auch Gemeinsamkeiten in den von Ambivalenz geprägten und von Brüchen gekennzeichneten Identitäten der beiden Schriftsteller aufzeigen und versuchen, diese mit soziologischen und psychologischen Erkenntnissen in Verbindung zu setzen. Zu diesem Zweck gilt es allerdings vorerst, sich Klarheit über den Terminus „Identität“ zu verschaffen. Ein Kapitel des theoretischen Teils dieses Buches widmet sich dieser Thematik. Auf inhaltlicher Ebene werde ich anschließend versuchen, etwa die innerfamiliären Beziehungen und das Selbst-Bewusstsein des Autors bzw. der Autorin herauszuarbeiten, um so Erkenntnisse hinsichtlich möglicher Identitätskrisen gewinnen zu können.

Neben der Frage nach dem Konzept der „Identität“ beschäftigt sich der theoretische Teil dieses Buches zusätzlich mit der Charakterisierung und Eingrenzung des Begriffs „Autobiographie“. Runaway Waltz und weiter leben unterscheiden sich, wie wir sehen werden, besonders stilistisch. Meine literaturwissenschaftliche Untersuchung zielt auf eine kritische Auseinandersetzung mit den jeweiligen (teilweise innovativen) literarischen Strukturmerkmalen ab. Ein besonderes Augenmerk wird auf Schreibstrategien, metanarrative Einschübe und die Frage „Wer spricht?“ gelegt. Die Hypothese, mit der Analyse in diesem (oder jedem anderen) Rahmen einen Text völlig erklären zu können, ist weder erstrebenswert noch zielführend. Sinnvoller erscheint es mir, sich der „Subjektivität bzw. Individualität als Methodenproblem“5 gewahr zu sein und sie einzugestehen, ohne dabei den Glauben an eine Verständnisannäherung aufzugeben. In meinem Fall hoffe ich, einen kleinen Beitrag zur oft vernachlässigten Beschäftigung mit Exilliteratur6 leisten zu können.

Die Autobiographie – Charakteristika und Eingrenzung

Definitionsversuche und Abgrenzungen zu verwandten Gattungen

Trotz verschiedener Versuche der Literaturwissenschaft, den Begriff „Autobiographie“ mit einer allgemein gültigen Definition zu versehen, bleibt die Eingrenzung des weitläufigen Gebiets der Autobiographik problematisch. Dennoch finden sich in der Autobiographieforschung brauchbare Ansätze. In Günter Niggls monumentalem und viel zitiertem Buch Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung7 widmet sich der Herausgeber den wichtigsten Theorien und Definitionen des Terminus „Autobiographie“. Diese Sammlung von zweiundzwanzig Beiträgen zeichnet die Wege der internationalen Autobiographie-Forschung seit ihren Anfängen um 1900 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nach und will als Zwischenbilanz zu weiteren Schritten auf diesem Gebiet anregen. Für meine Zwecke ist v.a. eine Analyse der Probleme der Autobiographie als Prozess der Selbstschaffung und als zeitlich versetze Rückschau aus einer Schreibgegenwart zielführend. Im zweiten Teil dieses theoretischen Abschnitts wird auf die Funktionen der Autobiographie eingegangen. Grundsätzlich gilt es, sich darüber gewahr zu sein, dass die oben erwähnte zeitlich versetzte Rückschau aus einer Schreibgegenwart über die Erinnerung in die Gegenwart geholt wird. Die Erinnerung verfährt als nicht-objektives Hilfsmittel des Autobiographen höchst selektiv, sie vergisst, verdrängt und beschönigt.8 So wie der Biograph über das Leben seines Biographierten in gewisser Weise frei verfügt und entscheidet, wo Akzente gesetzt oder Ereignisse ausgespart werden, so ist auch das Leben des Autobiographierten der Selektion und Zensur seines Autobiographierenden unterworfen. „It is the [auto]biographer who decides on beginnings and endings, about periodization and turning-points, about linear or non-linear patterns of narrative, about what he tells and what he chooses not to tell.“9

Die Autobiographie als Prozess der Selbstschaffung

In Autobiographien präsentiert der Autor die Sicht von dem, was wir unser Selbst und seine Tätigkeiten, Reflektionen, Gedanken und Verortung in der Welt nennen. Was oder wer der Referent in einem solchen Diskurs ist, ist schwierig zu bestimmen. Autobiographien sind in gewisser Weise eine Form historischer Selbstbetrachtung.10 Der Autor erzählt von seinem Leben und seiner Epoche. Dies geschieht aus einem zeitlichen Abstand heraus. Autobiographien als historische Quellen zu verwenden ist zwar möglich, birgt allerdings aus mehreren Gründen die Gefahr der Verfälschung: „Der objektiven Berichterstattung steht die subjektive Autorposition gegenüber: Es liegt auf der Hand, dass niemand in der Lage ist, die subjektive Wahrnehmungsperspektive hinter sich zu lassen.“11 Schon Goethe hat dies erkannt und seine Autobiographie in Anspielung auf diese Problematik Dichtung und Wahrheit genannt.12 Volker Depkat sieht die Quellenkunde der Autobiographie als Forschungsproblem der Geschichtswissenschaft. Er beklagt die unterentwickelte quellenkundliche Durchdringung autobiographischen Materials, welche in einem Missverhältnis zur Beliebtheit, welche sich Autobiographien in der gegenwärtigen Forschung erfreuen steht:

Dominant ist weiterhin ein Umgang mit autobiographischen Texten, der diese in mehr oder weniger naiven Durchgriff auf eine hinter ihnen stehende historische Realität liest und sich um die Textualität der Texte und die narrativen Strukturen der in ihnen erzählten Welten nur wenig oder überhaupt nicht kümmert. Vielfach werden Autobiographien so zu einem bloßen Steinbruch für eine Vielzahl von historischen Fakten […].13

Die subjektive Dimension der Autobiographien entsteht durch die drei Problemfelder Wahrnehmung, Erinnerung und narrative Konstruktion. In Autobiographien wird das eigene Leben bzw. die eigene Epoche aus der Sicht der eigenen Wahrnehmung beschrieben. Der Umstand, dass zudem aus der Erinnerung erzählt wird (die sich manchmal auf Hilfsmittel wie etwa Tagebücher stützen kann), bietet weiteres Potential für Verfälschung.14 Schließlich handelt es sich bei Autobiographien immer um narrative Konstruktionen. Durch eine Erzählung wird ein Selbst erschaffen, welches der Autobiograph durch die Auswahl von bestimmten, seiner Meinung nach für sein Leben repräsentativen Episoden erzeugt.

Vor nicht allzu langer Zeit war die Frage nach dem Prozess der Selbsterschaffung für Autobiographieforscher nicht wichtig. So war etwa Georg Misch in seinem umfangreichen Werk an den „Leben“ insoweit interessiert, als diese exemplarischer und repräsentativer Ausdruck einer Kultur waren.15 Wie aber war es ihm möglich zu wissen, was für jede Ära repräsentativ war? Und warum war er so wenig interessiert an den epistemologischen Problemen? Die Auffassung, dass das „Leben“ ein souveränes, festes Gebilde ist, welches durch das Schreiben eines Textes erzeugt wird, wird heute sowohl von Forschern als auch meist von den Autobiographen selber abgelehnt. Auch unter den Exilautoren bzw. Exilautobiographen können Generationsunterschiede festgestellt werden. Diese hat Klaus Weissenberger untersucht und ist zum Schluss gekommen, dass bei der älteren Generation (wie etwa Heinrich Mann, Alfred Döblin oder Carl Zuckmayer) oft auf „den impliziten Ganzheitscharakter der säkularisierten Theodizee-Vorstellung der Autobiographie der Goethe-Zeit“ zurückgegriffen wird.16 Bei der mittleren Generation (z. B. Ludwig Marcuse oder Robert Neumann) zeigt sich bereits eine Abkehr von der impliziten Ganzheitsvorstellung, welche dann von der jungen Generation (z. B. Peter Weiss oder Jakov Lind) ganz aufgegeben und durch eine zufällige, uneinsichtige Abfolge von Ereignissen und eine genauso lockere Ich-Welt-Relation ersetzt wird:

There is the idea that personal identity along with the narrativization of experience become reconfigured in distinct ways across the course of history. Whereas earlier conceptions of the „self“„ – such as they were – may have been framed in terms of cyclical patterns or processes of growth and decay or what have you, later conceptions come to be understood in more fully historical terms, as a sequence of unique, unrepeatable events.17

Zeitgenössische Forscher wie William Spengemann,18 Jerome Bruner19 oder Janet Gunn20 interessieren sich zudem für die literarisch-historische Invention, für die Form, die Abbildung von Realität. Sie beschäftigen sich mit den literarischen Kräften, die eine Autobiographie formen. Ist eine bestimmte Autobiographie beispielsweise ein Bildungsroman, in dem der Autor durch Erfahrungen an Weisheit gewinnt (d. h. die „klassische“ Form der Autobiographie), oder ist sie eine Abfolge von scheinbar zusammenhanglosen und einzigartigen Begebenheiten (d. h. die „moderne“ Variante)?

Die Autobiographie als Rückschau aus einer Gegenwart

Eine Autobiographie besteht aus einem Erzähler im Hier und Jetzt, der den Lebensweg eines Protagonisten im Dort und Damals beschreibt. Der Protagonist teilt mit dem Erzähler den gleichen Namen. Der Erzähler muss vereinbarungsgemäß diesen Protagonisten von der Vergangenheit in die Gegenwart bringen. Dies muss auf eine Art und Weise geschehen, die es dem Protagonisten ermöglicht, allmählich mit dem Erzähler zu verschmelzen und am Ende des Prozesses eine Person mit einem gemeinsamen Bewusstsein zu werden. Um nun einen Protagonisten vom Damals und Dort zu dem Zeitpunkt, an dem der ursprüngliche Protagonist der gegenwärtige Erzähler wird, zu befördern, bedarf es einer Theorie des Wachstums oder zumindest des Wandels. Im Falle eines männlichen Autobiographen muss es ein Rezept dem Lausbuben von einst möglich machen, sich in den ausgereiften, weisen Denker von heute zu verwandeln. Der Junge wird zu einem Erzählmittel. Sein Leben wird der Geschichte seines Schicksals gewidmet und angepasst. Die Theorien oder Geschichten, die der Autobiograph über seinen Wandel konstruiert, können nicht im herkömmlichen Sinn verifiziert werden. Das einzig Mögliche ist der Vergleich der eigenen Erinnerung – welche, wie bereits erwähnt, natürlich fehlbar und offen für Schematisierung ist – mit Familienerinnerungen,21 oder mit „culturally canonical accounts“22 über die Kindheit und das Heranwachsen. Die „Geschichte“ meines Lebens besteht also nicht aus einer Anordnung verifizierbarer Propositionen, sondern aus Erzählungen. Die Analyse der Autobiographien soll unter diesen Prämissen erfolgen.

Narrative Darstellungen müssen laut Bruner zwei Voraussetzungen erfüllen. Sie haben ihren Fokus auf Menschen und deren Ziele, Wünsche, Ansichten etc. zu richten; und sie sollten zeigen, wie diese Ziele zu bestimmten Aktivitäten geführt haben. Dieser Bericht muss zudem eine gewisse sequentielle Ordnung wahren, um so die Eigenschaften abzubilden, aus denen das Leben selbst besteht.23 Treffen all diese Charakteristika nun zu, so müssen Autobiographien über die Vergangenheit handeln, das Tempus des Genres sollte also par excellence die Vergangenheit sein. Trotzdem stehen nie mehr als 70 Prozent der in Autobiographien verwendeten Verben in der Vergangenheit.24 Dass die Zeitform oft das Präsens ist, könnte daran liegen, dass Autobiographien eben nicht nur von der Vergangenheit handeln, sondern durchaus auch die Gegenwart mit einbeziehen. Will man als Autobiograph den Protagonisten bis in die Gegenwart bringen, so muss die Autobiographie sowohl vom Damals als auch vom Jetzt handeln – und das nicht nur am Ende der Darstellung.

Der vorhandene „Präsens-Teil“ in Autobiographien hat meist mit der Evaluierung des Geschehenen zu tun, mit dem Platzieren der sequentiellen Ereignisse in einen sinnvollen und sinnstiftenden Kontext. Erzählungen, egal ob man sie aus der formalistischen Perspektive eines William Labov25 oder der eher literarischen einer Barbara Herrnstein-Smith26 betrachtet, haben zwei Aufgaben: Eine Aufgabe ist das an eine Gruppe von Menschen gerichtete Erzählen von Geschehnissen mit dem Fokus auf die Reihenfolge, in der die Geschehnisse stattfanden. Eine zweite besteht darin, dass eine Geschichte auch die Frage nach dem „Warum?“ beantworten muss: Warum ist die Geschichte erzählenswert, was ist interessant daran? Nicht alles Vergangene ist erzählenswert und es ist auch nicht immer offensichtlich, warum das Erzählte es verdient, erzählt zu werden. Ein narrativer Text muss also nicht nur von einer Reihe von Ereignissen in einem gewissen Zeitraum handeln (die im Sinne des kulturellen Kanons verständlich strukturiert sind), er muss auch etwas beinhalten, das die Geschichte mit Außergewöhnlichkeit ausstattet. Was bedeutet dieses Kriterium der Außergewöhnlichkeit nun für die Autobiographie und warum erzeugt es so eine Flut von Präsens-Formen im Schreiben von Autobiographien?

Funktionen der Autobiographie

Eine Autobiographie erfüllt eine Doppelfunktion.

Einerseits ist sie ein Akt der „Verschanzung“ (vgl. Nelson Goodman, „entrenchment“27). Wir wollen uns anderen (und auch uns selbst) gegenüber als typisch, charakteristisch bzw. „normal“ zeigen und so unsere kulturelle Zugehörigkeit offenbaren. Wir lachen über kanonisch Lustiges, trauern über kanonisch Schlimmes, unsere Reaktionen sind feste Gegebenheiten. Michaela Holdenried spricht in diesem Zusammenhang vom Selbstvergewisserungspotential des Autobiographischen, in dem die Alltagsgeschichte „zu einem Terrain der Verständigung und des Austauschs“ wird und „Orientierungshilfen“ bietet.28 Handelten wir aber nur nach festen Gegebenheiten, dann gäbe es keine Individualität und wir wären einfach Spiegel unserer Kultur. Die zweite Funktion der Autobiographie ist demnach, Individualität sicherzustellen, indem wir unseren Fokus auf das Besondere, Eigentümliche und dadurch Erzählenswerte in unserem Leben richten. Will man also seine Lebensgeschichte erzählen, so gilt es einerseits, die Geschichte kanonisch zu verankern, sie mit unserer Lebens- und Erfahrungswelt in Bezug zu setzen, sie aber andererseits als „interessant“, als in irgendeiner Weise besonders bzw. herausragend darzustellen. Um etwas „interessant“ zu machen, bedarf es einer Geschichte, die in irgendeiner Weise der Erwartungshaltung entgegenläuft oder ein überraschendes Ende bzw. Resultat aufweist. Die Erwartungshaltung wird natürlich von der impliziten, in einer Kultur vorherrschenden Alltagspsychologie bestimmt. Wird in einer Geschichte gegen diese Erwartungshaltung verstoßen, so muss dies auf eine Art und Weise geschehen, die kulturell verständlich ist.29 Der Bruch mit der Erwartungshaltung muss also in einem Rahmen ablaufen, der zwar gegen den Kanon der Alltagspsychologie verstößt, dies aber auf einem kulturell verständlichen Wege tut. Der Bruch mit der Konvention muss also selbst konventionell sein.

Wendepunkte

Eine Eigenschaft in Autobiographien, die besondere Beachtung verdient, ist die Hervorhebung so genannter „Wendepunkte“.30 Damit sind die Episoden gemeint, denen der Erzähler einen entscheidenden Wandel im Leben des Protagonisten hinsichtlich eines Glaubens, einer Überzeugung oder einer Annahme zuschreibt. Dieser Wandel ist ausschlaggebend, um ein Leben zu individualisieren, um es von der kanonischen Alltagspsychologie abzuheben. Nach Roman Jakobson ist Sprache ein System, welches nicht nur der Kommunikation dient, sondern auch Aufmerksamkeit regelt.31 Durch das Sprechen selbst wird die Aufmerksamkeit auf das jeweils gewünschte Thema gelenkt. Die Konstruktion der narrativen Wendepunkte ist nun ein weiteres Mittel, durch welches das „Normale“ und Erwartete vom Idiosynkratischen und Quintessentiellen unterschieden werden kann. Wendepunkte bieten die Möglichkeit, sich selbstbewusst von der Vergangenheit des banalen Schicksals und der Konventionalität zu befreien. Dadurch grenzen sie das Bewusstsein des Erzählers von dem des Protagonisten ab und schließen gleichzeitig die Lücke zwischen den beiden. Das Setzen eines Wendepunkts ist also ein Schritt hin zu einem narrativen Bewusstsein. Wenig überraschend stehen Wendepunkte an Stellen, wo in der Kultur ein größerer Freiheitsgrad und Raum für Wendepunkte besteht. Die Matura ist beispielsweise so eine Stelle. „Ich habe immer getan, was meine Eltern von mir wollten. An diesem Punkt begann ich zu überlegen, was ich eigentlich wollte und wer ich war und ich beschloss…“. Passagen dieser Art werden durch Verben wie denken, begreifen, verstehen, beschließen etc. („mental verbs“) markiert, die eine innere Transformation signalisieren.32

Der Einfluss der Alltagspsychologie zeigt sich hier also nicht nur in den voraussehbaren Veränderungen, sondern auch durch Veränderungen zu absehbaren Zeitpunkten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Wendepunkte zwar eine Illusion der Einzigartigkeit und Individualität erzeugen, dies aber auf konventionelle Weise tun und die Geschichte dadurch dem kulturellen Kanon anpassen. Somit erfüllen sie eine wichtige Doppelfunktion und tragen dazu bei, dass sich Autobiographien seit jeher großer Beliebtheit erfreuen.33 In der in diesem Buch durchgeführten Untersuchung wird sich zeigen, dass diese Wendepunkte auch ein wichtiger Bestandteil in den analysierten Autobiographien sind.

Zum Begriff der Identität

Das Erzeugen eines „Ich“ als kulturelle Konstruktion

Das vielleicht stabilste am „Ich“ als zeitüberdauerndes Konzept ist unsere Verpflichtung zu unseren Werten und Ansichten, welche wir nicht gewillt (oder fähig) sind, radikal zu überprüfen.34 Die Verbindlichkeit gegenüber gewissen Präsuppositionen über die eigene Person, über die Beziehung zu anderen und über die eigene Weltansicht rechtfertigt das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte. So wie die Erschaffung des eigenen Selbst in Autobiographien zentral ist, so ist auch die Konstruktion der umgebenden Kultur und Gesellschaft entscheidend. Gesellschaft kann als Konglomerat sozialer Prozesse, in welche Menschen in ihren täglichen Tätigkeiten involviert sind und durch die sie ihr Weltbild konstruieren, angesehen werden. Diese Welt-konstruierenden Tätigkeiten sind nicht auf die materielle Welt beschränkt, sie umfassen auch Ideen und Bedeutungen. Diese „bedeutungsvolle Welt“ wird das Gerüst, mit dessen Hilfe wir unseren Tätigkeiten Sinn verleihen und so das Ergebnis und gleichzeitig die Voraussetzung für unser Handeln. Die Welt-konstruierenden Prozesse unseres täglichen Treibens können aber nicht als rein individualistische Projekte, sondern als Bestandteile einer sozialen Gesellschaft, welche eine gemeinsame Welt von Bedeutungen erzeugen, angesehen werden. Diese Welt ist kein fertiges Produkt und wird es auch niemals sein. Stattdessen nehmen Menschen an sozialen Prozessen teil, wodurch Bedeutungen ständig kreiert, verschoben und umgeformt werden.35

Die Welt, in der unsere täglichen Leben ablaufen und wo wir als soziale Akteure Bedeutung über diese Welt erzeugen, verhandeln und rekonstruieren, wird als „Lebenswelt“ bezeichnet. Dieses Konzept, ursprünglich in der Philosophie von Edmund Husserl geprägt,36 wurde für die Sozialwissenschaften durch Alfred Schütz fruchtbar gemacht. Schütz betont die soziale Einbettung menschlicher Existenz durch seine Konzeptualisierung einer soziokulturellen „Lebenswelt“:

Not only the spatial and temporal relations are social but also the very style of lived experience and cognition in the everyday world is social. The world with its multiple items is accepted as a theater where knowledge and action are fundamentally intersubjective.37

Mitglieder einer Kultur teilen weltbezogene Meinungen, Werte und Interpretationen. Diese gemeinsam akzeptierten und allseits sanktionierten Kategorien von Interpretationsrahmen innerhalb einer Kultur werden nicht hinterfragt. Im Gegenteil ist es nach Schütz das Selbstverständnis, die Suspension jeglichen Zweifels, das uns eine typische, ungezwungene und unreflektierte Einstellung zu unserem Leben ermöglicht.

Der Begriff „Identität“ bedarf angesichts der vielfältigen Deutungsmöglichkeiten einer genaueren Definition. In diesem Buch wird Identität als eine sozialpsychologische Perspektive im Sinne von Roy Baumeister, der Identität als „a definition, an interpretation, of the self“38 sieht, verstanden. Die partiellen Definitionen bzw. Identitätskomponenten des Selbst werden sowohl bei der Geburt festgesetzt (wie z. B. Geschlecht oder Familienstammbaum) als auch frei gewählt (z. B. politische Zugehörigkeit, Ausbildung etc.). Diese Komponenten erzeugen Identität, „[they] make the person the same across time and differentiate the person from others“.39 Wenn die einzelnen Bestandteile allerdings keine Kontinuität und Differenzierung schaffen können, dann hat das Individuum keine gefestigte Identität.40 Identitätskrisen entstehen, wenn Veränderungen eine Person destabilisieren, indem sie das gegenwärtige und zukünftige Ich vom vergangenen Ich trennen. Wenn Menschen die Kontinuität der sie definierenden Elemente verlieren, dann verlieren sie die Einheitlichkeit ihres Selbst – ein häufiges Schicksal vieler Exilanten, wie in diesem Buch noch gezeigt werden wird. Die oben erwähnten destabilisierenden Veränderungen führen des Weiteren oft zu einem Vergessen bzw. Verdrängen eines älteren „Lebens“, welches mit einer späteren Episode, besonders im Fall vielen Exilanten, scheinbar in keinem kausalen Zusammenhang steht. Der Philosoph Günther Anders bringt das Dilemma der disparaten Lebensabschnitte seines Exilantenschicksals auf den Punkt:

Da es unser Schicksal war, aus jeder Welt, in die wir geraten waren, in eine nächste gejagt zu werden, und da wir unter dem Zwang standen, uns mit immer neuen Inhalten zu saturieren, und zwar mit solchen, die auf die alten nicht verwiesen, liegen nun die (den verschiedenen Welten zugeordneten) Zeiten quer zueinander. Nach jeder Knickung wurde das der Knickung vorausliegende Stück Leben unsichtbar. An Paris konnte ich mich, nachdem ich die nächste Station New York erreicht hatte, nur noch unzulänglich erinnern; und seit ich in Wien lebe, liegt die Werkstätte, zu der ich in Los Angeles zu pilgern hatte, im tiefsten Dunkel — keiner von jenen, die neben mir gearbeitet haben, ist mir namentlich noch bekannt, keines der Gesichter kann ich mehr heraufbeschwören.41

Die Einbettung der „Ego-Identität“ in der Gesellschaft

In diesem Buch wird die eigene Identität als Konstrukt konzeptualisiert, welches im Kontext einer gemeinsamen Lebenswelt erzeugt wird. Wenn wir von Identität sprechen, so stellen wir die Frage, wie wir unser eigenes „wahres“ Selbst und unsere Verankerung in der Welt verstehen.42 Unser Identitätsgefühl erlaubt uns die Integration unserer mannigfaltigen täglichen Erfahrungen, welche manchmal abweichend, inkonsistent und sogar widersprüchlich sind. Durch das Verstehen unseres Selbst und mit Hilfe unserer Erinnerungen erzeugen wir persönliche Geschichten und damit sowohl Bedeutung als auch Kontinuität, welche unsere Leben zusammenhalten. Individuelle Identität kann nur im Verbund mit der kollektiven Identität einer gemeinsamen Kultur aufrechterhalten werden. Der gemeinsame Horizont der verschiedenen kulturellen Formen von Leben ist zentral für das Verständnis des persönlichen Selbst, es definiert „an ‚I‘ by placing it against a background ‚we‘“.43 Die soziale und kulturelle Einbettung des Individuums und seiner Identität ist von verschiedenen Soziologen postuliert worden. So vertritt etwa George Herbert Mead die Ansicht, dass ein Mensch sein „Ich“ nur durch soziale Interaktion entwickelt: „Through a process of imaginatively taking the perspective of others with whom he interacts, many of the ‚attitudes‘ of significant others are incorporated into one’s views of self“.44Ein Individuum teilt nach Mead zu einem großen Prozentsatz das Bild, welches wichtige andere (Familie, Freunde) von ihm haben. Die Person beurteilt sich im Licht der Erwartungen, welche sie ihrer Familie und ihren Freunden unterstellt. Die Person wird auch versuchen, entsprechend dieser ihr unterstellten Erwartungen zu handeln, auf die Art und Weise, wie „Leute wie sie“ agieren sollten.

Erik H. Erikson zufolge basiert das bewusste Gefühl des Besitzes einer persönlichen Identität auf zwei Beobachtungen, „the immediate perception of one’s selfsameness and continuity in time; and the simultaneous perception of the fact that others recognize one’s sameness and continuity.“45 Die hier zitierte Kontinuität muss zum Großteil der Arbeit des Egos zugeschrieben werden, welches das individuelle Streben mit den Anforderungen der Gesellschaft in Einklang bringt. Eriksons Identitätstheorie umschließt aber auch die Erkenntnisse der kulturellen Anthropologie und Soziologie. Seine Auffassung der „individual’s ego space-time“46 reflektiert die Feststellung, wonach sich persönliche Identität, auch „ego-identity“ (in weiterer Folge „Ego-Identität“), an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit entwickelt. Diese Annahme bewahrt die Topographie der eigenen Kindheit, welche ihrerseits mit dem kollektiven Ereignisraum und dem Lebensentwurf der Gesellschaft in Beziehung gebracht werden muss. Ego-Identität entsteht in Entwicklungsphasen. Das Ego reift durch die Konfrontation mit Krisen, welche oft während der Adoleszenz eintreten, aber auch etwa durch einen Ortswechsel, eine Trennung vom Lebenspartner, den Tod eines Familienmitgliedes oder Freundes o.Ä. hervorgerufen werden. Die erfolgreiche Identitätsbildung hängt von der erfolgreichen Bewältigung dieser Krisen ab. Sie ist ein lebenslanger Prozess, da jedes Lebensalter eigene und einzigartige Herausforderungen bietet.47 Umgekehrt kann auch eine bereits gefestigte Ego-Identität zerfallen, wenn die auf das Ego einwirkende Krisen unüberwindbar scheinen. Der Verstoß ins Exil gegen den eigenen Willen und die damit einhergehende Entwurzelung aus der bekannten Welt, in welcher oben genannte „Krisen“ der Adoleszenz bereits erfolgreich bewältigt wurden, führt bei vielen Exilanten zum Verlust der Ego-Identität. Günther Anders vergleicht Identitätsbildung und Leben im Exil mit dem in der Heimat anhand einer Metapher: „Was ich meine, ist, daß der Lebensfluß dessen, der mehrere Leben zu absolvieren gezwungen ist, einen Verlauf nimmt, der sich von dem Flußbett der durchschnittlichen vita unterscheidet, etwa so, wie sich der Verlauf der Mosel von dem des Rheins unterscheidet: daß er kurvig, mäandrisch zuweilen sogar labyrinthisch wird.“48

Roy Baumeister bewertet in seiner soziokulturellen Geschichte des Identitätskonzepts Identity. Cultural change and the struggle of self den Modernisierungsprozess der westlichen Gesellschaft und dessen Einfluss auf die Entwicklung der Ego-Identität.49 Seiner Meinung nach wird es im modernen Zeitalter zusehends schwieriger, einen gefestigten Identitätssinn zu entwickeln. Die wachsende Emanzipation von sozialen und kulturellen Einschränkungen zwingt das Individuum, Entscheidungen zu treffen, die früher nicht zu treffen gewesen wären. Nach Baumeister entstehen Identitätsprobleme dadurch, dass der moderne Mensch diese Entscheidungen ohne Anleitung klarer Kriterien treffen muss.5051