Daniel Illger

SKARGAT

Der Stern der Mitternacht

Klett-Cotta

Impressum

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Hobbit Presse

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© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier Augsburg

unter Verwendung mehreren Motiven von Shutterstock

Karten: © wunderlandt.com; Veronika Wunderer

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98124-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10896-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Auf dem Pfad des schwarzen Lichts … Was bisher geschah

Unter dem Gesetz der Schatten … Was bisher geschah

Teil I

1 Am Ende

2 Ein Niemand, unterwegs nach Nirgendwo

3 Erste Lehren

4 Erbarmen

5 Die Straße

6 Ein leuchtendes Schwert

7 Die Zeit dazwischen

8 Wahrheiten

9 Von Himmelbetten, Zimmern und Kammern

Teil II

1 Blutreigen

2 Herren und Diener

3 Auf zu neuen Taten

4 Nachtritt

5 Ganz einfach

6 Eingebungen

7 Warum?

8 Ein Spaziergang zwischen den Gräbern

9 Alles, was nicht da ist

10 Durch die Keller

11 Die Weisheit der Steine

12 Mörder

13 Heldenmut und Heldenmus

14 Wie ein Flüstern im Wind

15 Die Zeit, die bleibt

16 Niemals genug

17 Ein Moment nur

18 Wofür wir sterben

19 Halafar

20 Das Licht erlischt

Teil III

1 Schwarzer Segen

2 Reines Gewissen, guter Wein

3 Drei Arten Zwiebeln

4 Hoppla

5 Der Weg nach Hause

6 Noch einmal

7 In knappen Worten

8 Frieden

9 Etwas wie Glück

10 Gibt es nicht

11 Vergeltung

12 Heimat

13 Geschichten von der Liebe

14 Alte Freunde

15 Die Dunkelheit von tausend Jahren

16 Ein neues Leben

17 Der Lauf der Dinge

18 Glanz und Elend

19 Der Abgrund

20 Fallende Sterne

21 Die große Illusion

22 Die Lügen unserer Väter

23 Der Preis

Teil IV

1 Roter Schnee

2 Das letzte Glimmen der Dämmerung

3 Zeit der Blumen, Zeit der Fische

4 Unsere einsamste Nacht

5 Das Versprechen

Epilog

Personenverzeichnis

Danksagung

Karten





Nacht der Menschheit

würdest du ein Herz zu vergeben haben?

Nelly Sachs





Für Charis und Orwena

Auf dem Pfad des schwarzen Lichts … Was bisher geschah

Ihr wollt wissen, was damals geschah? Wie es begonnen hat und wie es endete? Wer lebte und wer sterben musste?

Nun gut, dann setzt euch, haltet den Mund und hört zu.

Ich sage: Es begann mit Mykars Geburt. Ich sage das, obwohl es nicht wirklich stimmt. Denn ihr wisst vielleicht schon, dass der wahre Anfang einer jeden Geschichte tief in den Klüften der Zeit verborgen ist. Ebenso, wie jedem Ende ein weiteres Ende folgt. Aber irgendwo muss ich anfangen. Also noch einmal: Es begann mit Mykars Geburt.

Eigentlich war er ein gewöhnlicher Junge. Er hätte ein Leben führen können, das sich in nichts von dem der übrigen Kinder des Dorfes – ganz recht, eures Dorfes – unterschied. Doch sein Unglück war, dass er in einem Jahr der Bösen Ernte geboren wurde. Ein Jahr der Bösen Ernte, das heißt: ein Jahr der Angst. Man hat Angst vor dem Hunger, Angst vor Hitze und Kälte, Angst vor der Zukunft. Es gibt Leute, die suchen dann jemanden, der dafür bezahlen soll, dass sie so viel Angst haben – als würde die Angst verschwinden, wenn da einer ist, der noch mehr Angst hat als man selbst. Irgendwie einigte man sich darauf, dass Mykar dieser Jemand sein sollte. Man schimpfte ihn Skargat-Kind und sagte, er sei im Zeichen der bösen Gottheit geboren. Man begegnete ihm mit Verachtung und Abscheu. Selbst seine eigenen Eltern hegten wenig Liebe für ihn.

Ich bin sicher, jeder von euch weiß, wie es ist, wenn man sich mit anderen zerstritten hat. Plötzlich fühlt man sich ganz allein, so als ob es auf der großen, weiten Welt niemanden gäbe, mit dem man reden könnte. Schön ist das nicht, oder? Jetzt stellt euch vor, das ganze Leben wäre so.

Nun, trotz allem hatte Mykar Glück. Nicht das ganze Leben war so. Er hatte nämlich einen Freund: Cay, den Sohn des Elaah-Geweihten Illiam. Im Dorf verstand keiner, warum sich Cay mit dem Skargat-Kind abgab. Ich weiß nicht, ob die Leute ihn liebten. Jedenfalls respektierten sie ihn. Vielleicht hatten sie auch Angst vor ihm. Denn Cay war anders. Er fürchtete nichts und niemanden. Alles, was er anpackte, gelang ihm. So sah man ihn im Dorf. Es mag sein, dass er tatsächlich so war. Selbst denjenigen, die ihn gut kannten und an seiner Seite kämpften, ist er ein Rätsel geblieben.

Aber jetzt greife ich vor. Man soll immer schön der Reihe nach erzählen, nicht wahr? Ich will also vorerst nur dies über Cay sagen: dass er Mykar gerne hatte. Er wurde nicht nur sein Freund, sondern auch sein Beschützer. Er sorgte dafür, dass die anderen Kinder ihn in Ruhe ließen. Und er sorgte dafür, dass etwas Freude in Mykars Leben kam. Doch das konnte nicht von Dauer sein.

Cay war ja ein paar Jahre älter als Mykar. Bald kam es so weit, dass ihn sein Vater mitnahm, wenn er Fahrten übers Land antrat. Denn Illiam hegte den Wunsch, dass Cay sein Nachfolger würde – ein Elaah-Geweihter wie er. Für Mykar bedeutete dies, dass er wieder oft allein war. Und das Alleinsein ist gefährlich, wenn einem die Leute übel wollen. Das wusste Mykar aus bitterer Erfahrung. Also sah er zu, dass er dem Dorf so oft als möglich fernblieb.

Bei seinen Streifzügen entdeckte er einen merkwürdigen Ort: eine Lichtung im Wald, auf der die Ruine einer Hütte stand und an deren Rand eine gewaltige Linde wuchs. Mykar gefiel die Lichtung. Hier fand er eine Zuflucht. Und er fand eine neue Freundin: Danje. Um genau zu sein: Er fand ihre Knochen. Denn Danje war bereits seit einem Jahrzehnt tot, als Mykar sie kennenlernte. Sie war ein Hexenmädchen, das mit ihren Eltern und ihrer Schwester auf der Lichtung im Wald gelebt hatte. Eines Nachts war etwas Furchtbares geschehen: Danje, ihr Vater und ihre Mutter wurden auf grauenvolle Weise ermordet; nur ihre Schwester entkam.

Oh ja, ich weiß, wer die Tat verübte. Ich weiß es nur zu gut. Auch das gehört zu der Geschichte, die ich zu erzählen habe.

Noch aber sind wir bei Mykar und Danje. Gewiss fragt ihr euch, wie es sein kann, dass ein kleiner Junge und ein totes Mädchen sich befreunden? Nun, die beiden waren einsam, und eins erkannte sich in der Einsamkeit des anderen. Sicher, Mykar lebte, Danje nicht. Aber es gab eine Macht auf der Lichtung, die verband, was sonst getrennt bleiben muss. Diese Macht war die Linde. Sie hatte einen dunkelroten Stamm und ein leuchtendes Blätterkleid. Selbst wenn es windstill war, umgab sie etwas wie ein leises Rauschen oder flüsternde Stimmen. Und sie grünte auch im tiefsten Winter, wie Mykar bald herausfand. Von nun an kam er nämlich fast täglich auf die Lichtung.

Was es mit der Linde auf sich hat? Ich verspreche euch, dieses Geheimnis beizeiten zu lüften. Noch aber soll es ein Geheimnis bleiben – was wäre schon eine Geschichte ohne Geheimnisse?

Ich rede, als wollte ich scherzen. Eigentlich aber ist mir nicht nach scherzen zumute. Denn nun muss ich etwas sehr Trauriges erzählen. Es geht um Alva. Sie war Cays Verlobte. Ich habe das Mädchen nie kennengelernt, doch man sagt mir, sie sei voller Liebe gewesen. Allein, es war ihr nicht vergönnt, ihre Liebe weiterzuschenken. Eines Sommertages – da war er zwölf Jahre alt – fand Mykar sie im Wald. Sie war geschändet und ermordet worden; hier, wo wir jetzt sitzen, kam der Tod zu ihr. Mykar sah noch, wie die drei Täter davonritten. Doch er hatte keine Ahnung, wer die Männer waren. Gelähmt stand er da und starrte die tote Alva an. Die Mörder hatten ein Zeichen in ihre Brust geschnitten: eine Blume oder einen Stern oder ein Maul. Das Zeichen schien seine Form zu verändern, während Mykar es betrachtete. Er spürte, dass es etwas Böses war. Entsetzt eilte er zurück ins Dorf, um Hilfe zu holen.

Geschah, was geschehen musste? Oder was niemals hätte geschehen dürfen? Wenn ich auf die Vergangenheit zurückblicke, kommt es mir manchmal vor, als wäre da kein Unterschied.

Tatsache ist, dass Brogar, Alvas Vater, von dem Wahn ergriffen wurde, Mykar, das Skargat-Kind, hätte seine Tochter auf dem Gewissen. Weder Illiam noch Cay konnten ihn daran hindern, den Unschuldigen totzuprügeln. Gemeinsam mit den anderen Männern des Dorfes traf Brogar den Entschluss, Mykar im Wald zu verscharren – denn sie dachten, er wäre tot. Damit beauftragten sie Ordalf, den Säufer. Als Ordalf merkte, dass Mykar noch lebte, ergriff ihn ein solcher Schrecken, dass er die Beine in die Hand nahm und den Sterbenden allein zurückließ. Mykar wusste, dass der Tod nahe war; und er schleppte sich zu der Lichtung im Wald, wo ihn Danje und die immergrüne Linde erwarteten.

Was nun folgte, ist schwer zu erzählen und noch schwerer zu begreifen, selbst für mich, die ich eine Menge von diesen Dingen verstehe. Alles, was ich sagen kann, ist, dass sich die Linde entschloss, Mykar zu beschützen. Sie nahm ihn zu sich, ließ ihn in den Boden sinken, hüllte ihn in eine Rüstung aus dunkler, feuchter Erde. So ruhte er. In einem Zustand zwischen Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit, Diesseits und Jenseits ruhte er. Sieben Jahre währte sein Schlaf – er endete erst, als Cay in Not geriet.

Cay war lange verschwunden gewesen; niemand wusste, wo er hingegangen war und was er dort getan hatte. Nach seiner Rückkehr in die Windmarken trat er jedenfalls als Handwerker in den Dienst des Grafen Erwig von Nordwiesen. Er führte ein ruhiges, zurückgezogenes Leben. Vielleicht wäre das immer so weitergegangen. Doch eines Tages wurde er beschuldigt, Rudrick, den Sohn des Grafen, getötet zu haben. Man wollte Cay in die Perle bringen und ihm dort den Prozess machen. Daran, dass er verurteilt werden würde, konnte kein Zweifel bestehen. Denn wenn ein armer Schlucker des Mordes an einem Adligen bezichtigt wird, geht es für ihn niemals gut aus.

Mykar spürte, dass Cay in Gefahr war. Er wusste noch nicht, was geschehen war. Aber er wusste, dass sein Freund litt. Da kam er zurück. Wie leicht ist das gesagt! Aber stellt euch vor: Jemand ist sieben Jahre lang aus der Welt verschwunden. Vielleicht erinnert er sich an sein eigenes Leben nur noch wie an die Geschichte eines anderen. Vielleicht will er sich auch überhaupt nicht erinnern. Und dann zerrt etwas an ihm: Liebe und Hass, Trauer und Reue. Diese Gefühle sind so stark, dass er gar nicht anders kann als zurückkehren. Ja, er muss zurückkehren.

Mykar war also wieder da. Nun war er kein kleiner, schwacher Junge mehr. Er hatte sich verwandelt. Auch wenn man es ihm nicht ansehen konnte: Er hatte ein Stück Tod mit zurück ins Leben gebracht: eine machtvolle Dunkelheit, die nur darauf wartete, aus ihm hervorzubrechen.

Und sehr bald schon war es so weit. Denn als Mykar durch den Wald irrte und versuchte, sich wieder in die Welt einzufinden, stieß er plötzlich auf eine Frau. Der Name der Frau war Scara. Sie war die Magd von Justinius von Hagenow, Sohn des Baron Gernot, der ihn verstoßen hatte. Justinius und Scara hausten auf einem verfallenen Landsitz und waren in dieser Nacht von Meuchlern überfallen worden, die Justinius’ Bruder Edmund gedungen hatte. Nun schaut nicht so entsetzt. Unter Adeligen ist es üblich, dass Geschwister einander einkerkern, vergiften oder enthaupten lassen. Es war allerdings nicht die Gier nach Gold oder Macht, die Edmund dazu trieb, seinem Bruder den Tod zu wünschen. Auch er hatte Angst.

Angst vor wem? Hört zu, dann erfahrt ihr es.

Ich habe gesagt, dass Mykar im Wald auf Scara stieß. Das stimmt nicht ganz. Vielmehr stieß er auf Scara und gleichzeitig auf ein paar der Meuchler, die sie töten und verscharren wollten. Doch Mykar sorgte dafür, dass die Meuchler selbst ihr Grab fanden. Dann eilte er mit Scara zum Gutshof. Die zwei kamen gerade rechtzeitig, um Justinius aus den Händen der Häscher zu retten. Nachher blieb Mykar auf dem Landsitz – obgleich man nicht sagen kann, dass er und der Hausherr Freunde wurden.

Mykar und Scara hingegen … nun, die beiden mochten sich. Was Scara wirklich dachte und fühlte, ist schwer zu sagen. Auf ihre Art war sie ein ebenso großes Rätsel wie Cay. Die einen hielten sie für verrückt. Die anderen waren der Meinung, sie sei überaus klug und hellsichtig. Ihre Verrücktheit wäre dann eine Posse gewesen, die sie der Welt vorspielte. Sicher ist, dass sie Mykar helfen wollte. Sie war es auch, die Justinius davon überzeugte, ihn in die Perle zu begleiten, um Cay vor der Hinrichtung zu bewahren.

Zunächst aber kehrte Mykar in das Dorf zurück, wo er sein kurzes, trauriges Leben verbracht hatte. Hier erfuhr er, dass Cay beschuldigt wurde, den Grafensohn Rudrick getötet zu haben. Und hier erfuhr er, dass seit Alvas Ermordung sieben Jahre vergangen waren. Sein Vater war gestorben. Und auch einige der Männer, die damals über sein Schicksal entschieden hatten, lebten nicht mehr.

Wie es sich wohl anfühlt, zu erfahren, dass man sieben Jahre lang in der Erde gewesen ist? Ich vermute, dass Mykar tief in Grübeleien versunken war, als ihm der Rabe begegnete. Es war schon dunkel, und Mykar befand sich auf dem Rückweg zum Landsitz, als er das Gekrächze hörte. Er merkte bald, dass es kein gewöhnlicher Rabe war, der ihn da auf sich aufmerksam gemacht hatte. Es schien, als wolle ihn der Rabe irgendwohin führen. Mykar ließ sich führen – er ahnte wohl, dass es wichtig war, sich diesem merkwürdigen Vogel anzuvertrauen. Der Rabe flog also von Baum zu Baum, und Mykar eilte hinter ihm her, bis die beiden an eine Kreuzung kamen. Ihr kennt die Kreuzung, sie ist nicht weit von hier. In der Zeit, von der ich erzähle, standen dort drei windschiefe Galgen und die Ruinen einer Kapelle. Das heißt, bei Tag war es so. Jetzt, in der Nacht, waren die Galgen ins Riesenhafte gewachsen, und an die Stelle der Ruinen war ein kleines Häuschen getreten. Bei dem Häuschen handelte es sich um eine Gespensterschenke – den Gasthof Zum Fröhlichen Toten.

Ganz recht, eine Gespensterschenke. Ihr wisst vielleicht aus den Geschichten eurer Mütter oder Großmütter, dass es ein Geisterreich gibt. Das Geisterreich liegt zwischen dem Diesseits und dem Jenseits; manch einer muss darin Aufenthalt nehmen, ehe er weiterziehen kann. Meistens, weil ihn noch etwas an sein vergangenes Leben bindet. Vielleicht kann er nicht verzeihen, sich selbst oder anderen, oder ihm ist nicht verziehen worden. Vielleicht will er aber auch gar nicht verzeihen und ist darauf aus, den Lebenden vom Grabe her Leid zuzufügen. Da gibt es viele Möglichkeiten.

Mykar jedenfalls stellte in dieser Nacht fest, dass er nunmehr Teil beider Welten war: jener der Menschen und jener der Gespenster und Spukwesen. Im Fröhlichen Toten lernte er den Elenden Ede kennen. Ede war ein Wiedergänger, der sozusagen im Geisterreich stecken geblieben war. Seit Hunderten von Jahren schon. Er schien einiges über Mykar zu wissen und erklärte ihm, dass er Danjes Schädel mitnehmen sollte, wenn er in die Welt hinausging. Warum das so wichtig war, verriet er Mykar nicht. Er gab ihm allerdings zu verstehen, dass er ihm dies – und noch viel mehr – sehr wohl verraten könnte; vorausgesetzt Mykar seinerseits würde ihm einen kleinen Gefallen tun.

Sowohl Ede als auch der Rabe werden noch eine Rolle in meiner Geschichte spielen. Jetzt ist es aber Zeit, dass wir – was? Neinnein, wo denkt ihr hin! Der Rabe gehörte natürlich nicht Ede! Wer hätte je davon gehört, dass ein Spukwesen so einen prächtigen Raben besessen hätte! Der Rabe gehörte natürlich einer Hexe. Übrigens war sein Name Jacomo. Ein schöner Name, nicht wahr? Davon später mehr. Lasst uns jetzt zu Justinius und Scara zurückkehren.

Mittlerweile hatte Scara ihren Herren davon überzeugt, Mykar zu helfen. Wie sie das geschafft hat? Ganz einfach. Sie musste ihm nur sagen, wer der Adelige war, den Cay angeblich ermordet hatte. Justinius kannte Rudrick von Nordwiesen nämlich. Er kannte ihn schon viele Jahre, seit sie gemeinsam an der Kriegerakademie zu Mandris gewesen waren. Und er wusste, dass Rudrick ein wahrer Teufel war. Schließlich hatte er immer wieder versucht, Justinius dazu zu verleiten, sich an seinen Lieblingsvergnügungen zu beteiligen; das waren Folter, Mord und Schändung.

Beginnt ihr, etwas zu ahnen? Vielleicht ahnt ihr richtig, wir werden sehen.

Ich greife jetzt ein wenig vor, aber ihr solltet wissen, warum Justinius sofort bereit war, mit Mykar und Scara in die Perle zu reisen, als er den Namen Rudrick von Nordwiesen hörte. Es ist so, dass Justinius selbst noch eine Rechnung mit ihm offen hatte. Rudrick und seine Freunde – adelige Mordbuben wie er – hatten eine Frau, die Justinius liebte, zugrunde gerichtet. Sie hieß Glenna und war die Tochter eines alten Veteranen aus dem sogenannten Großen Krieg gegen Iskrien. Ich will euch die Einzelheiten ersparen, wie sie gestorben ist. Wichtig ist vor allem, dass Justinius versucht hatte, Rudrick und seine Freunde zur Rechenschaft zu ziehen für das, was sie Glenna und vielen anderen angetan hatten. Seinem Vater aber war das alte ahekrische Blut wichtiger. Er ließ Justinius in den Kerker werfen, um zu verhindern, dass er Rudrick anklagte.

Findet ihr das gerecht? Nein, oder? Kein Wunder, dass Justinius eine große Bitterkeit im Herzen trug. Noch heute hört man manchmal, er sei ein unflätiger Trunkenbold gewesen, der von einem Missgeschick ins nächste stolperte. Aber das ist nicht wahr. Glaubt mir, ich weiß es. Er war ein guter, ehrenhafter Mann. Und er hat niemals aufgegeben – auch dann nicht, als die Not am größten war.

Aber so weit sind wir noch lange nicht. Jetzt sind wir erstmal auf dem Weg in die Perle. Die Reise verlief ereignislos, und bald waren Justinius, Mykar und Scara in der Hauptstadt der Windmarken angekommen. Sie hatten einen Plan gefa– wie bitte? Woher Justinius wusste, dass Rudrick seine Glenna auf dem Gewissen hatte? Nun, von ihm selbst. Rudrick hat seine Verbrechen offen bekannt. Warum er das getan hat? Geduldet euch noch ein wenig, ihr werdet es bald erfahren.

Also, Justinus, Mykar und Scara hatten einen Plan gefasst, um Cay zu retten. Der Plan sah vor, dass Justinius um eine Audienz beim Dorn, dem weitgerühmten Herrscher der Perle, bitten würde. Vielleicht könnte er einen Aufschub der Hinrichtung erwirken. Mykar wollte sich derweil in den großen Thaala-Tempel einschleichen, wo – auch das hatte er herausgefunden – Rudrick von Nordwiesen aufgebahrt war. Von Ede wusste er, dass sich Rudricks Geist möglicherweise in der Nähe seines Leichnams aufhalten würde. Mykar hoffte, von dem Ermordeten selbst zu erfahren, wer ihn auf dem Gewissen hatte. Dass Cay unschuldig war, stand für Mykar außer Frage. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Freund ein solches Verbrechen begangen hätte.

Was genau Justinius und Mykar während ihrer ersten Nacht in der Perle erlebten, weiß ich nicht. Was ich weiß, ist, dass ihr Plan gründlich schiefging. Justinius sah damals ziemlich heruntergekommen aus und sein Versuch, beim Dorn vorzusprechen, endete damit, dass er übel verprügelt wurde. Und was Mykar betrifft: Der musste erleben, dass die Dunkle Göttin keineswegs geneigt war, solche wie ihn und Danje in ihr Heiligtum einzulassen. Die beiden trafen auf einen machtvollen Bann, der sie in die Flucht schlug.

Nun sah es so aus, als ob Cay endgültig verloren wäre. Doch ganz unerwartet kam Hilfe. Bei seinen verzweifelten Streifzügen durch die Perle begegnete Mykar einer Frau namens Vanice Devecraux. Vanice stammte von der Insel Enjahla – diese Insel liegt in der mygherischen Meerenge, falls euch das etwas sagt – und war die Tochter eines reichen und mächtigen Handelsgeschlechts. Da sie obendrein sehr schön war, gehörte sie eigentlich einer ganz anderen Welt an als Mykar: einer Welt des Glanzes und des Wohllebens. Doch in ihrem siebzehnten Jahr, kurz nachdem sie ihr Blütenfest begangen hatte, kam ein furchtbares Unglück über Vanice. Plötzlich quälte sie der unwiderstehliche Drang, verwestes Fleisch zu essen. Ja, ihr habt richtig gehört: verwestes Fleisch. Und zwar am besten Menschenfleisch.

Ich denke, ich muss nicht viele Worte darüber verlieren, was das für Vanice bedeutete. Sie war davon überzeugt, verflucht zu sein. Mehr noch, sie gab sich selbst die Schuld an ihrem Unglück. Also floh sie von ihrer Insel, ließ ihr ganzes bisheriges Leben hinter sich und flüchtete in die Schatten der Welt. Auf ihren ziellosen Reisen kam sie auch in die Perle. Vielleicht erzähle ich euch später mehr von ihr. Für den Moment ist wichtig, dass Mykar von Anfang an wusste, wie es um Vanice stand. Denn er begegnete ihr auf dem Friedhof der Perle und sah dabei zu, wie sie an einer Leiche nagte.

Was ihn dazu bewogen hat, Vanice um Hilfe zu bitten, kann ich nicht sagen. Es muss eine jener rätselhaften Ahnungen gewesen sein, die uns manchmal den Weg weisen, wenn wir durch die Dunkelheit unserer Hoffnungslosigkeit irren. Auch warum sich Vanice sofort bereit erklärte, Mykar beizustehen, kann ich nicht sagen. Aber ich vermute, dass das, was Mykar über Cay erzählte, ausgereicht hat, ein Licht in ihrem Herzen zu entzünden. Und ich weiß, dass Vanice dieses Licht so dringend ersehnte, wie jemand, der in den schwarzen Wintern des äußersten Nordens gefangen ist, den Aufgang der Sonne herbeiwünscht.

Bald stellte sich heraus, dass sie tatsächlich in der Lage war, Mykar zu helfen. Sie hatte Verbindungen zu den Thaala-Geweihten der Perle und kannte einen geheimen Weg ins Innere des Tempels, der durch die Tunnel unterhalb des Friedhofs führte. Außerdem besaß sie genug Gold, um Justinius anständige Kleidung und ein Pferd zu verschaffen. Bei einem erneuten Versuch, zum Dorn zu gelangen, würde er also so aussehen, wie sich das für einen Adeligen gehörte.

Zu Beginn der zweiten Nacht, die sie in der Perle verbrachten, war Justinius schon so weit hergestellt, dass er seine Einkäufe tätigen konnte. Zugleich machten sich Mykar und Vanice auf den Weg in den Thaala-Tempel. Aber wieder einmal kam alles anders. Denn in der Nähe des Marktplatzes sah Justinius plötzlich seinen Bruder. Er merkte sofort, dass Edmund etwas im Schilde führte. Heimlich folgte er ihm und entdeckte zu seiner Überraschung, dass auch Edmund zum Thaala-Tempel wollte. Justinius stellte seinen Bruder zur Rede und erfuhr, dass ihn Rudrick einige Wochen vor seinem Tod besucht hatte – ja, Justinius’ Bruder gehörte zu Rudricks Freunden, auch wenn er selbst wahrscheinlich keine der Frauen angerührt hatte. Bei seinem Besuch kündigte Rudrick seinen baldigen Tod an. Das schien ihn aber nicht zu stören. Im Gegenteil: Er war bester Dinge und verlangte von Edmund, dass er eine geheimnisvolle Flüssigkeit über seinen Leichnam schütten sollte. Und er drohte ihm schreckliche Strafen an für den Fall, dass er versagen sollte.

Justinius bekam Mitleid mit seinem Bruder, trotz allem, und beschloss, sich zunächst mit dieser Erklärung zu begnügen. Er nahm Edmund die Flüssigkeit ab, die Rudrick ihm gegeben hatte, und begleitete ihn zu dem Ort, wo die Leiche seines Feindes aufgebahrt war. Als Adelige benutzten die beiden – anders als Mykar und Vanice – natürlich den Haupteingang und ließen sich von einem Geweihten zu Rudrick führen. Es stellte sich heraus, dass Rudricks Leichnam mit rätselhaften Zeichen bemalt war. Justinius wusste damals nicht, dass diese Zeichen dazu dienten, Rudrick im Tod zu halten; und zu spät begriff er, dass ihn sein Bruder betrogen hatte. Edmund schnitt dem Geweihten vor Justinius’ Augen die Kehle durch: In Wahrheit war Blut die Flüssigkeit, die Rudricks toten Körper benetzen sollte. Das Blut gab ihm die Kraft, sich aus den Ketten zu befreien, die Thaalas Schweiger für ihn geschmiedet hatten.

Mykar und Vanice stürzten in den Saal, gerade als Edmund den Geweihten getötet hatte. Im Gegensatz zu Justinius und seinem Bruder konnten sie sehen, wie Rudrick in einer neuen, machtvollen Gestalt aus seiner Leiche hervorbrach. Er rannte los, schleuderte Mykar und Vanice zur Seite und floh durch die Tunnel. Die beiden fassten sich schnell und verfolgten Rudrick. Schließlich kam es auf dem Friedhof der Perle zum Kampf. Doch Rudrick war nun nicht mehr allein. Eine Handvoll Geisterreiter kamen ihm zu Hilfe. Sie führten grausame Jagdwaffen und galoppierten auf Dämonenrössern über den Nachthimmel. Mykar und Vanice konnten diese Übermacht nicht besiegen. Rudrick und die Geisterreiter entkamen.

Unterdessen war es Justinius gelungen, seinen Bruder aus dem Tempel herauszubringen. Erneut stellte er ihn zur Rede. Edmund hatte seine Angst nicht vorgespielt. Aus Angst vor Rudrick hatte er den Geweihten ermordet. Und aus Angst vor ihm hatte er versucht, Justinius zu töten. Rudrick hatte nämlich noch mehr von Edmund verlangt: Nicht nur das Blut des Geweihten, auch das seines Bruders sollte an seinen Händen kleben. Edmund wollte niemanden töten. Deshalb war er froh, dass Mykar diese Pläne durchkreuzt hatte. Doch seine Angst vor Rudrick war so groß, dass er es nicht gewagt hatte, ihm die Erfüllung seines anderen Wunsches zu verwehren. Justinius verpasste seinem Bruder ein paar Maulschellen und ließ ihn dann ziehen.

Am nächsten Tag ging Justinius wieder zum Dorn. Ihm wurde tatsächlich eine Audienz gewährt, und der Herrscher der Perle erlaubte ihm sogar, mit Cay zu sprechen. Doch da stand das Urteil längst fest: Mykars Freund würde als Frevler wider die Götterordnung hingerichtet werden. Dennoch suchten Justinius und Vanice die Zelle des Verurteilten auf.

Und nun endlich fanden sie die Antworten auf ihre Fragen. Allein, das waren andere Antworten, als sie es sich gewünscht hätten. Cay bekannte, dass er Rudrick getötet hatte. Denn Rudrick war der Mörder von Alva – er hatte das Verbrechen begangen, für das Mykar hatte büßen müssen. Dies wusste Cay von dem Grafensohn selbst. Er schilderte ihm, was er mit Alva gemacht hatte; so lange, bis sich Cay auf ihn stürzte.

Aber warum hatte Rudrick das alles erzählt? Warum hatte er sein Leben derart leichtfertig aufs Spiel gesetzt? Fast, als wollte er getötet werden …

Vanice begann zu ahnen, was der Grund für Rudricks wahnwitziges Verhalten war. Sie, die Verfluchte, hatte seit ihrer Flucht von Enjahla auf der Grenze zwischen den Welten gelebt. Weder gehörte sie wirklich zu den Menschen noch zu den Nachtgestalten; so sah sie es. Und um das dunkle Geschick, das ihr Leben zerstört hatte, besser zu verstehen, hatte sie sich bemüht, so viel wie möglich über die Welt der Dämonen, Gespenster und Spukwesen in Erfahrung zu bringen. Nun erwies sich dieses Wissen als hilfreich.

Ihr kennt die Geschichten um Skargats Jäger? Die Wilde Horde, der Zug der wütenden Toten, geführt vom Schwarzen Jäger, einem König im Reich der Schatten. Ihr wisst, dass die Horde in bestimmten Nächten auszieht – ja, richtig, auch in den Nächten der Toten, aber nicht nur dann –, um auf die Jagd nach Seelen zu gehen? Was die Geschichten aber nicht verraten, ist, dass es Männer gibt, die alles daran setzen, in die Horde aufgenommen zu werden. Denn für manche ist der Fluch ein Segen. Um sich dieser Jagdgesellschaft würdig zu erweisen, muss man nicht nur ein schändliches Leben geführt haben, sondern auch aus freien Stücken einen ehrlosen Tod sterben. Man muss seinen Namen opfern; alles, was man je gewesen ist.

Und genau das haben Rudrick und seine Freunde getan. Die Geisterreiter, die ihm auf dem Friedhof der Perle zur Seite standen und mit ihm in den Nachthimmel hinein galoppierten, waren Reiter der Horde. Unterwegs im Auftrag des Schwarzen Jägers, um einen der Seinen heimzuholen.

Übrigens stimmt es nicht ganz, was ich eben gesagt habe. Von Rudricks vier Spießgesellen hatten zwei den Tod gewählt. Die beiden anderen, Laghras vom Hohen Teich und Radulf von Rodingen, hatten sich in irgendeinem Loch verkrochen. Das wusste Justinius. Was er leider nicht wusste, war, wo genau sie steckten. Vielleicht könnten Laghras und Radulf etwas über Rudricks Pläne verraten? Wenn man nur an sie herankäme …

Aber seht nur, wie lange ich gesprochen habe. Die Sonne geht bald unter, und sicher werdet ihr schon daheim erwartet. Wir wollen ja nicht, dass euch der Vater mit dem Riemen prügelt, weil ihr gebummelt habt!

 … Nun, wenn ihr denn unbedingt wollt, erzähle ich noch ein wenig weiter. Aber ich fasse mich kurz, denn ich bin eine alte Frau und will nicht im Dunkeln durch den Wald stolpern.

Also, Mykar blieb nichts anderes übrig, als den Tod seines Freundes zu bezeugen. Gemeinsam mit Vanice, Justinius und Scara war er auf dem Aschehügel, der Richtstatt der Perle, als Cay auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Er sah ihn sterben. Und er schwor, Rache an Rudrick und seinen Spießgesellen zu nehmen. Ganz gleich, ob sie diesseits oder jenseits des Grabes standen.

Doch wie sollte er das tun? Auch die Antwort auf diese Frage kannte Vanice. Es ist nämlich so, dass die Nachtgestalten bestimmte Gesetze befolgen müssen; ganz wie wir Menschen. Wenn ein Spukwesen ein anderes töten will, braucht es dafür eine Erlaubnis. Die Erlaubnis bekommt es von Dämonen, Prinzipale genannt, die Gespensterversammlungen vorstehen. Mykar, der ja auch Teil jener Nachtwelt war, musste also zu einer Gespensterversammlung gehen und die Erlaubnis einholen, Rudrick den Garaus zu machen. Das tat er denn auch.

In einer mondlosen Nacht fanden sie sich alle im Fröhlichen Toten ein: Mykar, Vanice, Justinius und Scara. Dank der Flüssigkeit, die Edmund von Rudrick bekommen hatte, konnte auch Justinius die Gespenster sehen; dazu war sie nämlich in Wirklichkeit da. Und zu sehen gab es einiges. Ich kann euch sagen, es ging drunter und drüber in dieser Nacht! Ich weiß das, denn auch ich war dort. Der Prinzipal erschien und gab Mykar die Erlaubnis, um die er gebeten hatte. Doch dann stürmte der Schwarze Jäger herein und verlangte von dem Dämon, dass er seine Entscheidung widerrufe. Der Prinzipal aber lachte nur und zog sich in seine Welt zurück. Daraufhin erklärte der Schwarze Jäger, er hätte keine andere Wahl, als Mykar zu töten – denn er wollte nicht zulassen, dass einer der Seinen starb.

Ehe es zwischen den beiden zum Kampf kam, tauchte aber noch jemand anderes auf: Aiona, die Königin der Schwarzen Hexen. Aiona hatte Rudrick schon lange im Auge gehabt. Sie wusste um seine Verbrechen, die ja auch ihre Schwestern bedrohten. Schließlich leben die meisten Hexen nicht anders als Bäuerinnen, Jägersfrauen oder Köhlerinnen. Erinnert ihr euch an das grauenvolle Zeichen, das Rudrick in Alvas Brust geschnitten hatte? Nun, Alva war nicht die Einzige, die noch im Tod geschändet worden war. Aiona berichtete, dass Rudrick jede der Frauen, deren Leben er nahm, auf diese Weise entstellt hatte. Damit hatte er sie zu einer Opfergabe gemacht – einem Opfer, einer Gabe für die Macht, der er in Wahrheit diente. Diese Macht war nicht von unserer Welt. Sie war etwas Böses, das weder zum weißen noch zum schwarzen Licht gehörte.

Natürlich glaubte der Anführer der Horde kein Wort von dem, was Aiona sagte. Hätte er ihr geglaubt, er hätte einsehen müssen, dass es für ihn keinen Grund gab, Rudrick zu beschützen. Denn niemand kann zwei Herren dienen; und wenn sich der Grafensohn in Wahrheit einem jenseitigen Bösen verschworen hatte, dann waren die Horde und der Schwarze Jäger nur Mittel zum Zweck für ihn.

Aber, wie gesagt, das wollte der Herr Jäger nicht einsehen. Und so wäre es vielleicht doch zum Kampf zwischen ihm und Mykar gekommen, wenn sich nicht plötzlich Prinz Gereon, der älteste Sohn von Kaiser Winand, eingemischt hätte. Ihr habt richtig gehört: Der ahekrische Thronerbe hielt sich in der Gespensterschenke Zum Fröhlichen Toten versteckt! Warum er das tat? Ganz einfach: Das Böse, von dem Aiona gesprochen hatte, gab es wirklich. Es war bereits nach Ahekris gekommen und hatte die Stadt in eine Hölle verwandelt. Prinz Gereon war gezeichnet von allem, was er erlebt und durchgestanden hatte. Aufs Entsetzlichste abgemagert, siech und elend und mehr als nur halb wahnsinnig war er! Doch ihm war die Flucht gelungen. In den Schatten hatte er Schutz vor einem dunkleren Schatten gesucht. Und er bestätigte die Worte der Hexe.

Was tut man, wenn man derartige Neuigkeiten erfährt?

Nun, der Schwarze Jäger gab vor, noch immer nicht zu glauben, was er gehört hatte. Doch er verzichtete darauf, Mykar herauszufordern, stampfte nur wütend davon. Was die anderen betrifft, die waren ratlos. Das galt für Justinius und Vanice und Scara. Es galt auch für Aiona. Nur Mykar wusste, was er zu tun hatte. Das Böse war ihm gleichgültig. Alles, was er wollte, war Rache. Und der Elende Ede sagte, er könnte ihm zu seiner Rache verhelfen. Die Antwort, wie Rudrick zu besiegen sei, hätte etwas mit der Linde auf der verwunschenen Lichtung zu tun. Und mit Danje. Doch ehe Mykar erfahren würde, was er wissen wollte, müsste er Ede einen Gefallen tun. Der Gefallen bestand darin, quer durchs Ahekrische Reich zu wandern, ans Beskalische Meer, in eine Stadt namens Donost, und dort den Hafenmeister Ludger zu töten. Warum das für Ede so wichtig war, verschwieg er.

Mykar aber war auch das gleichgültig. Noch in derselben Stunde brach er auf. Was aus den anderen wurde, schien ihn nicht zu kümmern. Die Rache an Rudrick, das war nun Mykars ganze Welt.

Und Justinius, Vanice und Scara? Nun, die drei erfuhren noch weitere Neuigkeiten in dieser Nacht. Aiona erklärte, dass sie Danje kannte. Sie war es, die sie und ihre Eltern getötet hatte – als Folge einer Fehde zwischen Schwarzen und Weißen Hexen. Sie war es auch, die den Raben Jacomo geschickt hatte. Das allerdings, um Mykar zu helfen …

Ob Aiona die Schurkin in meiner Geschichte ist? Nein, das würde ich nicht sagen. Sie hat mehr Gutes als Schlechtes bewirkt, denke ich, und sich alles in allem nicht übel geschlagen. Aber von ihr und dem, was der Nacht der Gespensterversammlung folgte, erzähle ich euch beim nächsten Mal mehr. Morgen um die dritte Mittagsstunde? Gut, ich werde da sein.

Ach ja, eines noch. Ein paar Tage später machte Vanice einen Spaziergang in der Gegend des verfallenen Landsitzes. Da kam eine Kutsche die Reichsstraße entlang. Und was meint ihr, wer durchs Fenster nach draußen blickte? Cay! Genau, derselbe Cay, der jämmerlich auf dem Scheiterhaufen zugrunde gegangen war – vor Vanice’ Augen! Da hat sie bestimmt einen gewaltigen Schreck bekommen, als sie ihn in der Kutsche sah! Sie hatte sich in einen Todgeweihten verliebt; und plötzlich erwies sich, dass der Todgeweihte lebte.

Wie das angeht, dass jemand verbrannt wird und dann in Kutschen fährt? Nun, morgen verrate ich es euch.

Unter dem Gesetz der Schatten …
Was bisher geschah

Ah, da seid ihr ja – habt schon auf mich gewartet, was?

Schön, ich hätte mich nämlich auch geärgert, wenn ich den ganzen Weg umsonst gekommen wäre.

Dann wollen wir mal … Sagt, wo war ich stehengeblieben?

Richtig – Vanice und Cay. Und wie es möglich ist, dass man Tote in Kutschen fahren sieht. Nun, was meint ihr, wie ist so etwas möglich? In der Tat: Wenn jemand, von dem ich glaube, dass er gestorben ist, vor mir über die Straße spaziert, würde ich zunächst annehmen, dass er gar nicht richtig tot war. Es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten, aber gesünder ist es, nicht zu viel über Gespenster, Wiedergänger und Rachegeister nachzudenken, wenn man nicht unbedingt muss.

Was Vanice damals dachte, weiß ich nicht. Was ich weiß, ist, dass es ihr sehr schlecht ging, nachdem sie Cay erblickt hatte; oder ihn zu erblicken meinte. Sie hatte sich ja bereits ein bisschen verliebt in ihn. Aber ein Toter muss ein Traum bleiben. Ein Lebender hingegen … nun, ein Lebender könnte Teil des eigenen Lebens sein. Ganz gewiss wünschte sich Vanice, dass Cay in ihr Leben treten und dort bleiben würde – als ihr Geliebter. Aber zugleich mit diesem Wunsch regten sich Fragen in ihr, die sie quälten, seit sie von ihrer Insel geflohen war: Durfte sie auf Liebe hoffen? Hatte sie ein Recht, glücklich zu sein? Schließlich war sie verflucht, musste Leichenfleisch essen. Es kann gut sein, dass Vanice damals eine der schönsten Frauen von ganz Ebera war; aber das änderte nichts daran, dass sie sich oftmals vor sich selbst ekelte – mit einem Ekel, der an Hass grenzte. Würde ein Mann wie Cay nicht von dem gleichen bitteren Ekel ergriffen werden, wenn er die Wahrheit über sie erfuhr? Konnte man aber jemanden lieben, dem man das verheimlichte, was das eigene Herz am meisten bedrängte? Und abgesehen davon: Was war, wenn Cay doch tot war?

Kurzum: Vanice verkroch sich in ihren Zimmern auf Justinius’ Landsitz und versank in Schwermut. Wenn ich nicht irre – Justinius hat mir später erzählt, was in diesen Tagen vor sich ging –, verließ sie wochenlang kaum ihr Bett. Einmal aber hatte sie keine andere Wahl, als es doch zu verlassen. Das war, als der Hunger mit solcher Macht über sie kam, dass sie ihm nicht länger widerstehen konnte. Heimlich schlich sie sich aus dem Haus und auf einen nahegelegenen Friedhof. Das war mitten in der Nacht, und sie konnte davon ausgehen, dass niemand sie beobachten würde, wenn sie eine der Leichen ausgrub und tat, was sie eben tun musste. Zu ihrem Pech wurde sie aber doch beobachtet – von einem Totengräber, der auf dem Friedhof seinen Rausch ausschlief, wie es Männer diesen Schlags wohl manchmal zu tun pflegen.

Der Name dieses Totengräbers war Halig, und später sollte er eine wichtige Rolle in meiner Geschichte spielen. Wovon er selbst sicherlich am meisten überrascht war. Aber noch ist es zu früh für seinen Auftritt.

Kehren wir einstweilen zurück zu Justinius’ Landsitz. Während Vanice in ihrem Bett lag und von allerlei Träumen und Albträumen gequält wurde, besann sich Justinius darauf, wer er war – oder doch, wer er sein wollte. Nämlich jemand, der den Kopf nicht in die Erde (oder, in seinem Fall, in ein Bierfass) steckt, wenn Gefahr droht. Sondern kämpft. Also hievte er sich jeden Tag bei Sonnenaufgang aus dem Bett und lief durch den Herbstregen. Dann legte er Rüstung, Schwert und Schild an, ging in den Garten und trainierte mit Hilfe eines armen, alten Schrankes, dem dieses Training nicht allzu gut bekam, wie ich fürchte. Justinius aber wurde von Tag zu Tat stärker und gewann langsam das Vertrauen in sich selbst und seine Fähigkeiten zurück.

Leider blieb ihm nicht viel Zeit. Denn die zweite Nacht der Toten, das Fest von Mingas Verhüllung, nahte. Wie ihr wisst, ziehen Skargats Jäger in den Nächten der Toten aus. Es bestand darum kein Zweifel, dass Rudrick bald wieder zuschlagen würde. Was genau er aber plante, ob er den Schwarzen Jäger auf seine Seite gezogen hatte und mit welchen Mitteln er das Kommen des Bösen vorbereiten wollte – das wusste niemand zu sagen.

Justinius, Vanice und Scara sahen sich also nicht nur einem übermächtigen Gegner gegenüber; sondern obendrein einem Gegner, der sich im Schatten verborgen hielt. Wie aber bereitet man sich auf einen Krieg vor, wenn man weder Zahl noch Stärke der feindlichen Armeen kennt und nicht einmal weiß, aus welcher Himmelsrichtung sie anrücken?

Um auf diese Fragen eine Antwort zu finden, so gut sie es vermochten, setzten sich Justinius, Vanice und Scara eines Abends im Speisesaal des Landsitzes zusammen. Ich kann nicht sagen, ob bei dem Gespräch viel herausgekommen wäre. Es erwies sich allerdings, dass die drei nicht die Einzigen waren, die sich in angstvoller Sorge mühten, Rudricks Pläne zu enträtseln. Überraschend bekamen sie Besuch in jener Nacht – und zwar von Justinius’ Bruder Edmund.

Richtig, derselbe Edmund, der Meuchler auf Justinius und Scara angesetzt hatte. Ganz schön unverschämt von ihm, einfach so bei seinem Bruder an die Tür zu klopfen, findet ihr nicht auch? Allerdings muss ich zugeben, dass Edmund gute Gründe für sein Handeln hatte. Er war nämlich zu dem Schluss gekommen, dass sich Rudrick an ihm rächen wollte, dafür, dass er ihm die Gefolgschaft verweigert hatte. Ihr erinnert euch, Rudrick hatte von seinen Freunden verlangt, dass sie einen ehrlosen Tod wählen sollten, um ihm ins Geisterreich zu folgen – und Edmund hatte sich geweigert, dies zu tun. Ebenso wie Radulf von Rodingen und Laghras vom Hohen Teich, die sich ihrerseits seit längerem versteckt hielten.

Edmund hatte Angst, dass Rudrick die Totennacht wählen würde, um ihn heimzusuchen, und wandte sich in größter Not an seinen Bruder, um dessen Hilfe zu erbitten. Ihr könnt euch sicherlich denken, dass Justinius zunächst wenig geneigt war, diese Bitte zu erfüllen. Ich vermute sogar, dass er seinen Bruder am liebstem mit Fußtritten vor die Tür gejagt hätte. Doch Edmund schlug ihm einen Handel vor: Wenn Justinius sich bereit erklärte, ihn zu beschützen, würde er ihm seinerseits verraten, wo sich Laghras versteckt hielt. Widerwillig ging Justinius auf den Handel ein, und sein Bruder erklärte ihm, dass Laghras Unterschlupf bei einem alten Junker namens Rhun von Ketten gefunden hatte. Rhuns Burg lag bei einem Städtchen namens Dreieichen, das etwa sieben Tagesreisen von Justinius’ Landsitz entfernt war.

Dreieichen – ich schaudere, wenn ich diesen Namen höre!

Bald werdet ihr verstehen, warum das so ist.

Aber zurück zu unseren Freunden in den Speisesaal. Was genau sich Edmund von seinem Bruder erhoffte, vermag ich nicht zu sagen. Justinius war jedenfalls einverstanden damit, ihn für eine Weile zu verstecken, wohl in der Annahme, dass Rudrick zuletzt an diesem Ort – dem alten, halbverfallenen Landgut, auf das Justinius verbannt worden war – nach Edmund suchen würde. Und alle waren sich einig, dass sie genauso gut versuchen könnten, als Erstes Laghras’ habhaft zu werden. Vielleicht wusste er ja etwas über die Absichten seines ehemaligen Freundes und Meisters; vielleicht sogar darüber, wie man das Böse bezwingen konnte.