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Über die Autorinnen

Laurie Myers und Betsy Duffey sind Schwestern, die gemeinsam schon mehrere Bücher geschrieben haben. In Deutschland wurden sie mit „Das Lied des Hirten“ bekannt.

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Epilog

Gott ist Liebe.

(1.Johannes 4,16)

Liebe ist geduldig,

Liebe ist freundlich.

Sie kennt keinen Neid,

sie spielt sich nicht auf,

sie ist nicht eingebildet.

Sie verhält sich nicht taktlos,

sie sucht nicht den eigenen Vorteil,

sie verliert nie die Beherrschung,

sie trägt keinem etwas nach.

Sie freut sich nicht am Unrecht,

sondern freut sich, wenn die Wahrheit siegt.

Liebe nimmt alles auf sich,

sie verliert nie den Glauben oder die Hoffnung

und hält durch bis zum Ende.

Die Liebe hört nie auf.

(nach 1. Korinther 13,4-8, NgÜ/ Hfa)

Kapitel 1

Die Liebe ist geduldig

Hemd in der Hose. Blume im Knopfloch. Fliege gerade gezupft. Douglas tupfte sich den Schweiß von der Stirn und atmete tief durch. In einer Stunde würde er verheiratet sein. In einer Stunde würde Julia seine Frau sein. Die schöne Julia. Die einzigartige Julia. Die wundervolle Julia – seine Ehefrau. Es war kaum zu glauben.

„Hey, Mann.“ Sein Freund und Trauzeuge Frank hob die Hand, um ihn abzuklatschen. „Alles okay bei dir?“

Douglas nickte. Er fühlte sich wie in einem Traum: Da war er in seinem schwarzen Smoking und dem gestärkten weißen Hemd. Die glänzend polierten Schuhe lugten unter der schwarzen Hose hervor. Frank, ebenfalls prächtig herausgeputzt, war an seiner Seite, treuer Freund, der er war. War das alles wirklich wahr?

Auf der anderen Seite der Tür, hinter der er wartete, hörte er die ersten Töne der Orgel, die zur Unterhaltung der Gäste spielte, um die Wartezeit bis zu dem großen Ereignis zu verkürzen. Die Kirche bot den passenden Rahmen – ein stabiles altes Steingebäude. Schon als Kind hatte er hier die Gottesdienste besucht. In dem liebevoll gepflegten Kirchgarten hatte er früher gespielt und sich manchmal auch versteckt, wenn er keine Lust hatte, zur Sonntagsschule zu gehen.

Douglas und Frank saßen im Arbeitszimmer des Pastors. Pastor Higgins wartete mit seinem Vater vor der Tür. Sie würden ihm Bescheid geben, wenn es an der Zeit war und die Trauung beginnen konnte.

Frank grinste. „Noch ist es nicht zu spät abzuhauen.“ Er deutete augenzwinkernd zur Tür.

Frank und Douglas kannten sich schon ewig. Sie waren sich im College begegnet und hatten viel miteinander erlebt. Niemand kannte ihn besser als Frank. Niemand konnte ihn besser zum Lachen bringen als sein Freund.

Douglas schüttelte den Kopf, und ein Lächeln vertrieb die Anspannung. „Niemals“, erwiderte er. Er wollte Julia heiraten – und zwar mehr als alles andere auf der Welt.

Die Musik tat seinen Nerven gut. Beim nächsten Lied würden sie gemeinsam das Arbeitszimmer verlassen. Pastor Higgins würde Douglas, seinen Vater und Frank in die Kirche führen.

Entschlossen versuchte er, sich zu beruhigen. Warum nur war er so nervös? Seine Gedanken wanderten zu Julia. Julia und er waren wie füreinander gemacht. Kennengelernt hatten sie sich beim Statistikkurs im College. An einem Tag, als der Professor ihnen etwas über Wahrscheinlichkeitsrechnung beizubringen versuchte, hatte Douglas hinter ihr gesessen. Er hatte auf einen Zettel geschrieben: „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass du mit mir ausgehst?“ Diesen Zettel hatte er Julia zugeschoben.

Sie hatte ihn aufgefaltet. Da er hinter ihr saß, hatte er ihr Gesicht nicht sehen können. Eindringlich hatte er auf ihren Hinterkopf gestarrt. Sie schien keinen einzigen Muskel zu bewegen, falls das überhaupt möglich war. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch keinen einzigen Muskel bewegte, lag bei 0 %.

Plötzlich kam er sich blöd vor. War das vielleicht eine plumpe, peinliche Anmache gewesen? Ungeduldig wartete er auf ihre Reaktion. Geduld war nicht seine Stärke, und schon diese kurze Wartezeit stellte eine echte Herausforderung für ihn dar. Endlich nahm Julia ihren Stift zur Hand und begann zu schreiben. Douglas hielt den Atem an. Julia war schnell fertig. Vielleicht hatte sie nur „Nein“ geschrieben …? Aber auch ein Ja war schnell hingekritzelt.

Douglas verdrehte die Augen. Er verhielt sich wie ein Grundschüler.

Sie warf den Zettel über die Schulter zu ihm zurück. Er landete auf seinem Pult. Seine Hände wurden feucht, als er ihn auffaltete. Er rechnete fest damit, dass ihm entweder ein „Ja“ oder ein „Nein“ entgegenblickte, aber es war keins von beidem. Da stand „100 %“. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit ihm ausgehen würde, betrug 100 %! Das war also ein Ja.

Er steckte den Zettel mit zitternden Fingern in seine Tasche und konnte für den Rest des Seminars an nichts anderes mehr denken.

Nach dem Unterricht wartete er im Flur auf sie. „Und?“, fragte er, als sie durch die Tür kam.

„Was, und?“ Ihre Augen blitzten. Wenn sie lächelte, zeigten sich in beiden Wangen Grübchen, und gerade in diesem Augenblick lächelte sie. Sie lächelte ihn strahlend an.

„Und, gehst du mit mir aus?“, platzte er heraus.

„Ja.“

„Jetzt gleich?“

„Jetzt?“

Das war unklug gewesen. Warum konnte er nicht einfach den Coolen spielen und sagen, er würde sie anrufen, oder irgendetwas anderes, das seine Ungeduld nicht so offensichtlich machte?

Sie schwieg. Aber er hatte sich bereits zu weit vorgewagt, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. „Auf einen Kaffee?“, fragte er vorsichtig.

„Gern.“

Sie hatte sich bei ihm untergehakt, und gemeinsam waren sie zur Cafeteria und auf den Rest ihres Lebens zugeschlendert.

Von da an waren sie unzertrennlich gewesen.

Was beunruhigte ihn denn jetzt nur so?

Sein Gespräch mit Julia am Vorabend fiel ihm wieder ein. Das Probeessen war in einem Rausch von Geschmack und Gelächter und Gesprächen vergangen. Die Unterhaltung, die ihn beunruhigte, hatte vorher stattgefunden. Sie hatten sich in der Kirche getroffen, um die Trauzeremonie durchzugehen, und als sie nebeneinander vor dem Altar standen, gab es einen Augenblick, in dem sich Julias Augen mit Tränen füllten.

Was bedeuteten die Tränen? Douglas befand sich in absoluter Hochstimmung. Vielleicht waren es ja Freudentränen gewesen, aber tief in seinem Innern wusste er, dass es nicht so war.

Und als sie später die Stufen zu ihrem Elternhaus hochgingen, hatte sie ihm zugeflüstert: „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“

„Was meinst du?“

„Ich weiß nicht, ob ich gut genug für dich bin. Obwohl alle so nett zu mir sind und nur Gutes über mich sagen.“

„Aber all das ist doch wahr, Julia.“ Er hatte ihr tief in die Augen geblickt. „Du bist wunderschön, du bist großartig, und ich könnte mir niemand Besseren als meine Ehefrau erträumen.“

Ihr niedergeschlagener Blick bei seinen Worten war ihm nicht entgangen. „Ich bin so unsicher“, erwiderte sie.

„Ich liebe dich, Julia.“

„Das weiß ich, aber …“

Als er jetzt im Arbeitszimmer des Pastors stand, merkte er, wie nervös ihn ihre Unsicherheit gemacht hatte. Sie hatte Zweifel.

Was, wenn sie kalte Füße bekam und gar nicht zur Trauung erschien?

Julia stand mit ihren Brautjungfern vor dem Spiegel. Das Kleid mit seinem lockeren und doch eleganten Schnitt war wie für sie gemacht. Ganz besonders gefielen ihr die in geraden Reihen aufgenähten Perlen. Festlich, aber nicht kitschig. Auch an den Blumen und dem Schleier war nichts auszusetzen. Sie hatte alles ausgesucht. Warum nur war da in ihr dieser Zweifel, diese nagende Unsicherheit? Dabei war sie in einem ganz sicher: Sie liebte Douglas.

Beim Probeessen am Vorabend hatte Douglas’ Mutter Dias von ihrer Familie gezeigt, die sie zusammengestellt hatte. Auf den Fotos war eine Bilderbuchfamilie zu sehen. Douglas’ Mutter strahlte in die Kamera, sein Vater war immer in der Nähe. Lustige Schnappschüsse von Douglas in Kostümen zu Halloween und in den unterschiedlichsten Sporttrikots. Immer zusammen mit seinen Eltern.

Die Fotos aus Julias Leben sahen ganz anders aus. Auf den meisten war sie allein. Die Schnappschüsse von Schul- und Sportveranstaltungen hatte ihre Haushälterin aufgenommen. Ihr Vater, der General, war nie dabei gewesen. Und ihre Mutter kannte sie gar nicht. Fotos von Julia und ihrem Vater zeigten sie immer auf Flughäfen bei einer langen Reihe von Abschieden und Begrüßungen. USA, Deutschland, Afghanistan. Ihr Leben war ganz anders verlaufen als das von Douglas. War sie überhaupt in der Lage, eine so tiefgehende Beziehung zu führen, eine Ehe zu leben, eine Familie zu gründen? Eine Bilderbuchfamilie wie die von Douglas? Er brauchte eine Frau, die so freundlich und beständig war wie er. Und Julia war einfach nicht gut genug für ihn.

Die Hochzeitsplanerin mahnte zum Aufbruch und führte die Mitwirkenden hinaus ins Vestibül. Zuerst Douglas’ kleine Nichte, deren überbesorgte Mutter nicht von ihrer Seite wich. Das Kind marschierte mit seinem Körbchen voller Rosenblätter los. Dann folgte der kleine Timmy, der Sohn ihrer Kusine, der das Ringkissen trug. Auch er setzte sich in Bewegung.

Lindy drückte ihre Hand. Julia und sie waren schon so lange befreundet. Gemeinsam hatten sie viele Hochzeiten erlebt, und … Eine Welle der Übelkeit stieg in Julia hoch. Jetzt würde sie gleich an der Reihe sein. Die Hochzeitsplanerin würde kommen und sie aus dem Raum führen. Ihr Vater würde an ihre Seite treten und sie durch den Mittelgang der Kirche zu Douglas geleiten. Und dann … dann würde es so weit sein.

Musik drang aus dem Kirchenschiff zu ihr herüber, und sie umklammerte ihren Brautstrauß so fest, dass die Blumenstiele sicher schon zerquetscht wurden.

Sollte sie es tun? Natürlich! Wie könnte sie es nicht tun?!

Douglas war so liebevoll und beständig. Und sie nicht.

Sollte sie? Oder sollte sie nicht?

Konnte sie überhaupt noch einen Rückzieher machen?

Mit zitternden Fingern hob sie das Programmheft. Die Worte, die sie gemeinsam so sorgfältig ausgesucht hatten, schienen sie nun zu verspotten.

Dies war der Tag, von dem sie seit ihrer Kindheit geträumt hatte. Doch nun, da dieser Tag angebrochen war, quälten sie so unendlich viele Zweifel und Fragen. Wenn ihre Mutter nicht gestorben oder ihr Vater häufiger zu Hause gewesen wäre, hätte sie vielleicht eher gelernt, anderen Menschen zu vertrauen. Aber alle, die sie geliebt hatte, hatten sie verlassen, und irgendwie wartete sie nur darauf, dass Douglas auch fortging.

Sie liebte ihn zu sehr.

Wenn sie ehrlich war, beneidete sie Douglas glühend darum, dass er so viel Sicherheit ausstrahlte. Er war sich seines Wertes und seiner Überzeugungen so gewiss. Seine Familie war wunderbar, und sie hatten auch Julia liebevoll in ihrer Mitte aufgenommen.

Ja, nach außen gab Julia sich ziemlich gelassen und selbstbewusst. Das hatte sie lernen müssen. Vierundzwanzig Mal waren sie umgezogen, bedingt durch den Beruf ihres Vaters. Sie warf ihm das nicht vor. So war es nun mal, wenn man in der Armee war. Aber die ständigen Umzüge waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Jedes Mal waren die zarten Wurzeln, die sie am letzten Ort geschlagen hatte, wieder ausgerissen worden. Jedes Jahr eine neue Schule. Jedes Jahr neue Klassenkameraden, die sie misstrauisch beäugten. Am Ende machte es sie tatsächlich irgendwie stark. Aber in ihrem Inneren blieb eine große Leere.

Und hier, auf der Schwelle zu einem neuen Leben jenseits aller Einsamkeit, holte ihre Vergangenheit sie wieder ein.

Douglas war so gut und stark. Er hatte etwas Besseres verdient.

Wie konnte sie ihn heiraten? Es wäre besser für ihn, wenn sie es nicht täte. Das musste sie ihm sagen. Doch dann stellte sie sich vor, wie er in der Kirche auf sie wartete, und sie wusste, dass sie es nicht übers Herz bringen könnte, wenn sie ihm in die Augen sah.

Sie musste hier weg. Ihr blieb keine andere Wahl.

Tränen brannten in ihren Augen. Ihr selbstsicheres Spiegelbild passte nicht zu dem ängstlichen Mädchen, das sie in Wahrheit war.

Die Zweifel siegten. Als die letzte Brautjungfer den Raum verlassen hatte, schloss sie die Tür. Panik stieg in ihr hoch. Sie konnte es einfach nicht …

Julia stürzte zur Hintertür in den Garten und rannte los.

„Es ist so weit.“ Pastor Higgins öffnete die breite Holztür zum Altarraum und setzte sich in Bewegung. Lächelnd richtete Douglas seine Fliege. Er war sowas von bereit. Endlich, endlich war es so weit.

Pastor Higgins zwinkerte ihm zu. Sein Vater schüttelte ihm die Hand und umarmte ihn fest. Frank klopfte ihm ermutigend auf die Schulter.

Es konnte losgehen.

Douglas atmete tief durch. Langsam schritt er zu der Stelle, die die Hochzeitsplanerin mit einem kleinen Stück Klebeband markiert hatte. Wie angewiesen stellte er sich auf das Klebeband. Die Musik brandete auf. Der Kragen wurde ihm eng. Dies war der Augenblick, auf den er so lange gewartet hatte.

Verschwommen nahm er die Gesichter der in der Kirche versammelten Hochzeitsgäste wahr: Seine Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins, Freunde und Nachbarn. Alles nur strahlende Gesichter.

Douglas’ Blick wanderte durch den Mittelgang. Von der Stelle, an der er stand, bis zum hinteren Teil der Kirche war ein roter Teppich ausgerollt worden. Julia hatte auf keinen Fall gewollt, dass er sie vor der Trauung sah. In diesem Punkt war sie unnachgiebig gewesen. Andere Paare verabredeten sich vor der Trauung mit dem Fotografen, um die Hochzeitsfotos zu machen, aber sie nicht.

In dieser Hinsicht war Julia altmodisch.

„Das kommt gar nicht in Frage“, hatte sie gesagt, als die Hochzeitsplanerin diesen Vorschlag machte. „Wenn ich durch den Mittelgang der Kirche auf dich zukomme, sollst du mich das erste Mal sehen. So habe ich mir das immer vorgestellt.“

„Dann werden wir es auch so machen“, hatte er entschieden.

Da. Das Blumenmädchen setzte sich in Bewegung und trippelte mit kleinen Schritten über den roten Teppich. Ein allgemeines Raunen ging durch das Kirchenschiff. Die Mutter der Kleinen hockte vorn und winkte sie weiter.

Es war so weit. Die Hochzeit hatte begonnen.

Der kleine Junge mit dem Ringkissen aus Satin folgte. Er sah etwas ängstlich aus, bis er seine Eltern entdeckte, die ebenfalls vorn auf ihn warteten.

Die Trauzeugen schritten zu zweit nebeneinander durch die Kirche zum Altar.

Douglas’ Blick wanderte in den hinteren Teil der Kirche. Jetzt würde Julia bald hereinkommen. Nicht wahr?

Was, wenn sie nicht da ist?

Woher kam denn das? Dieser Gedanke war total abwegig. Natürlich würde sie da sein. Sie würde am Arm ihres Vaters, des Generals, über den roten Teppich schreiten. Zumindest hoffte er das … Erneut ergriff diese Unsicherheit von ihm Besitz.

Entschlossen blendete er den absurden Gedanken aus. Natürlich würde sie zur Trauung erscheinen. Warum zweifelte er überhaupt daran?

Vor Julia hatte er keine richtige Beziehung gehabt. Er hatte zu den Strebern gehört, die ihre Nase ständig in ihre Bücher steckten oder vor dem PC hingen. Doch dann war Julia in sein Leben getreten und hatte eine Tür zu tausend Möglichkeiten aufgestoßen. Von seiner Veranlagung her war er eher zurückhaltend, aber Julia war anders, offener und unternehmungslustiger. Doch auf eine Art, die ihn sanft mitnahm, ohne ihn zu überfordern. Sie ergänzten sich, fühlten sich wohl miteinander. Es war, als wären sie immer zusammen gewesen und gehörten einfach zusammen.

Die Brautjungfern nahmen hinten in der Kirche Aufstellung. Gleich würden sie nach vorn kommen und sich auf ihre Plätze begeben.

Die Musik brach ab. Doch das überraschte Douglas nicht; es war so geplant. Nach einer kurzen Pause würde die Musik wieder einsetzen, und die Brautjungfern würden sich in Bewegung setzen.

Doch die Pause zog sich hin.

Länger und länger.

Zu lange.

Douglas merkte, wie sein Herz schneller schlug. Seine Nervosität stieg. Seine größte Angst, die er sich nicht mal bewusst eingestanden hatte, wurde Wirklichkeit: Irgendetwas stimmte nicht.

Julia eilte mit angehobenem Rock die Treppe hinter der Kirche hinunter. Ihre Handflächen waren feucht. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie kannte das Gefühl: Eine massive Panikattacke stand kurz bevor. Wie gehetzt stürmte sie in den Garten, den sie immer geliebt hatte. Und weiter zu der kleinen alten Kapelle, die vor langer Zeit zu Gunsten der neuen Kirche aufgegeben worden war.

Sie brauchte bestimmt nur ein paar Minuten, um sich zu sammeln. War es wirklich richtig? Konnte, sollte sie Douglas heiraten? Sie musste nachdenken. Sie brauchte Zeit! Auch wenn sie sie eigentlich nicht hatte. Es musste einfach sein.

Sie betrat die alte Kapelle. Drinnen war es dunkel und kühl und roch nach Zedern und Kiefern. Der Geruch war tröstlich und beruhigend. Sie ließ sich auf einer der alten Bänke nieder und lauschte. Bestimmt würde man schon bald nach ihr suchen. Nein, so würde sie keinen klaren Gedanken fassen können.

Schnell stand sie auf und ging zu der kleinen Kammer hinter dem Altar hinüber. Sie brauchte einen ungestörten Augenblick, um ihrer Verwirrung Herr zu werden. Hastig zog sie die Tür hinter sich zu. Mit einem Klicken fiel sie ins Schloss. Julia lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und atmete tief durch. Ja, das war gut. Ihr Herzschlag beruhigte sich, und Gelassenheit breitete sich in ihr aus.

Krieg dich mal wieder ein! Du verhältst dich dumm und reagierst total über, sagte sie sich im Stillen. Noch einmal tief durchatmen, dann stieß sie sich von der Wand ab. Es war Zeit. Sie würde jetzt zurückgehen. Noch war es nicht zu spät.

Sie streckte ihre Hand aus, um die Tür zu öffnen. Aber … der Türknauf drehte sich zwar, doch nichts geschah. Sie versuchte es erneut und spürte, wie es vor Schreck in ihrem Nacken prickelte und ihre Knie weich wurden. Die Tür ließ sich nicht mehr öffnen. Ihre Hände glitten über das raue Holz der Tür und sie sah sich hektisch um – vielleicht gab es einen anderen Weg, um die Tür zu öffnen oder den Raum zu verlassen. Diese alten Gemäuer hatten doch immer mehrere Zugänge …

Doch es gab nur diese eine Tür, und an dieser Tür gab es nichts als den sich nutzlos drehenden Türknauf. Jetzt stieg kalte Angst in ihr auf. Sie stemmte sich gegen die Tür, rüttelte am Knauf, drehte ihn hierhin und dorthin und spürte nach, ob sich vielleicht irgendetwas bewegte, irgendein innerer Mechanismus einrastete. Doch nichts.

Sie probierte es nochmal mit ganz sanftem Druck. Es rührte sich nichts. Dann wieder fester. Immer noch nichts. Die Enge in ihrer Brust wuchs sich zu einer richtiggehenden Panikattacke aus, während sie mit beiden Fäusten gegen die Tür hämmerte.

„Hilfe!!! Ich bin hier drin! Douglas!!!“

Doch nichts geschah. Niemand kam.

Das durfte doch nicht wahr sein! Wie hatte es bloß zu dieser Situation kommen können?

„Hilfe“, rief sie noch einmal in die Leere hinein. Die dröhnende Stille um sie herum sprach für sich. Es war niemand da, der sie hören konnte.

Was nun?

Hier in der Dunkelheit des fensterlosen Kämmerchens konnte sie nur eines tun – hoffen und beten.

Douglas seufzte zittrig. Seine schlimmsten Befürchtungen trafen anscheinend ein. Er starrte hinunter auf seine blitzblank polierten Schuhe.

Was war nur geschehen? Was ging in Julia vor? Sie hatte doch nicht ernsthaft kalte Füße bekommen? Nein, sicher hatte sich nur irgendetwas an ihrem Kleid oder ihrem Schleier verhakt oder ihre Schuhe hatten einen Fleck, der noch schnell entfernt werden musste, oder etwas in der Art … nicht wahr?

Aber was, wenn …

Julia und er waren sehr unterschiedlich, das stimmte. Er hatte sein ganzes Leben lang an einem Ort gelebt – in dieser kleinen Stadt, wo er jeden kannte und jeder ihn kannte. Julia war mit ihrem Vater ständig von Ort zu Ort gezogen.

„Ich bin ein Armeekind“, hatte sie ihm einmal erzählt, als er sie gefragt hatte, woher sie käme. „Ich komme von nirgends oder von überall.“ Und dabei hatte sie gelacht, aber sie hatte nicht wirklich darüber reden wollen.

Vielleicht war das der Grund für seine Zweifel.

Hab Geduld, sagte er sich. Nur keine Panik.

Am liebsten wäre er hinausgerannt und hätte nachgesehen, was los war. Aber das ging natürlich nicht, und außerdem würde Julia bestimmt gleich hereinkommen und alles würde seinen planmäßigen Gang gehen.

Geduld. Von Natur aus hatte er nicht viel davon, aber Gott hatte ihn in den letzten Jahren Geduld gelehrt. Er würde sich nicht von diesem Fleck rühren, bis Julia zu ihm kam. Sie zwingen oder überreden, wenn sie tatsächlich plötzlich Zweifel bekommen hätte, konnte er sowieso nicht. Sie sollte aus freien Stücken zu ihm kommen.

„Habt Geduld miteinander“, hatte Pastor Higgins bei dem Traugespräch gesagt, als sie sich über die Bibelstelle aus dem ersten Korintherbrief, Kapitel 13, unterhalten hatten. Diese berühmten Verse über das Wesen der Liebe hatten ihnen so gut gefallen, dass sie sie als Trauspruch ausgewählt und auf dem Programmheft abgedruckt hatten.

Die Liebe ist geduldig.

Diese Worte ließen Douglas nicht mehr los. Von Natur aus war er ein äußerst ungeduldiger Mensch. Durch diese Ungeduld hatte er vieles bekommen, was er wollte. Weil er es nicht abwarten konnte, in den Beruf einzusteigen und sich eine Zukunft aufzubauen, hatte er das College ein Jahr früher abgeschlossen als alle anderen. Als die Beförderungen und Gehaltserhöhungen in seiner Firma zu lange auf sich warten ließen, hatte er die Stelle gewechselt, und das gleich zweimal. Jedes Mal hatte er ein höheres Gehalt und eine bessere Position ausgehandelt. Ja, er wartete nicht gern.

Die Liebe ist geduldig.

Die Hochzeitsplanerin trat in den Gang. Sie zuckte die Achseln und ließ ihre Hand über dem Kopf kreisen, um den Organisten aufzufordern, weiterzuspielen. Die Musik setzte erneut ein, aber es war nicht die Einzugsmusik für die Brautjungfern. Sie standen immer noch im Vestibül und wurden langsam nervös.

Irgendetwas stimmte nicht.

Doch dieses Mal hatte er keine andere Wahl: Er musste warten. Diese Situation konnte er nicht verbessern, kontrollieren oder manipulieren. Er konnte nichts erzwingen. Dieses Mal musste er auf die Liebe warten.

In der kleinen Kammer war es dunkel, auch wenn ihre Augen sich langsam auf das Dämmerlicht einstellten und sie zumindest Konturen wahrnehmen konnte. Julia zwang sich, ruhig zu atmen und sich zu sammeln. Denk nach! Dies war der glücklichste Tag ihres Lebens, und sie saß hier fest. Und das Schlimmste war: niemand wusste, wo sie steckte. Was würden die anderen denken? Würden sie annehmen, sie hätte kalte Füße bekommen? Oh nein, der arme Douglas! Sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit ihm am Abend zuvor. Da hatte sie tatsächlich Zweifel gehabt.

Erneut stemmte sie sich gegen die geschlossene Tür. Sie musste hier raus. „Hilfe!!!“, rief sie und trommelte gegen die Tür. „So helft mir doch!“

Nichts. Sie war viel zu weit von der Kirche entfernt, und die massive Bauweise der Kapelle tat ein Übriges. Niemand konnte sie hören.

Wie unglaublich dumm das alles von ihr gewesen war! Sie dachte an ihren Vater, der in der Kirche auf sie wartete. An ihre Freunde. An Douglas, vor allem dachte sie an Douglas. Könnte er ihr jemals vergeben? Hatte sie gerade das Beste zerstört, das sie je erlebt hatte?

Douglas vermied es, in das Meer von Gesichtern zu schauen, die ihn beobachteten. Seine Mutter hielt den Kopf gesenkt, vermutlich, weil es ihr ähnlich ging. Das Gesicht seines Vaters war gerötet. Er hatte für Enttäuschungen nichts übrig.

Am liebsten wäre Douglas davongelaufen und dieser peinlichen Situation entflohen. Er steckte den Finger in seinen Hemdkragen und zog daran, während er innerlich nach einer Fluchtmöglichkeit suchte.

Aber Julia … Was war mit Julia?

Vielleicht hatte Gott einen besseren Weg.

Er dachte daran, wieviel Geduld Gott mit ihm gehabt hatte. In seinem Bestreben, immer der Erste zu sein, hatte er kaum Muße gehabt, sich mit höheren Dingen zu beschäftigen. Weil er unbedingt Erfolg haben wollte, hatte er auch an Sonntagen gelernt, wenn seine Freunde in den Gottesdienst gegangen waren.

Es hatte Jahre gedauert, bis er zu Gott zurückgekommen war. Es war nach seiner letzten Beförderung geschehen. Anfangs war er total euphorisch gewesen: Er hatte es geschafft. Er hatte alle Verkaufsrekorde für das Jahr gebrochen. An jenem Nachmittag hatte er an seinem Schreibtisch gesessen, und ganz langsam war das gute Gefühl abgeflaut, und er hatte gedacht: „Na und?“

Was hatte er nun davon? Verblüfft hatte er die Leere registriert, die er nun empfand, wo er alles erreicht hatte, wofür er so hart gearbeitet hatte. Alle in seinem Umfeld beneideten ihn um seinen Erfolg, aber innere Zufriedenheit stellte sich nicht ein. Als er an jenem Tag allein an seinem Schreibtisch gesessen hatte, kam er zu dem Schluss: Das kann nicht alles sein. Er erinnerte sich an den Glauben seiner Kindheit und daran, welche Freude er empfunden hatte, weil er wusste, dass Gott ihn liebte.

Traurigkeit erfüllte ihn. „Es tut mir leid, Gott“, betete er. „Ich habe ganz vergessen, was wichtig ist. Ich habe dich vergessen.“

Und langsam spürte er in sich einen tiefen Frieden und Liebe aufblühen. Er hatte Gott wiedergefunden, als er überhaupt nicht damit gerechnet hatte. Und auf einmal wurde ihm klar, dass Gott die ganze Zeit auf ihn gewartet hatte.

Gott hatte Douglas nicht dazu gezwungen, ihn zu lieben. Und ebenso konnte Douglas Julia nicht zwingen, ihn zu lieben. Gott hatte gewartet. Und Douglas würde ebenfalls warten.

Still für sich sprach Douglas ein Gebet. Er dachte an die Verse auf dem Programmheft. „Herr, bitte hilf mir dabei, mich in Geduld zu üben.“

Was, wenn das nicht funktionierte?

„Ich gebe diese ganze Situation an dich ab.“

Er öffnete die Augen, fest entschlossen zu warten. Ohne seine Braut würde er sich nicht vom Fleck rühren. Egal, wie lange es dauerte, er würde geduldig ausharren.

Er schob noch ein weiteres Gebet nach. „Was auch immer passiert, Herr, lass deine Liebe den Sieg davontragen. Lass Julia deine Liebe spüren. Lass die Menschen, die hier vor mir sitzen, deine Liebe spüren. Mich auch. Lass mich deine Liebe spüren.“

Ohne Scham blickte er sich in der Kirche um und wartete weiter.

Die Liebe ist geduldig.

Gott ist geduldig, und ich werde auch geduldig sein.