Arnold Retzer

Systemische Paartherapie

Konzepte – Methode – Praxis

Klett-Cotta

IMPRESSUM

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96204-8

E-Book: ISBN 978-3-608-11001-2

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20366-0

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Die Liebe, zwangsjackenschön.

Paul Celan

INHALT

Am Anfang – ein Ende

I. Paare, Ehen und Familien: Sinn und Kommunikation

1. Die Liebesbeziehung

1.1. Die Liebesbeziehung: Ein sinnstiftendes Kommunikationssystem

1.2. Liebesmythen und ihre Funktionen

1.2.1. Die exklusive Funktion des Liebesmythos

1.2.1.1. Die Ausgrenzung von Gesetz und Gebot

1.2.1.2. Die Ausgrenzung von herrschender Moral, Politik und Vernunft

1.2.1.3. Die Ausgrenzung von Familie

1.2.1.4. Die Ausgrenzung von Herrschaft und Beherrschung

1.2.1.5. Die Ausgrenzung von Berechenbarkeit, Wahrscheinlichkeit und Zufall

1.2.1.6. Die Ausgrenzung von Zeit, Tod und göttlicher Gnade

1.2.1.7. Die Ausgrenzung von differenzierten Funktionen

1.2.2. Die inklusive Funktion des Liebesmythos

1.2.2.1. Die Wiederverzauberung der entzauberten Welt

1.2.2.2. Die Selbstaneignung durch Besessenheit

1.2.2.3. Gesehen werden, um zu sein

1.2.2.4. Vom Verlust zum Gewinn, vom Verrat zum Geheimnis

1.3. Der Kommunikationscode der Liebe

1.4. Wenn die Liebe zum Problem wird: Sieben Liebesprobleme

Liebesproblem 1: Verpflichtung, richtig zu lieben

Liebesproblem 2: Erwiderte Liebe und Gewißheit

Liebesproblem 3: Furcht vor der Wunscherfüllung

Liebesproblem 4: Auf Leben und Tod

Liebesproblem 5: Aufrichtigkeits- und Offenbarungsverpflichtung

Liebesproblem 6: Liebesehe

Liebesproblem 7: Sexualität und Liebe

2. Die Partnerschaft

2.1. Das Geheimnis von Anfang und Ende: Schicksal oder Entschluß?

2.2. Bekenntnis oder Geständnis?

2.3. Absolute Unverträglichkeit oder relative Verträglichkeit?

2.4. Geschenkt oder getauscht?

2.5. Unverkäufliches

2.6. Zweierlei Gefährdungen

2.7. Sozial integrativ oder exklusiv asozial?

3. Die Liebe als Lösung: Unterschiede

3.1. Der existentielle Unterschied

3.2. Der kommunikative Unterschied

3.3. Der Erlebnis-Unterschied

3.4. Der Sinn-Unterschied

4. Vom Vertragen zum Ertragen und warum das Glück nicht glücklich macht

II. Das Kunsthandwerk des systemischen Paartherapeuten

1. Die Kunst der Störung

2. Das Handwerk der zirkulären Befragung

3. Das Handwerk der lösungsorientierten Befragung

4. Die Kunst der Störung problematischer Muster

5. Die Kunsthandwerkstatt: Das paartherapeutische Setting

6. Das Handwerk der Neutralität

6.1. Die soziale Neutralität

6.2. Die Konstruktneutralität

6.3. Die Veränderungsneutralität

6.4. Die Methodenneutralität

6.5. Die Systemneutralität

7. Die Kunst der Beschreibung

8. Die Kunst der Einladungen: Einladungen erkennen, bevor man sie annimmt

9. Die Kunst der Unterscheidung

10. Die Kunst der Triangulation: Was tun?

EXKURS I:
Dreiecksgeschichten über Dreiecksgeschichten oder: Wo das Abwesende besonders anwesend sein kann

11. Die Kunst des paartherapeutischen Erstgesprächs

11.1. Vorbesprechung und Hypothesenbildung

11.2. Kontextmarkierung durch Settinginformation

11.3. Klärung des Überweisungskontextes

11.4. Auftragsklärung

11.5. Bisherige Lösungsversuche

11.6. Das Lösungswunder und die Veränderungsneutralität

11.7. Die Konstruktion von Triaden

11.8. Auslösesituationen

11.9. Interaktionelle Konsequenzen von Veränderungen

11.10. Theorien und Erklärungen des Paares

11.11. Erzählbarkeit des Liebesmythos

11.12. Exploration der Zukünfte

11.13. Neutralitätsprüfung

11.14. Hypothetische Vorwegnahme einer Intervention

11.15. Die letzte Frage

11.16. Reflexions- und Strategiepause

11.17. Abschlußintervention

11.18. Nachbesprechung und Dokumentation

EXKURS II:
Wechselfälle eines Erstgesprächs – Erst wenn Du nicht mehr…, dann auch ich nicht mehr…

12. Die Kunst der Übergänge

13. Die Kunst des Scheiterns

III. Womit auch zu rechnen ist

1. Sex

1.1. Was sind sexuelle Phänomene?

1.2. Sexuelle Probleme: Plus- und Minussymptome

1.3. Öffentlich – privat

1.4. Der interaktionelle Kontext sexueller Problemproduktion

1.5. Erklärungen für sexuelle Probleme

1.5.1. Paarprobleme erzeugen sexuelle Probleme, sexuelle Probleme erzeugen Paarprobleme

1.5.2. Die politisch korrekte, respektvolle und ethisch einwandfreie Sexualität

1.5.3. Das sexuelle Spielfeld für das Beziehungsspiel

1.5.4. Der sexuelle Liebestest

1.5.5. Sexualität als Mittel und Zweck – gleichzeitig

1.5.6. Die aufklärende Aussprache über Sexualität

1.5.7. Die Sicherstellung sexueller Spontaneität

1.6. Therapeutische Konsequenzen

1.6.1. Die Beschreibung des Produktionsprozesses sexueller Probleme

1.6.2. Die Therapie der sexuellen Minussymptomatik

1.6.3. Die Therapie der sexuellen Plussymptomatik

1.6.4. Die Therapie der sexuellen Mischsymptomatik

2. Affären

2.1. Der Unaufrichtigkeitsverdacht: Fakten zwischen Wahrheit und Lüge

2.2. Die Rolle der Paartherapie im Affärengeschehen

2.3. Das Chaos der akuten Krise

2.4. Die zielorientierte Affärenbearbeitung

2.5. Nach der Affäre

2.5.1. Ein Paar – unterschiedliche Ziele – vom Ende zum Anfang

2.5.2. Über die Kunst, sich bei der Sinnsuche zu verlaufen

2.5.3. Der Ausgleich – oder: Was kostet eine Affäre?

2.5.4. Das Geschenk des Vergebens und der Fluch der Freiheit

2.6. Am Ende: die Affäre – Am Beginn: die Affäre

3. Konflikte

3.1. Konfliktkulturen

3.1.1. Die Harmonieerzeugungskultur

3.1.2. Die Konfliktlösungskultur

3.1.3. Die Konfliktvermeidungskultur

3.2. Die Kunst der Produktion unproduktiver Konflikte

3.3. Therapeutische Konsequenzen

3.3.1. Therapie oder Kontrolle?

3.3.2. Neutralität sichern!

3.3.3. Extrempositionen besetzen!

3.3.4. Hypothetische Zukünfte!

3.3.5. Fragen stellen – Antworten meiden!

3.3.6. Eskalationsmuster nutzen!

3.3.7. Botschaften splitten!

3.3.8. Dissoziation erzeugen!

3.3.9. Tausch verhandeln!

3.3.10. Höhere Mächte einführen!

3.3.11. Kleine Störungen einführen!

3.3.12. Lachen!

3.4. Der pragmatische Konsens

IV. Entwicklungsphasen von Paarbeziehungen

1. Orientierungsphase: Wo will ich hin?

1.1. Die Sicherstellung des Bekannten: Nur nichts Neues

1.2. Der große Unterschied: Alles neu

1.3. Mehrere sich ausschließende Ziele gleichzeitig

1.4. Bescheidene Ziele für anspruchslose Pragmatiker

2. Partnerwahl: zusammenkommen, verlieben, kennenlernen

3. Vertragsabschluß und Aktivitätskoordination

4. Erste Evaluation

5. Produktionsbeginn: Kinder, Karriere, Kapital…

6. Produktstabilisierung: Kinder und Karriere laufen, Kapital akkumuliert…

7. Produktautonomisierung

8. Pensionierung: Genuß oder Rache? Neuer Vertrag oder Kündigung? Organisation von Zukunft: Produktion von Pflege, Erbe…

9. Tod des Partners: Zwischen Erlösung und Lebensuntüchtigkeit

10. Am Ende – der Schluß aus dem Vorherigen

EXKURS III:
Wenn die Scheidung vor der Hochzeit kommt

Am Ende – ein Anfang?

Bibliographie

Sachregister

Informationen zum Autor

AM ANFANG – EIN ENDE

Paartherapien fangen an, wenn irgend etwas zu Ende geht oder zu Ende gegangen ist: Die Liebe ist zu Ende, der Spaß hat aufgehört oder man ist einfach mit seinem Latein am Ende. Paare kommen an irgendein Ende von irgend etwas, was der Anfang von etwas anderem sein kann, vielleicht etwas Neuem, vielleicht aber auch etwas Altem, aber inzwischen Verlorenem. Das Ende verbindet sich mit dem suchenden Blick, dem Blick nach vorn in das unbekannt Neue oder dem Blick zurück an den Anfang, als alles oder zumindest manches noch anders war. Paare beziehen sich also in dieser Situation des Endes auf etwas, was gar nicht da ist: auf Abwesendes. Das ist aber gar nicht so einfach bzw. geradezu unmöglich, denn wir brauchen, um uns auf Abwesendes zu beziehen, irgend etwas Anwesendes, das uns auf das Abwesende hinweist. Insofern ist das anwesende Ende der Hinweis auf einen abwesenden Anfang, sei dieser nun neu oder alt, er ist in jedem Fall nicht (mehr) da. Es steht also die Frage: wo? Die Antwort – soviel scheint schon klar – ist zumindest: anderswo! Das zu wissen ist nicht wenig. Nur dadurch kann etwas beginnen – wieder ein Anfang –, was für viele Paare und auch in vielen Paartherapien das Wichtigste nach dem Ende ist: das Suchen. Suchen ist nur möglich für jemanden, der den Unterschied kennt zwischen dem, was ist, was er sieht, und dem, was er nicht sieht, weil es beispielsweise noch nicht oder nicht mehr ist. Das Suchen kann erschwert, das Finden unmöglich sein, weil das, was man sucht bzw. zu finden hofft, nicht mehr existiert. Manchmal kann es aber auch sein, daß etwas anderes die Sicht verstellt, man das Gesuchte also nicht sehen kann und es deshalb auch nicht finden wird. Dann kann es gut sein, daß das die Sicht Verstellende nicht mehr da ist. Wenn es zu Ende ist, wird der Blick wieder frei auf das Gesuchte, und es kann vielleicht wieder ein Anfang gefunden werden. Ist dieser schließlich gefunden, kann es dem Finder völlig egal sein – und das ist es ihm auch meist –, wo er das Gesuchte gefunden hat, denn er ist ganz eingenommen von dem, was er gesucht und nun endlich gefunden hat.

In dem amerikanischen Spielfilm Don Juan de Marco1 werden diese Prozesse des suchenden und hoffentlich findenden Blickes von einem Ende auf einen Anfang poetisch-meisterlich und zugleich prosaisch-alltäglich dargestellt. Wahrscheinlich ist es ohnehin diese Mixtur, die den Film zu der wichtigsten Kunstform für Paare und deren Liebesglück und Liebesleid werden ließ, zumindest zur wichtigsten Quelle, aus der man noch Anregungen und Anleitungen für sein Liebesleben beziehen kann und bezieht. Gerade deshalb ist auch der Film Don Juan de Marco ein sowohl für Psychiater als auch für Paartherapeuten interessanter Lehrfilm. Aber natürlich auch ein für Paare und sogar für paartherapeutische Zwecke nutzbarer Film. Er erzählt unter anderem die Geschichte des Psychiaters Jan Mickler, der zehn Tage vor seiner Pensionierung den Fall eines jungen Mannes übertragen bekommt, der eine Zorromaske und ein schwarzes Cape trägt und in Latinodialekt behauptet, Don Juan de Marco und der größte Liebhaber der Welt zu sein.

Mickler ist fasziniert von Don Juans Überzeugungskraft und dessen wahnhafter Leidenschaft für die Liebe und die Frauen. Er läßt sich von seinem letzten Patienten anstecken, und es entstehen neue, fast schon vergessene, d.h. für verloren gehaltene Möglichkeiten. Eine davon ist der folgende Dialog zwischen Jan Mickler und seiner Frau. Um sich die Szene, besonders die Brisanz der dabei verwendeten Flug-Metaphern, voll und ganz erschließen zu können, muß man den Film eigentlich sehen. Hier kann daher nur mit ein paar szenischen Hinweisen nachgeholfen werden, um die Imaginationen des Lesers zu unterstützen. Jan Mickler wird von Marlon Brando dargestellt, und zwar in der Phase seines Lebens, in der er seine schauspielerischen Leistungen noch durch sein massives Übergewicht eindrucksvoll ergänzt. Seine Frau wird von Faye Dunaway gespielt, die gerade ihre Gartenarbeit unterbrochen hat und mit der Gartenschere in der Hand gegenüber ihrem Mann auf einem der Gartenstühle Platz nimmt, um kurz zu verschnaufen.

Faye Dunaway: Du gehst Montag in den Ruhestand. Was sollen wir dann machen?

Marlon Brando: Wir werden richtig abheben, das kann ich Dir flüstern.

Faye Dunaway: Ich muß Dir jetzt mal was sagen: Mir gefällt es hier, mir gefällt mein Garten.

Marlon Brando: Wir sollten die Luft erobern wie zwei Adler!

Faye Dunaway: (entsetzt und ungläubig, aber auch mit einer Spur von Mitleid) Daß ich in dieses Bild passe, glaube ich nicht.

Marlon Brando: Oh, was ist auf einmal nur los mit Dir? Was redest Du da?

Faye Dunaway: Ich weiß es auch nicht.

Marlon Brando: Ich will endlich herausfinden, wer Du bist.

Faye Dunaway: Du weißt doch genau, wer ich bin. Wer macht Dir schon seit 32 Jahren den Kaffee?

Marlon Brando: Paß auf! Das mit den schmutzigen Kaffeetassen brauchst Du mir nicht zu erzählen. Ich kenne die Fakten alle. Aber ich will jetzt endlich alles von Dir wissen.

Faye Dunaway: (wird ernst) Was möchtest Du wissen?

Marlon Brando: Ich möchte gerne wissen, was für Hoffnungen und was für Träume Du hattest, ehe sie uns unterwegs verlorengingen, weil ich mit den Gedanken nur noch bei mir selbst war.

Faye Dunaway: (lacht sich ihre Tränen weg)

Marlon Brando: Was ist so witzig?

Faye Dunaway: (weint) Ich dachte schon, Du fragst es nie.

Hier fragt einer nach dem Anfang, nach dem Verlorenen – vielleicht noch rechtzeitig vor dem Ende, vielleicht kann er aber auch erst nach dem Ende fragen. Und das ist einer, der Glück hat, denn er fragt jemanden, der nur darauf gewartet hat, gefragt zu werden.

Aber Glück gehört zum Finden dazu. Man kann sich ja bekanntlich nicht einfach entscheiden, zu finden. Man kann sich lediglich entscheiden, zu suchen. Aber wenn man das nicht tut – zu suchen, zu fragen –, wird man auch nicht finden. Das suchende Fragen ist die Bedingung, die herzustellen ist, daß man finden kann, aber nicht finden muß. Es kann auch sein, daß sich gar nichts einstellt. Das Suchen bleibt also riskant.

Mit dieser Bereitstellung von Bedingungen des Findens ohne Erfolgsgarantie beschäftigen sich Paartherapeuten zusammen mit den Paaren, die sie aufsuchen. In Paartherapien werden dazu eine Menge Fragen gestellt, und es stellen sich eine Menge Fragen zu den Phänomenen Paare, Paarbeziehung und Paartherapie.

Was ist eigentlich ein Paar oder eine Paarbeziehung? Wie kommen Paare zusammen? Wann und warum beginnen Paarbeziehungen und werden wie und wodurch aufrechterhalten oder auch wieder aufgelöst? Wie kommen Entwicklungen zustande, die nicht zu selten (vorläufig) in Haß, Verzweiflung und Elend enden? In welchen Zuständen befinden sich Paarbeziehungen, wenn sie sich dem Abenteuer einer Paartherapie bzw. einem Paartherapeuten aussetzen? Womit müssen also Paartherapeuten rechnen? Was passiert dann in Paartherapien und mit welchen Ergebnissen? Was sind die besonderen Herausforderungen und Aufgaben von Paartherapie? Wie hängt das, was Paartherapeuten tun, mit den Antworten zusammen, die Sie sich selbst auf all diese Fragen geben?

Diese Fragen sollen in diesem Buch mit Hilfe und unter Begleitung der Konzepte der modernen System- und Kommunikationstheorie gestellt und beantwortet werden, um das zu begründen, was Paartherapie sein kann. Die Antworten, die gefunden werden und in die paartherapeutische Praxis einfließen, begründen dann eine systemische Paartherapie. Dies erscheint um so notwendiger, als Paartherapie vielleicht zu den schwierigsten Therapieformen überhaupt gehört. Vielleicht auch deshalb, weil zwar schätzungsweise 80% aller Therapeuten in ihren Praxen Paartherapien durchführen oder zumindest mit Paaren reden, aber kaum einer dieser Therapeuten in einer entsprechenden paartherapeutischen Ausbildung eine paartherapeutische Kompetenz erworben hat. Die meisten praktizieren Paartherapie ohne eine entsprechende Ausbildung und ohne entsprechende Supervision durch jemanden, der etwas davon versteht. Das bedeutet nicht, daß auch diese Therapeuten keine effektiven Paartherapien mit ihren Klientenpaaren durchführen können, von denen die Paare ihren Nutzen haben. Es genügt ja eigentlich, wenn Paartherapeuten wissen, was sie tun sollen.

Sich in Paartherapie zu begeben, hat also nicht selten etwas von einem Glücksspiel. Man kann auch Glück haben: Denn natürlich kann es einem passieren, an einen Paartherapeuten zu geraten, von dem man profitieren kann. Um so notwendiger erscheint es aber angesichts des Bedarfs, der Nachfrage und den Angeboten an Paartherapie, diese auf eine konzeptuell und methodisch nachvollziehbare Basis zu stellen und damit Paartherapie zu einer lehr- und lernbaren professionellen Fertigkeit zu machen. In diesem Buch soll daher erklärt werden, warum etwas Bestimmtes getan wird und etwas anderes gerade nicht. Dadurch kann, indem therapeutisches Handeln verantwortet wird, verantwortlich gehandelt werden. Man muß dem nicht zustimmen, aber dann hat man wiederum die Verantwortung, auch dies zu begründen. Insofern dienen die gestellten Fragen auch der Entwicklung und Vermittlung einer solchen konzeptuell und methodisch fundierten Paartherapie, hier: einer systemischen Paartherapie.

Dazu werden in diesem Buch sowohl neuere systemtheoretische Konzepte zur intimen Kommunikation und zu den Sinnsystemen von Liebesbeziehungen und Partnerschaften dargestellt und von anderen sozialen Systemen wie z.B. der Familie abgegrenzt als auch die Entwicklungsprozesse von Paarbeziehungen unter dem Aspekt ihrer Risiken, Chancen und Herausforderungen für Paartherapeuten dargestellt, erklärt und bewertet. Von diesen systemtheoretischen Modellen der Intimität werden Methoden abgeleitet, die zum lehr- und lernbaren Kunsthandwerk des systemischen Paartherapeuten gehören. Die Methodik der systemischen Paartherapie beim Umgang mit häufigen klinischen Herausforderungen, vor die sich Paartherapeuten gestellt sehen, wie etwa sexuellen Problemen, dem Umgang mit Affären und eskalierenden Konflikten werden eingehend dargestellt und die spezifische Vorgehensweise erläutert. Die klinische Praxis der systemischen Paartherapie wird durch mehrere ausführliche Praxisexkurse mit teilweise wörtlich wiedergegebenen Therapietranskripten plastisch und nachvollziehbar vorgeführt und in ihren konzeptuellen und methodischen Grundlagen begründet.

I. PAARE, EHEN UND FAMILIEN: SINN UND KOMMUNIKATION

Welche Probleme löst die gute Ehe?

Max Frisch

Denkt man an das Paar, erscheint dieser Begriff zunächst selbstverständlich und nicht erklärungsbedürftig. Weitere passende Begriffe fallen einem ein: Paarbeziehung, Liebespaar, Ehepaar, Hochzeitspaar, Paarung, paaren … eben Paarbeziehungen. Man denkt an zwei Menschen, die irgendwie zusammengehören, miteinander verbunden sind und irgendeine Gemeinsamkeit haben.

So selbstverständlich Paarbeziehungen sind, so schwer haben sie es, vor allem in der noch immer weit verbreiteten juristischen Vertragsform der Ehe, als eigenständige und abgegrenzte Einheiten gesehen und erfahren zu werden. Meist wird die Ehe als ein Paarverhältnis betrachtet, das auf sein eigentliches Ziel verweist: die Familienbildung. Wenn der Zweck der Heirat in der Gründung einer Familie besteht, wird die Elternschaft zur Vollendung der Ehe. Entsprechend schwer hat sie es dann, sich von Familie abzugrenzen.2

Dabei zeigt ein nüchterner Blick darauf, wie Paare, Ehepaare und Familien tatsächlich leben, daß es hier dringend einer Emanzipation der Paarbeziehung von der Familie bedarf. Auch für Familien- und Paartherapeuten scheint eine konzeptuelle Abgrenzung der Paarbeziehung von der Familie so nützlich wie notwendig.

Schon einige wenige Tatsachen verweisen auf diesen Abgrenzungsbedarf:

Der Bedeutungsverlust der Ehe als Familienform geht aber keineswegs mit einem Bedeutungsverlust von Paarbeziehungen einher. Schon bei Jugendlichen, erst recht bei sogenannten Singles und auch bei älteren, erfahrenen Beziehungsveteranen, wird in jeder neuen Studie eine noch ausgeprägtere Sehnsucht nach einer festen Paarbeziehung festgestellt, als sie bisher schon ermittelt worden war. Es droht oder lockt also keineswegs die vereinsamende Vereinzelung von nur noch um sich selbst kreisenden Monaden. Die Paarbeziehung erfährt weiterhin eine kaum zu überschätzende Wertsteigerung. Das Liebespaar ist weit und breit der unangefochtene Sieger aller Beziehungs- und Organisationsoptionen. Es lohnt sich also – schon aus empirischen Gründen – genauer hinzuschauen, was das eigentlich sein kann: eine Paarbeziehung.

Paare und Paarbeziehungen werden alltagssprachlich als ein Gebilde betrachtet, dessen Elemente zwei Personen sind, die auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind und deshalb eine Paarbeziehung haben. Seitdem systemische Beschreibungen und Erklärungen populär geworden sind, wird (auch alltagssprachlich) von einem System oder gar Paarsystem gesprochen.

Die neuere Systemtheorie (Luhmann 1984, Retzer 2002) gründet dagegen auf anderen Vorstellungen von einem System. Hier wird Kommunikation zum Systemelement. Die Systemtheorie versucht zu beschreiben, was in solchen Paarbeziehungen geschieht, warum das, was dort beschrieben werden kann, geschieht, und wie das, was geschieht, von den unmittelbar Beteiligten selbst beschrieben, erlebt, erlitten und manchmal auch genossen wird. Dazu stellt die neuere Systemtheorie von einer personendefinierten Mitgliedschaft auf Sinn- und Funktionssysteme um. Nicht mehr Personen sind die Elemente sozialer Systeme, sondern Kommunikation. Damit handelt man sich Vor- und Nachteile ein. Personen und deren Verhalten kann man beobachten, Sinn und Funktion dagegen nicht. Auf sie kann allenfalls aus Beobachtetem geschlossen werden. Dieser Vorgang (des Schließens und Erratens) findet immer dann statt, wenn Handeln (von Menschen) zu Kommunikation wird. Beobachtbares Handeln kann, wenn es für sinnvoll und sinnerzeugend gehalten wird, wenn es als intentional und funktional betrachtet (d.h. gedeutet) wird, zur Kommunikation werden.3 Wir haben also bei der Umstellung von Personen auf Sinn und Funktion von beobachtbarem Verhalten auszugehen, von dem dann auf Sinn geschlossen werden kann.

Sieht man sich selbst in einer Beziehung, etwa in einer Paarbeziehung, und will man es auch weiterhin bleiben, d.h. anschlußfähig kommunizieren, steht man ohnehin vor der Aufgabe, dem eigenen Verhalten Sinn zu geben – was nicht besonders schwer fällt – und vor allem dem Verhalten des Partners Sinn abzugewinnen, was dagegen häufig schon schwerer fallen kann. Als Beteiligter an einer Paarbeziehung schadet es nicht, weitere komplexe Sinnzuschreibungen vorzunehmen: Welchen Sinn gibt mein Partner meinem Verhalten? Welchen Sinn gibt er seinem Verhalten? Insofern ist die neuere Systemtheorie einerseits gewöhnungsbedürftig – denn Kommunikation und nicht Menschen werden als Elemente eines Systems betrachtet –, berücksichtigt aber andererseits genauer und realistischer »systemtheoretische Alltagsüberlegungen« der Beteiligten.

Für die Beteiligten an einer Paarbeziehung sind Sinnerzeugung und Sinnzuschreibung schon immer selbstverständlich. Sinn ermöglicht die Auswahl spezifischer Handlungen aus dem Repertoire aller möglichen Handlungen. Handelt man sinnvoll, ist nicht mehr alles möglich bzw. das, was nun möglich ist, tritt mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder auf. Sinn erzeugt Möglichkeiten, die anschließend immer wahrscheinlicher werden. Sinn erzeugt durch die Unterscheidung von Möglichem und Unmöglichem Redundanz und Berechenbarkeit und stellt damit eine Sicherheitsfunktion zur Verfügung. Man kann sich (z.B. in Paarbeziehungen) Fehlgriffe erlauben, weil man weiß, wie man wieder »zurückkommen« kann, um »weitermachen« zu können. Die ungeheure intime Komplexität wird reduziert. Die Welt der Möglichkeiten schrumpft auf eine handhabbare (sinnvolle) Größe. Sinn begründet damit die Bedeutungsgebung der Welt und der darin auftauchenden Zeichen. Ein Zeichen muß erst einen Sinn haben, um seine Funktion erfüllen zu können, z.B. mich (oder andere) zu einem bestimmten Verhalten zu bringen oder auch zu seiner Unterlassung zu veranlassen. Sinn ist selbst aber kein Zeichen, sondern ermöglicht Zeichen. Sinngebung und sinnvolles Handeln ist keine Angelegenheit von einzelnen Individuen, sondern eine Operation des Systems, d.h. seiner Funktion. Jedes System hat dadurch so etwas wie ein eigenes Sinnesorgan oder (besser gesagt) ist ein solches Sinnesorgan. Ein solches Sinnesorgan legt fest, was überhaupt wahrgenommen wird, welchen Sinn das Wahrgenommene bekommt und welche praktischen Konsequenzen daraus folgen können.4 Jedes System kann nun seine eigenen Operationen mit Hilfe eines ihm eigenen Sinnesorgans, das sich von einem Code ableitet, beobachten. Dieser Kommunikationscode gibt an, wie eine bestimmte Kommunikation zu behandeln ist und welche Konsequenzen zu ziehen sind, um die mehr oder weniger spezifische Funktion des Systems zu erfüllen.

Stellt man nun – wie ich das hier vorschlage – auch für Paarbeziehungen von personenbezogenen Mitgliedersystemen auf sinn- und funktionsgeleitete Kommunikationssysteme um und beginnt, Kommunikationssysteme zu beobachten, so wird man bald feststellen, daß unterschiedlichste Kommunikationssysteme gleichzeitig und am selben Ort unter Beteiligung derselben Personen operieren können. Ein und dieselbe Person kann gleichzeitig in verschiedenen Kommunikationssystemen operieren. Eine Paarbeziehung lediglich als ein Gebilde aus zwei Menschen zu beschreiben, greift dann zu kurz. Es muß weiter differenziert werden, welche unterschiedlichen Funktionen, Kommunikationscodes und welchen Sinn die Kommunikation eines Paares hervorbringt.

Beginnen wir aber am Anfang und stellen die Ausgangsfragen. Was ist der Sinn, der Paarbeziehung erzeugt und begründet? Wie können zwei Personen dazu gebracht werden, in höchst unwahrscheinlicher Weise ihre Kommunikation so zu koordinieren, daß daraus der Beginn einer Paarbeziehung werden kann? Welche Voraussetzungen müssen für diese regelmäßig erzeugte Unwahrscheinlichkeit gegeben sein? Wie ist überhaupt zu erklären, daß zwei Menschen sich mehr oder weniger langfristig zusammentun und bestimmte Gefühle füreinander entwickeln? Warum tun sie dies alles, obwohl es dazu keinerlei natürliche Notwendigkeit gibt? Warum lassen sich Menschen immer wieder auf Paarbeziehungen ein, obwohl es weder für das individuelle Überleben noch für die Erzeugung und Aufzucht des Nachwuchses, noch für das eigene Sterben notwendig ist? Zwar heißt es so schön: Mit Dir möchte ich gerne alt werden! Aber man wird natürlich auch allein alt, denn alt zu werden ist nicht notwendig daran gebunden, mit jemand anderem gemeinsam alt zu werden. Was ermöglicht also eine Paarbeziehung, was ohne eine Paarbeziehung nicht oder nur schwer möglich wäre?

Es kann kaum einen Zweifel daran geben, daß in unserer abendländischen Kultur die wichtigste Antwort, vielleicht sogar die einzig mögliche Antwort auf all diese ersten Fragen die Liebe sein muß, die Liebe als ein sinnstiftendes Kulturphänomen. Es gibt wohl niemanden, der nicht von diesem Phänomen umgetrieben würde, sei es als Genießender und deshalb oft für andere Ungenießbarer oder auch als Leidender. Offenbar läßt sich Liebe nicht vermeiden. Obwohl höchstpersönlich erfahren, ist die Liebe gleichzeitig ein Kulturphänomen, denn auch Erfahrungen und Erleben des Einzelnen sind an Voraussetzungen gebunden, die aus der umgebenden sozialen Sphäre, aus der Kultur stammen und erlebten und erfahrenen Sinn entstehen lassen. Es gibt wahrscheinlich kaum etwas Öffentlicheres als das Intime.

Unter Aufgeklärten (und wer ist das eigentlich nicht?) wird die Liebe gerne leicht ironisch-distanziert als irgendwie überwunden abgetan. Aber man hat wohl doch auch hier etwas zu vorschnell an den umfassenden Sieg der aufklärerischen Vernunft als Grundlage unserer intimsten Beziehungen geglaubt. Etwas zu voreilig geben sich die unvermeidlichen Ratschläge für den Umgang mit dem Intimen (besonders in Paarbeziehungen) vernünftig, berechenbar und gesellschaftsfähig. Der intime Alltag funktioniert nach wie vor anders: Es knirscht zwischen den allgegenwärtigen Liebesmythen und den vernünftigen Lösungsvorschlägen, zwischen der unbelehrbaren Subjektivität der Paare und den aufgeklärten gesellschaftlichen Vollzügen. Wir wissen das natürlich alle, auch wenn wir uns meist hüten, es öffentlich kundzutun. Deshalb soll hier auch nicht mit der modernen Vernunft begonnen werden – dort wird man ohnehin schon früh genug wieder ankommen –, sondern dort, wo alles anfing bzw. noch immer beginnt und meist auch endet, bei den Mythen des Paares und der Liebe, beim Liebespaar.

1. DIE LIEBESBEZIEHUNG

1.1. Die Liebesbeziehung: Ein sinnstiftendes Kommunikationssystem

Aber schon tauchen die ersten Schwierigkeiten auf. Was ist das eigentlich: die Liebe?

Zunächst einfach nur ein Wort, ein Substantiv oder wie ein Schulkind in den ersten Klassen antworten würde: ein Dingwort. Aber: Gibt es ein solches Ding, das Liebe genannt wird, und hat es entsprechende physikalische Qualitäten, die beschrieben, analysiert und untersucht werden könnten? Die Rede ist ja oft von solchen physikalischen Ding-Qualitäten. Liebe kann tief, schwer, bitter, süß, verloren, gefunden oder gar wiedergefunden, entdeckt oder wiederentdeckt sein, oder es werden gar in mathematischen Gleichungen geronnene physikalische Liebes-Gesetzmäßigkeiten beschrieben, wonach sich die Größe der Liebe direkt proportional zum Quadrat der Entfernung zwischen den Liebenden verhalte, oder auch, daß es bestimmte Halbwertzeiten der Liebe gebe, die Liebe also eine Art von strahlendem Material sei, eine Art Beziehungsplutonium, das mit der Zeit (genauer: der Halbwertzeit) seine Strahlkraft verliere. Es sei hier dahingestellt, wie man das bewerten muß: positiv als Abnahme der gesundheitsschädigenden Radioaktivität oder negativ als Abnahme des radioaktiven Energiepotentials. Auf jeden Fall stellen sich Fragen nach den Möglichkeiten der Wiederaufbereitung bzw. der Endlagerung für den radioaktiven Liebesmüll. Verständlich daher, daß manche und mancher an einen endgültigen Ausstieg aus dieser gefährlichen, weil letztlich nicht beherrschbaren Liebes-Technologie denkt und einen Umstieg auf konventionellere Formen der Energieerzeugung, auf jeden Fall drastische Energiesparmaßnahmen erwägt: Spart euch die Liebesenergie! Dennoch ist auch beim Ausstieg mit den bekannten Restlaufzeiten zu rechnen.

So anschaulich-konkret auch die meisten Liebesmetaphern sind, wird man trotz angestrengter Suche nichts Substantielles finden. Selbst neueste medizinische Analysemethoden bieten nur leere Befunde: Vielfältigste Analysen von Mittelstrahlurinen, serologische Antikörperbestimmungen, kleine und selbst große Blutbilder, einfache Röntgenreihenuntersuchungen bis hin zu modernsten bildgebenden Verfahren wie Kernspin- oder Positronenemissionstomographien blieben bisher ergebnislos. Weder wurde die Liebe selbst gefunden noch gelang es, sie anhand von spezifischen biologischen Markern zu diagnostizieren und dingfest zu machen. Obwohl wir also oft genug an die Liebe als etwas zu unserer Natur Gehöriges, als etwas Biologisches denken, finden wir die Liebe nicht im Phänomenbereich der Biologie oder der Natur, weil sie kein biologisches oder natürliches Phänomen ist. Es ist eben nur die Rede von der Liebe, die man hat, findet oder eben auch wieder verliert. Der Gegenstand der Liebe sind Geschichten, Liebesgeschichten oder Mythen.

Über die Liebe zu reden, heißt früher oder später über Liebesgeschichten und Liebesmythen zu reden und Liebesgeschichten zu erzählen, und das nicht erst seit gestern. Liebesgeschichten haben eine lange Tradition und sind gleichzeitig aktuell. Sie scheinen eine der Konstanten der Menschheit zu sein, von der sogenannten grauen Vorzeit über die Antike, das Mittelalter und die Moderne bis in die bunt schillernde Postmoderne: Woher wüßten wir denn sonst überhaupt, was die Liebe ist und welches Erleben und welche Erfahrungen damit verbunden sind? Es ist uns erzählt worden in Geschichten, Büchern, Schlagern und natürlich im Kino.

Wo Instinkt, Biologie und Natur nicht ausreichen, um soziale Systeme entstehen zu lassen oder deren Entstehung zu erklären, wird die Liebe zu einem Systeme erzeugenden Kulturphänomen. In einer kulturvergleichenden Studie wurden 166 Gesellschaften unter der Fragestellung untersucht, wie weit verbreitet das Phänomen der romantischen Liebe tatsächlich ist (Jankowiak & Fischer 1992, Jankowiak 1995). In 148 Fällen ließ sich das Vorkommen romantischer Liebesgefühle und entsprechender Verhaltensweisen belegen, von denen man lange Zeit geglaubt hatte, sie seien lediglich Errungenschaften der westlichen Zivilisation. In den verbleibenden 18 Fällen konnte allerdings nicht das Fehlen der romantischen Liebe festgestellt werden, sondern es wurde lediglich nicht gezielt nach Indikatoren für das Konzept der romantischen Liebe gesucht. Offensichtlich haben wir es also mit einem universalen Phänomen zu tun. Kulturelle Unterschiede lassen sich dann nicht mehr an der Frage der An- oder Abwesenheit der romantischen Liebe festmachen, sondern allenfalls an der Frage, welche organisatorischen und kommunikativen Formen die überall erzeugte Sinnkategorie der romantischen Liebe annimmt.

Nimmt man gesellschaftliche, soziale und kulturelle Kontexte als Folie, vor deren Hintergrund Paarbeziehungen und Liebe betrachtet werden können, so lassen sich zunächst folgende historische Entwicklungen beschreiben:

Eine hierarchische, entlang von Klassen und Ständen organisierte Kultur und Gesellschaft des Mittelalters transformiert sich spätestens seit der Renaissance zu einer funktional differenzierten modernen Gesellschaft. Eine durch Rang und Klasse bestimmte Mitgliedschaft in einer hierarchisch geordneten Systemumwelt, in der jeder seinen Platz, seine Rolle, seine Identität hatte und seinen Sinn beziehen konnte, wird durch eine weitgehende Differenzierung in unterschiedliche Systeme abgelöst. Diese unterschiedlichen Systeme ergänzen sich nicht mehr in Rängen, Schichten oder Hierarchien, sondern stehen gleichberechtigt nebeneinander. Sie unterscheiden sich lediglich durch ihre Funktion bei der Bearbeitung unterschiedlicher gesellschaftlicher Aufgaben. Um diese Aufgaben zu erfüllen, entwickeln sich spezifische Kommunikationscodes, durch die Operationen in dem jeweiligen System funktionieren. Diese Systeme verselbständigen sich. Jedes Funktionssystem schaut die Welt ausschließlich aus seiner ihm eigenen Perspektive an. Es entstehen so viele Welten oder Weltanschauungen, wie es differenzierte Funktionssysteme gibt. Für jedes Funktionssystem gibt es nun eine andere Welt. Diese modernen Systemtypen bestimmen sich selbst. Sie unterscheiden sich von anderen Systemen nicht mehr durch ihre unterschiedlichen Mitglieder, sondern durch ihre unterschiedlichen Funktionen und ihre unterschiedliche Art, die Welt zu betrachten, d.h. die Welt in Sinn zu verwandeln. Soziale Systeme sind nicht mehr durch ihre Teilnehmer (Mitglieder) definiert, und umgekehrt werden Individuen nicht mehr durch ihre Teilnahme (Mitgliedschaft) an sozialen Systemen (bzw. einem sozialen System) definiert.

Es stellen sich neue Fragen: Wie kann das Individuum, wenn seine soziale Zugehörigkeit keine verläßliche Referenz und Quelle für Identität mehr ist, sich selbst bestimmen? Stellt sich möglicherweise aber überhaupt erst die Frage nach der Identität mit der Diversifikation unterschiedlicher Funktionssysteme, die einen allumfassenden identischen Weltentwurf nicht mehr zulassen? Diese Frage wird um so brisanter, als sich unter Assistenz von Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie und auch moderner Systemtheorie immer mehr eine bestimmte Normalidentität durchsetzt bzw. durchgesetzt wird: Man hat sich in viele Selbste, Identitäten, Persönlichkeiten zu zerlegen, um in möglichst vielen sozialen Umwelten (Funktionssystemen) überleben zu können, d.h. zu funktionieren. Nicht zuletzt unter systemtheoretischer Anleitung, betreut durch Autoren, Berater und Therapeuten, wird »Kontextflexibilität« oder etwas wie »Systemkompetenz« zu einer neuen systemischen Normalitätsdiagnose. Zum zentralen Merkmal des Individuums (lat.: das Unteilbare) wird seine Teil- und Aufteilbarkeit. Was ihm selbst dann noch bleibt, ist sein individuelles Problem der Identität. Der Soziologe Richard Sennett (1998) hat dies auf die griffige Formel vom flexiblen Menschen gebracht.

Gesellschaft ist nicht mehr die Quelle für die Identität des Einzelnen und kann auch keine Lösungsressource für das Identitätsproblem des Einzelnen sein. Gesellschaft oder soziale Zugehörigkeit gibt nur mehr partiell und vorübergehend vor, was der Fall ist, d.h. wie man vorübergehend zu erleben, wahrzunehmen und zu handeln hat. Es gibt inzwischen aber viele Fälle. Gesellschaft gibt lediglich noch das vom Einzelnen zu lösende Problem vor: die unbekannte Antwort auf die Frage der personalen und sozialen Identität.5 Unwahrscheinlich daher auch, daß von der Gesellschaft zugleich Lösungen für das Problem der Individualität der Individuen zu erwarten wären.6 Im Gegenteil, Hoffnung besteht vielleicht gerade in der Abwendung von Gesellschaft.

Kaum ein anderer hat dieses moderne Identitätsproblem so deutlich beschrieben wie Martin Heidegger (1927). Das moderne Individuum kommt in seiner Eingebundenheit in Funktionssysteme in eine Situation, in der »die Anderen ihm sein Sein abgenommen haben« (ebd., S.126). Man funktioniert eben so, wie man funktioniert, und läßt sich von dem man die Seinsarten der Alltäglichkeit vorschreiben: »Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ›großen Haufen‹ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ›empörend‹, was man empörend findet« (ebd., S.126f). Diese Art von »Öffentlichkeit« – eine andere Bezeichnung für die Teilnahme an Funktionssystemen – erzeugt Durchschnittlichkeit durch »die Einebnung aller Seinsmöglichkeiten« (ebd., S.127). Sie geschieht durch ein Nichteingehen auf das vom Durchschnitt Abweichende, »…weil sie unempfindlich ist gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit. Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus (…). Das Man ›war‹ es immer und doch kann gesagt werden, ›keiner‹ ist es gewesen« (ebd.). Ergebnis: Jeder ist der Andere, und keiner ist er selbst.

Heidegger unterscheidet zwei Arten von Selbst: Das Man-selbst und das eigentliche, d.h. eigens ergriffene Selbst. »Als Man-selbst ist das jeweilige Dasein in das Man zerstreut und muß sich erst finden« (ebd., S.129). Das Individuum und seine Identität läßt sich nicht mehr durch seine soziale Zugehörigkeit, durch seine (räumliche) Systemverortung (äußerlich) bestimmen. Im Gegenteil, es läuft Gefahr, sich gerade dort zu verlieren, indem es sich zerstreut.

Akzeptiert man die skizzierte Entwicklung, dann kann Identität, soll sie durch alle Wechselfälle der (äußeren) Teilnahme an verschiedenen Funktionssystemen vorhanden und bewahrt bleiben, nur im Inneren vermutet und gesucht werden. Die moderne Vermutung der Innerlichkeit von Individualität und Identität verleiht dem Kommunikationscode der Liebe seine besondere Bedeutung. Durch die Inanspruchnahme der Liebe läßt sich der Versuch unternehmen, Individualität in der Intimbeziehung zu kommunizieren. Dazu muß aber ein außergewöhnliches Kunststück aufgeführt werden: Höchstpersönliches individuelles Erleben soll soziale Bestätigung erfahren. Das Individuum soll nun in dem, was es ist, was es sieht und was es empfindet, bei jemand anderem – ebenfalls ein solches Individuum mit einer gewissen Innerlichkeit – Anklang finden.

Mit der Etablierung von Funktionssystemen sind gerade solche sozialen Systeme begünstigt und erfreuen sich einer wertgesteigerten Beliebtheit, die genau das ermöglichen: soziale Bestätigung höchstpersönlichen individuellen Erlebens. Der Andere, ein ebenfalls individuell erlebendes Individuum, kann diese Bestätigung im Idealfall bereitstellen und geben, wenn er selbst (im Idealfall) Anklang findet. Wenn er erlebt, in der Welt des Anderen als Einzigartiger vorzukommen, d.h. geliebt zu werden. Ob es tatsächlich so ist, können beide niemals mit Gewißheit wissen. Für die Erreichung des Ziels – für höchstpersönliches individuelles Erleben soziale Bestätigung zu erlangen – ist diese Gewißheit allerdings nicht relevant, es sei denn, man hält sie für relevant.

Hegel hat diese Herausforderung in unübertroffener Weise zusammengefaßt: »Jedes ist dem Anderen die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt, und jedes sich und dem Anderen unmittelbares für sich seiendes Wesen, welches zugleich nur durch diese Vermittlung so für sich ist. Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend« (Hegel 1807, S.146). Hier wird der Verinnerlichung von Identität das Programm geschrieben und damit der Äußerlichkeit gesellschaftlicher Entwicklung (differenzierte Funktionssysteme) Rechnung getragen, eine der prägnantesten Definitionen des Kommunikationscodes der Liebe.

Vorstellungen über das, was Liebe sein kann, kamen allerdings nicht erst mit Hegel in die Welt. Solche Vorstellungen sind alt und gehören zum bewährten Kulturgut. Sie gehören zu den langlebigsten Mythen unserer Kultur. Sie stellen einen Methodenvorrat zur Verfügung, dessen man sich bei den anstehenden modernen Aufgaben der Identitätsbildung mit Hilfe der Liebe bedienen kann. Will man eine systemische Beschreibung von Intimität liefern, kommt man an diesen Mythen nicht vorbei.

1.2. Liebesmythen und ihre Funktionen

Wo Liebe entsteht, kommt ein Wirbel auf

wie vor dem ersten Schöpfungstag.

Ingeborg Bachmann

Von Anfang an sind diese Liebesmythen mit dem Begriff des Paares verbunden. Wenn wir an Liebe denken, denken wir gleichzeitig an Liebesgeschichten und Liebespaare, meist an sehr konkrete Paare: Adam und Eva, Theseus und Ariadne, Tristan und Isolde, Romeo und Julia, Humphrey Bogart und Ingrid Bergman (bzw. Richard Blaine und Ilsa Lund).

Warum halten sich Liebesgeschichten so lange? Warum sind sie auch und gerade heute so aktuell? Welche Funktionen erfüllen sie, so daß man offensichtlich nicht auf sie verzichten zu können glaubt oder ganz einfach nicht darauf verzichtet? Monika Maron hat in ihrem deutschen Nachwende-Roman Animal triste eine einfache Antwort gegeben: »Man kann im Leben nichts versäumen als die Liebe« (Maron 1996, S.23).

Große Mythen der Menschheit beziehen sich meist auf die Zeit der Götter, die Zeit, wo es etwas zu erzählen gibt und von der man daher erzählen kann. Man erzählt sich vom Gewordensein der Welt, vom Gewordensein des Menschen. Man erzählt sich von den Verfahrensweisen und Riten, die dafür sorgen, daß die Welt und die Menschen nicht wieder vergehen: Warum da etwas ist und nicht vielmehr nichts, und was dafür sorgt, daß da immer noch etwas ist und nicht vielmehr wieder nichts.

Diese Mythen werden erinnert, indem sie erzählt werden. Sie werden vergessen, wenn sie nicht erzählt werden, weil etwa die heroische Vergangenheit keinen Bezugsrahmen mehr in der Gegenwart findet.

Der erinnerte Mythos ist ein gegenwärtiger Bezug auf Vergangenheit, der von dorther Licht auf Gegenwart und Zukunft fallen läßt (Assmann 1997). Dieser Vergangenheitsbezug des Mythos steht im Dienst zweier Funktionen: