Aus dem Amerikanischen
von Andreas Heckmann

Impressum

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Hobbit Presse

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Forgetting Moon. The Five Warrior Angels Book 1«

im Verlag Saga Press an Imprint of Simon and Schuster, New York 2016

© 2016 by Brian Lee Durfee

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung einer Illustration von © Federico Musetti

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96141-6

E-Book: ISBN 978-3-608-11018-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Prolog
Shawcroft

Verrat ist zeitlos

1. Kapitel
Nail

Die Vaterlosen sind verdammt

2. Kapitel
Nail

Verzweifelt, hungrig und schwach

3. Kapitel
Nail

Die geheime Vergangenheit

4. Kapitel
Gault Aulbrek

Sterben der Hoffnung

5. Kapitel
Tala Bronachell

Sie beherrschten die Lüfte

6. Kapitel
Tala Bronachell

Ihr wahrer Name niemals

7. Kapitel
Tala Bronachell

Widerliche Bluttrinker

8. Kapitel
Jondralyn Bronachell

Im Zustand der Täuschung

9. Kapitel
Nail

Voll Bosheit und Hinterlist

10. Kapitel
Gault Aulbrek

Im Himmel gebadet

11. Kapitel
Jondralyn Bronachell

Ein heiliger und reiner Mensch

12. Kapitel
Tala Bronachell

Die schlimmsten Geschöpfe

13. Kapitel
Nail

Feindliche Geister

14. Kapitel
Tala Bronachell

Kriege wüteten

15. Kapitel
Jondralyn Bronachell

In den Sternen geschrieben

16. Kapitel
Nail

Bilder der glorreichen Prophezeiung

17. Kapitel
Ava Shay

Einen großen Held, vom Meer geboren

18. Kapitel
Gault Aulbrek

Schlimmer als die Vaterlosen

19. Kapitel
Tala Bronachell

Symbole auf seiner Haut

20. Kapitel
Jondralyn Bronachell

Wie ein Sturzbach vergifteten Wassers

21. Kapitel
Tala Bronachell

Und sein Name war Laijon

22. Kapitel
Nail

Niederträchtige Schurken

23. Kapitel
Gault Aulbrek

In die Sklaverei verkauft

24. Kapitel
Nail

Blauer Stein und Streitaxt

25. Kapitel
Tala Bronachell

Herrscher über das Feuer

26. Kapitel
Jondralyn Bronachell

In Scharlachrot gebadet, in Blut

27. Kapitel
Sterling Prentiss

Wohin sich die üblen Dämonen schleichen

28. Kapitel
Gault Aulbrek

Was Madame La Mort gestohlen hat

29. Kapitel
Nail

An einen Baum angenagelt

30. Kapitel
Ava Shay

Auf seine Rückkehr wartet

31. Kapitel
Nail

In das Fleisch seiner Wunde

32. Kapitel
Tala Bronachell

Alle Dunkelheit gebannt

33. Kapitel
Jondralyn Bronachell

Tod meines Geliebten

34. Kapitel
Sterling Prentiss

Die Klauen eines Untiers

35. Kapitel
Nail

Geifernde Narren

36. Kapitel
Tala Bronachell

Schmerzlich und groß

37. Kapitel
Jondralyn Bronachell

Versteckt an schwer zugänglichen Orten

38. Kapitel
Gault Aulbrek

Ein Lächeln, das durch Träume spukt

39. Kapitel
Nail

Nicht der Gesandte selbst

40. Kapitel
Jondralyn Bronachell

Zu gegebener Zeit enthülle ich alles

41. Kapitel
Tala Bronachell

Wieder zum Leben erwecken

42. Kapitel
Ava Shay

Ein Funke, eine Flammenwalze

43. Kapitel
Nail

Die Feiglinge, die Korrupten und Verrückten

44. Kapitel
Sterling Prentiss

Besser ein Mann erschlagen

45. Kapitel
Tala Bronachell

Eine vom Himmel gesandte Klinge

46. Kapitel
Gault Aulbrek

Vater allen Trauerns

47. Kapitel
Jondralyn Bronachell

Die Torheit des Menschen

48. Kapitel
Nail

Mit auf die Wahrheit gerichtetem Blick

49. Kapitel
Gault Aulbrek

Aug in Auge und Klinge gegen Klinge

50. Kapitel
Jondralyn Bronachell

Bei den Sternen zu sitzen

51. Kapitel
Nail

Unser Verderben herbeiführen

52. Kapitel
Ava Shay

Die einst verborgenen Fünf

53. Kapitel
Tala Bronachell

Feuersäulen und Blutströme

54. Kapitel
Lindholf Le Graven

Die Träume meines Herzens

Anhang

Die Monde der Fünf Inseln

Die fünf Bände der Alten Schriften

Die fünf Waffen Laijons

Eine kurze Historie der Fünf Inseln

Dramatis Personae

Karte der Fünf Inseln

Dank

Allen Feuerwehrleuten, Sanitätern, Krankenschwestern und
Ordnungshütern in tiefer Wertschätzung ihrer Arbeit –
besonders meinen guten Freunden vom Strafvollzug in Utah.

Vertrauen ist flüchtig – Verrat aber ist zeitlos. Das Leben ist voller Lügen. Darum sei blutrünstig, sei tapfer, sei froh. Denn am Ende einer jeden Geschichte ist niemand mehr, wer er anfangs noch gewesen zu sein schien.

Das Buch des Verräters

Prolog

Shawcroft

Am 15. Tag des Feuermondes im 985. Jahr Laijon –
Bei den Himmelsseen, Gul Kana

In ihrer Panik war die Frau mit dem Jungen ganz an den Rand des Gletschers geflohen – ein dünnes Messer bis zum Heft in ihrem Rücken. Bis auf die breite Blutspur, die über das Eis zum Abgrund führte, hundertfünfzig Meter über dem See, war nichts von ihr übriggeblieben.

Der kleine Junge kniete allein auf dem Felsvorsprung und sah mit großen grünen Augen zu Shawcroft auf; sein stechender Blick wirkte verletzlich im Kontrast zu dem schier endlosen Abgrund. Der Junge trug eine grobe Kniebundhose, weiche Wollstiefel und einen Umhang aus Elchleder, und seine winzigen Hände waren nackt und vor Kälte rot. Seine blonden Strähnen wehten im frischen Wind. Vor dem sonnenhellen Abgrund und den verschneit aufragenden Bergen erschien er wie ein Inbegriff der Unschuld und Reinheit. Er war höchstens drei Jahre alt. Und trotz der schrecklichen Verletzungen der Frau, die ihn so weit getragen hatte, war kein Tropfen Blut an ihm. Sein ganzes Leben schon war Shawcroft Soldat der Bruderschaft von Mia, und doch war ihm das Herz nie schwerer gewesen als in diesem Augenblick.

»Nicht bewegen!«, rief er über das betäubende Rauschen des Gletscherflusses in der Tiefe hinweg. Die Spalten und Eisformationen ringsum warfen das Dröhnen des Wassers als Echo zurück. Shawcroft spürte, wie der Gletscher sich unter seinen Lederstiefeln bewegte, als er sich behutsam vorwärtsschob, in dem Wissen, dass das Eis jeden Moment ins Rutschen kommen und sie beide in den Tod reißen konnte. Bemüht, nicht auf die Blutspur zu schauen, die ihn hergeführt hatte, stopfte Shawcroft seine Handschuhe unter die Schließe seines pelzbesetzten Waffenrocks und rückte seinen Umhang zurecht, das Langschwert ein kaum bemerktes Gewicht in seinem Schultergehänge.

Als er den Arm ausstreckte und das Kind vom Abgrund zog, schien die ungeheure Leere mit gewaltiger, fast unwiderstehlicher Gewalt an ihm zu zerren. Doch hinter sich vernahm er das hohle Getrappel der beiden Pferde, die sich ihm näherten.

Mit der kleinen Hand des Jungen in der Pranke wandte Shawcroft sich um und blinzelte in die gleißend helle, labyrinthartige Landschaft, durch die er geschritten war. Sie war schön, auf eigene Weise, eine scharfkantige weiße Herrlichkeit, welche die Augen schmerzen und tränen ließ. Und nun zeichneten sich zwei dunkle Gestalten vor ihr ab und glitten auf ihn zu.

Er wusste, wen er vor sich sah. Meuchelmörderische Bluthölzler. Die beiden Gestalten trugen schwarze Umhänge und ritten auf pechfarbenen Pferden. Er hatte sie erwartet. Der heutige Kampf war noch nicht vorbei.

Shawcroft stellte sich zwischen die Mörder und den Jungen, dann zog er seine Klinge aus dem Schultergehänge – sein Tagritterschwert, lang, kalt und glänzend, mit einem schwarzen Opal im lederumwickelten Heft, das sich nach so langer Zeit seiner Hand angepasst hatte.

Trotz der Glätte bewegten sich beide Pferde trittsicher und glitten wie Rauch zwischen Klippen und Eisplatten hindurch.

Zehn Meter vor Shawcroft brachten die Reiter ihre Pferde zum Stehen. Die Augen der Hengste waren rötlich eingetrübt – ein sicheres Zeichen dafür, dass die beiden Mörder den noch heranwachsenden Tieren das Serum Rauthouin Bane gespritzt hatten. Binnen eines Jahres würden ihre Augen flammend rot glühen, und ihre Schultern und Flanken würden vor Sehnen, Muskeln und Kraft nur so strotzen. Dann erst wären sie ausgewachsene Blutrösser, rasende, wilde Kreaturen.

Die beiden Männer auf den Pferden waren der Bruderschaft von Mia als Habicht und Spinne bekannt – Geschwister und die am höchsten geschätzten Meuchelmörder des Königs Aevrett Raijael von Sør Sevier.

Habicht und Spinne saßen geschmeidig und geräuschlos ab und rafften ihre Umhänge, unter denen sie die schwarze Lederrüstung ihrer Zunft trugen. Die bittere Kälte schien ihnen nichts anzuhaben, als sie über den Schnee auf Shawcroft zukamen. Sie glichen einander. Höchstens achtzehn waren sie, hatten kühle, schmale Augen, kantige Kiefer- und Wangenknochen und rabenschwarzes, kurzgeschnittenes Haar. Ihre flinken Schritte zeugten von Selbstgewissheit.

Shawcroft straffte sich. »Ich will keinen von euch töten!«, übertönte er das tief unten dröhnende Wasser.

»Dann verspreche ich, dass wir nicht sterben werden!«, gab Habicht zurück. Seine vertraute Stimme, die melodiös und doch durchdringend war, klang trotz seiner Empörung sanft.

Spinne musterte die Eisklippen hinter Shawcroft, streifte den Jungen nur kurz mit einem Blick und fasste dann die dunkle Spur ins Auge, welche die Frau hinterlassen hatte. »Was die Leute nicht alles tun, um ihre geliebten Angehörigen vor dem Tod durch einen Bluthölzler zu bewahren! Sie ist das furchtbare Risiko eingegangen, aus dem erbärmlichen Goldgräberlager zu fliehen und bis hierher zu rennen.« Ein Dolch, schwarz wie polierte Kohle, erschien in seiner Hand, und er sah Shawcroft herausfordernd an. »Was wirst du tun, um dem Tod durch unsere Hand zu entgehen, alter Mann?«

»Ich bin nicht so alt, dass ich es mit euch beiden nicht mehr aufnehmen könnte. Von eurer Sorte habe ich schon einige besiegt. Auch heute liegt wieder einer tot oben im Lager.«

Habicht taxierte ihn ausdruckslos. »Wir wollen nur den Jungen.«

Shawcroft war sich nicht sicher, ob das Kind nicht am besten jetzt und hier mit ihm sterben sollte. So jedenfalls würde ihm die trostlose Leere erspart, die ihn in Gestalt einer harten und einsamen Zukunft erwartete. Ein rascher Stoß mit dem Stiefel. Er sah zu dem Kind hinab, das zitternd hinter ihm stand. Es würde kaum Anstrengung kosten.

Wieder spürte er, wie der Gletscher sich unter ihm bewegte, und verlagerte vorsichtig sein Gewicht.

Die Meuchelmörder griffen mit behender Böswilligkeit an. Ihre Dolche schienen aus zahlreichen Verstecken in der Rüstung in die Hände zu springen.

Mit raschem Schwertstreich wehrte Shawcroft einen Dolch ab, der auf sein Gesicht zuschoss; der nächste aber drang ihm tief in die rechte Schulter. Von links attackierte ihn Spinne, und seine Hiebe waren wie Glasscherben und trafen wie der Blitz. Habicht flankierte ihn von rechts, sein Angriff ebenso schnell. Binnen kürzester Zeit war Shawcroft an mehreren Stellen verwundet, doch er spürte die Schmerzen nicht. Taubheit war ein schlechtes Zeichen, denn wer wusste schon, mit welchem tödlichen Gift die Bluthölzler ihre Klingen bestrichen hatten.

Plötzlich machte der Gletscher einen Ruck, und Shawcroft und seine Gegner landeten mit dem Gesicht voran auf dem Eis. Die Blutrösser schraken zusammen und verloren wiehernd den Halt, als unter ihnen ein gewaltiges Krachen widerhallte. Eines der Pferde verschwand in der Gletscherspalte, die sich unter ihm geöffnet hatte, und stürzte ins tosende Wasser. Der Spalt riss weiter auf, und Eisbrocken, so massiv wie Burgtürme, stürzten hinein.

Bäuchlings an den Gletscher gekrallt konnte Shawcroft nur ehrfürchtig zusehen, wie die riesigen, glänzenden Eismassen in den Himmel geschleudert wurden. Sein Blickfeld war voller Dunkelblau und Purpur, dazwischen nachleuchtende Splitter von Weiß. Im nächsten Moment stürzte das Eis wieder herunter, zerschellte krachend in gezackte Scherben und stürzte links hinter Spinne in die Tiefe, der nun auf allen vieren darum rang, sich auf der Klippe zu halten.

Shawcroft nutzte die Gelegenheit, kroch heran und stach mit dem Schwert nach ihm. Spinne versuchte seinen Stoß abzuwehren, verlor den Halt und verschwand über die Kante.

Shawcroft sprang auf und fuhr herum, um sich Habicht zu stellen, der ihn nun umso entschlossener angriff. Die ersten Stöße des Bluthölzlers konnte er parieren, und das ringsum brechende Eis machte solchen Lärm, dass das Klirren von Schwert und Dolch kaum zu hören war. Shawcroft wehrte die meisten Hiebe von Habichts glänzenden Dolchen ab, sodass sie ihm allenfalls oberflächliche Schnittwunden beibrachten, doch einige trafen tief. Entschlossen kämpfte er sich näher, traf mehrmals die Lederrüstung seines Feindes, brachte ihn dazu, sich zu ducken, und trieb ihn auf den dröhnenden Abgrund zu, in dem sein Bruder eben verschwunden war. Aber Shawcrofts Verletzungen forderten ihren Tribut. Bei jedem kräftigen Ausholen mit dem Schwert hämmerte sein Herz, und seine Lunge schmerzte. Seine Kehle war trocken und rauh, weil er die eiskalte Luft in abrupten Atemzügen einsog.

Wieder grollte und erzitterte der Gletscher. Shawcroft verlor sein Schwert, als er erneut aufs Eis geschleudert wurde und auf die abschüssige Kante zuglitt. Vor ihm rutschte Habicht mit den Beinen über den Gletscherrand. Mit großen Augen hieb er mit beiden Dolchen auf das Eis ein, um Halt zu finden, während Shawcroft direkt auf ihn zuschlitterte und ihn so vollends über den Rand drängte.

Zusammen hingen sie nun da – Habicht an einer Hand, die den schwarzen Dolch umklammerte, der noch im Eis steckte; Shawcroft mit dem Blick über die Klippe, unten das brodelnde Wasser. Zu seiner Bestürzung war Spinne bei seinem Sturz nicht verschwunden, sondern fünfzehn Meter tiefer auf einer Eisplatte gelandet. Er lag mit seltsam unter dem Körper verdrehtem Arm reglos in einer Blutlache.

Shawcroft sah Habicht in die Augen. »Ich kenne dich, Junge.«

Die Augen des jungen Mannes wurden schmal. »Ab mit dir in die Unterwelt!«

»Du warst für Größeres vorgesehen.« Mit der Hand schlug Shawcroft den Dolch aus dem Eis. Im Sturz ließ Habichts ruhiger Blick ihn nicht aus den Augen. Der Mörder landete unsanft neben seinem Bruder auf dem Eisvorsprung, rollte sich ab und hielt sich die Seite.

Shawcroft schob sich vorsichtig von der Kante zurück, um nicht kopfüber in die Schlucht zu stürzen, nahm sein Schwert und musterte die Eislandschaft hinter sich.

Der Junge war verschwunden.

Shawcroft erhob sich mühsam und stützte sich auf seine Waffe. Noch immer fühlte er sich zittrig, denn der Gletscher ächzte weiterhin unter ihm. Ein Dutzend Schnittwunden durchnässten seine Kleidung, und er spürte, wie seine Kraft nachließ. Hektisch suchte sein Blick den Gletscher ab.

Der verbliebene Bluthengst wieherte hinter ihm, und Shawcroft drehte sich um.

Der Junge stand vor dem schwarzen Pferd und streckte die kleine Hand nach dessen gesenkter Schnauze aus.

Shawcroft taumelte auf Tier und Kind zu. Aus den geblähten Nüstern des Hengstes blies dem Jungen weißer Atem in das bleiche Gesicht, und hauchfeine Eiskristalle ließen das blonde Haar des Jungen in der Sonne glitzern. Die rötlichen, trüben Augen des Hengstes waren voller Angst und Unsicherheit, weil ringsum große Eisblöcke krachten und knackten.

Shawcroft nahm die Zügel des Blutrosses und zwang das Tier mit einem Abwärtsruck auf die Knie. Dann sammelte er sich, um ihm das Schwert in den Nacken zu stoßen. Der Hengst war kein normales Pferd, sondern ein durch Alchemie erzeugtes Ungeheuer. Es wäre eine Gnade, es zu töten.

Wieder bewegte der Gletscher sich mächtig. Der Junge begann zu weinen. Shawcroft musste überleben. Nicht nur er, auch der Junge. Er spürte, wie das Gift der Mörder in ihm wirkte. Sollten sie es zurück nach Arco schaffen – in das Goldgräberlager im Bergtal knapp über dem Gletscher, in dem all die Zerstörung begonnen hatte, zu den niedergebrannten Hütten und den toten Dorfbewohnern –, würde er in den Ruinen womöglich sein niedergemetzeltes Pferd finden. Und in den Satteltaschen das versteckte Gegengift.

Shawcroft ließ das Zaumzeug des Hengstes los. Das Blutross erhob sich und sprang einige Schritte zur Seite. Er führte sein Schwert über die Schulter zurück in die Scheide. Ermattet von seinen Verletzungen ließ er die Bedeutung und den Schrecken dieses Tages endlich auf sich wirken. Aber er würde keine Träne vergießen.

Shawcroft nahm den Jungen in die Arme, bestieg den Hengst und machte sich auf den Rückweg durch das Labyrinth des Gletschers. Dabei wusste er eines sicher:

All die Pläne der Bruderschaft von Mia, die sie vor beinahe drei Jahren ersonnen hatten, waren nun ins Rollen gekommen.

Ob Sklave, Bauer, Ritter oder Herr – tief in unser aller Seele wohnt das Sehnen und Begehren, unsere Herkunft zu erfahren und das Geburtsrecht unserer Nächsten zu erkennen. Denn wie viele gute Werke und heldenhafte Taten sie im Leben auch vollbringen: Die Vaterlosen sind von Natur aus zur Heillosigkeit verdammt, anfällig für Verrat und nutzlos in den Augen des Einen und Einzigen.

Weg und Wahrheit Laijons

1. Kapitel

Nail

Am siebten Tag des Verhüllten Mondes
im 999. Jahr Laijon – Galgenhafen, Gul Kana

Wir werden zu dem, für das wir uns halten, so wenigstens sagte Shawcroft gern. Nail hielt sich für einen guten Künstler. Am zufriedensten jedenfalls war er, wenn er mit Kohle auf Pergament zeichnete – und von Ava Shay träumte. Beides tat er oft. Nail hielt sich auch für einen guten Schwertkämpfer.

Wirklich lief trotz des rauschenden Regens alles gut. Nail hob seine Waffe zur Abwehr. Stahl stieß gegen Stahl. Bei jedem Aufprall schmerzten seine Hände. Das fühlte sich gut an. Erneut holte er aus, und der Schwung trieb ihn voran. Doch dann rutschte er weg, und das Schwert von Dokie Liddle traf ihn am Kopf. Nail stürzte mit einem Scheppern auf die Knie, sein Holzschild fiel in den Dreck, und seine Klinge schlitterte klirrend davon.

»Mist«, fluchte er. Der Helm saß ihm schief auf dem Kopf und nahm ihm die Sicht. Konzentrier dich, Dummkopf! Seine Waffe lag nah genug im Gras, um sich danach zu strecken, doch Dokies Schwertspitze schwebte schon über ihm.

»Ergib dich«, befahl Dokie und schwang bedrohlich sein Schwert. Nail war der stärkste Siebzehnjährige von Galgenhafen und normalerweise kaum zu besiegen, und er stellte sich das Grinsen vor, das sich nun sicher auf Dokies Gesicht ausbreitete. Stefane Wayland, Zane Neville und sogar Seidel – Zanes dummer Schäferhund – sahen zu und warteten darauf, dass er sich erheben und Dokie eine gewaltige Abreibung verpassen würde. Jenko Bruk stand ihnen am nächsten, und seine Miene zeugte von reinem Vergnügen. Die Flagge von Galgenhafen hing schlaff und durchnässt an der Stange in seinem Arm. Die übrigen vierzig jungen Männer auf dem Übungsplatz sahen ähnlich drein. Selbst das abweisende, bärtige Antlitz ihres Ausbilders, Baron Jubal Bruk, verzog sich zu einem Grinsen.

Enttäuscht richtete Nail sich auf. Er hatte zu viel an Ava Shay gedacht. Nun warf er die Kampfhandschuhe beiseite, wischte entschlossen den Dreck von seiner Rüstung und sagte: »Das Schicksal meint es gut mit dir, Dokie. Nur der Schlamm hat mich besiegt.« Dann zog er die Handschuhe wieder an und wollte aufstehen, doch wieder rutschten die Füße unter ihm weg. »Verflucht«, schimpfte er.

Da schlug ihm ein bitterkalter Wind ins Gesicht und raubte ihm den Atem. Ein Blitz!, dachte er erschrocken, und schon fuhr ein blendender Lichtstrahl in Dokies Rüstung. Mit einem Donnerschlag flog der junge Mann durch die Luft und landete auf dem Rücken.

Nail lag bäuchlings am Boden. Die Luft roch bitter, seine Bronchien fühlten sich wund an, und sein Mund war ausgetrocknet. Etwas Weißliches trübte seine Sicht. Ringsum fiel Funkenregen nieder und zerging im regennassen Gras. Der Rücken seiner Schwerthand pochte vor Schmerz.

Gedämpfte Stimmen erklangen, als hörte er sie von unterhalb der Wasseroberfläche. Jenko Bruk und Stefane Wayland standen über ihn gebeugt. »Glückspilz!«, brummte Jenko, und seine bernsteinfarbenen Augen blickten zwischen ihm und den anderen hin und her. Zanes Schäferhund bellte aufgeregt. Stefane bot Nail eine helfende Hand an, und der nahm sie, erhob sich und kam wacklig auf die Beine. Dokie lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen rücklings im Schlamm und starrte ziellos in den Regen. Eine breite Spur zeigte, wo er durch den Schlamm gerutscht war. Seinen Helm hatte er verloren, und Rauch stieg von den Sohlen seiner Lederstiefel auf. Aus seiner Brust drangen heisere Atemzüge.

»Er lebt noch!«, rief Baron Jubal Bruk, schlug mit drei Fingern das Laijonskreuz über dem Herzen und schaute zum Himmel. »Kommt, schaffen wir ihn in die Stadt.« Baron Bruk, sein Sohn Jenko und ein paar andere hoben Dokies schlaffe Gestalt hoch und machten sich auf den Weg.

Der Rest des durchnässten Trupps sammelte mit scheppernden Rüstungen eilig seine Habseligkeiten zusammen und folgte dem Baron nach Süden in Richtung Galgenhafen.

Nail taumelte hinterdrein und kämpfte sich, noch immer benommen, durch den Schlamm. Er sah zum Himmel und wollte etwas erkennen, doch der Regen prasselte ihm unerbittlich ins Gesicht. Weiter brannte der Rücken seiner Schwerthand im Handschuh.

»Deine Umhängetasche.« Stefane schloss zu ihm auf und legte ihm den Lederträger über die Schulter. »Die hättest du fast vergessen.«

»Stimmt. Danke.« Die Worte fühlten sich seltsam an auf der trockenen Zunge. Nail schluckte vernehmlich und suchte sich wieder zurechtzufinden. Die Tasche enthielt seinen wertvollsten Besitz: Gebetbuch, Zeichensachen und eine Sammlung Kohlezeichnungen.

Donner grollte hinter Nail und Stefane, die sich nun sputeten, um nicht den Anschluss zu verlieren. Dann und wann bot ein Wäldchen etwas Schutz vor dem Regen, doch die Straße führte überwiegend zwischen Äckern und Wiesen entlang. Hecken, Steinwälle und Zäune aus Flechtwerk und Lehmbewurf begleiteten ihren Weg. Von fern klang das hohle Läuten von Ziegenglocken.

Mitunter bellte Zanes Hund in das Dunkel des Abends, als folgte ihnen etwas. Trotz seiner Benebelung begannen gottlose Bilder in Nails Kopf zu kreisen, die seine Träume seit der Kindheit heimgesucht hatten. Die glühenden Umrisse der namenlosen Bestien der Unterwelt, der rotäugigen Untiere, die in den Vorstellungen einsamer Kinder umgingen, die weder Vater noch Mutter hatten. Nail wusste, dass er anders war. Er war nicht nur einfach eine Waise, sondern ein Kind ungewisser Herkunft, er war unnatürlich.

Als sie eine von Kerzen erhellte Hütte passierten, drang ihm Rauch in die Nase, und der Geruch von brennendem Holz befreite ihn von seinen aufwühlenden Gedanken.

Bald verließen die Schwertschüler das Nadelwäldchen, und die schimmernden Lichter von Galgenhafen taten sich vor ihnen auf. Rechts des Weges auf einem kleinen Hügel über der Galgenbucht stand der Bergfried. Seit Jahrhunderten war er nicht mehr in Gebrauch. Inzwischen erhob sich seine zinnengekrönte Brustwehr schief über der Siedlung, der alte, heruntergekommene Rest einer Festung, die einst herrlich dagestanden hatte.

Links befand sich die Dorfkirche, deren graue, wuchtige Präsenz auf Nail plötzlich beruhigend wirkte. Trotz der schlechten Dinge, die Shawcroft über die Kirche Laijons und ihre Lehren zu sagen hatte, fühlte Nail sich sicher in den mächtigen Bögen der Kapelle, in der Dicke ihrer Mauern, in ihrer gleichmütigen Großartigkeit. Über der Tür prangten drei Buntglasfenster, deren feine Glasmalereien farbige Muster auf ihren Weg warfen. Als die Träger des vom Blitz getroffenen Dokie durch das Kirchenportal schritten, sah Nail zu den prächtigen Fenstern empor. An helleren Tagen saß er oft mit seinem ramponierten Skizzenbuch unter ihnen und zeichnete. Im mittleren Fenster prangte ein Bild Laijons, und fünf Engelssteine hingen weiß, rot, schwarz, grün und blau wie ein Glorienschein über ihm. Laijon trug ein im Licht schimmerndes Kettenhemd und seine silberne Streitaxt, den Mond des Vergessens. Im linken Fenster schwebten zwei Engel in weißen Gewändern; der eine schwang ein Breitschwert, das Feuer der Sühne, der andere hielt eine Armbrust, das Pechschwarze Herz, die aus Ebenholz gefertigt war. Im rechten Fenster waren zwei weitere Engel zu sehen, einer trug einen hörnerbewehrten Kriegshelm, die Einsame Krone, während der andere einen mythischen Schild, den Schleier der Tugend, in der Hand hielt. Dies waren die fünf alten Waffen der Überlieferung.

Jubal und Jenko Bruk und die anderen betraten die Kirche, und die fünf Engelsbilder warfen geisterhafte Lichtstrahlen über sie, während sie Dokie vor Bischof Tolbret ablegten. Der Bischof war ein kleiner Mann mit unscheinbarer Miene und schütterem Haar. Er trug das braune Gewand und die schwarze Schärpe seines Standes, darunter die geweihte weiße Seidenwäsche.

In der gewölbten Apsis hinter dem Bischof stand eine grob in Stein gehauene Statue Laijons. Die kraftvolle Plastik war dreimal so groß wie ein Erwachsener. Laijon war nackt bis auf ein Lendentuch und trug einen Kranz aus Heidekraut auf dem Kopf. Sein Gesicht war makellos – bis auf die blasse rote Linie, die seine tödliche Halswunde symbolisierte. Laijon war an eine noch größere, schwarz bemalte Holznachbildung des Versöhnungsbaums geschlagen, dessen gewundene Äste fast bis zur Kirchendecke aufstiegen und die Apsis ausfüllten.

Als Bischof Tolbret Nail verdreckt und zerzaust dastehen sah, warf er ihm einen unfreundlichen Blick zu. Nail senkte die Augen und zog die Handschuhe aus. Seine Rechte, mit der er das Schwert führte, pochte noch immer vor Schmerz, und auf dem Handrücken war nun eine schmale, kreuzförmige Verbrennung zu sehen. Die frische Wunde war offen und rot und schien beinahe zu glühen.

Nail spürte gar nicht, dass ihm Galle in die Kehle stieg und der Magen brannte, denn den glühenden Umriss dieses roten Kreuzes auf seinem Handrücken hatte er schon einmal gesehen.

Als Kind hatte er ihn allein und verängstigt in seinen Träumen erblickt.

Nail und Stefane saßen abseits, und Nails Kohlezeichnung lag ausgerollt auf dem Tisch zwischen ihnen. Der Krakenspeer schwirrte vor Gesprächen über Dokie Liddle. Im Spätwinter gab es an der Südwestküste von Gul Kana oft plötzliche Regengüsse, die nicht selten in Schnee übergingen. Aber Blitzeinschläge so nah der Stadt waren selten. Normalerweise herrschte in der Taverne Ausgelassenheit, doch Dokies Verletzungen hatten für düstere Stimmung gesorgt.

Dennoch hatten die Schankmaiden gut zu tun. Und eine dieser jungen Frauen erregte stets Nails Aufmerksamkeit: Ava Shay. Sie war so alt wie er, siebzehn. Im Laufe des Jahres war es Nail mehrmals gelungen, sich der Arbeit in den Minen mit Shawcroft zu entziehen und die Stadt zu besuchen, und so hatten die beiden sich angefreundet. Manchmal fragte Nail sich, ob sie nicht bereits miteinander ausgingen. Es war ihm fast unmöglich, nicht an sie zu denken.

Schlank und zart wie ein Weidenblatt schlängelte sich Ava – zwei frisch gefüllte Bierkrüge in Händen – durch die Taverne auf ihn zu. Sie trug ein schlichtes graues Hemdkleid mit einer schwarzen Schärpe um die Taille. Das blonde Haar floss ihr in gesträhnten Seidenlocken über den Rücken, und in der sengenden Hitze der vielen Herde des Lokals umtanzten diese Locken ihr Gesicht wie Flammen. Als sie in Nails Nähe kam, schaute sie ihn mit unverhohlenem Interesse an, und ihre dunkelgrünen Augen verzauberten ihn wie immer. Er warf einen raschen Blick auf seine Zeichnung, die Skizze eines langhaarigen Mädchens im schlichten Kleid, das einen Wassereimer durch ein knietiefes Blumenmeer trug. Nail hatte bei den Pflanzen an Gänseblümchen gedacht und bei dem Mädchen an Ava Shay.

»Traurig, das mit Dokie«, sagte sie, als sie zu den beiden an den Tisch trat. »Wird er wieder gesund?«

»Seine Eltern sind bei ihm«, erwiderte Stefane. »Und Bischof Tolbret und Baron Bruk. Der Baron berichtet sicher bald mehr.«

Ava stellte Stefane einen mit Birkenbier gefüllten Holzkrug hin. »Der ist für dich.« Den nächsten Krug schob sie vor Nail. »Und der für dich, mein Lieber.« Sie sah seine Zeichnung. »Ich bin bei weitem nicht so begabt wie du, Nail, aber der alte Leddingham hat heute eine Fischplastik von mir ausgestellt.« Sie wies auf das Regal hinter der Theke. Ihre Holzschnitzerei stand neben einem durchsichtigen Gefäß mit den seltenen, dolchartigen Zähnen einer Meerjungfrau. »Wenn ich Otter und Robben schnitze, stellt er sie in den Gästezimmern aufs Kaminsims, sagt er.«

»Wahnsinnig schöne Arbeit«, sagte Nail und freute sich über ihr Talent.

»Danke, das ist nett von dir.« Sie warf ihm ein charmantes Lächeln zu, verbeugte sich kurz und ging zur Theke zurück.

»Wie ich sehe, bezaubert Ava dich immer noch«, sagte Stefane und zog Nails Zeichnung über den Tisch. »Wann immer du im Krakenspeer bist, nennt sie dich ›mein Lieber‹.«

»So nennt sie hier jeden«, gab Nail zurück und folgte Ava, die sich durch die Menge schob, mit dem Blick. Die Taverne war etwa zehn Schritt breit und zwanzig Schritt lang und voller Tischreihen. Die Theke befand sich an der linken Wand. Über dem zerfurchten Hartholzboden lag ein Film aus Ruß und Bier. Spinnweben hingen von den Dachsparren, und die niedrigen Balken waren mit Fellen von Silberwölfen und Schwarzbären behangen. An den Wänden prangten die Köpfe von Elchen, Wildschweinen und Hirschen, und über dem Eingang hingen die elfenbeinernen Stoßzähne eines Walrosses und die langen Arme eines Kraken. Der alte Leddingham, dem die Taverne gehörte, drehte am offenen Herd eine Rehkeule am Spieß.

Die jungen Männer des Dorfes drängten sich in der Taverne, die meisten von ihnen noch in ihrer Rüstung, um die Mädchen zu beeindrucken. So war es Brauch. Nach der Übung an den Waffen servierten die Mädchen aus dem Krakenspeer den Wehrpflichtigen ein Essen. Nail lebte geradezu für den Schwertkampf bei Baron Bruk und die warmen Mahlzeiten danach. Es waren die seltenen Gelegenheiten, zu denen Shawcroft ihm erlaubte, in den Ort zu kommen. Die Heeresausbildung war vom Gesetz angeordnet.

Stefane schob die Zeichnung auf Nails Seite des Tisches zurück. »Deine Zeichenkünste scheinen Ava zu gefallen. Mich dagegen hat sie kein einziges Mal angelächelt.«

»Über zu wenig Aufmerksamkeit kannst du dich nicht beklagen«, erwiderte Nail, als er Giselle Barnwell ankommen sah. Ihr Blick war auf Stefane gerichtet, der prompt errötete. Giselle stellte zwei dampfende Teller auf den Tisch, machte einen Knicks, sagte »Armer Dokie« und kehrte zur Theke zurück. Giselle war zwei Jahre jünger als Nail und Stefane und trug einen Kranz aus blauem Heidekraut auf dem Kopf. Kürzlich erst war sie zur Blauen Jungfrau des anstehenden Trauermondfests gekrönt worden, eine jährliche Auszeichnung, die dem hübschesten Mädchen Galgenhafens vorbehalten war.

Ganz offenkundig mochte Giselle Stefane, doch der bemerkte es nicht. Nails Freund hatte eine vorspringende Nase und ein energisches Kinn. Dunkles Haar floss ihm in Locken über die Schultern. Er besaß den harten Blick und die gebräunte Haut der jungen Männer, welche die letzten Jahre auf Baron Bruks Krakenfänger verbracht hatten. Während Nail mit seiner Kraft und Geschwindigkeit auf dem Übungsplatz im Schwertkampf überzeugte, war Stefane ein hervorragender Bogenschütze. Jedes Jahr hatte er im Wettschießen gegen die Wehrpflichtigen aus Tomkin Sty und Peddlers Point gewonnen und seit dem zehnten Geburtstag niemals beim Trauermondfest verloren. Und Giselles Miene zufolge hatte er vermutlich auch sie so gewonnen.

Nail wusste, wie andere ihn wahrnahmen. Trotz seinen siebzehn Jahren war er größer und stärker als die meisten Männer Galgenhafens. Er hatte graugrüne Augen, eine schmale Nase, ein freundliches Lächeln und ein jugendliches, von blonden Locken gerahmtes Gesicht. Dauernd strich er sich widerspenstige Strähnen aus der Stirn – eine Angewohnheit, die er nicht abschütteln konnte und die die Mädchen auf ihn aufmerksam werden ließ. Nail trug sein Haar lang genug, damit es die schmalen Ohren bedeckte, die, wie er fand, etwas abstanden.

Stefane hatte zu essen aufgehört und starrte ins Leere.

»Iss«, sagte Nail. »Kopf hoch – Dokie wird schon wieder.«

»Ich weiß«, murmelte Stefane. »Das ist es nicht.«

Nail legte die Gabel hin. »Bald tanzt du mit Giselle auf dem Trauermondfest wie Mann und Frau.« Er zeigte auf seinen Freund. »Und du wirst sie um einen Tanz bitten – auch wenn ich dir den Mund aufzwingen und die Lippen für dich bewegen muss.«

Stefane lächelte schwach. Zane Neville kam zu ihnen.

»Ich nehme dein Bier, wenn du es nur anstarrst.« Mit einem gehäuften Teller ließ Zane sich auf den Platz neben Stefane fallen. Wie angekündigt schnappte er sich dessen Krug und trank in tiefen Zügen. Seidel, sein Schäferhund, setzte sich neben ihn und legte die Schnauze auf den Tisch. Zane schob ihm ein Stück Räucherlachs zu. Seidel verschlang es und klopfte dabei mit dem Schwanz auf den Boden. Der große Schäferhund erinnerte Nail an die Silberwölfe, die bei den Goldminen vor der Stadt durch die Berge streiften. Doch anders als die wilden Wölfe war Seidel ein gutmütiger Kerl.

Zane hatte ein rundes Gesicht mit dicker Nase, einer Handvoll Sommersprossen und karottenfarbenem Haar, das ihm wie eine Fackelflamme zu Berge stand. Er war groß, aber die hängenden Schultern und der birnenförmige Leib vereitelten selbst die ehrgeizigsten Versuche, sich in die Übungsrüstung zu zwängen. Doch trotz seines Körperbaus war Zane einer der besten jungen Krakenzerleger in Baron Bruks Mannschaft.

»Habt ihr über Giselle Barnwell geredet?«, fragte Zane, den Mund voller Kartoffeln. »Sie sagte, sie sei froh, dich heute Abend hier zu sehen, Stefane. Das schwör ich bei Laijon. Sie ist erleichtert, dass dich nicht wie Dokie der Blitz erwischt hat.«

»Stefane hat einen Riesenbammel vor Giselle«, sagte Nail. »Der würde nicht mal reagieren, wenn sie ihm eine Ohrfeige gäbe – oder ihm zwischen die Beine griffe.«

»Na ja, im Moment leuchtet sein Gesicht röter als der Hintern eines Ziegenbocks«, meinte Zane. »Ich wette, er hat sie schon längst auf Wetherbys Heuboden mitgenommen und das Gesicht unter ihren Rock geschoben, und ihre hübschen kleinen Beine waren …«

»Unsinn«, fuhr Stefane ihn an. »Ich würde nie …«

»Aber irgendeiner wird es tun. Du sehnst dich immer nur nach ihr wie ein unglücklicher Welpe. Unternimm endlich etwas, damit dir keiner zuvorkommt! Das schwör ich bei Laijon: Irgendwer schnappt sie dir sonst vor den Augen weg!«

Zane stand auf. »Vielleicht stoße ich sie einfach zu Boden und falle hier vor deinen Augen über sie her.« Er beugte sich über seinen Hund und tat, als würde er ihn bespringen.

»Hör auf damit!« Stefane sah sich nervös um. »Womöglich schaut sie ja her.«

»Humorlos wie immer.« Zane nahm wieder Platz und schaufelte sich mehr Lachs in den Mund.

Seine ältere Schwester, Liz Hen, stellte jedem von ihnen eine Schale Eintopf hin – im Krakenspeer wurden sie immer großzügig versorgt. Liz Hen war neunzehn, groß, breitschultrig und dickbäuchig, und ihr Haarschopf war noch wilder und röter als der von Zane. Seidel freute sich, sie zu sehen, wedelte mit dem Schwanz und stellte die Ohren auf.

»Das kann ich nicht essen.« Stefane schnüffelte an der dampfenden Schüssel. »Steckrübenschnitze, Rettich …«

Liz Hen schlug ihm mit fleischiger Hand auf den Kopf. »Dann verfüttere es an den Hund, du Trottel.«

»Au«, rief Stefane und stocherte missvergnügt im Eintopf. »Ich sag ja nur …«

»Was kümmert’s mich, woraus das Essen besteht. Könnte von mir aus Taubendreck sein. Ich bin ja nur das Laufmädchen des Wirts.« Sie drehte sich um und stapfte davon.

»Ärger sie nicht so.« Zane sah seiner Schwester nach. »Sie lässt das nur später an mir aus, das schwör ich bei Laijon. Du bist heute wirklich mürrisch, Stefane. Dokie wird schon wieder.«

»Mir liegt etwas anderes auf der Seele«, sagte Stefane. »Heute Morgen habe ich Nachricht von Onkel Brender aus Bainbridge bekommen. Die Gerüchte sind wahr. Das Heer des Weißen Prinzen hat die Laijontürme beinahe erreicht und steht schon fast an der Ostküste von Wyn Darrè.«

Ein Frösteln durchlief Nail. Wenn der Weiße Prinz einen vernichtenden Sieg über Wyn Darrè errungen hatte, war das tatsächlich eine schlimme Neuigkeit.

»Der Sündenerlass ist nah«, sagte Stefane. »Der Feurige Sündenerlass, so wie er in Weg und Wahrheit Laijons prophezeit wird. Noch sieht man an klaren Tagen von den Mauern von Lord’s Point aus die Laijontürme auf der anderen Seite der Meerenge leuchten. Aber bald liegen sie sicher in tiefem Dunkel, ausgelöscht von Aeros Raijael. Erst hat er Adin Wyte erobert, nun Wyn Darrè. Bald gehören ihm alle Fünf Inseln.«

»Was ist mit dem Leuchtfeuer auf der Festung von Sankt Einzig?«, fragte Zane und tätschelte dabei Seidel.

»Das brennt noch«, erwiderte Stefane, »aber nur, weil der Weiße Prinz es duldet. Mein Onkel sagt, Aeros Raijael werde die Küste von Gul Kana mit seiner ganzen Streitmacht angreifen. Unsere Insel ist die Beute, die er am meisten begehrt, und die Soldaten von Sør Sevier sind von klein auf zum Kriegführen erzogen. Lasst uns Galgenhafen verlassen! Kommt mit nach Bainbridge, dort können wir uns einem richtigen Heer anschließen! Mein Onkel wird uns finanzieren. Wenn er dich unterstützt, Nail, bist du nicht länger Shawcrofts Mündel.«

»Du strotzt heute ja vor Ideen«, gab Nail zurück, obwohl ihm die Vorstellung gefiel, nicht länger an Shawcroft gebunden zu sein – denn der alte Mann war unberechenbar und manchmal grausam. Stefane war immer darüber auf dem Laufenden, was im Königreich vor sich ging, und Nail beneidete den Freund darum. Doch seine hochfliegenden Ideen täuschten ihn über so einiges hinweg. »Wir werden gehängt, wenn wir von Baron Bruks Ausbildung desertieren und unseren Pflichten gegenüber Galgenhafen nicht nachkommen«, sagte Nail. »Zwei Jahre Dienst für Kirche und Silberthron. Wir wurden eingezogen und müssen alle unsere Zeit abdienen. Außerdem, wer würde Galgenhafen verteidigen, wenn wir uns aus dem Staub machten?«

»Das stimmt«, sagte Zane. »Wir sind Wehrpflichtige, wir können nicht einfach von Ort zu Ort ziehen.« Er nickte Nail zu. »Selbst Waisen und Kinder ungeklärter Herkunft sind nicht vom Dienst an Laijon befreit.«

Nail war nicht beleidigt. Zane meinte es nicht böse. Was er gesagt hatte, stimmte – sogar uneheliche Kinder dienten Laijon und dem Silberthron. Alle in Galgenhafen wussten, wie es um Nail stand. Shawcroft war noch am ehesten eine Art Familie für ihn – von einer Schwester abgesehen, die sein Meister ab und an erwähnt hatte, einer verlorenen Zwillingsschwester, die eines Tages zu finden Nail sich oft erträumte. Da er weder Mutter noch Vater gekannt hatte, fragte er sich manchmal, ob es sie überhaupt je gegeben hatte. Und seine vagen Erinnerungen an die zärtlichen Berührungen einer Amme in der frühen Kindheit waren mit der Zeit immer schwächer geworden.

»Wenn wir nach Bainbridge abhauen, spürt Baron Bruk uns auf«, sagte Zane. »Dafür sorgt Bischof Tolbret schon. Und dein Onkel wäre bestimmt sowieso versucht, uns auszuliefern. Warum musst du die Dinge immer so anders sehen, als sie in Weg und Wahrheit beschrieben sind?«, fragte er, schnappte sich Nails Bierkrug und nahm erneut einen tiefen Schluck. »Stefane der Skeptiker – darauf taufe ich dich. Immer denkst du zu viel. Wer die Gesetze Laijons anzweifelt, beweist einen schwachen Geist.«

Nail fühlte sich zwischen Zanes blinder Verehrung für die Anhänger Laijons und Stefanes zynischer Sicht der Dinge gefangen. Meister Shawcroft war ihm in religiösen Fragen keine Hilfe. Er hatte eine zu tiefe Abneigung gegen alles, das mit der Kirche Laijons zu tun hatte, und sprach fast nie über seine Ansichten. Nail hingegen mochte die Kirche und ihre Dienste des Achten Tages – vor allem als Vorwand, das Schürfen mit Shawcroft zu unterbrechen und dem langweiligen Tun zu entgehen, eine Spitzhacke mit einer solchen Präzision zu führen, wie sein Meister sie ihm abverlangte. Den wöchentlichen Dienst des Achten Tages zu besuchen, brachte Nail seinen Freunden näher – und Ava Shay. Außerdem würde in diesem Frühjahr wieder das rituelle Entfachen der Aschenglut stattfinden. Nail hatte sich das Gebet dazu eingeprägt und so lange täglich im Kopf wiederholt, dass er es inzwischen vorwärts und rückwärts vortragen konnte.

»Entweder hierbleiben und durch die Schwerter einer Eroberungsarmee sterben oder fortgehen und von Landsleuten gejagt werden.« Jetzt schwang Enttäuschung in Stefanes Stimme mit, eine Resignation, in der sich die Aussichtslosigkeit ihrer Lage spiegelte. »Sofern Baron Bruk uns nicht vorher zugrunde richtet. Begreift er denn nicht, dass unsere Helme da draußen die Blitze regelrecht anziehen? Vermutlich werden wir gekocht wie Hühner im Topf. Selbst die Priesterroben von Bischof Tolbret bieten mehr Schutz.«

»Mach keine Witze«, sagte Zane. »Die Seidenroben Laijons hat der Großvikar persönlich gesalbt und dadurch stärker gemacht als jede Rüstung. Tolbret wäre in jedem Sturm geschützt.«

»Die Roben sind aus Seide, nicht aus Eisen, und sicher nicht magisch. Die Geschichten über ihre heiligen Eigenschaften sind doch bloß Märchen, die Kinder beeindrucken sollen.«

»In Weg und Wahrheit Laijons ist von ihrer Heiligkeit und Stärke die Rede.«

»Ich sage ja nur, dass unsere Rüstungen bloß verrostete Überbleibsel sind, die man aus dem alten Bergfried geborgen hat. Mit den vierzig Wehrpflichtigen aus unserem Ort und den paar zwielichtigen Seeleuten und einer Handvoll mit Harken bewaffneten Bauern können wir uns gegen Sør Sevier nicht behaupten. Jubal Bruk mag der Baron unseres Landes sein und der Eigentümer des Krakenfängers, auf dem ich arbeite, aber manchmal halte ich ihn für wirr im Kopf.«

»Wirr im Kopf?« Jubal Bruk tauchte unvermittelt aus der Menge auf und trat mit seinem Sohn Jenko an ihren Tisch. Der Baron trug einen vom Regen durchweichten Umhang, der nach nassem Pferd roch. Seidel schnüffelte kurz an ihm und wich zurück.

»Baron.« Stefane erhob sich hastig, verbeugte sich und sah aus, als hätte er einen Frosch verschluckt.

»Wie geht es Dokie?« Auch Nail war aufgestanden und verneigte sich. Entgegen Stefanes Behauptung war Jubal Bruk kein Narr. Sein Blick wanderte verärgert über die um den Tisch sitzenden Jungen. Der Baron hatte buschige Brauen und tiefliegende Augen, die wie in ängstlichem Blinzeln erstarrt wirkten. Der Baron hatte ein bärtiges Gesicht und eine breite Stirn, die in eine nur noch von einem grauen Haarkranz gesäumte Glatze überging, und er schüchterte alle im Ort ein – vor allem, da er stets ein enormes Schwert mit dickem, lederumwickeltem Griff und einem Knauf trug, der mit Intarsien aus schwarzem Opal geschmückt war. Gerüchten zufolge hatte er, ehe er vor fünf Jahren nach Galgenhafen gezogen war, zu den berühmten Tagrittern von Amadon gezählt. Die meisten im Ort hielten ihn daher für einen guten Kämpfer, wenn auch für einen lausigen Anführer.