Joh.R.M. Christl

Luftschlösser und Geldberge

Von Theresia Humbert, der größten Betrügerin des 19. Jahrhunderts, über Adele Spitzeder, der Erfinderin der Dachauer Bank bis zum größten Skandal des 21. Jahrhunderts: Wirecard. Wahre Begebenheiten.


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Titelgestaltung: Andreas Kühn und Joh.R.M.Christl

 

VORWORT

 

Mit Geld umzugehen ist keine einfache Sache.

Da gibt es Naturtalente, die trotz Bankausbildung auf die schiefe Ebene geraten, da gibt es aber auch Menschen die von Bankgeschäften wirklich keine Ahnung haben und von Zeitläuften einfach mitgerissen werden.

Keine Entschuldigung für jene, die sich sehr oft

auf Kosten anderer auf dem Geldmarkt illegal bedienen.

 

 

GELD

STINKT

NICHT!

 

 

Diese Redewendung ist rund 2.000 Jahre alt

und stammt aus dem alten Rom.

Kaiser Vespasian ließ die Bürger für jede Nutzung

der Toilettenanlage eine „Urinsteuer“ zahlen.

Sein Sohn empfand das als ungerecht.

Daraufhin, so die Geschichtsschreibung, hielt der Imperator seinem Sohn das Geld unter die Nase

und fragte ihn, ob es denn stinke – schließlich habe man es durch den Toilettengang

anderer Leute eingenommen.

Die Münzen rochen freilich nicht anders als sonst.

 

Vespasian wollte deutlich machen,

dass es egal war, wo das Geld herkomme:

„Pecunia non olet“ – „Geld stinkt nicht“.

 

So denken viele – auch heute noch…

und wozu das letztendlich führt, das zeigen

die drei Kapitel dieses Buches auf.

Da gibt es eine elegante Dame in Frankreich,

die aufgrund einer Lüge mit Krediten überhäuft wurde,

da gibt es eine Dame in München,

die plötzlich von der Gier ihrer Landsleute

mitgerissen wird und da gibt es das jüngste Beispiel,

wie gescheite Leute beim Umgang mit Milliarden

den Überblick verloren haben.

Alles Aktionen, die schließlich als kriminelle Machenschaften ausgelegt werden konnten.

 

CHRONOLOGIE

EINES JAHRHUNDERTSCHWINDELS

 

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1856 erblickt Thérèse Daurignac im Languedoc,

einem Landstrich im südlichen Frankreich,

und hier im Dorf Aussonne, das Licht der Welt

1860 Mutter Rosa zieht mit ihrer kleinen Tochter

Thérèse in die Stadt nach Toulouse und

eröffnet dort eine Edel—Lingerie (Luxus

Dessous für die Gattinnen wohlhabender

Industrieller)

 

1871 verstarb Mutter Rose. Da der Vater ein

Taugenichts war, kümmerte sich die 15jährige

Thérèse um die Familie. Sie besorgte für die

Geschwister essen und organisierte den täglichen

Unterhalt. Außerdem unterhielt sie, indem sie

unglaubliche Geschichten erfand, alle Nachbarn.

So schuf sie sich unter den Freunden und

Nachbarn eine ganze Reihe von Bewunderern.

1872 bereits als 16-Jährige schwatzte sie dem örtlichen

Barbier Bérard immer wieder einen Kredit ab,

mit dem unhaltbaren Versprechen, ihre Tante

Dupuy werde die ausstehenden Schulden schon

begleichen.

1873 Nachdem ihre Schulden bei allen Bekannten

schwindelerregende Höhen erreicht hatten,

landete Thérèse ihren bis dahin wohl größten

Coup: Im Alter von siebzehn Jahren gab sie ihre

Verlobung mit dem Sohn eines reichen

Schiffseigners aus Bordeaux bekannt und

erklärte unter Tränen, es handle sich um eine

reine Vernunftehe. Sie weinte so herzzerreißend,

dass sie umgehend eine maßgeschneiderte

Aussteuer nach Aussonne geliefert bekam.

1874 hatten die Geschäftsleute gemerkt, dass die

Geschichten nur Hirngespinste waren. Das Fass

war am Überlaufen. Die Schulden wuchsen und

wuchsen. Der Offenbarungseid ließ sich nicht

mehr abwenden. Das Haus musste verkauft

werden. Die Daurignacs verließen mit Schimpf

und Schande den Ort und flüchteten nach

Toulouse.

1875 avancierte Thérèses Onkel Gustave Humbert in

Paris zum Senator auf Lebenszeit.

1877 Am 07. September setzte ein amerikanischer

Millionär namens Robert Henry Crawford

Thérèse als Universalerbin ein. Er hinterließ ihr

– nach Angaben von Thérèse – die

fürstliche Summe von einhundert Millionen

Francs (nach heutigem Wert: ca. dreihundert

Millionen Euro). Alles wohlgemerkt nur in der

Phantasie von Thérèse.

1878 heiratete der Sohn von Onkel Humbert,

Frédéric, seine Cousine Thérèse, und die

Tochter vom Onkel, demnach die Cousine

Alice, vermählte sich mit dem Bruder von

Thérèse. Es gab eine Doppelhochzeit, die an

Pomp ihresgleichen suchte und noch Jahre

danach das Gesprächsthema der ganzen Gegend

war. Alles natürlich auf Pump

1879 Thérèse erfand das Château de Marcotte,

ebenfalls ein Hirngespinst, ein Schloss mit

herrlichen Marmorterrassen und Orangehainen.

Man ließ eine offizielle, notariell beglaubigte

 

Vollmacht ausfertigen, durch die Monsieur

Parayre, der Ehemann von Thérèses Freundin

Catherine, zum Verwalter des nicht existierenden

Anwesens bestellt wurde.

1882 Der Schwiegervater von Th., Senator Humbert,

erreichte den Zenit seiner politischen

Ambitionen, er wurde zum Garde des Sceaux,

zum Justizminister von Frankreich ernannt.

1883 Es hatte sich herumgesprochen, dass bei den

jungen Humberts viel Geld zu holen wäre. Die

große Erbin mit ihren ministerialen

Verbindungen, (Onkel Gustave Humbert),

wurde von beflissenen Advokaten,

Finanzspekulanten , Immobilienmaklern und

Großgrundbesitzern umworben, die sich

regelrecht darum rissen Th. Geld zu leihen. Der

Credit Foncier steuerte neunhunderttausend

Francs bei. Andere Banken und Unternehmen

streckten insgesamt noch einmal genauso viel

vor. So verfügten die Humberts über Kapital in

unglaublicher Höhe.

1883 Am 29. März 1883 wechselte das Château de

Celeyran, Stammsitz der Comtesse de Toulouse-

Lautrec für die Summe von zwei Millionen

Francs den Besitzer - der gesamte Betrag war

geliehen. Ein Monsieur Begnères stellte dabei

gerne 1,6 Millionen Francs zur Verfügung.

 

1885 Im Herbst dieses Jahres feierte Thérèse mit ihrer

Familie in beispiellos luxuriöser Form den

Einzug in die prachtvolle Residenz in der

Avenue de la Grande Armée Nr. 65 in Paris.

1895 Zu dieser Zeit trat Thérèse als wohlbestallte

Geldverwalterin auf. Sie versprach enorm hohe

Zinsen. Ihr Ruf, sie habe die höchsten Zinssätze

Frankreichs verbreitete sich in Windeseile.

1896 meldete sich zum ersten Mal der

Gerichtsvollzieher Quelquejay, nachdem sich die

Gerüchte um Auszahlungsschwierigkeiten

mehrten. Um ihn milde zu stimmen, wurde er

mit einer hohen Summe bestochen.

1898 Nach erheblichen Turbulenzen beruhigten sich

die Gerüchte, Thérèses Position war schnell

wieder unangefochten,.

1901 fand schließlich ein Geheimtreffen der Humbert-

Gläubigen statt. Die Banque Anglo Égyptienne

klagte auf Rückerstattung eines Darlehens, das

man Madame Humbert zu einem versprochenen

Zinssatz von 64,14 Prozent gewährt hatte. Man

sprach in der Presse bereits „Vom größten

Schwindel des Jahrhunderts“. Die erfundene

Geschichte mit dem Erblasser Crawford flog auf.

Ein Richter ordnete an, den geheimnisvollen

Tresor der Madame Humbert, an den bis dahin

keiner herankam, endlich zu öffnen.

 

1902 verschwand plötzlich Thérèse Humbert. Sie hatte

sich in Luft aufgelöst. Es wurde offiziell Anzeige

wegen Betruges gegen Thérèse gestellt. Nach

Öffnung des Tresors enthielt dieser, zum

Schrecken der Gläubiger, lediglich eine alte

Zeitung, eine italienische Münze und einen

Hosenknopf.

 

 

***

Warum hast du das wunderbare Seidentuch nicht gekauft. Mir hat besonders die türkise Farbe gut gefallen?“

 

Diese Frage stellte Catherine Fuzié, die langjährige Freundin Thérèse Humberts ihrer Beifahrerin. Beide Damen, Catherine als auch Thérèse hatten, bevor sie ihre Reisekutsche in Beauzelle Richtung Toulouse bestiegen noch bei einem Textilhändler für die Reise ein schönes Halstuch kaufen wollen. Nun saßen sie in einer bequemen komfortablen Chaise (sprich Schääse), die

sich Richtung Toulouse bewegte.

 

Das kann ich dir schon sagen…“, antwortete Thérèse „….ich kenne den Händler Marcel gut. Er wollte mich übers Ohr hauen“

„Wieso das denn?“

In den laufenden zwei Metern des Seidentuches habe ich auf den ersten Blick festgestellt, dass Webfehler erkennbar waren. Der Kerl wollte mir zweite Wahl verkaufen. Zweite Wahl kommt für mich nie in Frage! Du weißt, ich bevorzuge immer und bei allem, egal was ich einkaufe, stets erste Qualität.“

Die Kutsche rollte inzwischen in das Städtchen

Toulouse ein und Thérèse befahl dem Kutscher

„Zum Bahnhof, bitte!“

Am Bahnhof angekommen, wurden die beiden Reisenden von Monsieur Brabant, einem wohlhabenden Geschäftsmann, der in Toulouse zwei florierende Gewürzhandlungen besaß, überschwänglich begrüßt, und als die beiden Damen inklusive ihrem Gepäck der Chaise entstiegen waren und der Kutscher von Thèrèse seine Fahrtkosten erbat, sagte Theresia in Richtung Brabant

„Ach, ich habe kein Kleingeld bei mir. Sind Sie so freundlich und helfen mir aus?“

Der Geschäftsmann Brabant war zwar etwas verblüfft, erwidert Thèrése jedoch spontan

„Aber selbstverständlich, meine Gnädigste, mit dem größten Vergnügen“… und er gab dem Kutscher das Fahrtgeld, durch ein bedeutendes Trinkgeld aufge-rundet.

Freundin Catherine wunderte sich über nichts mehr; hatte sie doch selten erlebt, dass ihre langjährige Freundin irgendwelche Rechnungen bezahlte.

Galant geleitete Brabant die beiden Damen zum

 

Zugabteil und reichte ihnen ihr Gepäck nach oben.

Thérèse und Catherine bedankten sich artig, sie beugten sich aus dem Fenster des Zuges, der sich inzwischen in Bewegung gesetzt hatte und winkten mit ihren weißen Schnupftüchlein, den am Bahnsteig Zurückgebliebenen, freundlich zu.

„Was wollen wir eigentlich in Paris?“….fragte Catherine ihre Freundin „…kennst du dort irgendwelche Leute?“

„Paris ist der Nabel der Welt. Dort rührt sich etwas! Das ist für mich das einzig richtige Umfeld!“

Paris war zu dieser Zeit bereits eine pulsierende Großstand, wo die Belle Epoche fröhliche Urständ feierte.

Als Belle Époque bezeichnet man eine Zeitspanne von etwa 30 Jahren um die Jahrhundertwende, vom 19. zum 20. Jahrhundert für die Zeit vor der Jahrhundertwende ist auch der Begriff Fin de Siècle (Jahrhundertende) gebräuchlich.

Auf den deutsch Französischen Krieg ( 1870/71) folgte eine lange Zeit des Friedens. Der Frieden brachte es mit sich, dass er die Grundlage war für einen deutlichen Aufschwung von Wirtschaft und Kultur in den europäischen Kernländern Frankreich, Deutsches

Reich und Österreich. Wesentliche Triebkraft hierbei war die zweite Welle der industriellen Revolution mit Schwerpunkten in der chemischen Industrie, der Elektrotechnik, der Stahlindustrie und auch im Verkehrswesen. An den Standorten der Fabriken entstanden neue und große Ballungszentren.

Und die Folge war dann, dass besondere Gesundheitsprobleme entstanden, aber es gab eben auch neue Ansätze zu deren Lösung. Medizin und Hygiene machten gewaltige Fortschritte, die Säuglingssterblichkeit ging zurück und die allgemeine Lebenserwartung stieg. Auch die Haltung zur Arbeit änderte sich. In der Industrie wurde der Herstellungsprozess durch Arbeitsteilung rationalisiert; die Arbeit wurde eintöniger aber durchaus und absolut nicht weniger anstrengend. Die Arbeiterschaft organisierte sich in Gewerkschaften und in politischen Parteien, die Parti Socialiste (PS) in Frankreich, der Labour Party in England (PD), der SPD in Deutschland und der SDAP in Österreich. Diese Organisationen gewannen bis Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend an Einfluss, ungeachtet mancher Rückschläge in ihren Heimatländern. Nachteile im Arbeitsleben wurden jedoch dabei zumindest teilweise ausgeglichen, durch einen allgemeinen Ertragszuwachs, an dem auch die Arbeiter selbst - wenn auch nur einen relativ geringen - Anteil hatten. Die Einkommen stiegen zeitweilig deutlich schneller als die Verbraucherpreise.

Die Menschen dieser Epoche fühlten sich zweifellos in großem Umfang mehr als zuvor als materiell gesichert und es herrschte eine allgemeine optimistische Stimmung hinsichtlich der politischen, der technischen und vor allen Dingen auch der kulturellen Aussichten.

 

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Viele sehen die Belle Époque nur als eine Zeit des uneingeschränkten Lebensgenusses und der allgemeinen gesellschaftlichen Sorglosigkeit; die große Zahl der Bauern und Landarbeiter hatte jedoch kaum Anteil an dieser „schönen Zeit“. Dasselbe gilt auch für die Masse der Industriearbeiter und kleinen Angestellten, die nach vielstündigen Arbeitstagen in die lichtarmen Hinterhof- Quartiere der schnell wachsenden Städte zurückkehrten.

 

Die Belle Époque ereignete sich im Wesentlichen auf den Boulevards der Metropolen, in den Cafés und Cabaréts, den Ateliers und Galerien, den Konzertsälen und Salons, getragen von einem mittleren und auch von einem gehobenen Bürgertum, das vom technischen und wirtschaftlichen Fortschritt am meisten profitierte.

In diesen Milieus allerdings war in wenigen Jahrzehnten eine erstaunliche und hochdynamische kulturelle Entwicklung zu beobachten. Obwohl sie sich gegen Widerstände, in Brüchen mit Überschneidungen vollzog, konnten sich in diesem Zeitraum Kunst und Kultur - auch eine Kultur der ganz unbeschwerten, öffentlichen Unterhaltung - besonders intensiv und vielfältig weiterentwickeln. Vor allem war es das, was der Epoche ihren glänzenden Namen gab.

 

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In der Pariser Presse gab es eine regelrechte Humbert-Manie. Hier wird Thérèse mit ihrer jüngeren Schwester Maria vom Gerichtspräsidenten, ironischer Weise in der Verkleidung eines Conférenciers, begrüßt.

 

 

Die Verkehrsnetze wurden entwickelt, sinkende Transport-Tarife und vermehrte Freizeit im Bürgertum trugen dazu bei, dass beispielsweise Vergnügungsreisen immer attraktiver wurden. Ganz besonders bevorzugte Reiseziele waren unter anderem die Weltausstellungen in London - und eine besonders attraktive dieser Ausstellungen fand 1889 in Paris statt: Der Eiffelturm war eine Sensation!

Es wurden immer mehr internationale Verbände gegründet und die Zahl internationaler wissenschaftlicher Konferenzen nahm deutlich zu, außerdem wurden 1896 in Athen mit großem Erfolg die ersten modernen Olympischen Spiele veranstaltet. In der bildenden Kunst die insbesondere von Frankreich geprägt war, hatten der Impressionismus über den Jugendstil bis zum Kubismus große Erfolge. Die beispielhaften Vertreter dieser drei Stilrichtungen waren Paul Cezanne, Gustav Klimt und Pablo Picasso, um nur einige zu nennen.

In der Musik reichte die Spanne von der Spätromantik über den Impressionismus zur Atonalen Musik. Ihre Vertreter waren Gustav Mahler, Claude Debussy und Arnold Schönberg. In der Literatur reichte diese Spannweite vom Naturalismus über den Impressionismus und Symbolismus bis zum Expressionismus. Namen wie Emil Zola, Anton Tschechow, Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann und Rainer Maria Rilke sind hier zu nennen.

Früher als anderswo - nämlich schon in den 1860 er Jahren - hatte in England eine Reformbewegung für das Kunsthandwerk begonnen, die später auf den Kontinent Europa überschwappte. Das Ziel war Möbel

und Wohnräume von überladenem Decor historischer Zitate zu befreien und einen neuen Stil zu kreieren. Auf Repräsentation wurde weniger Wert gelegt, als auf die sachliche Erfordernis des Wohnens. Man kann hier den deutschen Kunstpädagogen Alfred Lichtwark zitieren, der 1896 sagte: Jede Kunstpflege muss im Haus beginnen und hat nichts in deinem Haus verloren, wenn Du sie nicht zweckmäßig findest oder nicht für schön hältst.

1895 fand in Berlin, veranstaltet durch die Gebrüder Skladanowsky, die weltweit erste öffentliche Filmvorführung statt. Die Weiterentwicklung der Farblithographie vor allem durch Jules Cheret und Henry de Toulouse-Lautrec in Paris ermöglichte den preiswerten Druck attraktiver Plakate als Kunst der Straße, der man ästhetisch und sogar moralisch eine veredelnde Massenwirkung zutraute. Sie riefen enthusiastisches Interesse hervor und in Frankreich vorübergehend auch eine überaus weit verbreitete Sammelleidenschaft.

Auch die Mode, insbesondere die Damenmode geriet in Bewegung; von auch viktorianischen oder wilhelminischen Prunk nach 1900 auch allmählich zur Befreiung aus den Zwängen des Korsetts. In diese Zeit fällt auch die vielbeachtete Bewegung zur Entwicklung einer Reformkleidung für Frauen, die sich allerdings lange nicht durchsetzen konnte. Im Jahr 1871 beginnt

nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges die Belle Époque, die als Goldenes Zeitalter in die westliche Geschichte eingeht.

 

Auch in den USA herrscht Aufbruchsstimmung, denn nach Bürgerkrieg und Wiederaufbau mausern sich die USA während des Gilded Age und können bald mit Europa mithalten, was Reichtum und Trends angeht. Neue, schnellere Reise- und Kommunikations-möglichkeiten lassen die westliche Welt ein ganzes Stück enger zusammenrücken, sodass auch Mode und Trends globalisierter werden. Das Kaufhaus ist außerdem auf dem Vormarsch: Ob “Le Bon Marché”, wo Mode von der Stange erschwinglich ist, oder teure Luxusgeschäfte wie das “Grand Magasin du Louvre”. In Paris, London, New York und anderen Großstädten wird Mode jetzt fertig gekauft. Die Zeit der Modesdesigner.innen bricht an: Wer es sich leisten kann und seinen Status beweisen will, kauft vor allem bei Worth in Paris, der Adelige und Stars der Epoche wie Sarah Bernhardt, Jenny Lind oder auch Thèrèse Humbert einkleidet. Die 1870er sind eine optimistische Zeit, beinahe gierig nach Fortschritt und dem Neuen, aber gleichzeitig ähnlich wie die vorangegangen Jahrzehnte zumindest modisch auch rückwärts gewandt. Heraus kommt eine extravagante, glamouröse Mode.

Noch ein Wort zur damaligen Mode.

Die 1870er setzen fort, was die späten 1860er begonnen haben: Die Fülle der Röcke verlagert sich vollends nach hinten. Spätestens 1871 sind die meisten Kleider von vorn sehr schmal und eng geschnitten, während die Fülle hinten ungefähr auf Höhe der Kniebeuge am größten ist. Für diesen Stil wird die Krinoline der 1850er und 1860er Jahre durch die Tournüre abgelöst, die nun nicht mehr den gesamten Körper einschließt. Genau wie die Krinoline ist auch die Tournüre biegbar und flexibel und faltet sich einfach zusammen, wenn man sich zum Beispiel setzt.

Tournürenmode orientiert sich stark an der Mode des späten Rococos, besonders an der sogenannten “Robe a la Polonaise”, die in den 1780er Jahren, als genau hundert Jahre zuvor, getragen wurde. Der Polonaise-Stil zeichnet sich durch ein enges Mieder und kunstvoll aufgesteckte Überröcke aus, wie es auch zu Beginn der 1870er Jahre wieder getragen wird. Zu Polonaise-Kleidern dieser Epoche gehören zwei Röcke: Der Überrock, der aufgesteckt wird, sowie der farblich abgestimmte Unterrock, der darunter zum Vorschein kommt.

Zum Polonaise-Stil der 1870er gehört außerdem

ein langes, jackenähnliches Mieder, das über einer

Chemisette oder einer Weste getragen wird und ebenfalls aufgesteckt werden kann, aber nicht muss. Vorn sitzen diese Kleider sehr eng, sodass man auf Unterwäsche, die sich zu stark abzeichnen würde, verzichtete. Man trug nun meistens nur noch die Chemise und einen, oder sogar gar keinen, Unterrock. Schleppen werden für besondere Anlässe getragen, zum Beispiel auf Bällen, und können abgenommen werden.

Tageskleider haben meist eng anliegende Ärmel und sind hoch geschlossen. In den 1870er Jahren kommt der den Hals einfassende Kragen auf, der oft mit dem viktorianischen Zeitalter in Verbindung gebracht wird. Abendkleider sind im Gegensatz zu dieser zugeknöpften Mode jedoch so freizügig wie nie zuvor. Sie haben sehr schmale kurze Ärmel, die die Schultern und die Arme freilassen, und einen runden oder eckigen tiefen Ausschnitt. In den 1870ern wird auch immer öfter der Rückenausschnitt getragen, der ungefähr so tief fällt, wie der vordere Ausschnitt.

Um 1877 verschwindet die Tournüre unter anderem durch den Einfluss des Artistic Dress aus der Mode und Kleider fallen jetzt natürlich. Sie werden immer noch eng getragen und die langen Mieder fallen jetzt glatt über aufgesteckte und drapierte Röcke, die mit Bändern, Schleifen, Quasten und Rüschen verziert sein können. Um auftragende Stofflagen zu vermeiden

werden jetzt falsche Unterröcke getragen: Versatzstücke von Unterröcken, oft auch Schleppen, die an den eng anliegenden Oberrock angeheftet werden.

Das Korsett der 1870er Jahre ist daher auch länger, um mit den längeren Miedern getragen werden zu können. Es wird nun allgemein betrachtet deutlich enger geschnürt als in den Jahrzehnten zuvor um trotz der schmalen Form der neuen Kleider die Stundenglastaille zu erreichen. Die Taille wird um ein paar Zentimeter reduziert, was jedoch nach wie vor schmerzlos und vor allem ohne gesundheitliche Folgeschäden möglich ist.

Ein alternativer Stil der späteren 1870er ist das von Worth entworfene “Prinzesskleid”, das keine Naht in der Taille hat. Es besteht aus einem einzigen Stoffstück, das mit Abnähern figurbetont gemacht wird. Die enge, körperbetonte Mode der 1870er Jahre wurde von Träger.innen und ihren Zeitgenossen nach der ausladenden Mode der 1840er bis 1860er als sehr sexy und ein bisschen unanständig betrachtet.

Die Mode ist gegen Ende der 1870er sehr schnelllebig geworden. Wo die Trend-Stile früher ganze Jahrzehnte gehalten haben, haben wir in den 1870ern nicht nur alle paar Jahre einen signifikanten Wechsel in der Mode, sondern vor allem auch mehrere Trend-Stile, die alternativ nebeneinander existieren. Das liegt vor

allem daran, wie schnell und günstig Mode jetzt im Vergleich zu zuvor herzustellen und zu erwerben ist. Als wohlhabende Pariser Dame ließ man sich, ganz so wie Thérèse, seine Kleider zuvor auf den Leib schneidern.

Das war kostspielig, denn die Schneider.innen mussten die Kleider von Hand nähen, aus kostbaren, teuren Stoffen. Im Zuge von Globalisierung (und auch Imperialismus, Kolonialismus und Ausbeutung von Näher.innen in Europa, aber auch in Asien) liegen Stoffe jetzt deutlich günstiger in den neuen Kaufhäusern aus und können mit der Nähmaschine viel schneller genäht werden – oder direkt von der Stange im Luxuskaufhaus der Wahl erstanden werden. Langsam verliert Kleidung den Wert, den sie einst hatte. Das ist auf der einen Seite positiv, denn es ermöglicht Schneider.innen effizienter und gewinnbringender zu arbeiten und sorgt dafür, dass sich auch Menschen die neuste Mode leisten können, die zuvor ein Privileg der obersten Gesellschaftsschichten waren. Gleichzeitig beginnt hier aber die Geschichte von Kleidung als Wegwerfware und von “fast fashion”, die noch heute auf der Ausbeutung schlecht bezahlter Arbeitskräfte und neo-kolonialen Strukturen funktioniert und auch in punkto Klimawandel ein großes Problem darstellt.

Die neue Ungezwungenheit der 1870er spiegelt sich besonders in den Trendfrisuren der Epoche wider,

denn die Zeit der schlichten, simplen Frisuren ist eindeutig vorbei. Thérèse trug meistens voluminöse und mit allerlei Zugaben überladene Hüte, trotzdem orientierte sie sich gern an den neuen Modefrisuren.

Es gibt in den 1870ern nicht die eine Frisur, so gesehen ist in diesem Jahrzehnt alles möglich, solang das Haar aufgesteckt wird, beliebt waren aber Wellen und große Locken, die am Hinterkopf auf Höhe der Krone hochgesteckt waren. Voluminöse Haarknoten oder Flechten waren beliebt, aber besonders junge Frauen ließen die aufgesteckten Locken auch auf die Schultern und den Rücken herunterfallen. Zum ersten Mal seit langem ist halboffenes Haar wieder gesellschaftlich akzeptiert. Etwas ganz Neues ist der Pony, der ebenfalls gelockt oder glatt getragen werden kann, ganz nach Belieben. Das Haar einer Frau abzuschneiden war in den Jahrzehnten zuvor nichts vollkommen Unerhörtes, aber auch nichts, das oft gemacht wurde. Deshalb ist es verständlich das viele Frauen zögerten sich einen Pony schneiden zu lassen. Stattdessen gab es Haarteile, die man sich als Pony anstecken konnte. Überhaupt werden Haarteile für die voluminösen Frisuren der 1870er ein Muss: sie werden mit Kämmen oder Haarnadeln ins Echthaar gesteckt.

Auch die Zeit der Haube als Kopfbedeckung ist vorbei, schlicht und ergreifend, weil sie mit den neuen,

voluminösen Frisuren nicht getragen werden kann. Stattdessen kommen kleine Hüte in allen Formen und Farben in Mode, die vor und/oder auf den Haarknoten gesetzt und angeschrägt in der Stirn getragen werden.

Thérèse machte hier eine Ausnahme, sie trug mit Stolz großkrempige ausladende Hüte, die besser zu ihrer etwas voluminösen Figur passten, als die kleinen Hütchen, die wohl ihre Körpermaße viel mehr in Erscheinung treten ließen.

Diese Hüte sind mit Hutnadeln festgemacht und verrutschen deshalb nicht. Besonders beliebt war es, Samt- oder Satinbänder am Hut zu befestigen und mit dem Haar den Rücken herabfließen zu lassen. Darüber hinaus blieben Blumen, Federn, Perlen und Spitze als Verzierung beliebt.

Etwas ganz Neues ist der Pony, der ebenfalls gelockt oder glatt getragen werden kann, ganz nach Belieben..

Besonders beliebt war es, Samt- oder Satinbänder am Hut zu befestigen und mit dem Haar den Rücken herabfließen zu lassen. Darüber hinaus blieben Blumen, Federn, Perlen und Spitze als Verzierung beliebt.

 

Fazit: Die Belle Époque entdeckt die Opulenz!

Die neuen Moden der 1870er Jahre sind ein klares Symbol für die Aufbruchsstimmung, die in Europa und Amerika nach Jahren voller politischer Konflikte, sozialer und gesellschaftlicher Probleme und strengem Moralverständnis herrschte. Die Belle Époque und das amerikanische Gilded Age werden als überwiegend friedliche Zeit verstanden, in der besonders Kultur und Gesellschaft aufblüht. Diese Epoche ist geprägt von Optimismus und vom Glauben an die Zukunft, an technischen Fortschritt und an soziale Verbesserungen und nicht zuletzt deshalb fanden die Phantasien von Thérèse nicht nur Gefallen, sondern fanden auch als Wirklichkeit Eingang in die Gesellschaft.

Es ist daher kein Wunder, dass die Damenmode die in den 1840ern neu entdeckte Bescheidenheit nun vollkommen abwirft und opulent und in den Augen der Zeitgenossen beinahe sexy wird. Der Beginn der 1870er bedeutet in der westlichen Welt eine schon damals bewusst wahrgenommene Zäsur, einen Schnitt, der das Neue vom Alten trennt, was es vielleicht nachvollziehbarer macht, warum die Mode nach Jahrzehnten von ähnlichen Formen und Trends plötzlich einen so großen Wandel durchmacht.

Die Zeit eines weithin sorglosen Lebensgefühls, welches die Belle Epoque mit sich brachte, änderte spätestens mit Kriegsbeginn 1914. Man kann den

Schlusspunkt aber auch schon 1912 setzen: Mit dem Untergang der Titanic ging symbolisch auch der naive Glaube an die Allmacht der Technik unter. Auch die erkennbaren Vorzeichen des neuen großen Krieges trugen dazu bei, dass letztendlich aus dem Vertrauen in die Zukunft Unsicherheit und Angst wurden.