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Alfred Polansky

Die schlafenden Farben

Von Geöffnetem und Geschlossenem

(Roman)

 

 

 

Copyright © 2015 Der Drehbuchverlag, Wien 

Alle Rechte vorbehalten 

eBook: Die schlafenden Farben - Von Geöffnetem und Geschlossenem (Roman) 

ISBN: 978-3-99041-452-1 

I. Prolog

 

1888 war kein gutes Jahr. Zumindest bis zu jenem Tag im August, ich glaube, man schrieb damals den zweiten, als es leise und vorsichtig an meiner Tür klopfte. Ich hatte mich seinerzeit in einer billigen Dachkammer in der Rue de Belleville am Stadtrand von Paris eingemietet und harrte ängstlich meiner Zukunft, die, sollten sich meine Angelegenheiten weiterhin so übel gestalten wie bisher, mehr als aussichtslos zu werden versprach. Diese elende Vision war die einzige Sicherheit, die ich noch besaß, und so kann man verstehen, dass ich voll verwirrtem Neid und Eifersucht die beiden Schaben betrachtete, wie sie unbeschwert und sorglos in mysteriöser Einigkeit am Fußboden kriechend den Raum durchquerten, um schließlich in irgendeiner dunklen Ritze zwischen Wand und Parkett zu verschwinden. Weg waren sie. Lediglich dieses lästige Pochen war noch zu hören, immer wieder, als wolle jemand partout nicht wahrhaben, dass ich um nichts in der Welt gewillt war, die Tür zu öffnen.

    Klopf, klopf, klopf. Argwöhnisch verstört vor dem, was dieses trostlose Pumpern in sich barg, kaute ich nervös an meinen Fingernägeln. Nein, ich werde ganz sicher nicht aufmachen, räudige Welt! Was kannst du mir denn schon bringen außer düsteres Grausen und Kälte, dachte ich. Von beiden hatte ich bereits mehr als genug. Gerade du solltest das wissen. Also, verschwinde.

    Klopf, klopf, klopf. Ja, da wollte mir wohl irgendjemand ausführlich seine Halsstarrigkeit darlegen. Was für ein bedrängendes Schicksal sich doch an diesem Morgen meiner fürsorglich annahm, schoss es plötzlich bitter durch meinen Kopf. Trotzdem, Ohren anlegen! Was soll’s? Bis zum heutigen Tag hatte das immer noch funktioniert.

    Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, war es da, dieses erbarmungslos deutliche Stimmchen. 

    „Herr Marquis!“, hechelte nervös das Dienstmädchen durch die Tür. „Ihr Onkel und Ihre Tante sind hier. Wollen Sie nicht aufmachen und runterkommen?“

    Ich dachte nicht daran. Weder war ich Marquis, noch hatte ich Onkel und Tante. Was sollte das also? Mir wurde sofort klar, dass dies eine Falle war und musste grimmig auflachen. Aber so einfach würde ich mich meinen Gläubigern, oder wem auch immer, nicht ausliefern. Nicht mit mir, meine Herren! Mit einem entschlossenen Satz sprang ich aus dem Bett, lief zum Fenster und öffnete, so lautlos es sich bewerkstelligen ließ, beide Flügel. Niemand war auf der Straße zu sehen. Gut, dachte ich. Sehr gut. Leise fuhr ich nun in meine Schuhe, warf mir den Rock über und stieg schleunig durchs Fenster, hinaus aufs Dach. Ich musste nach ein paar unsicheren Schritten wohl ausgerutscht sein, denn plötzlich verlor ich das Gleichgewicht, und obwohl ich hektisch versuchte, mich an der einen oder anderen Unebenheit festzuhalten, glitt ich machtlos dem Dachrand entgegen, dessen erfolgreiche Überwindung eigentlich den freien Fall eröffnen sollte, wäre da nicht diese schlampig montierte Dachrinne gewesen. Mit dem Kragen meines Rocks blieb ich nämlich am oberen Ende daran hängen, als sie sich unerwartet aus der Verankerung löste und unter dem Einfluss meines stattlichen Gewichts langsam nach vorne zu knicken begann. Beinahe würdevoll transportierte mich dieser rostige Abfluss nach unten und blieb schließlich, etwa zwei Meter über der Straße, mitten in der Bewegung, krächzend stehen.

    Endstation. Ja, aber für wen? Wie ein anstelliger Köder begann ich augenblicklich zu zappeln und zu strampeln, was die verhängnisvolle Situation, in der ich mich befand, jedoch in keiner Weise verbesserte. Meine, im wahrsten Sinn des Wortes, verhängnisvolle Stellung schien hoffnungslos, zumal sich schon bald eine Tür öffnete und zwei vage Figuren heraustraten, die sich mir argwöhnisch näherten. Die düsteren Schemen blieben stehen und starrten mich mit ihren Halunkenvisagen unverwandt an. Als sie allerdings meiner schaukelnden Not gewahr wurden, fingen beide an frech zu grinsen.

    „Aha“, sagte der Eine und dehnte diese lakonische Bekundung unerträglich lang aus. „Der Herr Marquis.“

    Der Andere, ein ähnlich übler Ganove wie sein Kumpan, nickte nachdenklich. „Ob er uns jetzt wohl eine Audienz gewährt?“, fragte er und begann, während er so spöttisch sprach, mir, der ich nach wie vor hilflos wie eine Fahne im Wind vor ihm hing, die Stiefeletten auszuziehen. Er betrachtete sie eine zeitlang äußerst skeptisch, bog sie überdies in alle Richtungen, um ihre Geschmeidigkeit festzustellen, roch sogar daran und warf sie schließlich verächtlich seinem Begleiter zu.

    „Die passen wohl eher deiner Tante“, meinte er und blickte böse lächelnd zu mir hoch. Doch dann schien ihn ein genialer Gedanke zu überkommen, und so nickte er mit seinem Kopf gebieterisch dem Gefährten zu. „Komm her, hilf mir.“

    Die unrasierte Tante schlurfte nun näher. Als die windige Gestalt direkt unter mir zu stehen kam, steckte sie beide Pranken zu einer Art Räuberleiter zusammen und hievte damit den Kumpan, der diesen Dienst auf der Stelle gekonnt in Anspruch nahm, zu mir hoch. Nun befand sich dieser Elende mit mir Aug’ in Aug’. Schon wollte ich aufschreien, wobei Entsetzen und Empörung sich dabei die Waage hielten, da stockte mir plötzlich angewidert der Atem, denn dieser dreiste Kerl stank aus allen Poren nach Schweiß und billigem Fusel. Mir schwanden beinahe vor Abscheu die Sinne, und so begann ich mit meinen Händen wie wild herumzufuchteln. 

    „Halt still, du Lump“, bemerkte der Räuber beiläufig, als er meine Hosen- und Rocktaschen durchsuchte. Er fand ein paar Centimes, die ich gestern Abend geschickt der Wirtstochter entwendet hatte, als diese mir den Wein auf den Tisch stellte. Wie gewonnen, so zerronnen, dachte ich resigniert und merkte aus lauter Selbstmitleid vorerst gar nicht, wie ich mich langsam aus dem Rock, dessen vermaledeiter Kragen ja noch immer an der abgeknickten Dachrinne verheddert war, löste.

    Doch trotzdem war es so. Ich rutschte also kurz darauf mit einem erlösenden Ruck, zur Überraschung aller, jäh aus der fatalen Fixierung heraus und fiel wie ein Stein nach unten, direkt auf die Zehen des einen Schurken, welcher nun schmerzhaft verwundert seine ineinander verschlungenen Arme löste und somit folglich den Körper desjenigen, der mich eben erst in luftiger Höhe genüsslich beraubte, dem freien Fall preisgab. Die beiden Galgenvögel krachten augenblicklich mit ihren Schädeln ungeschickt zusammen und blieben halbtot auf der lehmigen Straße liegen. Ich musterte sie misstrauisch und wartete. Vorsichtig stieß ich sie schließlich nach geraumer Zeit mit meinen Zehenspitzen an, und als ich merkte, dass keiner der beiden sich rührte, raubte ich sie aus, was so viel bedeutete, dass ich ihnen alles abnahm und ihre nackten Körper einfach an Ort und Stelle zurückließ. So ist das nun einmal, meine Herren! Pech gehabt! Die Gesetze der Straße sind eben rau.

    Mit der Kleidung der beiden in Händen lief ich nun etwa eine halbe Stunde wie von Furien gehetzt durch Gassen und Straßen, hastete quer über Plätze und über Brücken, nur, um weit genug vom Ort dieses an sich triumphalen Ereignisses entfernt zu sein, welches mir aber andererseits, sollte man meiner doch noch habhaft werden, durchaus zum Nachteil gereichen konnte. Folglich gab ich einmal noch ordentlich Fersengeld. Als ich mich endlich in Sicherheit wähnte, blickte ich mich keuchend um und bemerkte zu meiner Erleichterung, dass ich mich vor den Eingangstoren des Cimetière du Père Lachaise befand. Dieser riesige Friedhof kam wie gerufen, um die Beute, die ich nach wie vor mit meinen zitternden Händen fest an mich presste, in aller Ruhe zu begutachten.

II. Madame Bracquemond

 

Eigentlich war ich sehr zufrieden. Man konnte das Spektakel drehen und wenden, wie man wollte, das nüchterne Resümee blieb bestehen: ich überwältigte und beraubte die jämmerlichen Schergen meiner Gläubiger, am Vorabend bestahl ich in der Herberge die Wirtin und bezahlte schließlich, was man nicht unterschätzen sollte, meine Zimmermiete nicht. Eine vom Schicksal gemarterte Existenz, wie ich nun einmal eine war, konnte sich keinesfalls mehr an den Wertidealen eines selbstgerechten, satten Bürgertums orientieren. Die Verzweiflung, so behaupte ich, erschafft eigene Träume und einen eigenen Stolz, und die trostlose, erzwungene Intimität mit Not und Elend, welche die Pforten der Hölle sichtbar macht, erzeugt einen verhängnisvollen Fatalismus, der sehnende Helden und erhabene Kämpfer gebiert. Die Gebote echter Finsternis sind nämlich anders als diejenigen heuchlerischen Scheinens. Obwohl mir momentan klar wurde, dass ich trotz aller eigennützigen Erfolge nun die Stadt verlassen musste, konnte ich nicht umhin zu lächeln. Was für ein Tag, und er begann erst!

    Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, setzte ich mich auf den gemauerten Rand eines Grabes und betrachtete ausgiebig meine neue Habe. War das ein Fang! Speziell dieses Paar Stiefel hatte es mir besonders angetan, denn abgesehen davon, dass die ledernen Langschäfte bis ins kleinste Detail wunderbar verarbeitet waren, passten sie mir noch dazu ausgezeichnet.

    Und dann war da noch eine nicht unbeträchtliche Menge an Bargeld. Mich überkam auf der Stelle ein wohliges Zittern, und so blickte ich dankbar zum Himmel. Mir war durch Gottes Hilfe anscheinend das gesamte Jahressalär dieser Schurken in den Schoß gefallen, schoss es mir durch den Kopf. Danke vielmals, wohl bekomm’s! Ich, auf jeden Fall, konnte es gut gebrauchen. Sorgfältig verstaute ich nun meinen neuen Reichtum in den Hosentaschen, aber auch teilweise in meinen Strümpfen. Die übrige Kleidung, die, bedingt durch die absente Hygiene ihrer niederträchtigen Vorbesitzer, eigentlich nicht mehr als muffige Fetzen war, warf ich samt meinen alten, ausgetretenen Stiefeletten in ein offenes Grab.

    „Was soll denn das?“, rief zu meiner Überraschung plötzlich eine Stimme aus der Grube. Ich beugte mich vorsichtig über deren Rand und spähte hinein, aber so sehr ich mich auch bemühte, konnte ich niemand darin entdecken. Als ich erstaunt wieder den Kopf hob, bemerkte ich freilich meinen Irrtum, denn auf der anderen Seite der Gräberreihe nahm ich eine Dame wahr, wie sie verzweifelt mit einem öligen Strolch zu kämpfen hatte, der versuchte, ihr das Ridicule zu entreißen. Er zog und zerrte an ihrer Handtasche, schnaubte dabei wie ein Ross, und als er durch die heftige Gegenwehr seines Opfers endlich die Ausweglosigkeit seines gemeinen Unterfangens kapierte, ließ er von dem Frauenzimmer ab und lief davon. Im gleichen Augenblick trat ich engelsgleich zwischen den Grabsteinen hervor und somit in das Leben von Madame Bracquemond, die sich entzückt dazu hinreißen ließ, mich als ihren Retter zu betrachten.

    „Sie schickte der Himmel, Monsieur!“, rief sie, und deutete mit ihrem Schirmchen dem flüchtenden Halunken nach.

    Die Chancen standen gut, denn das Weib schien ganz allein zu sein. Mir waren momentan wohl die Sterne nicht schlecht gesinnt. Diese schicksalhafte Glückssträhne, in welcher ich mich offensichtlich nach langen Jahren ungeduldigen Wartens befand, machte mich ziemlich keck. Ich trat also auf sie zu, um das Werk des dilettierenden Stümpers von vorhin zu vollenden, als Madame hinter mir jemanden bemerkte, dem sie nun aufgeregt zuwinkte. Sofort ließ ich erschrocken von meinem frivolen Vorhaben ab und legte beruhigend meine Hände auf ihre Schulter.

    „Madame“, sprach ich mit noblem Pathos, „stets zu Diensten!“

    In diesem kurzen Moment der Nähe, als ich ihr Gesicht betrachtete, wurde ich jäh ihrer Schönheit gewahr. Ich schluckte betreten. Sie war zwar nicht mehr jung, so Mitte vierzig schätzte ich, aber die Anmut ihrer Züge, die Sanftheit ihres Blickes, der milde Liebreiz ihrer Stimme, all das hatte mich verzaubert.

    „Madame“, wiederholte ich wie hypnotisiert, „stets zu Diensten.“

    „Das haben Sie doch schon einmal gesagt“, lachte sie auf, und ihre Äugelein funkelten mich heiter an.

    Mittlerweile war auch jenes Individuum keuchend bei uns eingetroffen, dessen ungünstiges Erscheinen meinen ursprünglichen Plan zunichte gemacht hatte. Aber das störte mich nun nicht mehr, zu sehr war ich von der Harmonie zwischen dem, was ich sah, und dem, was ich fühlte, betört. 

    „Marie, meine liebe Marie, ich bin untröstlich“, japste der ältere Herr und nahm erschöpft seinen Hut ab.

    „Das war meine Schuld, Charles“, erwiderte Madame, „ich bin ja viel zu früh hier gewesen.“

    „Und sogleich in die Hände von räuberischem Gesindel und Lumpen gefallen!“

    „Ja, aber dafür durfte ich auch einen Helden kennen lernen, mein lieber Charles.“ Sie wendete graziös ihr Haupt, und in ihren Blicken, mit denen sie mich nun gnädig bedachte, merkte ich eine tiefe Dankbarkeit.

    „Madame, stets zu Diensten“, hörte ich mich erneut, diesmal jedoch verlegen, stottern.

    „Aber, aber, mein Held! Jetzt müssen Sie schon mehr von sich geben“, tadelte mich Madame neckisch.

    „Verzeih, Marie, wenn ich mich einmische, aber zuvor, so glaube ich, bin ich an der Reihe.“ Der älter Herr verneigte sich höflich vor mir und zeigte elegant auf Madame.

    „Namenloser Monsieur und Heroe. Da Sie es bis jetzt nicht machten, erlaube ich mir, den ersten Schritt zu tun. Darf ich Ihnen hiermit die zauberhafte Madame Marie Bracquemond vorstellen? Ihres Zeichens eine wahre Göttin! Unübersehbar! Aber was rede ich denn da für Unsinn, das alles haben Sie ja sicherlich schon bemerkt, nicht wahr?“

    Unwillkürlich musste ich nicken.

    „Meine Wenigkeit nennt sich Charles Chaplin, seines Zeichens unwürdiger Adorant.“

    „Aber Charles“, lachte Madame Bracquemond herzlich auf, „du bist wirklich unverbesserlich! Was soll sich denn Monsieur nur denken?“

    „Wenn wir seinen Namen wüssten, könnten wir ihn ja eventuell danach fragen!“, entgegnete Monsieur Chaplin und vollführte mit seinen Armen schwungvoll ratlose Bewegungen.

    Auch ich war momentan etwas perplex, einerseits der launigen Leichtigkeit der Sprache wegen, welcher sich der alte Bonvivant ironisch bediente, andererseits aber auch aufgrund der begierig direkten Anfrage um meine Identität.

    Ich blickte fahrig zu Boden und sah, wie meine Füße in den kürzlich eroberten, wertvollen Stiefeln steckten, ein Umstand, der mich blitzartig wieder beruhigte und welcher mich nun geradewegs in den glorreichen Zirkel der Aristokratie aufsteigen ließ. 

    Kurz räusperte ich mich, nahm Haltung an und neigte blasiert grüßend mein Haupt in Richtung meiner beiden neuen Bekannten.

    „Nix“, sagte ich umgehend, „Freiherr von Nix. Es war mir eine Ehre, Madame behilflich sein zu dürfen.“

    „Freiherr von Nix?“, grübelte Monsieur Chaplin argwöhnisch. „Darf ich fragen, woher Sie kommen?“

    „Ich? Aus Österreich“, antwortete ich leichthin. Dies war das Einzige, was an mir stimmte. Ich stand da und blickte ihm stolz in die Augen. Warum zweifelte dieser alte Kretin an meinen Angaben, dachte ich mir aber insgeheim und spürte plötzlich, wie eine gewisse Verzagtheit mein Herz erfasste, ein kaltes Zittern, das nichts Gutes verhieß. Jetzt war es ratsam, rasch zu handeln, und so startete ich eilig die Flucht nach vorne.

    „Was treibt denn Sie zu so früher Stunde an so einen ernsten Ort?“ Ich stellte diese Frage mit nasalem Klang und versuchte mich dabei in einem gnädigen Lächeln. Dies alles vollführte ich in der listigen Absicht, eine gepflegte Langeweile zu übermitteln, lediglich eine höfliche Konvention, die auch von meinem Gegenüber als solche verstanden werden sollte.

    „Mein Grab“, antwortete Monsieur Chaplin, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. „Ich habe vor kurzem hier meine künftige Grabstätte erworben, wissen Sie, und wollte Madame Bracquemond um Rat bezüglich deren Lage fragen.“

    „Aha“. Mir blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.

    „Ja“, bekräftigte die Dame seine Ausführung. „Und Sie? Was treibt denn Sie an so einen ernsten Ort, Herr Baron? Als Ausländer noch dazu.“

    Obwohl mir immer unbehaglicher in meiner Rolle wurde, antwortete ich in festem Ton. „Ich wollte Sie retten, Madame!“

    „Oh, wie charmant“, rief sie aus. Ihr Begleiter jedoch, welchem ich offensichtlich ziemlich fragwürdig vorkam, zog skeptisch die Augenbrauen zusammen.

    Marie Bracquemond schien das wenig zu kümmern. „Ist das auch wirklich wahr?“, fuhr sie übermütig fort, und ihre Augen blitzten mich fröhlich an.

    „So wahr ich hier stehe, Madame.“ Ohne rot zu werden, beugte ich mich galant nach vor, nahm ihr zartes Händchen und bedachte dieses mit einem formvollendeten Kuss.

    „Ich befürchte, unter diesen flatterigen Umständen kommt eine ernsthafte Besichtigung meines künftigen Domizils nicht in Frage, Marie.“ Monsieur Chaplins überaus gespreizte Anmerkung samt Stimme klang recht eingeschnappt. „Der Herr Baron wird dich sicherlich nach Hause begleiten, denn ich bin unabkömmlich, habe noch ein geschäftliches Treffen. Adieu!“ Er machte nun unversehens kehrt und verschwand eiligen Schrittes zwischen den Grabsteinen.

    „Er ist immer so schrecklich empfindlich“, sagte Madame Bracquemond, nachdem sie ihm eine zeitlang nachgeblickt hatte. „Armer Charles.“   Bekümmert schüttelte sie den Kopf.

    Mein Herz pochte wie wild. Die Dame schien eindeutig eine gewisse Empfänglichkeit meinem affektierten Getue gegenüber zu haben, sei es wegen meines ersonnenen Adelsprädikats oder meines elegant distanzierten Benehmens oder wegen beidem. Letzten Endes war mir das auch egal. In diesem Augenblick beschloss ich, die Gunst der Stunde mit beiden Händen zu ergreifen, und so heuchelte ich aufrichtiges Interesse an ihrer Person vor, um mich dadurch bei ihr einzuschmeicheln. Meiner Karriere als Hochstapler, dessen war ich mir jetzt sicher, stand nichts mehr im Wege.

    „Madame blicken so traurig. Darf ich fragen, ohne aufdringlich zu wirken, in welchem Verhältnis Sie zu diesem Herren stehen?“

    Langsam hob sie den Kopf und lächelte mich an. „In einem durchaus freundschaftlichen. Monsieur Chaplin war mein Lehrer.“

    „Lehrer?“

    „Ja. Er ist Maler und ein begnadeter Kupferstecher.“

    Ich war erstaunt. „Ja, aber …? Brachte er Ihnen gar die Techniken der Kupferstecherei bei?“

    „Nein, mein Herr“, antwortete sie entrückt, „die der Malerei.“

    „Madame sind doch keine Künstlerin?“ Vorsichtig sah ich sie von der Seite an. Das hätte mir gerade noch gefehlt, einer mittellosen Malerin, bei der es nichts zu erben gab, den Hof zu machen. Andererseits war sie von durchaus begehrenswerter Schönheit. Ich saß also zwischen zwei Stühlen.

    „Doch“, erwiderte sie leise. „Haben Sie schon einmal etwas von Degas, Renoir oder Monet gehört, Monsieur le Baron?“

    Ich schluckte. „Ehrlich gestanden, muss ich diese Frage verneinen.“

    „Und Gauguin?“

    „Auch dieser Begriff ist mir fremd. Worum handelt es sich dabei? Dem Klange nach dürfte es sich dabei um Ortschaften und Dörfer handeln, wonach Sie mich fragen, Madame Bracquemond? Ich, als Ausländer, bin in solch geographischen Belangen aber nicht gerade sattelfest, müssen Sie wissen.“

    „Nein, keineswegs sind dies Namen von Orten und Dörfern.“

    „Sondern?“

    „Sondern von Künstlern. Maler, die mir Kraft geben, indem sie mir ihre Aufmerksamkeit schenken, und die mich, als es an der Zeit war, ständig anspornten und ermutigten, den konventionellen Weg zu verlassen, um endlich nach der neuen Manier zu malen.“

    „Wie bitte? Nach der neuen …?“

    „Manier, Monsieur. Nach dem neuen Stil, wenn Sie diesen Begriff bevorzugen. Sei es, wie es sei. Die jungfräulich strahlende Sonne am Himmel der Kunst heißt seit kurzem Impressionismus, Monsieur le Baron. Impressionismus und nichts anderes!“

    „Ist das nicht etwas … leichtfertig? Ich meine, heute dies und morgen das? Woran soll man sich denn dabei im Grunde orientieren? Welche Werte gelten denn heute und welche morgen?“, fragte ich verwirrt. „Warum ist das, was im Moment eine strahlende Sonne ist, wie Sie sagten, im nächsten Augenblick nur mehr eine schwächliche Fackel?“

    „Monsieur! Ich muss Sie tadeln. Ich komme mir vor wie in einem strengen Verhör. Fragen, Fragen, nichts als Fragen. Sie können wohl nicht sehr viel mit der Kunst anfangen? Habe ich recht?“ Madame warf mir einen scharfen Blick zu, der mich zum zweiten Mal an diesem Vormittag an die Grenzen meiner nervlichen Belastbarkeit führte. Jetzt war guter Rat teuer. Sollte ich ihr das Ridicule entreißen und sie einfach in das offene Grab von nebenan stoßen? Nach kurzer Überlegung schob ich diesen Gedanken beiseite, da ich ja gerade eben noch beabsichtigte, mich gänzlich auf die wesentlich elegantere, und vor allem einbringlichere Methode der Hochstapelei zu verlegen. Also holte ich tief Luft.

    „Gnädige Frau“, sagte ich, nun wieder gefestigt, „mein Leben führte ich bis jetzt in Schlössern und gegebenenfalls in Spielsalons, worüber ich Ihnen unendlich viele Schnurren erzählen könnte. Der Sinn für die schönen Künste blieb dadurch, leider Gottes, auf der Strecke. Jedoch wäre ich Madame ewig dankbar, würde sie mich als ihren gelehrigen Schüler betrachten und mir die eine oder andere wertvolle Anregung zukommen lassen.“

    Die Dame sah mich prüfend an.

    „Ja?“, erwiderte sie ungläubig, doch schon bald hellten sich ihre Züge wieder auf. „Warum eigentlich nicht? Kommen Sie!“

    „Wohin, Madame?“

    „Sie dürfen mich nach Aix-en-Provence begleiten.“

    „Was?“, rief ich erstaunt. „Das Städtchen liegt doch am Ende der Welt. Allein die Anreise dauert zumindest zwei Tage!“

    „Und?“, entgegnete sie schnippisch. „Monsieur le Baron sollte sich eben für eine Woche von den Schlössern und Spielsalons lösen und mir ein gelehriger Begleiter sein.“

    Ich überlegte. Das Angebot kam mir sehr gelegen, denn Paris musste ich für einige Zeit verlassen, das war klar. Zu knapp waren mir die Gläubiger samt ihren gemeinen Schergen auf den Fersen. So nahm ich eine gelangweilte Haltung an und sagte zu.

    „Warum eigentlich nicht? Paris bietet mir momentan ohnedies keine Sensationen und die Verlockung, an Ihrer Seite reisen zu dürfen, Madame, Tag für Tag an Ihren Lippen zu hängen, erachte ich zudem als überaus großes Privileg.“

    Marie Bracquemond lächelte mich verführerisch an. Wir verabredeten uns zur Abreise, welche per Kutsche und bereits in ein paar Stunden stattfinden sollte, in einem kleinen Bistro namens „Petit fût d’or“ in der Rue du Croissant. Sie warf mir noch ein kurzes ‚Adieu’ zu, machte beschwingt kehrt und stolzierte höchst anmutig auf dem Kiesweg Richtung Ausgang davon. Schon bald verlor ich sie aus den Augen.

III. Hakennase und das makabere Modeensemble

 

In der Zwischenzeit musste ich mir eine neue, standesgemäße Kleidung besorgen, und ich dachte grundsätzlich nicht daran, mir diese käuflich zu erwerben, obwohl ich dafür, bedingt durch meinen traumhaften, morgendlichen Coup, mehr als genug Geld hätte.

    Nun war guter Rat teuer. Raub oder Diebstahl, beides käme in Frage. Obwohl sich mein Vorhaben mittels Brachialgewalt sicherlich leichter bewerkstelligen ließe, entschied ich mich, nicht zuletzt meines künftigen, eleganteren Stils wegen, für eine heimliche Entwendung, und dafür kämen nur öffentliche Orte wie Gasthäuser oder Bordelle in Frage. Das war mir klar.

    Solcherart in hohem Grade motiviert wollte ich bereits den Friedhof verlassen, als ich am Eingangstor im Vorübergehen einen Partezettel erspähte, der meine Pläne vollständig auf den Kopf stellen sollte. Was diese klagende Mitteilung verkündigte, ließ mein Herz augenblicklich höher schlagen. 

    Nikolai Michailowitsch Freidmann sollte heute Nachmittag begraben werden. Ich konnte es kaum fassen! Der alte, kleinliche Freidmann, den man in seinem Laden, welcher sich seinerzeit in Montmartre auf der Rue d’Orchampt befand, nie auf gängige Art und Weise überfallen konnte, da er stets wie von Sinnen schrie und sich dabei auch noch handgreiflich zur Wehr setzte. 

    Freidmann war ein zum Christentum konvertierter, russischer Jude, dem sein gesegnetes Händlergeschick zu beträchtlichem Wohlstand verholfen hatte. Ein Zustand, den er mit nichts und niemand zu teilen pflegte, was ihm, wahrlich nicht zu Unrecht, den Ruf eines windigen Knausers einbrachte. Dieser selbstbezogene Geizhals würde sich gewiss in seinem besten Anzug begraben lassen, dachte ich mir und begab mich umgehend auf die Suche nach der Aufbahrungshalle. 

    Ich trabte durch die unzähligen kleinen Wege und Avenuen des Friedhofes, und bereits eine Viertelstunde später stand ich vor dem gesuchten Ort. So, wie ich es insgeheim erwartet hatte, war keine Menschenseele zugegen. Warum denn auch?

    Niemand mochte diesen widerlichen Raffzahn, und über eine etwaige Verwandtschaft war mir nichts bekannt. Niemals sah ich nämlich in seinem Laden, während ich diesen, zwecks Beschaffung einschlägiger Informationen, observierte, eine andere Person hinter Freidmanns Tresen, außer ihn selbst. Sein Talent, unterwürfig zu buckeln und sein Gegenüber mit falscher Freundlichkeit einzulullen, war heutzutage nur noch selten mehr zu finden. Eigentlich bewundernswert.

    Gleichwohl, ich musste momentan meine sentimentalen Träumereien hintanstellen und wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren, denn ich benötigte, um Madame Bracquemond lieblich und vor allem erfolgreich zu bezirzen, dringlich seinen Anzug, da mein eigener Rock ja andernorts fatalerweise an der Dachrinne hängen geblieben war.

    Zwei schmale Stufen brachten mich vor die Eingangstür des Totenhauses. Lautlos öffnete ich die Pforte und trat rasch ein.

    Was ich in dieser düsteren, unangenehmen Halle nun sah, ließ mir den Atem stocken. Ich musste, während ich mich fassungslos dem offenen Sarg näherte, immer wieder unbeherrscht auflachen, so lächerlich bizarr war der Anblick, der sich mir hier bot. Freidmann lag zwar in seinem Schrein, jedoch ruhte er auf dem Bauch, und obendrein war er noch dazu splitternackt. Sprachlos stand ich eine Weile vor diesem verwunderlichen Stillleben, da öffnete sich unvermutet hinter mir die Tür, und vier dunkel gekleidete Gestalten traten diskret ein. Als sie meiner gewahr wurden, erschraken sie über die Maßen und blickten sich gegenseitig verstört an. Die Totengräber, schoss es mir durch den Kopf. Welch groteske Inszenierung!

    „Ihr Idioten!“, nuschelte der Kleinste hinter vorgehaltener Hand seine blöd gaffenden Kollegen böse an. „Pierre hätte den Sarg vielleicht doch schließen sollen!“ 

    „Ich hatte gedacht, da gibt’s keine Verwandten. Jedenfalls habt ihr das behauptet.“ Der stämmige Kerl mit dem roten Gesicht, offenbar Pierre, zappelte hilflos mit seinen Armen, während er flüsterte.

    Die drei anderen jedoch schüttelten einmütig ihre Köpfe.

    „Nein, nein. Das bildest du dir ein, Pierre“, murmelte unbeirrt der hagere Kerl mit der Totenkopfvisage. „Du warst einfach nur nachlässig. Jetzt haben wir den Salat.“

    „So tut doch etwas!“ Pierres Stimme zitterte vor Aufregung.

    Mit einem unwilligen Ruck löste sich nun der Kleine, der auch der Rädelsführer zu sein schien, aus der Gruppe und trat würdevoll auf mich zu. Einen Schritt vor mir blieb er stehen und sah mir mit herzzerreißendem Dackelblick tief in die Augen. Er hüstelte vornehm, als er mit eleganter Handbewegung auf den Arsch des toten Freidmann wies.

    „Sind Monsieur ein Verwandter des Verstorbenen?“

    Was waren das doch für Halunken! Ich konnte mir ein Lächeln gerade noch verkneifen und beschloss, da mir sonst die Zeit davonlief, sofort aufs Geschäftliche zu sprechen zu kommen. So holte ich tief Luft und hob, bevor ich antwortete, blasiert eine Augenbraue.

    „Konfektionsgröße 41. Zumindest habe ich die hier in Paris.“ Ich deutete mit einer gewählten Geste auf meinen Oberkörper.

    Der Dackelblick war aus dem Gesicht des kleinen Mannes jäh verschwunden.

    „Vielleicht eine Uniform?“, fragte er höflich, und seine Äuglein blitzten dabei schlau auf. „Passend zu Ihren wunderschönen Stiefeln, Monsieur?“

    Das war gar keine so schlechte Idee, du Gauner, dachte ich mir. Ein Waffenrock würde mich sicherlich gut kleiden. Warum eigentlich auch nicht?

    „Ja.“ Ich nickte nun gespielt desinteressiert. „Vielleicht eine Uniform.“

    „Wenn Monsieur mir folgen wollen.“

    Zwei der Totengräber blieben zurück, um den Sarg zuzunageln, der Kleine, der Hagere und ich aber verließen die Leichenhalle, überquerten viele Wege und schlüpften zwischen unzähligen Grabmälern hindurch, bis wir endlich eine vergessene Wiese erreichten, in deren Mitte eine Steinbank stand. Der Ort war von dermaßen üppigen Sträuchern und hohem Gebüsch umgeben, dass keinem Besucher, den es unter Umständen in diese Gegend verschlagen sollte, ein zufälliger Einblick möglich war.

    Der Kleine zeigte geflissentlich auf die Bank. Ich begriff, nahm Platz und wartete. Schon bald, nachdem der Hagere in den Büschen verschwunden war, tauchte er wieder auf. Diesmal trug er eine prächtige Uniform. Er tänzelte mit merkwürdiger Grazie über den Rasen und drehte sich dabei einige Male im Kreis, sodass ich das gute Stück von allen Seiten betrachten konnte.

    „General Henri Augereau. Anfang 19. Jahrhundert. Bestes Tuch. Kragen und Brust goldbestickt.“ Der Kleine sah mich gewinnend an. „Mitsamt Orden, lediglich …“

    Noch bevor er mich über den Preis aufklären konnte, winkte ich ab. „Nein, Nein. Vielleicht eine Spur, ein winziges Spürchen, diskreter, wenn ich bitten darf. Diskret, aber elegant. Unbedingt. Vornehm muss es sein!“

    Er machte eine zerknirschte Verbeugung, ging feierlich zu seinem Kollegen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dieser nickte und verschwand wieder zwischen den Büschen. Wortlos warteten wir auf die nächste Darbietung. Ich nutzte die Zeit, mir das kleine Ungeheuer an meiner Seite etwas näher zu betrachten. Er mochte so um die fünfzig Jahre alt sein, sprach stets mit sonorer Stimme und hatte inmitten seiner an sich feinen Gesichtszüge einen ordentlichen Zinken, eine Hakennase, welche man entweder wohlwollend oder spöttisch kommentieren konnte, je nachdem, wie man zu diesem Überschwang stand. Im Wuchs war er von schöner Statur, aber leider, wie gesagt, zu klein. Ein Umstand, der vermutlich seinen Ehrgeiz erklärte, sich als Anführer dieses makaberen Modeensembles hervorzutun.

    Im Gebüsch raschelte es wieder. Der Hagere mit seiner gewöhnungsbedürftigen Visage trat grinsend hervor und begann erneut, auf seine törichte Art herumzutänzeln.

    „Martin Michel Gaudin, Duc de Gaëte. Finanzminister unter Napoleon Bonaparte. Mitte 19. Jahrhundert. Stehkragenjackett. Hochgeschlossen. Taftbroché mit stickereiähnlichen Figuren. Weste aus beigem Kaschmir.“

    Ich sprang auf. „Ja! Das gefällt mir. Sie haben genau meinen Geschmack getroffen.“ Sofort bereute ich jedoch meinen begeisterten Ausbruch, denn diese unbedarfte Blöße würde sicherlich den Preis für das seidene Prachtstück in die Höhe treiben. Die Hakennase schmunzelte auch schon süßlich, als er mich von oben bis unten mit leicht ironischem Blick begutachtete.

    „2000 Franc sollte Ihnen, verehrter Monsieur, dieses zeitlose Meisterwerk der Haute Couture wert sein.“

    „Was?“, rief ich und sprang auf. „2000 Franc? Niemals! Das ist doch glatter Wucher!“

    Kalt blickte mich die Hakennase an.

    „Wie Monsieur meinen. Wir könnten Ihnen auch, wenn es finanziell besser konveniert, was ich ja durchaus verstehe“, jetzt lachte er auch noch spöttisch auf, „den schlichten Anzug von Herrn Freidmann offerieren. Sie erinnern sich noch an ihn? Nikolai Michailowitsch? Ja?“

    In diesem Moment hätte ich ihn umbringen können. Da stand ein zynischer Pariser Zwerg vor mir und machte sich unverhohlen über mich lustig.

    In meinem Gehirn überschlugen sich nun die Gedanken, denn ich wollte unbedingt dieses hochelegante, wertvolle Kleidungsstück des Herzogs von Gaëte, das diese Gauner, oder deren Altvorderen, dem erlauchten Leichnam einst abgenommen hatten. Und nach wie vor wollte ich nichts dafür zahlen. Zusätzlich dachte ich noch an Rache für das überaus unschickliche Benehmen dieser kleinen Kreatur.

    Während ich so hin und her sinnierte, war der Hagere abermals in den Büschen verschwunden, tauchte jedoch schon bald wieder schnellen Schritts auf. Er ging nervös zu seinem Kompagnon, beugte sich nach unten und flüsterte ihm etwas ins Ohr, von dem ich nur so viel mitbekam, dass irgendeine Tür klemme. Die Hakennase verdrehte müde die Augen.

    „Monsieur entschuldigen uns für einen Moment.“ Er blickte mich gütig an und verließ mit dem Hageren auf gehabtem Weg die Wiese. Ich wartete eine Weile, bis ich ihre Schritte kaum mehr hören konnte, und dann schlich ich dem schurkischen Duo so lautlos wie möglich nach.

    Jenseits der Büsche eröffnete sich meinen überraschten Augen eine idyllische Allee, deren beide Seiten von begehbaren Grabmälern, kleinen Häuschen gleich, gesäumt waren. Es musste wohl ein sehr entlegener Ort des Friedhofs gewesen sein, denn obwohl ich die zwei vorerst nicht erblicken konnte, vernahm ich ihre Stimmen, wie sie, in gänzlicher Sicherheit sich wähnend, laut miteinander sprachen.

    Im Schutz der Alleebäume schlich ich mich vorsichtig näher, und plötzlich sah ich die Gauner. Sie waren keine zehn Meter von mir entfernt, und der Hagere zog heftig an einer der Mausoleumstüren, war jedoch nicht in der Lage, diese zu öffnen. Trotz einer durch diese rüde Tätigkeit offensichtlichen Gefährdung des feinen Materials, trug er noch immer das von mir so begehrte, herzogliche Gewand.

    Den Ernst der Situation erkannte jetzt auch die Hakennase.

    „Nicolas, du Idiot“, zischte er. „Zieh’ dir gefälligst das Jackett und die Weste aus!“

    Der Hagere erschrak, kam aber umgehend der Aufforderung nach und hängte die Kleidungsstücke an einem Haken auf, welcher unweit der störrischen Tür aus der Wand ragte, und der ursprünglich einmal wohl als Halterung für einen Leuchter diente.

    „Los, heb’ die Tür zuerst an, bevor du sie aufziehst!“ Die Stimme des Kleinen klang ziemlich ungemütlich und gar nicht mehr so manierlich, wie zuvor während der morbiden Modeschau. Als der Hagere nun der Aufforderung nachkam, ließ sich die Pforte tatsächlich leicht öffnen. Er drehte sich um und strahlte die Hakennase bewundernd an.

    Diese war aber stocksauer. „Du bist wirklich ein Trottel. Mach, dass du reinkommst und den Anzug von diesem Freidmann bringst. Irgendetwas muss dieser verweichlichte Kretin ja kaufen.“

    Nur mit großer Mühe konnte ich mich zurückhalten und nicht hinter dem Baum hervorspringen, um dem Zwerg für diese Dreistigkeit eine ordentliche Abreibung zu verpassen. Aber andererseits wiederum bewies mir seine Einschätzung, dass ich meine Rolle als verwöhnter Aristokrat vorbildlich spielte. Ich musste lächeln.

    „Ich kann den Anzug nicht finden!“ Dumpf ertönte die Stimme des hageren Trottels aus dem Inneren des häuslichen Mausoleums. Der genervte Kleine freilich stampfte zornig mit dem Fuß auf und ging hinein.

    Das war meine Chance. Beide hatten sie auf das herzogliche Jackett samt Weste vergessen. Schnell und leise schlich ich mich auf den Zehenspitzen hin zum Grabmal und schnappte mir die zwei Objekte meiner Begierde. Von drinnen war ein Rascheln von Stoffen zu vernehmen, so, als würde eine beträchtliche Anzahl von Dirnen auf einmal ihre Röcke hochheben. Die Lagerbestände dieser Ganoven mussten enorm sein, dachte ich und überlegte schon, sie in der Krypta einzuschließen, als ich plötzlich die triumphierende Stimme des Kleinen vernahm.

    „Ah, da ist er ja! Komm, Nicolas, wir gehen!“ Ihre Schritte näherten sich der Tür. Mit einem gewagten Sprung hechtete ich mich hinter eine Zierhecke und hielt bange den Atem an.

    Zuerst erschien die Hakennase und danach der hagere Trottel. Ohne sich ein einziges Mal umzudrehen ging nun der Kleine zügig den Weg zurück zum Privathain, wo er mich wartend vermutete, während sein minderbemittelter Kompagnon, der kurz danach ins Freie trat, und über dessen angewinkeltem Unterarm Freidmanns letzter Anzug baumelte, fassungslos den leeren Haken anstarrte.

    „Komm!“, rief der Kleine. „Mach schon!“

    Abwechselnd blickte der Hagere mehrmals auf den Haken und auf den Rücken des sich immer weiter entfernenden Zwergs.

    „Äh … aber …“, stotterte er zögerlich und zeigte vergeblich auf die leere Stelle.

    „Los! Wird’s bald?“ Unbeirrbar stapfte der Kleine seiner vermeintlichen Verabredung mit mir, dem verweichlichten Kretin, entgegen. Voll barschem Hochmut wendete er dabei kein einziges Mal sein Haupt, sodass schließlich der Trottel ratlos mit den Schultern zuckte und seinem Herrn und Meister wie ein Hündchen nachtrabte.

    Ich hingegen erhob mich aus meiner Bedeckung und gab Fersengeld. Schon bald erreichte ich die Friedhofsmauer, welche ich in meiner Angst mühelos erklomm, und landete nach einem halsbrecherischen Sprung mit beiden Füßen auf der Rue de Rondeaux. Ein paar Minuten später, nach hetzender Flucht durch unzählige Gässchen und wahre Häuserschluchten, tauchte ich keuchend zwischen den Menschen, wie sie vergnügt und arglos auf der Avenue Gambetta herumflanierten, fürs Erste einmal unter. Paris wurde immer kleiner für mich, fuhr es mir durch den Kopf, und es überkam mich ein grausig kalter Schauer, der noch durch die unselige Erkenntnis, dass mir zum vorbildlichen Edelmann der obligate Herrenhut fehlte, mit Gänsehaut gekrönt wurde. Aus untröstlicher Resignation darüber entkam mir jäh ein weibischer Schrei. Einige der umherflanierenden Pärchen sahen mich erstaunt an, um danach, als sie meines knieweichen Elends gewahr wurden, kopfschüttelnd ihren Weg fortzusetzen. Ich jedoch torkelte benommen zu einer der vielen Bänke und setzte mich erst einmal nieder. 

IV. Auf Beschaffungstour

 

Das war alles viel zu viel für einen einzelnen Menschen, noch dazu für jemanden, der gejagt wurde und obendrein unter enormem Zeitdruck stand. Ich war vor massivem Selbstmitleid den Tränen nahe, als mir eine Windböe eine Zeitungsseite vor die Füße wehte, auf welcher eine unbekannte Hand durch Bleistiftstriche einen kurzen Artikel markiert hatte.

    Wollte mir eine höhere Macht auf diese ungewöhnliche Art eine Nachricht zukommen lassen? Erwartungsvoll und verzagt zugleich hob ich das Blatt vom Boden auf und las die Notiz: ‚Der Hutmachergesangsverein ‚La Camaraderie’ beehrt sich, anlässlich seines zehnjährigen Bestehens alle Freunde, Kenner und Gourmets um 14 Uhr zu Kaviar und Champagner in den Salon ‚Chez la jeune fille de forêt’ zu bitten, welcher sich in der Rue Jean Ostreicher am Espace Champerret befindet. Küchenchef Louis Mongéri erlaubt sich, auf Grund dieses feierlichen Ereignisses seine neue Kreation, eine süße Trüffelköstlichkeit in Form eines gewagt dekorierten Dreispitzes, mit dem lustigen Namen „Chapeaupeau“, vorzustellen.’

    Wie vom Blitz getroffen saß ich nun da und blickte verdattert das Blatt Papier an. Dringend suchte ich gerade nach einem Hut, und eine ganze Hutmachergilde hatte sich nun gemeldet. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Vielleicht musste man die ganze Sache umgekehrt betrachten, redete ich mir ein, und dies war eine Warnung. Meine eben noch losen Gedanken verdrehten sich jetzt wie die einzelnen Stränge eines Zopfs ineinander und bugsierten mich solcherart an den Rand eines Kollapses, dem ich, das fühlte ich ganz gewiss, nicht gewachsen sein würde. So ein Fauxpas hätte mir gerade noch gefehlt, also riss ich mich augenblicklich zusammen, stand auf, schüttelte heftig meinen Kopf, machte zwecks besserer Durchblutung ein paar Kniebeugen, und da passierte es.

    Unerwartet verdunkelte sich nämlich der Himmel, und Regenwolken formierten sich drohend am Firmament. Schon blitzte und donnerte es. Unmittelbar vor meinen Augen fuhren plötzlich zwei Droschken zusammen, vermutlich scheuten die Pferde des nahenden Gewitters wegen, und zwar dermaßen ungestüm, dass es nur so knirschte und krachte, und beide Gefährte schließlich auf der Straße umkippten. Sofort gingen die zwei Kutscher aufeinander los und begannen, gegen alle Regeln der Würde und des sportlichen Anstands, brutal mit Fäusten und Peitschen gegenseitig auf sich einzuprügeln. So ein archaisches Spektakel zog klarerweise die erhöhte Aufmerksamkeit der Spaziergänger auf sich, und bald schon bildete sich ein Kreis anfeuernder Schaulustiger rund um die beiden Kämpfer. Auch ich befand mich am Rande stehend darunter, als mir ein vorbeihastender Mann seinen Zylinder in die Hand drückte.

    „Da, guter Mann“, sagte er aufgeregt, „wenn Sie die Freundlichkeit hätten, für einen Moment auf meine Kopfbedeckung zu achten. Sie wäre mir bei meiner Tätigkeit nur im Weg! Ich bin Arzt, und die Passagiere der umgekippten Droschken scheinen meine Hilfe zu benötigen. Warten Sie bitte hier.“ Er fuhr mit zwei Fingern in seine Westentasche, holte ein Geldstück hervor und drückte es mir in die Hand.