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Mark Twain

Der Mann, der Hadleyburg korrumpierte

 

 

 

Copyright © 2015 Der Drehbuchverlag, Wien 

2. Auflage, 14. Februar 2016 

Alle Rechte vorbehalten 

eBook: Der Mann, der Hadleyburg korrumpierte 

ISBN: 978-3-99041-453-8 

I

 

Es ist viele Jahre her. Hadleyburg war im weiten Umkreis die redlichste und rechtschaffenste Stadt. Drei Generationen hindurch hatte es diesen Ruf makellos erhalten und war stolz darauf, mehr als auf jeden anderen Besitz. So stolz war es auf seinen Ruf und so eifrig bestrebt, ihn zu wahren, dass es die Grundsätze redlichen Lebenswandels den Kindern schon in der Wiege einzutrichtern begann und derlei Lehren ihre ganze Schulzeit hindurch zum Hauptgegenstand ihrer Erziehung machte. Zudem hielt man den jungen Leuten in den bildungsfähigen Jahren alle Versuchungen fern, damit ihre Redlichkeit sich ungestört kräftigen und festigen und ihnen in Fleisch und Blut übergehen konnte. Die Nachbarstädte neideten Hadleyburg diese ehrenvolle Vorrangstellung und taten, als lächelten sie über seinen Stolz, den sie Eitelkeit nannten; aber dennoch mussten sie einräumen, dass Hadleyburg in der Tat eine unbestechliche Stadt war, und auf stärkeres Drängen gaben sie auch zu, die bloße Tatsache, dass ein junger Mann aus Hadleyburg stamme, reiche völlig als Empfehlung aus, wenn er seine Heimatstadt auf der Suche nach einer verantwortungsvollen Stellung verlasse. Aber schließlich, wie die Zeit verstrich, hatte Hadleyburg einmal das Pech, einen durchreisenden Fremden zu beleidigen - wahrscheinlich, ohne es zu wissen, und ganz bestimmt, ohne sich viel Gedanken darüber zu machen, denn Hadleyburg war selbstzufrieden und scherte sich keinen Pfifferling um Fremde oder deren Meinung. Und doch hätte es in diesem einen Falle lieber eine Ausnahme machen sollen, denn er war ein bitterer, rachsüchtiger Mensch. Ein ganzes Jahr lang, auf all seinen Wegen, behielt er die Kränkung im Gedächtnis und widmete alle Mußestunden dem Versuch, eine befriedigende Genugtuung zu ersinnen. Er tüftelte mancherlei Pläne aus, und alle waren gut, aber keiner war ihm durchgreifend genug; noch der harmloseste aus dieser Reihe hätte eine große Anzahl Menschen in Mitleidenschaft gezogen, aber was er suchte, war ein Plan, der die ganze Stadt erfasste und keinen einzigen Einwohner unbehelligt davonkommen ließe. Schließlich hatte er eine glückliche Idee, und als sie ihm ins Gehirn schoss, entzündete sie in seinem ganzen Kopf ein boshaftes Entzücken. Er ging sogleich daran, seinen Plan zu entwerfen, und sagte sich dabei: »Das ist genau das Richtige - ich werde die Stadt korrumpieren.« Sechs Monate später fuhr er nach Hadleyburg und hielt gegen zehn Uhr abends mit einem Einspänner vor dem Haus des alten Bankkassierers. Er zerrte einen Sack aus dem Wagen, schulterte ihn, wankte durch den Vorgarten und klopfte an die Tür. Eine Frauenstimme rief: »Herein!«, und er trat ein, setzte seinen Sack im Wohnzimmer hinter dem Ofen ab und wandte sich höflich an die alte Dame, die neben der Lampe saß und im »Missionsboten« las:

   »Bitte, behalten Sie Platz, Madam, ich möchte nicht stören. So, jetzt ist er ganz gut versteckt - man sieht kaum, dass er da ist. Kann ich Ihren Gatten einen Augenblick sprechen, Madam?«

   »Nein, er war nach Brixton gefahren und würde wohl erst am Morgen zurückkommen.«

   »Na schön, Madam, das macht nichts. Ich wollte nur diesen Sack hier in seiner Obhut lassen, damit er ihn dem rechtmäßigen Besitzer aushändigt, sobald er gefunden ist. Ich bin fremd hier; er kennt mich nicht; ich bin heute nur auf der Durchreise, um etwas zu erledigen, das mir schon lange auf der Seele liegt. Mein Auftrag ist nun erfüllt, und ich gehe, befriedigt und ein bisschen stolz, und Sie werden mich nie wiedersehen. An dem Sack hängt ein Zettel, der alles Weitere erklärt. Gute Nacht, Madam.«

Die alte Dame fürchtete sich vor dem geheimnisvollen, hochgewachsenen Fremden und war froh, dass er ging. Aber nun war ihre Neugier erwacht, und sie näherte sich sogleich dem Sack, um den Zettel zu holen. Darauf stand: „Zu veröffentlichen, oder der richtige Mann ist durch private Nachforschung zu ermitteln - beides führt zum Ziel. Dieser Sack enthält Goldmünzen im Gewicht von einhundertsechzig Pfund vier Unzen...“

   »Himmlischer Vater! die Tür ist nicht abgeschlossen!«

   Am ganzen Leibe zitternd, stürzte Mrs. Richards zur Tür, verschloss sie, ließ die Rollvorhänge an den Fenstern herab, dann stand sie bestürzt und besorgt da und fragte sich, was sie noch tun könnte, um sich und das Geld wirksamer zu sichern. Sie lauschte eine Weile, ob Einbrecher zu hören seien, aber ihre Neugier übermannte sie, und sie trat an die Lampe zurück, um den Zettel zu Ende zu lesen: „Ich bin Ausländer und kehre nun für immer in meine Heimat zurück. Ich bin Amerika für alles dankbar, was es mir während meines langen Aufenthaltes unter seiner Flagge schenkte; besonders einem seiner Bürger - einem Bürger Hadleyburgs - danke ich für eine große Gefälligkeit, die er mir vor einem oder zwei Jahren erwiesen hat. Genaugenommen waren es zwei Gefälligkeiten. Ich möchte das erklären. Ich war Spieler. Wohlgemerkt, ich war es, und zwar ein ruinierter Spieler. Ich kam bei Nacht hungrig und ohne einen Penny in diese Stadt. Ich bat um Hilfe - im Dunkeln; bei Licht zu betteln, schämte ich mich. Ich bat den Richtigen. Er schenkte mir zwanzig Dollar - in meinen Augen schenkte er mir das Leben. Er schenkte mir sogar ein Vermögen; denn mit Hilfe dieses Geldes bin ich am Spieltisch reich geworden. Außerdem hat mich eine Bemerkung, die er an mich richtete, bis zum heutigen Tage nicht losgelassen und mich schließlich überzeugt; und damit hat er die Überreste meiner Moral gerettet; ich werde nie wieder spielen. Ich habe zwar keine Ahnung, wer dieser Mann war, aber er soll gefunden werden und dieses Geld bekommen, um es fortzuschenken, fortzuwerfen oder zu behalten, ganz wie er will. Es ist nur eine Art, ihm meinen Dank abzustatten. Wenn ich bleiben könnte, würde ich selbst ihn suchen; aber er wird jedenfalls gefunden werden. Dies ist eine ehrliche Stadt, eine unbestechliche Stadt, und ich weiß, dass ich ihr bedenkenlos vertrauen kann. Dieser Mann kann durch die Bemerkung identifiziert werden, die er an mich richtete; ich bin überzeugt, dass er sich noch an sie erinnert.

   Mein Plan sieht nun so aus: Wenn Sie die Ermittlung lieber privat durchführen wollen, tun Sie es. Geben Sie den Inhalt dieses Briefes jedem bekannt, der in Frage kommen könnte. Wenn er antwortet: „Ich bin der Mann; die Bemerkung lautete soundso“, prüfen Sie nach, indem Sie den Sack öffnen. Sie werden darin einen versiegelten Umschlag finden, in dem der Satz steht. Wenn die von dem Bewerber angegebene Bemerkung mit ihm übereinstimmt, geben Sie ihm das Geld und stellen Sie keine weiteren Fragen, denn er ist bestimmt der Richtige.

   Doch wenn Sie eine öffentliche Nachforschung vorziehen, lassen Sie diesen Brief in der Lokalzeitung erscheinen - in diesem Falle kämen noch folgende Instruktionen dazu: Der Bewerber soll heute in dreißig Tagen (Freitag) um acht Uhr abends im Rathaus erscheinen und seinen Satz in einem versiegelten Umschlag Ehrwürden Mr. Burgess aushändigen (wenn dieser so freundlich sein will, das Amt zu übernehmen); und Mr. Burgess soll an Ort und Stelle die Siegel des Sackes aufbrechen, ihn öffnen und nachprüfen, ob der Satz stimmt; wenn er stimmt, soll das Geld mit dem Ausdruck meines herzlichen Dankes meinem auf diese Weise erkannten Wohltäter ausgehändigt werden.“

   Mrs. Richards setzte sich, vor Aufregung gelinde bebend, und versank in Gedanken - etwa dieser Art: »Wie seltsam das ist - und welch ein Vermögen für den gutherzigen Mann, der das Almosen gab! Hätte es doch mein Mann getan! - Wir sind doch so arm, so alt und arm!« Sie seufzte: »Aber mein Edward war es nicht; nein, er hat bestimmt keinem Fremden zwanzig Dollar geschenkt. Schade; das sage ich jetzt...« Sie erschauerte: »Aber es ist das Geld eines Spielers! Sündenlohn: wir dürften es gar nicht annehmen; wir dürften es nicht einmal anrühren. Ich mag es nicht so in der Nähe; ich komme mir wie besudelt vor.« Sie wechselte auf einen entfernteren Stuhl hinüber. »Wenn doch bloß Edward käme und es zur Bank schaffte; jeden Augenblick kann ein Einbrecher kommen; es ist schrecklich, hier so ganz allein mit dem Geld zu sein.« Um elf Uhr kam Mr. Richards, und während seine Frau sagte: »Ich bin ja so froh, dass du da bist!«, sprach er gleichzeitig: »Bin ich müde! Todmüde! Furchtbar, wenn man arm ist und in meinem Alter noch diese grässlichen Reisen machen muss. Immerzu in der Tretmühle, immerzu, der Lohnsklave eines anderen, und der sitzt, schön gemütlich und wohlhabend, in Pantoffeln zu Hause.«

   »Du tust mir so leid, Edward, das weißt du; aber tröste dich: wir haben zu leben, wir haben unseren guten Ruf...«

   »Ja, Mary, und das ist das allerwichtigste. Nimm dir mein Gerede nicht zu Herzen - das ist nur ein flüchtiger Arger und hat nichts zu sagen. Gib mir einen Kuss - so, jetzt ist alles wieder gut, und ich beklage mich auch nicht mehr. Was ist da inzwischen gekommen? Was ist in dem Sack drin?«

   Nun berichtete seine Frau von dem großen Geheimnis. Es verschlug ihm für einen Augenblick die Sprache, dann sagte er: »Einhundertsechzig Pfund wiegt er? Aber, Mary, das sind ja vierzigtausend Dollar - stell dir das vor - ein Vermögen! Keine zehn Männer im Ort sind so viel wert. Gib mir mal den Brief.«

   Er überflog ihn und meinte dann: »Ist das nicht phantastisch? Das ist ja ein richtiger Roman; wie die unmöglichen Sachen, von denen man in den Büchern liest und die im wirklichen Leben nie vorkommen.« Jetzt war er wirklich aufgeregt, lustig, sogar übermütig. Er tätschelte seiner alten Frau die Wange und sagte scherzend: »Du, wir sind reich, Mary, reich! Wir brauchen bloß das Geld zu vergraben und die Papiere zu verbrennen. Wenn der Spieler sich jemals erkundigen kommen sollte, sehen wir ihn bloß eiskalt an und sagen: „Was reden Sie da für Unsinn? Wir haben noch nie etwas von Ihnen und Ihrem Sack voll Gold gehört!“ Und dann würde er schön dumm dastehen und...«

   »Und inzwischen, während du deine Späße machst, liegt das Geld immer noch hier, und die Zeit, wo Einbrecher unterwegs sind, rückt immer näher.«

   »Stimmt. Also gut, was sollen wir tun - private Nachforschungen anstellen? Nein, das nicht; es würde den romantischen Zauber der Sache zerstören. Der Weg in die Öffentlichkeit ist besser. Stell dir vor, was das für einen Aufruhr gibt! Und alle anderen Städte werden uns beneiden; denn kein Fremder würde so etwas einer Stadt außer Hadleyburg anvertrauen, und das wissen sie. Es ist ein großartiger Trumpf für uns. Jetzt muss ich aber zur Druckerei laufen, sonst wird es zu spät.«

   »Aber warte - warte doch! Lass mich doch nicht mit dem Geld allein, Edward!«

   Er war schon fort. Aber nur für kurze Zeit. Nicht weit von seinem Haus stieß er auf den Besitzer der Zeitung, gab ihm das Dokument und sagte: »Hier ist ein Knüller für Sie, Cox - setzen Sie es noch rein!«

   »Vielleicht ist es zu spät, Mr. Richards, aber ich will mal sehen.«

   Nach Hause zurückgekehrt, setzte er sich zu seiner Frau, um das bezaubernde Geheimnis mit ihr durchzusprechen; sie hätten ohnehin nicht einschlafen können. Die erste Frage war, welcher ihrer Mitbürger konnte es gewesen sein, wer konnte dem Fremden die zwanzig Dollar geschenkt haben? Die Lösung erschien einfach; beide riefen wie aus einem Munde: »Barclay Goodson!«