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Alfred Polansky

Bericht aus dem Inneren einer Kugel

(Roman)

 

 

 

Copyright © 2015 Der Drehbuchverlag, Wien 

2. Auflage, 14. Februar 2016 

Alle Rechte vorbehalten 

eBook: Bericht aus dem Inneren einer Kugel (Roman) 

ISBN: 978-3-99041-548-1 

Abschnitt 1

 

Es war ein sehr heißer Tag in Aix-en-Provence. Wer konnte, verordnete sich reichlich Bewegungslosigkeit oder fuhr ans Meer. Die Strände waren um diese Jahreszeit meist von aufgekratzten Kindern und entnervten Eltern aussichtslos überfüllt, trotzdem trafen immer wieder Menschen mit eifrig suchendem Blick, Kofferradios oder schlaffen Luftmatratzen ein, um einen Platz an der Sonne zu erspähen und diesen schließlich um jeden Preis an sich zu reißen. Oftmals geschah dies mit Tücke, immer aber mit heroischer Dreistigkeit. Da an diesem tropischen Tag allerdings keiner der Sonnenanbeter Wert auf detaillierte Scharmützel zu legen schien, blieb es bei aufgeblasenen Wortgefechten. Die lähmende Hitze ließ eben nichts anderes zu.

    Wer diesem bizarren Strandvergnügen nicht nachkam, zeigte entweder Nerven, hatte Stil, oder er ging seinen Geschäften nach.

    Vor zwei Stunden war Vivienne d’Aubigny mit ihrem Privatjet in Marseille gelandet. Sie war eine kultivierte Dame, so um die vierzig Jahre alt und stets nach den neusten Richtlinien der schicken Pariser Haute Couture gekleidet.

    Am Rollfeld des Flughafens wurde sie bereits von einem Chauffeur samt standesgemäßer Limousine erwartet. Nachdem sie auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, fuhr der Wagen an. Die Fahrt ging auf schmalen Straßen durch eine karge, müde Landschaft in Richtung Norden. Wenige Menschen waren um diese frühe Nachmittagsstunde unterwegs, jedoch zogen hie und da einsame Häuser und lustlos dahintrabende Hunde am Wagenfenster vorbei. Madame d’Aubigny nahm davon kaum Notiz. Mit einem Druck auf den Kippschalter, der diskret ins Leder der Armlehne eingearbeitet war, schloss sie die Trennscheibe zum Fahrersitz.

    Sie kramte eine Zeit lang gedankenlos in ihrer Louis Vuitton – Tasche herum, um daraus schließlich ein Mobiltelefon hervorzuholen. Nachdem sie eine Nummer gewählt hatte, hielt sie den Hörer ans Ohr und lauschte. Nichts geschah. Der Teilnehmer am anderen Ende hob, wie schon in den Tagen zuvor, nicht ab. Zornig warf Madame d’Aubigny das Telefon zu Boden. Schon wollte sie mit dem Fuß darauf steigen, tat es dann aber nach kurzem Zögern doch nicht.

    Nach einer Weile hielt der Wagen abrupt an. Madame d’Aubigny hatte es sich mittlerweile wieder gemütlich gemacht und blätterte gerade ein Modejournal durch, als sie der überraschende Halt dermaßen durchrüttelte, dass das Hochglanzmagazin ziemlich unprätentiös ihren Händen entglitt. Das war zu viel des Guten.

    „Sind Sie denn wahnsinnig geworden?“, schrie sie wütend, doch der Chauffeur konnte wegen der geschlossenen Trennscheibe keinen Ton hören. Empört beugte sie sich nun nach vor, um ihren Unwillen durch herrisches Klopfen mitzuteilen. Da sah sie die Schafherde. Gemächlich, als ob er alle Zeit der Welt hätte, geleitete der Schäfer seine blökenden Schützlinge über die Straße. Nachdem er das Auto gesehen hatte, lächelte er freundlich und winkte.

    Madame d’Aubigny jedoch war nicht nach guter Laune zumute. Sie ließ das Fenster herunter. Sofort strömte warme, nach Rosmarin duftende Luft ins gekühlte Wageninnere.

    „Was soll das?“, hustete sie dem Schäfer entgegen. „Mach’, dass du weiterkommst!“

    Interessiert blickte sie der Hirte an. Er schlenderte zum Fenster hin und sah Madame d’Aubigny milde in die Augen.

    „Ganz schön heiß, nicht wahr?“, meinte er dann ruhig. Seine Stimme hatte einen angenehmen Klang ohne jegliche Aggression.

    „Du bist wohl der Dorftrottel hier! Hast du’s noch nicht kapiert? Ich will vorbeifahren. Also, worauf wartest du noch? Treib’ deine Viecher gefälligst woanders über die Straße!“ Erbost betätigte sie den Kippschalter, der das Fenster surrend wieder nach oben in Bewegung setzte.

    „War das nun alles?“ Noch bevor die Scheibe vollkommen geschlossen war,  vernahm sie die Worte. Erstaunt sah sie den Hirten an, aber er war es nicht, der soeben gesprochen hatte, sondern ihr Chauffeur.

    „Was soll das?“, stotterte Madame d’Aubigny verwirrt. „Warum ist die Trennscheibe nicht zu? Ich werde mich bei Ihrer Agentur beschweren!“

    Der Fahrer lächelte.

    „Ja, ja. Immer schön der Reihe nach“, meinte er unbeeindruckt. „Wir haben Sie entführt. Seien Sie doch dankbar.“

    Nun blinzelte auch der Hirte zum Fenster hinein. „Wissen Sie eigentlich, was das ist? Dankbarkeit, Madame? Dieses Gefühl würde einiges in Ihnen ändern. Zum Guten.“

    „Was wollt ihr zwei perversen Schweine? Wollt ihr Geld? Meinen Schmuck? Oder wollt ihr mich vergewaltigen? Oh, mein Gott!“

    Langsam geriet Madame d’Aubigny in Panik.

    „Wir wollen viel mehr“, erwiderte der Hirte. Er öffnete die Wagentür und setzte sich zwanglos neben die schockierte Dame. „Wir wollen eine Viertelstunde Ihrer kostbaren Zeit.“

    „Was? Keine Vergewaltigung?“

    „Nicht, dass ich wüsste. Sind Sie nun enttäuscht?“

    Ängstlich betrachtete sie den ungebetenen Fahrgast.

    „Was?“, flüsterte sie. „Nein. Nein. Natürlich nicht.“

    „Sie brauchen keine Furcht zu haben.“ Der Hirte sah Madame d’Aubigny besorgt an. Er war etwas jünger als sie, so um die Mitte dreißig, und sehr schlank. Ein Dreitagebart umspielte seine durchaus interessanten Züge und verlieh der gesamten Erscheinung etwas unangepasst Hintergründiges. „Sie brauchen nur zuzuhören. Nur ein klein wenig. Danach können Sie mit dem, was ich Ihnen anvertraut habe, nach Gutdünken verfahren.“

    „Und weiterfahren?“, fragte die Dame leise.

    Der seltsame Hirte nickte bestätigend. „Und dann können Sie weiterfahren. Selbstverständlich.“ Nach einer kurzen Verinnerlichung begann er schließlich zu sprechen.

    „Im Grunde ist alles ganz einfach, nur muss man die Dinge an sich heranlassen. So, wie sie sind. In all ihrer Pracht und Schönheit, aber auch mitunter in ihrer schrecklichen Wildheit und Fremdheit. Wer dieser unmittelbar offerierten Aufforderung zur Teilnahme ausweicht, wer den Ruf nicht vernimmt, der permanent den Menschen, unter diesen und jenen Masken, vom Schicksal zugeweht wird, ist schon tot. Es ist eine Sache des Zulassens, verstehen Sie? Wer nämlich nichts zulässt, wird nicht zugelassen. Lassen Sie also nicht zu, dass Sie wie auf Schienen mit Scheuklappen durchs Leben rollen. Sonst bleiben Sie in Ihrer vermeintlich sicheren Normalität bis zur Austauschbarkeit gewöhnlich. Das ist gar nicht gut, Madame. Begegnen Sie sich doch selbst im Anderen, das Sie erobern müssen, das Sie erkämpfen, und wo Sie Opfer bringen müssen. Opfer, welche Ihnen Tore zu ungeahnten Möglichkeiten öffnen. Durch solche Entbehrungen verlieren Sie nichts. Zumindest nichts, was nicht sein soll. Im Gegenteil. Sie gewinnen. Sie gewinnen letztlich ein Gesicht, gewinnen Konturen und eine individuelle Stimme, die bis zum Thron meines Vaters …“

    Der Chauffeur räusperte sich. Auf der Stelle hielt der Hirte in seinem verzückten Sermon inne.

    „Seid ihr von einer religiösen Sekte?“, fragte Madame d’Aubigny nun scheu.

    „Für Sie sind wir alles, was Sie wollen. Oder auch nicht.“ Der Chauffeur, der soeben das Wort ergriffen hatte, blickte verträumt in die Ferne. „Tatsache ist, dass von der Wiege bis zur Bahre eine Menge Parasiten das Leben aus den Menschen herauszuzeln.“

    „Herauszuzeln?“ Die feine Dame wirkte etwas irritiert.

    „Herauszuzeln“, bestätigte der Fahrer jedoch seine Wortwahl. „Jawohl. Nun gut. Also weiter. Parasiten, denen durch Achtlosigkeit Tür und Tor geöffnet werden, und die wie böse Geister in die Seelen der Menschen strömen, um sie in Besitz zu nehmen. Aber noch ist nichts verloren, denn das Übel hat Namen. Namen wie Hochmut, Gier, Neid und noch viele, viele andere. Und all diesen Eigenschaften ist eines gemeinsam, nämlich ihr unseliger, ausschließlicher Selbstbezug. Es ist die unvorstellbare Dummheit, die hinter allem steckt, die Dummheit in ihren unzählig verwirrenden Kostümen. Madame d’Aubigny, noch ist Zeit. Kehren Sie um. Sie brauchen keine Haute Couture und die dazugehörigen Gesichtscremen, um schön zu sein. Sie brauchen keine Privatflugzeuge, um sich stilvoll fortzubewegen, keine Reichtümer, um Ihre Kinder rechtschaffen zu erziehen. Das ist alles fauler Ballast. Gehen Sie zu Fuß nach Paris zurück. Das ist mehr als nur ein Weg! Hören Sie auf mich!“

    „Ich glaube, das ist genug an Theorie, Michael“, unterbrach ihn der Hirte. „Lass’ uns doch abschließend zu etwas Handfesterem übergehen. Madame d’Aubigny, Sie fahren nach Aix-en-Provence, um dort bei einem gewissen Monsieur Antunovic ein Parfüm zu finden, welches Ihre Mutter vor vielen Jahren bei ihm hatte zusammenstellen lassen. Diesen Meister gibt es jedoch nicht mehr, Sie werden sehen. Merken Sie sich lieber einen anderen Namen: Karl Diana. Sie werden ihn in Wien finden. Erinnern Sie sich noch an die Stadt an der schönen, blauen Donau? Sie waren früher öfters dort. Stephansplatz, Kohlmarkt, die Oper und Heurige. Alle Herrlichkeiten zusammengefasst an einem Ort. Phantastisch, nicht wahr? Und natürlich war da auch noch Franz Schlappal, der tätowierte Fiaker, mit dem Sie seinerzeit eine ziemlich ausschweifende Beziehung durchlebt hatten.“

    Madame d’Aubigny zuckte zusammen. „Woher wissen Sie…“, stammelte sie mit bebenden Lippen und rotem Gesicht.

    „Woher?“, antwortete der Hirte verklärt. „Ich bin das Alpha und das…“

    Ein weiteres Mal räusperte sich der Chauffeur. „Also, wie gesagt, Karl Diana in Wien. Sie finden ihn in der Kapuzinergruft. Er wird Ihnen weitere Informationen geben. Sie allein können entscheiden, ob Sie entkommen oder nicht. Ach ja, seine Telefonnummer lautet 0043 676 965 87 31. Können Sie sich das merken, bis Sie wieder wach sind? Ich schreibe sie Ihnen lieber auf.“

 

„Madame d’Aubigny! Wir wären hier!“ Die Stimme des Chauffeurs drang diskret aus dem kleinen Lautsprecher oberhalb des Seitenfensters. Er blickte durch die geschlossene Trennscheibe und wies dabei geschäftig mit dem Finger auf eine Bar. Die feine Dame fuhr hoch. Sie war wohl während der Fahrt nach Aix eingeschlafen.

    Vorsichtig sah sie nach unten. Das Modejournal lag noch aufgeschlagen auf ihrem Schoß, hatte also den Fall in ihrem Traum nicht mitgemacht. Erleichtert lachte sie auf. Auch der Chauffeur sah ganz anders aus. Langsam löste sie sich aus der Beklemmung ihrer illusionären Schattenbilder. Was für ein seltsamer Traum. Bei wem sollte sie sich melden? Ihr fiel der Name nicht mehr ein, nur mehr Wien und die Kapuzinergruft. Ach ja. Und auch noch dieser Franz Soundso, mit dem sie einst ein paar wilde Wochenenden verbracht hatte. Mein Gott, das war schon lange her.

    Das Telefon läutete. Ihr Mann war am Apparat. Er habe den Privatjet nach Nizza beordert, ließ er sie wissen. Einige russische Geschäftsleute, mit denen er gerade an der Riviera weilte und von deren Gunst viel abhing, wollten heute einen Abstecher nach Biarritz machen. Casino, Champagner, Wodka und langbeinige Mädchen von irgendwo her. Monsieur d’Aubigny wusste, worauf es ankam. Ja, ja, sagte Madame, mach nur, mach nur. Sie, auf jeden Fall, werde hier übernachten oder einen Linienflug zurück nehmen. Irgendetwas wird sich schon ergeben.

    Nachdem sie aufgelegt hatte, kehrten weitere Bruchstücke des Traums zaghaft in ihr Bewusstsein zurück. Was hatte dieser Chauffeur gesagt? Sie solle zu Fuß nach Paris gehen? Und wie lautete dieses komische Wort? Herauszuzeln? Ja, genau. Irgendwelche Parasiten zuzeln das Leben aus den Menschen heraus. Seltsam, dachte sie und stieg aus.

 

    Die Adresse war richtig, aber an der Stelle des Geschäftes von Monsieur Antunovic war eine lausige Bar. Madame d’Aubigny war untröstlich. Sie wollte doch ihre Mutter mit einem kleinen, aber feinen Geburtstagsgeschenk überraschen, indem sie die verloren geglaubte Rezeptur ihres Lieblingsparfüms wieder ausfindig gemacht hätte. Allerdings so, wie sich die Sachlage derzeit darstellte, sollte wohl nichts daraus werden. Aber hatte das nicht auch einer ihrer Traumschemen behauptet? Das Geschäft werde nicht mehr da sein? Natürlich. Sie konnte sich nun wieder genau daran erinnern. Es war dieser Hirte mit dem milden Blick.

    „Wie heißen Sie?“, fragte Madame d’Aubigny unvermittelt ihren Chauffeur, der neben ihr stand und, so wie sie, zur Bar hinblickte.

    Der Mann zog die Mütze. „Charles“, sagte er. „Ich heiße Charles.“ Er nickte freundlich mit dem Kopf und setzte sich seine Kappe wieder auf.

    „Also, Charles, wenn wir schon einmal hier sind, wollen wir doch in diese trostlose Spelunke da gehen, nicht wahr?“

    „Ganz, wie Madame wünschen. Ich gehe aber vor.“

    Madame d’Aubigny musste lächeln. Dieser Charles hatte nicht nur eine tolle Statur, sondern auch gute Manieren. Beides gefiel ihr. Sie folgte dem Fahrer in die Bar und stellte sich an die schmuddelige Theke. Charles tat es ihr gleich. Ein fetter Mann im Unterleibchen und einer Zigarette im Mundwinkel trat schlurfend aus einem Nebenraum heraus.

    „Ja?“, fragte er unwillig. „Was soll’s sein?“

    Die feine Dame rümpfte die Nase. „Einen Wodka. Kalt, wenn’s geht.“

    „Und der da?“ Mit einer Kopfbewegung deutete der Wirt auf Charles.

    „Der da“, erwiderte der Fahrer süßlich lächelnd, „der da will einen Mocca. Heiß, kurz und stark.“

    Madame d’Aubigny bekam augenblicklich eine Gänsehaut. Soeben hatte Charles ihre Vorstellung von einer leidenschaftlichen Liebesnacht klar umrissen. Heiß, kurz und stark. Ein einmaliges Abenteuer eben, ohne Zukunft. Nicht nur ihr Mann mit seinen langbeinigen Huren, auch sie hatte nun eine bezahlte Entourage. Plötzlich fühlte sie sich sehr sinnlich in ihrer Haut. Ein warmer wohliger Schauer erfasste ihren Körper, als sie aufsah und Charles verführerisch in die Augen blickte.

    „Erzählen Sie doch ein bisschen von sich, Charles. Woher Sie kommen, und so weiter. Sie waren doch nicht immer Chauffeur?“ Die feine Dame lächelte kokett. „Oder trete ich Ihnen damit zu nahe?“

    Noch bevor Charles antworten konnte, erschien der Wirt und platzierte die georderten Getränke lustlos vor seine Gäste. Unüberhörbar begann nun im Nebenraum ein Telefon zu läuten. Der muffige Kerl jedoch machte keinerlei Anstalten, das Gespräch entgegenzunehmen.

    „Wollen Sie nicht abheben?“, fragte Madame d’Aubigny irritiert.

    „Nein.“ Der einsilbige Fettwanst schlurfte davon. Nach ein paar Schritten blieb er doch noch stehen. „Das Zeug ist noch eine Installation von meinem Vorgänger“, brummte er missmutig. „Die haben wohl völlig drauf vergessen.“ Sprach’s, drehte sich um und latschte ins angrenzende Nebenzimmer.

    Madame d’Aubigny war nun einiges klar. Die Telefonnummer, die auf den altertümlichen Etiketts der Flakons ihrer Mutter aufgedruckt war, gab’s zwar noch, und so glaubte sie irrtümlich, dass auch noch das Geschäft von Monsieur Antunovic bestünde. Und dass dieser liederliche Zeitgenosse hier in Aix partout nicht abhob, hielt diese Illusion am Brodeln.

    „Nun gut“, sagte sie mehr zu sich selbst. „Wollen wir uns nicht setzen, Charles? Ich habe mich entschlossen, die heutige Nacht in dem Städtchen hier zu verbringen und erst morgen im Lauf des Tages wieder nach Paris zurückzukehren.“ Bezaubernd lächelte sie den Chauffeur an. „Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?“

    Charles war offensichtlich überrascht. „Aber, Madame, ich meine, vielleicht ist das …“

    „Ich werde natürlich all Ihre Spesen übernehmen“, unterbrach ihn Madame d’Aubigny. „Ein gepflegtes Abendessen bei Kerzenlicht in einem romantischen Hotel. Es wird sich doch wohl eines auftreiben lassen, hier in Aix-en-Provence. Was meinen Sie dazu?“

    „Sie sind verheiratet, Madame. Das meine ich dazu. Nicht, dass ich ein Heiliger wäre, aber …“

    „Nur auf dem Papier, Charles, nur mehr auf dem Papier. Unsere Ehe ist schon seit langem vorbei.“

    „Tut mir leid, das zu hören.“

    „Muss es nicht. Es ist wohl auch besser so. Mein Mann wurde im Laufe der Jahre immer mehr zu einem skrupellosen Reptil. Keine kriminelle Organisation, kein Verbrecherregime war ihm bislang zu schmutzig, um nicht Geschäfte mit diesen Bestien zu machen. Das weiß die ganze Welt, aber ich profitiere auch davon, indem ich sittsam schweige und ein schönes Leben führe. Was halten Sie davon?“

    „Tun Sie das wirklich? Ein schönes Leben führen?“

    „Ach, Charles“, lächelte Madame d’Aubigny melancholisch, „eigentlich wollte ich doch Sie ausfragen.“

    „Und jetzt ist es umgekehrt, nicht wahr?“

    „Ja“, hauchte sie. „Küssen Sie mich doch endlich.“

    Charles nahm die feine Dame zärtlich bei der Hand und zog sie an sich. Widerstandslos ließ sie ihn gewähren, als seine Hände ihre Taille entlangfuhren und schließlich den Rock anhoben. Im Nu hatte er ihr das Höschen abgestreift und sie auf den Kaffeehaustisch gesetzt. Madame d’Aubigny stöhnte kein einziges Mal während er sie nahm, aber wohlige Schauer jagten deutlich spürbar durch ihren zitternden Körper.

    Als die beiden kurz danach etwas derangiert Platz genommen hatten, tauchte auch der Wirt wieder auf. 

    „Das nächste Mal nehmt ihr euch ein Zimmer“, brummte er griesgrämig. „Am besten ein paar Straßen weiter im Hôtel de Vienne.“

    „Wo? Im Hôtel de Vienne?“, echote Madame d’Aubigny, während sie sich noch das Haar richtete. Plötzlich war ihr Traum wieder gegenwärtig. Wien, Wien, überall Wien. Selbst hier in Aix-en-Provence. Was sollte das? Sie verlangte die Rechnung, doch Charles hatte schon bezahlt. Erstaunt sah sie ihn an.

     „Hôtel de Vienne“, sagte er und nickte nachdenklich mit dem Kopf. „Aber nur, wenn ich Sie einladen darf, Madame.“

    „Ja“, schnurrte sie. „Sie dürfen unbedingt. Kommen Sie!“

    Händchenhaltend, als wären sie verliebte Teenager, traten die beiden nun aus der Bar ins gleißende Sonnenlicht. Als Charles Madame d’Aubigny die hintere Wagentür öffnete, sah sie ihn vorwurfsvoll an.

    „Ich will aber neben Ihnen sitzen, Charles. Vorne, wenn ich darf.“

    „Sie dürfen unbedingt, Madame“, erwiderte der Fahrer und lachte auf, da er sich an ihre ähnliche Antwort kurz zuvor erinnert hatte.

    „Was meinen Sie, Charles“, fragte ihn Madame nun verspielt, nachdem der Wagen gemächlich durch die Gassen rollte. „Sollten wir nicht sofort das Zimmer beziehen?“

    „Ganz, wie Sie wünschen, Madame. Aber auf das romantische Abendessen muss ich bestehen.“

    Madame d’Aubigny war fest entschlossen, sich in diesen Stunden vollkommen gehen zu lassen, für die kurze Zeit des Beisammenseins mit diesem unbekannten, aber durchaus sympathischen Mann keine Sorgen mehr haben zu wollen. Es sollte alles wieder so unbeschwert wie früher sein. Sie griff nun Charles in den Schritt, knöpfte seine Hose auf und beugte sich schließlich zu allem entschlossen nach unten. Charles stöhnte auf und gab Vollgas. Mit einem gewaltigen Satz sprang die Luxuslimousine nach vorne und raste völlig außer Kontrolle die nahezu menschenleere Straße entlang. Nach einigen unendlich langen Sekunden und etlichen riskanten Lenkmanövern gelang es dem Chauffeur schließlich, das Fahrzeug doch noch zum Stillstand zu bringen.

    Hinter einem Baum, wo er sich vor dem blechernen Ungetüm offensichtlich in Sicherheit gebracht hatte, trat nun ein Gendarm hervor und zog süffisant lächelnd einen Notizblock samt Kugelschreiber aus seiner Brusttasche. Als er bereits ziemlich nahe an den Boliden herangekommen war, beendete Madame d’Aubigny jäh ihre kauernde Aktivität und hob ahnungslos lächelnd den Kopf. Der Gesetzeshüter jedoch, der die pikante Situation sofort richtig erkannt hatte, verdrehte schwärmerisch die Augen.

    „O là là“, rief er, drohte den beiden neckisch mit dem Zeigefinger und steckte Notizblock samt Kugelschreiber zurück in die Brusttasche. Danach ging er so, als wäre nichts geschehen, wieder seiner Wege.

    „Vive la France“, stammelte Charles, noch sichtlich gezeichnet vom panischen Genuss. Dankbar blickte er dem Gendarmen hinterher. „Das ging ja gerade noch einmal gut.“

    Madame d’Aubigny musste schmunzeln. „Das ging sogar sehr gut, fand ich. Sehen Sie doch, wo wir uns eingeparkt haben!“ Sie deutete salopp mit dem Daumen auf eines der hübschen Fachwerkhäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

    „Hôtel de Vienne“, krächzte Charles. „Was für eine seltsame Fügung!“

    Kurz darauf betraten beide das Foyer. Noch bevor sie die Rezeption erreicht hatten, tauchte hüstelnd aus einer Seitentür eine schattenhafte Gestalt auf und stellte sich hinter das Empfangspult. Es war ein kleines, geschniegeltes und gestriegeltes Männchen von ungefähr sechzig Jahren. Dünn lächelnd empfing er die neuen Gäste.

    „Guten Tag, Madame. Sie wünschen?“ Er spitzte nun die Lippen, als hätte er in eine Zitrone gebissen und sah die Dame abwartend an. Charles jedoch, den livrierten Chauffeur, würdigte er keines Blickes.

    „Uns wurde dieses Hotel wegen seines akkuraten Taktgefühls ans Herz gelegt, Monsieur. Können Sie mir Diskretion garantieren?“ Die Stimme von Madame d’Aubigny war plötzlich durchzogen von blasierter Arroganz. Dieser nasale Umstand schien seine Wirkung nicht zu verfehlen, denn das ohnedies kleine Männchen schrumpfte sofort noch etwas mehr in sich zusammen.

    „Madame können ganz auf unseren Ruf bauen“, flötete er geschmeichelt.

    „Also, gut. Ich bin die Gräfin d’Aubigny, und der Herr in meiner Begleitung ist Herzog Hugo von Habsburg. Inkognito, selbstverständlich. Darum auch diese Aufmachung, verstehen Sie? Offiziell sind wir nicht hier.“

    „Herzog Hugo von Habsburg?“, stotterte ehrfurchtsvoll das Männchen. „Ich kann es gar nicht fassen! Was für eine Ehre. Ein echter Habsburger. In unserem Haus! Im Hôtel de Vienne!“

    „Inkognito“, murmelte Charles, denn er hatte vor, Madams Spielchen mitzumachen. „Darum auch diese Uniform, nicht wahr? Inkognito. Vergessen Sie das um Himmelswillen nicht!“ Während er sprach, blickte er nervös in alle Richtungen, als ob man ihn verfolgen würde.

    „Selbstverständlich, selbstverständlich.“ Das servile Männchen schien vor Aufregung beinahe zu kollabieren. Charles aber schnaubte plötzlich wild auf. Sofort blickte er den zappelnden Wicht mit weit aufgerissenen Augen überaus böse an. Dieser reagierte auf der Stelle.

    „Selbstverständlich nicht, meinte ich. Ich werde das selbstverständlich nicht vergessen. Auf keinen Fall.“

    „Gut, gut“, murmelte Charles nun überaus kryptisch und nickte dabei ungemütlich mit dem Kopf. 

    „Zeigen Sie uns jetzt die Zimmer!“ Herrisch unterbrach Madame d’Aubigny die grausame Unterhaltung.

    „Alle unsere Zimmer haben ihre Namen nach weltberühmten Wiener Persönlichkeiten und anderen örtlichen Sensationen erhalten. Sehen Sie.“ Das kleine Männchen zog einen Katalog unter dem Pult hervor, schlug ihn auf und präsentierte mit einer eleganten Handbewegung den Gästen stolz die Angebote des Hauses.

     „Hier zum Beispiel. Zimmer Nummer drei. Es heißt ‚Marché du Charbon’, also ‚Kohlmarkt’, nicht wahr? Oder das da“, er deutete nun auf ein anderes Bild in dem Heftchen. „Nummer sieben. ‚Taverne à vins’. Eine etwas freie Übersetzung für den beliebten Wiener Buschenschank, den ‚Heurigen’.“ Belustigt zwinkerte er den beiden zu. „Oder für etwas musischere Gemüter das Zimmer Nummer neun. ‚Opera’!“

    Madame d’Aubigny zeigte entschlossen auf die Fotografie eines Zimmers, dessen Name mit einem Papierstreifen überklebt und offenbar neu beschriftet worden ist.

    „Was ist mit dem da?“, fragte sie. „Warum klebt da was drauf?“

    „Das ist das Zimmer Nummer acht, verehrteste Frau Gräfin. Das ist neuerdings das Zimmer ‚Johann Strauss’.“

    Schon wollte er weitersprechen, als ihn Madam unterbrach.

    „Passt!“, rief sie. „Das nehmen wir! Was meinen Sie dazu, Erzherzog?“ Übermütig drehte sie sich zu Charles hin, der ihre Hand ergriff und ihr einen perfekt zelebrierten Handkuss darbrachte.

    „Da bin ich ganz d’accord mit Ihnen, teuerste Gräfin. Aber wie hatte man denn das Zimmer früher genannt, guter Mann, wenn es erst seit kurzem ‚Johann Strauss’ heißt?“ Interessiert blickte er auf das Männchen, das sich nun ein wenig zu winden begann.

    „Eine unglückliche Namenswahl, Durchlaucht. Sehr unglücklich. Niemand wollte es haben. Aber in Ihrem Fall, verzeihen Sie mir, wenn ich so direkt bin, da hätte es sogar eine gewisse Richtigkeit. Im übertragenen Sinn, meine ich natürlich. Nur im übertragenen Sinn.“ Verlegen hüstelte er sich in die Faust, bevor er in verschwörerischem Tonfall weitersprach. „‚Crypte des Capucins’“, flüsterte er. „Verstehen Sie? ‚Kapuzinergruft’. Wer will denn schon in einer Gruft übernachten? Also, wirklich. Außer … Um Gotteswillen. Durchlaucht verzeihen.“

    Amüsiert lachte Charles auf.

    „Das ist ja eine kolossale Geschichte“, strahlte er. „Wirklich ganz gewaltig. Da werde ich ja heute so eine Art Probeliegen abhalten!“

    Während er solcherart leichtherzig dahin plapperte, war es ihm nicht entgangen, dass Madame d’Aubigny mittlerweile sehr ernst geworden war. Er konnte sich vorerst keinen Reim darauf machen, also ließ er sich den Schlüssel aushändigen, und beide gingen sogleich aufs Zimmer. Aus Gründen der Diskretion wurde dem kleinen Männchen jedoch unmissverständlich nahegelegt, gefälligst an der Rezeption zu bleiben.

    Das Zimmer lag im ersten Stock des Hotels und war sehr sauber und gediegen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nachdem Charles abgesperrt hatte, ging er zu Madame, die mitten auf dem dicken Teppich stehengeblieben war, der den Boden des Vorraums bedeckte. Er umarmte sie.

    „Was haben Sie denn? Sie sind ja plötzlich so ernst“, fragte er besorgt. Er streifte ihre Haare zurück und küsste sie auf den Hals. „Habe ich etwas falsch gemacht?“

    „Nein, nein, lieber Charles. Das war vorhin alles ganz toll. Nein. Es ist etwas vollkommen anderes.“ Sie schmiegte sich nun stark an ihn an. „Halten Sie mich ganz fest“, flüsterte sie. „Ganz, ganz fest.“

    Eng umschlungen, ohne ein Wort zu wechseln, standen die beiden eine Zeit lang im Zimmer.

    „Sie können mit mir reden, Madame. Über das, was Sie momentan bedrückt.“ Charles sprach ruhig, aber bestimmt.

    „Ja?“, hauchte die feine Dame. „Wirklich?“

    „Ja“, erwiderte der Chauffeur. Sanft löste er sich aus der Umarmung und geleitete Madame d’Aubigny zu einem bequemen Stuhl, auf dem sie sich graziös niederließ.

    „Gut.“ Sie holte tief Luft, um sich zu sammeln. „Glauben Sie an Träume, Charles?“

     „Felsenfest.“ Auch er hatte es sich inzwischen auf einem der Stühle bequem gemacht. „Träume kommen von sehr weit her. Sie sind anders. Man muss mit ihnen umgehen können.“

    Überrascht blickte die Dame auf. „Wie meinen Sie das?“

    „Wie kann ich das nur erklären? Es gibt kollektive und individuelle Zugänge zu den vielen Wirklichkeiten. Stellen Sie sich vor, man schickt ein Auto in die Vergangenheit und parkt es vor 30.000 Jahren direkt im Neandertal. Die verschreckten Einwohner würden es dort in seinem eigentlichen Zweck nicht verstehen. Wie denn auch? Sie würden es nur innerhalb ihrer eigenen Fähigkeiten begreifen, und dadurch wäre es bestenfalls ein Höhlenersatz.“

    „Falls sie die Türen aufbringen“, lächelte Madame.

    „Ja. Der Rest wäre zwar da, direkt vor ihrer Nase, aber er bliebe total unerkannt, weil diese Urmenschen noch nicht so weit sind, ihn zu verstehen. Transportierte man diese Situation in die Gegenwart, würde sich an dem Dilemma nicht viel ändern. Wie der Neandertaler das Auto sieht, sehen wir den Traum. Erstaunt, aggressiv, verzerrt, bruchstückhaft, ratlos.“

    „Aber den Traum kann man individuell betreten. Man muss keine 30 000 Jahre warten und auf die Talente Anderer hoffen.“

    „Ganz genau. Das menschliche Kollektiv treibt in einem historischen Sog, an dessen Spitze immer Individuen als Sklaven der Gegenwart stehen, deren monotone Schlagworte stets gleich durch die Jahrhunderte dröhnen: Neuerung, Änderung, Neuerung, Änderung! Bewegung, Bewegung, Bewegung! Sonst entsprechen sie nämlich der Natur ihres eingeborenen Herrn, eben des Sogs, nicht. Es ist ein kalter Fortschritt ohne Sinn und Herzlichkeit und ohne jegliche Aussicht auf Verinnerlichung. Aber genau diese Verinnerlichung ist vonnöten, um sich aus diesem bestialischen Schraubstock zeitlicher und räumlicher Tyrannei zu befreien. Um uns herum, Madame, gibt es unzählige Welten, die betretbar wären, wenn wir …“

    „ … nur keine blinden Menschen wären? Wollten Sie das sagen?“

    „Ganz genau. Wenn wir nur keine blinden, steckengebliebenen Menschen wären. Wir richten unsere ganze Aufmerksamkeit auf ein Krebsgeschwür und nennen diesen degenerierenden Parasiten dann auch noch Realität, von dem wir uns zu allem Überfluss obendrein gedankenlos drangsalieren lassen.“

    „Wir?“

    „Na ja, zumindest die Meisten.“

    Madame d’Aubigny betrachtete lange und nachdenklich ihren Chauffeur, dann erhob sie sich, ging zu ihm hinüber und setzte sich auf seinen Schoß.

    „Wer sind Sie, Charles? Sie wissen Dinge, die man nicht so ohne weiteres am Straßenrand findet. Da muss man schon tief ins Landesinnere gehen.“

    „Wir haben uns wohl beide eine Geschichte zu erzählen, Madame. Beginnen Sie mit der Ihrigen.“

    Sie gab ihm einen Kuss und schwebte wieder zu ihrem Stuhl zurück. Nachdem sie Platz genommen hatte, schlug sie ihre Beine übereinander und lächelte verschmitzt.

    „Glauben Sie, Charles, sollten wir uns nicht einen eleganten Rotwein aufs Zimmer kommen lassen?“

    „Unbedingt, Madame“, erwiderte leise der Chauffeur und begab sich zum Zimmertelefon. Nachdem er die Bestellung aufgegeben hatte, wollte er sich wieder setzen, doch Madame d’Aubigny äußerte plötzlich einen Wunsch.

    „Bleiben Sie doch bitte für einen Augenblick stehen, Charles, damit ich Sie ansehen und mir Gedanken über Sie machen kann.“ Sie blickte ihn ernst und vielsagend mehrere Male von oben bis unten an, doch schon bald unterbrach ein Pochen an der Tür die beschauliche Prozedur.

    Mit serviler Geschmeidigkeit betrat das kleine Männchen, als Charles ihm die Tür öffnete, das Zimmer, stellte die Flasche auf den Tisch und entkorkte sie, nachdem er sie seinen Gästen vornehm präsentiert hatte. Geschwind zauberte er von irgendwoher noch zwei Gläser hervor, verbeugte sich, und schon war er wieder verschwunden.

    Charles schenkte den Wein ein und reichte ein Glas davon Madame d’Aubigny. Diese genehmigte sich sofort ein Schlückchen.

    „Jetzt bin ich also mit der Geschichte daran“, sagte sie und atmete erst einmal tief durch. „Als Sie mich vorhin von Marseille hierher nach Aix chauffierten, bin ich kurz eingenickt und hatte einen Traum. Mir sind nur mehr Bruchstücke davon in Erinnerung. Ich merkte nicht, dass ich eingeschlafen war, für mich ging die Fahrt eben traumhaft weiter. Ich weiß noch, dass wir von einer Schafherde aufgehalten wurden und stehenbleiben mussten. Der Hirte war ein ansehnlicher junger Mann und hatte eine sehr ruhige, milde Art. Trotzdem beschimpfte ich ihn total ordinär und niederträchtig, was absolut nicht meinem Wesen entspricht. Dennoch war es so. Irgendwann drehten Sie sich dann um zu mir, Charles, aber Sie waren es nicht. Es war ein Anderer. Er sagte, ich sei nun entführt, oder so etwas Ähnliches. Ich hatte Angst, dass man mir Gewalt antun würde. Das war ein ganz schreckliches Gefühl. Die beiden wollten aber nur, dass ich ihnen zuhöre. Sie taten mir keine Gewalt an. Überhaupt nicht. Sie gaben mir, soweit ich mich noch erinnern kann, esoterische Direktiven. Wer nichts zulässt, wird nicht zugelassen, oder um zu wachsen, muss man Opfer bringen, sich trennen von Dingen, die einem ohnedies nicht abgehen, wenn sie nicht mehr da sind, oder ich solle nicht nach Paris zurückfliegen, sondern lieber zu Fuß gehen. Irgendwie war noch von Parasiten, bösen Geistern, von Herauszuzeln und gefährlicher Dummheit die Rede. Ja, genau, diese Dummheit habe viele Kostüme, sagten sie auch noch. Und das Geschäft von Monsieur Antunovic gäbe es nicht mehr, und ich solle mich lieber nach Wien begeben und einen gewissen … ach, den Namen habe ich vergessen, also einen gewissen Soundso treffen. Den würde ich in der Kapuzinergruft finden, und der würde mich auch weiter instruieren. Und dann kann ich mich noch an Begriffe wie Heurige, Kohlmarkt, Oper entsinnen. Und da war noch eine Telefonnummer. Ich kann mich noch an die österreichische Vorwahl erinnern und an die 31 am Schluss. Irgendwer hat sie mir dann auch noch auf ein Stück Papier aufgeschrieben. Weil ich sie mir nicht merken würde, wenn ich wieder wach sei, sagten sie. Und dann bin ich wach geworden und habe die Nummer tatsächlich vergessen.“

    „Und mir völlig den Kopf verdreht.“

    Madame lächelte geheimnisvoll. „Ist das auch wahr? Kann man so etwas mit Ihnen überhaupt machen, Charles?“

    „Und ob“, sagte der Chauffeur leise. „Sie schon, Madame.“

    „Ach, Charles“, seufzte die feine Dame wehmütig. „Und jetzt kommt das Resümee. Also, das Parfümgeschäft gab es tatsächlich nicht mehr. Der Wien Bezug ist ohne weiteres im Hôtel de Vienne wiederzuerkennen, oder etwa nicht? Und dann diese kauzigen Zimmernamen. Jeden einzelnen hatte ich zuvor geträumt. Heuriger, Kohlmarkt, und was weiß ich noch alles. Ja, und letztlich die Kapuzinergruft, in der wir uns momentan befinden. Ist das nicht eigenartig? Ich meine, diese Dichte an zutreffenden Informationen. Ist diese Dichte nicht seltsam?“

    Charles saß in Gedanken vertieft auf seinem Stuhl. Vornüber gebeugt, die Unterarme auf seine Beine abgestützt, spielte er grübelnd mit dem Weinglas.

    „Wissen Sie“, sagte er plötzlich, „man kann Träume auch selbst lenken. Wie ein Auto. Aber dazu muss man mutig und individuelle Fähigkeiten zu aktivieren imstande sein, da hilft kein Kollektiv. Die meisten sitzen wie Touristen im Bus und werden herumgeführt, sind total passiv. So glauben sie, viel zu erleben, da das Beglotzen glattpolierter Folkloren vollkommen der Gemeinheit ihrer Erwartungen entspricht. Das sind die kleinen, vorgetäuschten Freiheiten, die ihnen der Despot Realität gewährt. Zum Dampf ablassen. Wie die Gladiatorenkämpfe im alten Rom, oder wie heutzutage die vielen Computerblödeleien. Alle sehen in ihren tatsächlichen oder virtuellen Vergnügungsarenen nur Eines und merken gar nicht, dass das Eine sie alle auch sieht und dadurch lenkt. Wer wirklich frei sein oder zumindest vorwärts kommen will, muss außerhalb dieser arenalen Scheinwelt seiner eigenen Wege gehen.“

    „Wie kann ich denn meinen Traum lenken?“, unterbrach ihn Madame irritiert.

    „Vielleicht befinden wir uns jetzt gerade in einem Traum. In einem komplizierten, enorm diffizil strukturierten Traum, der uns als solcher gar nicht bewusst ist.“

    „Hören Sie doch bitte auf, Charles.“ Als wäre sie endlich wieder zu sich gekommen, schüttelte Madame d’Aubigny nun mit skeptisch zusammengekniffenen Augen ihren Kopf. „Auch Sie haben mir mit Ihren Theorien ziemlich den Kopf verdreht, wissen Sie das? Aber, seien wir uns doch ehrlich, das sind doch alles bestenfalls philosophische Hirngespinste. Lendenarmes, akademisches Geplänkel.“ Ihr fahriges Atmen führte nun zu einem eher verstört klingenden Räuspern. Plötzlich jedoch, als hätte sie eine bessere Idee als beunruhigt zu sein, lächelte sie vielsagend.

    „Apropos Lenden“, flüsterte Madame und klimperte Charles neckisch mit ihren Augenlidern zu.

    Nun lächelte auch Charles vielsagend.

 

Zwei Stunden später läutete Madams Mobiltelefon. Sie gab Charles, der erschöpft im Bett lag, noch schnell einen Kuss und schlüpfte unter dem Laken hervor.  Als sie den Apparat aufgeklappt hatte, hielt sie sich den Hörer ans Ohr und erbleichte.

    Das was sie hörte, versetzte sie unmittelbar in Angst und Schrecken. Es war eine entsetzliche Botschaft aus dem Büro ihres Mannes, die ihr ein gewisser Monsieur Drummel nicht ohne theatralisches Pathos unterbreitete. Die Maschine ihres Mannes sei auf dem Weg nach Biarritz aus bislang noch ungeklärter Ursache abgestürzt, meinte er mit sonorer Stimme. Vor etwa zwanzig Minuten wäre dies geschehen, und alle Insassen – vorwiegend russische Geschäftsleute und eben auch Monsieur d’Aubigny – seien tot. 

    „Tot?“, flüsterte Madame ins Telefon. „Ich komme sofort, ich muss auf der Stelle meine Kinder benachrichtigen.“

    Sie klappte den Apparat wieder zu, zog sich in Windeseile an und suchte, noch völlig unter Schock, das Weite. Charles aber ließ sie in ihrer verständlichen Konfusion schlafend im Bett zurück.

 

Karl Diana saß in seiner Wiener Wohnung am Bettrand und dachte nach. Soeben hatte er von Aix-en-Provence geträumt, einem kleinen Städtchen im Süden Frankreichs, und wie er als Chauffeur eine Dame der Pariser Gesellschaft verführt hatte. Oder war es umgekehrt? Er lachte auf. Wie war doch gleich ihr Name? Madame … d’Aubigny! Genau. Sie war sehr attraktiv, erinnerte er sich, und auch sie hatte einen Traum, von dem sie ihm erzählte. Dabei ging es um Schafherden, Hirten und gute Ratschläge. Fliegen Sie nicht nach Paris, war einer davon, aber auch, dass die Dummheit viele Kostüme trage, und man vorsichtig sein müsse. Komisch. Ein Traum im Traum. Gedankenvoll schüttelte er den Kopf. Sie hatte doch auch noch von einer Wiener Telefonnummer mit einer 31 am Ende gesprochen. Eigenartig. Auch er hatte 31 als Endziffer. Und da war doch noch dieses Hôtel de Vienne! Der endlose Liebesrausch, welcher ihm dort zuteil wurde, und diese langen, komplizierten Gespräche mit Madame d’Aubigny. Irgendein Gleichnis von einem Auto, das im Neandertal gelandet wäre, geisterte überdies in seinem Kopf herum. Und dann auch noch dieser Flugzeugabsturz, den er im eigenen Schlaf halbschlummernd mitbekommen hatte. Madame war daraufhin sofort abgebraust! Was soll’s, belassen wir es dabei.

    Vergnügt erhob er sich, ging nach seinem erholsamen Nachmittagsschläfchen unter die Brause und kleidete sich danach gemächlich wieder an. Bevor er die Wohnung verließ, wählte er noch ein geschmackvolles Stecktuch samt eleganter Krawatte. Passt, dachte er sich. Solcherart gerüstet, betrat er die Straße.

 

Karl Diana war bis vor Kurzem ein mäßig erfolgreicher Schriftsteller. Unlängst jedoch hatte er mit einer populärwissenschaftlichen Untersuchung rätselhafter Phänomene völlig unerwartet einen Bestseller gelandet. Von der Kunst in die Journaille! Ihm war’s recht. Nun liefen ihm die Verlage Tür und Tor ein, speziell diejenigen, die er bislang als Poet nur durch schnoddrige Absagen kannte. Ihm war dies egal, er würde seinem alten Verleger die Treue halten, da könnte kommen, was wolle.

    Schon arbeitete er an einer Fortsetzung seiner erfolgreichen Betrachtungen mysteriöser Umstände von wissenschaftlich unerklärbaren Erscheinungen und sollte heute, ohne konkret danach gesucht zu haben, in seiner Heimatstadt Wien fündig werden. Aber das wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

    Karl Diana war ein sehr geselliger Mensch, der sich gerne bis in die frühen Stunden in den diversen Wiener Bars und anderen Etablissements herumtrieb. Meist kam es an solch nachtländischen Orten zu Kontakten, die mehr versprachen, als sie später hielten, doch diesmal sollte es zu einer Begegnung kommen, die Folgen haben würde.

    Nachdem er sich bis in den späten Abend hinein mit Freunden und Bekannten getroffen hatte, trieb ihn die Nacht schließlich ins ‚Tanzcafe Jenseits’, wo er von einem Mann angesprochen wurde, von dem Karl Diana vorerst glaubte, es handle sich wieder einmal um einen der vielen Wichtigtuer, die ihn seit seinem Bucherfolg permanent mit guten Ratschlägen versorgten. Diesmal schien es sich noch dazu um einen pensionierten Freistilringer zu handeln. Der Mann war mittelgroß, hatte eine Vollglatze, die recht gut zu seinem Anzug passte und ein Flinserl im rechten Ohr. Gewagte Kombination, dachte sich Diana, der nun, als diese kuriose Gestalt an ihn herantrat, mit Erstaunen auch noch dessen rote Strümpfe wahrnahm.

    „Diana?“, fragte der Catchertyp markig. „Sie sind doch dieser Schriftsteller, oder?“

    Karl Diana lächelte tapfer. „Ja, der bin ich. Kennen wir uns?“

    „Ganz sicher nicht. Aber ich hätte da was für Sie.“

    „Aha.“

    „Ja. Also, ich möchte nicht lange herumreden. Es geht um die Kapuzinergruft. Sie wissen, die Grabstätte der Habsburger.“