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Alfred Polansky

Strangers in the Light

Eine kriminalisierte Fabel

(Roman)

 

 

 

Copyright © 2015 Der Drehbuchverlag, Wien 

2. Auflage, 14. Februar 2016 

Alle Rechte vorbehalten 

eBook: Strangers in the Light - Eine kriminalisierte Fabel (Roman) 

ISBN: 978-3-99041-549-8 

Kapitel 1

 

Es war gegen drei Uhr morgens, als Jerry Nylon ins Hauptquartier des FBI einbrach. Er wusste um die Gewohnheiten des Personals genau Bescheid. Jerry Nylon war nämlich selbst G.-man, und in diesem Gebäude befand sich sein kleines Dienstbüro. Als er im Schutz der Dunkelheit die breiten Steinstufen hinauf zum Eingang schlich, konnte er bereits den jungen Officer erkennen, der nach den ehernen Regeln eines zyklischen Dienstplanes in dieser Nacht beim Empfang seinen Dienst versah. Nylon kannte ihn ziemlich genau. Sein Name war László Dreher, ein Kollege ungarischer Abstammung. Gerade erst gestern hatte ihm Jerry Nylon anonym eine Landkarte zukommen lassen. Darauf war dessen ehemalige Heimat vor ihrer Aufstückelung nach dem Ersten Weltkrieg, beurkundet durch den schändlichen ‚Trianon’ Vertrag von 1920, noch vollständig mit dem behaglich ruhenden Budapest in der Mitte abgebildet. Jeder aufrechte Ungar litt seitdem höllisch unter dieser Kastration, das wusste Jerry Nylon. Um die erhoffte Wirkung zu erhöhen, legte er jenem strategischen ‚Geschenk’ zusätzlich eine Kassette mit ungarischer Volksmusik bei. Das sollte für seinen Plan erstmal reichen.

    Jerry Nylon öffnete leise die Tür. Unendlich traurige Melodien hallten ihm entgegen. Der junge Officer hatte ihm den Rücken zugekehrt und betrachtete wehmütig die Landkarte, die er sich hinter seinem Empfangspult an die Wand geheftet hatte. Soeben hatte er noch selbst auf seiner Geige gespielt zu den vaterländischen Weisen der fernen, alten Heimat. Ohne die Karte auch nur für einen Augenblick aus den Augen zu lassen, legte er nun den Bogen zur Seite und ergriff den kurzen Hals einer bereits halbleeren Flasche, aus welcher er einen großen Schluck zu sich nahm. Immer wieder verfiel er in verzücktes Schluchzen, rief manchmal „Istenem! Istenem!“, und kümmerte sich anschließend rührend um den Speck, den er, großzügig zerteilt und auf Holzstäbchen aufgespießt, auf einen handlichen Elektrogrill gelegt hatte, um ihn solcherart zu rösten.

    Jerry Nylon schlich sich lautlos an dem entrückten Wachposten vorbei, eilte auf den Zehenspitzen hin zum Lift und fuhr danach in den dreiunddreißigsten Stock, ein Weg, den er in den vergangenen Jahren schon unzählige Male hinter sich gebracht hatte. Aber heute, in dieser Nacht, war alles anders.

    Der G.-man schwitzte, und sein Puls begann unaufhörlich schneller zu werden. ‚Wenn das alles doch nur schon vorbei wäre’, dachte er und wünschte sich insgeheim, bei dem jungen Kollegen zu sein und unbeschwert ein Gläschen mitzutrinken. 

    Der Gang war spärlich beleuchtet. Jerry Nylon blieb für einen kurzen Moment nachdenklich vor seinem Büro stehen, schlich dann aber an der Mauer entlang noch ein paar Meter weiter, bis er erneut anhielt. Hier war er richtig. Auf der Glastür konnte man deutlich den Namen Jack Label erkennen.

    Dieser G.-man, ein vermeintlicher Kollege, nach außen hin ein toller, wertvoller Kamerad, war jedoch in Wirklichkeit ein skrupelloser Erpresser, dem die verzweifelte Hilflosigkeit, in die er seine Opfer trieb, offensichtlich gewaltiges Vergnügen bereitete. Dabei bediente er sich eines Umstands, eines ungeschriebenen Gesetzes, gegen welches das gesamte Departement des FBI machtlos erschien, da es von den seriösen, älteren Herren der eigenen, obersten Führungsebene ausging, allen voran Mr. Hyde, dem Boss.

    Dieser hatte nämlich vor etlichen Jahren, als Jerry Nylon bei der Bundesbehörde als junger Officer total engagiert und noch voller Ideale seinen Dienst antrat, ihn zu dem intern berüchtigten ‚Einführungsgespräch’ in sein Zimmer zitiert. Als es der G.-man eine halbe Stunde später wieder verließ, war es ihm für ein paar Tage unmöglich, sich schmerzfrei niederzusetzen.

    Sein Blick wurde während dieser Zeit fahrig und seine Verhörmethoden ziemlich brutal, was ihm aber wiederum sehr schnell Belobigungen und eine Beförderung einbrachte, da er auf diese Art unzählige Delikte ihrer gewünschten Aufklärung zuführen konnte. Maßgeschneidert, versteht sich. So konnte er z.B. für ein einziges, ungelöstes Verbrechen mitunter bis zu zehn beglaubigte, unterschriebene Geständnisse vorlegen.

    Binnen kurzer Zeit entwickelte sich eine Art florierender Börse innerhalb eines gierigen, unersättlichen Polizeiapparates, die Aufklärungsrate in New York pendelte sich folglich um die 100% Marke ein! Nylons Dienste waren sehr begehrt, sein Eifer legendär, und schon bald tauschte er seine schäbige Zweizimmerwohnung in der Bronx gegen ein luxuriöses Appartement, welches im letzten Stock des gigantischen Rockefeller Buildings lag.

Kapitel 2

 

Vor ein paar Tagen, an einem prächtig warmen Nachmittag, hielt sich Jerry Nylon in eben diesem Appartement auf, als es an der Tür läutete.

    Nylon war gereizt, denn er hatte Besuch und deswegen bis zum Abend all seine Termine abgesagt. Mit der Fernbedienung drehte er nun die Lautstärke der ohnedies leisen Barmusik etwas zurück. Vic D. Bersell, ein junger braungebrannter Streifenpolizist aus Chicago blickte hastig zu ihm auf und erhob sich aus seiner kauernden Stellung.

    „Erwartest du jemand?“, fragte er. Nylon schien irgendwie nervös zu sein.

    „Schnauze. Wisch dir den Mund ab und setz dich ungezwungen hin.  Ich werde mal schauen, welcher Kerl es wagt ….“ Noch während er sprach, läutete es abermals, diesmal länger und fordernder. Noch dazu klopfte jemand von außen nicht gerade diskret an die wertvoll intarsierte Mahagonitür.

    Als Nylon Nachschau hielt, stand er zu seinem großen Erstaunen Jack Label gegenüber, der ausnehmend gut gelaunt war. Zu gut, wie es ihm schien.

    „Wer hat dich denn raufgelassen?“, knurrte Nylon seinen Kollegen unverhohlen barsch an.

    „Hi, Jerry, du willst mich doch sicher gern in deine bezaubernde Bude hineinbitten.“ Noch während er dies sagte, schob Label bereits seinen massigen Körper an Nylon vorbei in den Vorraum hinein.

    „Hab’ auch was Schönes mitgebracht, mein Kleiner!“ Jetzt erst bemerkte Nylon die Riesenchampagnerflasche in den Händen seines launigen Kollegen. „Oder hättest du lieber Blümchen bevorzugt?“

    Jerry Nylon lief rot an vor Zorn, so hatte schon lange keiner mehr mit ihm gesprochen. Was fiel denn diesem ungepflegten Fettwanst mit seinem schlecht sitzenden Anzug ein? Nylon hatte gute Lust, den ungebetenen Gast mit einem mächtigen Fußtritt in den Allerwertesten kurzerhand wieder nach draußen zu befördern, doch Label schien Gedanken lesen zu können.

    „Aber, aber“, sagte er, „wer wird denn gleich so garstig sein?“ Er stupste Nylon neckisch an der Nase.

    „Anhören!“, sagte er. „Die aktuelle Hitparade.“ Hämisch hielt er Jerry Nylon plötzlich eine CD vors Gesicht.

    „Selbstgebranntes, hochprozentig. For your ass only, wenn du weißt, was ich meine!“ Der fette Agent schmunzelte. „Deine Wohnung gefällt mir, Jerry-Boy!“ Nun hatte Label auch schon das Wohnzimmer erreicht und sah sich plötzlich Vic D. Bersell gegenüber.

    „Olàlà!“, lachte er. „Wie charmant!“

    „Das ist nicht so, wonach es aussieht“, stotterte der überrumpelte Nylon. „Mr. Bersell möchte zum FBI und bat mich deshalb um Rat, nicht wahr, Victor, so war’s doch. Sag doch was!“

    Er blickte den jungen, feschen Streifenpolizisten eindringlich an. Vic D. Bersell fühlte sich in seinen gelben Hotpants samt Netzstrümpfen momentan ziemlich unwohl. Verunsichert räusperte er sich und begann zu stottern, als ihm Jack Label ins Wort fiel.

    „Vicy-Boy bekommt also seine Einführung“, meinte er. „Ich hoffe, das Resultat ist befriedigend. Beim FBI wird nämlich scharf geschossen, Mr. Bersell!“

    „Ich weiß“, sagte dieser leise und senkte errötend den Blick.

    Jerry Nylon gewann nun langsam wieder die Fassung zurück und schnaubte sogleich wütend wegen der Übergriffe seines unverschämten Kollegen. Das war doch reine Privatsache! Was bildete denn der sich ein? Er war drauf und dran, sich auf den feisten Kerl zu stürzen, um ihm eine ordentliche Abreibung zu verabreichen, als dieser den Knopf der Fernbedienung betätigte. Geschickt und unbemerkt von den beiden, hatte er nämlich während des verbalen Geplänkels sein ‚Gastgeschenk’ in den CD-Player eingelegt. Nun wollte er diesen Ohrenschmaus den Anwesenden nicht länger vorenthalten.

    „Officer Jerry Nylon meldet sich wie befohlen, Sir!“ Das war unüberhörbar die Stimme des jungen Jerry Nylon, die aus dem Lautsprecher tönte. Man hörte, wie er die Haken zusammenschlug und danach das Knarren eines Stuhles. Kurz darauf waren langsame Schritte zu vernehmen.

    „So, so, Jerry Nylon.“ Mr. Hyde! Dieses sonore, väterliche Brummen gehörte eindeutig zu Mr. Hyde, dem Chef des FBI.

    Nylon spürte, wie sein Mund trocken wurde, wie unaufhaltsam fürchterliche Panik in ihm empor kroch. Er wollte weg, weit weg! Das Szenarium glich immer mehr dem eines üblen Albtraums.

    Man konnte nun hören, wie ein Gegenstand, dem Klang nach anscheinend ein Geldstück, zu Boden fiel. Und dann war da wieder Mr. Hydes Stimme.

    „Oh, wie ungeschickt von mir, aber ich kann mich beim besten Willen nicht mehr bücken. Die Gicht“, kicherte er entschuldigend. „Würden Sie mir bitte den Gefallen tun und die Dollarmünze aufheben?“

    „Jawohl, Sir!“ Beflissene Schritte waren zu hören, das Rascheln von Kleiderstoff, wie dies beim Bücken üblich ist und dann jenes kurze, entschlossene Surren. Dies war eindeutig das Geräusch eines sich energisch öffnenden Reißverschlusses.

    Jack Label schaltete das Gerät ab. „Schade, gerade jetzt, wo es um die Wurst geht, nicht wahr?“, meinte er zynisch. „Wusste gar nicht, dass du über einen so wunderbaren Koloratursopran verfügst! Wollen wir ihn uns gemeinsam anhören, Jerry-Boy? Soll ich weiterspielen?“

    Er schien höchst amüsiert zu sein, doch als er nun den immer größer werdenden feuchten Fleck im Schritt auf Jerry Nylons Hose bemerkte, konnte sich der feiste Agent nicht mehr länger beherrschen, und es platzte laut aus ihm heraus.

    „Aber wer wird denn gleich. Ein Mann! Ein G.-man noch dazu! Also, ich muss schon sehr bitten. Was wird denn der zauberhafte Vicy von dir halten, Jerry-Boy?“ Label hatte nun seinen Kollegen dort, wo er ihn haben wollte. Er genoss sichtlich diese Situation und musste immer wieder grinsen.

    Nylon saß währenddessen zitternd am Stuhlrand und schluchzte in sich hinein. Es war ein groteskes Schauspiel.

    „Was willst du von mir?“, heulte er nach einer Weile völlig aufgelöst. „Geld?“

    Label lachte laut auf. „Geld? Du willst mir tatsächlich Geld anbieten? Das ist doch höchstens was für arme Leute und verwöhnte Bengel. Ein trügerischer Schnuller für öde Langweiler, Jerry-Boy! Wir aber sind doch keine traurigen Seichtlinge ohne Visionen, nicht wahr? Wach doch endlich auf, G.-man!“

    Er öffnete nun geschickt den Drahtverschluss seiner mitgebrachten Champagnerflasche. Der augenblicklich herausschnellende Korken prallte direkt auf Vic D. Bersells Stirne, und zwar dermaßen grob, dass dieser sofort das Bewusstsein verlor, von der Couch zu Boden glitt, um dort verrenkt schließlich liegen zu bleiben.

    Jerry Nylon schrie vor Entsetzen schrill auf. Label jedoch schüttelte es vor Lachen. Unzählige Freudentränen kullerten über seine drallen Wangen, während er nun den Champagner in schlanke Flöten einschenkte.

    „Weißt du, Jerry-Boy, das find ich lustig an dir! Heute früh ist doch diese Schwester aus dem Orden der Trappistinnen dank deiner frisierten Beweise hingerichtet worden. Was hast du der nicht alles angehängt! Mann, oh, Mann! Antiamerikanismus, Alkoholmissbrauch, provokantes Rauchen auf öffentlichen Plätzen bis hin zu staatssicherheitsgefährdeten Aussagen über unser Guantánamo Folter KZ,  und was weiß denn ich noch alles. Schließlich war das aber auch keine Kunst, mein Lieber. Die konnte sich ja als echte Trappistin gar nicht so richtig verteidigen – wegen ihres Schweigegelübdes. Aber was soll’s! Da führt man also diese fromme Idiotin deinetwegen frühmorgens zum Galgen, was dich nicht im Geringsten zu stören scheint, aber jetzt, jetzt heulst du wie ein zartes Schoßhündchen beim ekelerregenden Anblick eines lauwarmen, ohnmächtigen Straßenköters!“

   Er nippte kurz an seinem Champagnerglas und betrachtete belustigt den winselnden G.-man. „Warst du wenigstens bei der Hinrichtung dabei?“, fragte Label en passant.

    „Nein, leider“, schluchzte sein Gegenüber kaum verständlich. „Vic hatte einen früheren Zug genommen, und ich holte ihn vom Bahnhof ab. Danach sind wir gleich in die Sauna zu Efrem Zimpallon jun. nach Hoboken rüber. »Boys’n Gois« heißt sein neuer Salon, den er dort zusammen mit den Kolumbianern rund um Manuel Orales betreibt. Toller Schuppen! Und jetzt liegt er da, jetzt liegt Vicy einfach so da. Wie ein völlig wertloser Aufwischfetzen!“

    Jerry Nylon jaulte mit tränenerstickter Stimme und deutete dabei mit einer verwaschenen Bewegung auf seinen Freund, der nach wie vor benommen auf dem Boden lag.

    „Vicy, Vicy!“, winselte er schwach und sah Label mit total verweinten Augen an.

    „Vicy ist kein ekelerregender Anblick. Niemals! Sag’ das bitte nie mehr.“ Beschwörend griff er mit seinen zitternden Händen auf Jack Labels Oberschenkel.

    Dieser zögerte keine Sekunde und nahm ihn sofort in seine fleischigen Arme. Er zog den Kollegen an sich und bedeckte ihn über und über mit unzähligen Küssen.

    „Jerry, Jerry“, hauchte er, „endlich, du kleiner Lausbub. Wie lange hab’ ich darauf gewartet! Ab heute wird alles anders, das verspreche ich dir – du wirst nie mehr allein sein, ich werde immer für dich da sein und dich beschützen!“

    „Au ja“, zirpte Jerry Nylon, „aber du musst ein bisschen abnehmen, versprich mir das!“

    Wie elektrisiert sprang Jack Label nun von der Couch auf.

    „Was sagst du da?“, schrie er. „Was sagst du da? Was wagst du da über meine Statur zu sagen, du kleiner kretinierter Dreckslurch!“ Labels Augen waren weit aufgerissen, seine Nüstern zitterten vor Zorn. Jerry Nylon erschrak fürchterlich und begann sofort wieder zu weinen. Aber seinen Kollegen kümmerte dies wenig, er schien unbedingt erfolgreich ausrasten zu wollen.

    „Ich bin dir also nicht gut genug. Jerry-Boy ist wohl was anderes gewohnt! Bauchlose Schwachköpfe mit knackigen Ärschen wahrscheinlich!“ Label fasste die Champagnerflasche am Hals und ließ sie auf Nylons Schädel niedersausen.

    „Da hast du’s, du blöder Hund!“, schrie er hysterisch

    Ein paar Häuserblocks weiter schaltete Mr. Hyde im Hauptquartier des FBI die private Abhöranlage aus. Er hatte genug gehört. Gedankenverloren führte er seine Hand über das etwas zu enge, rosa Ballettkleid, das er vor Stunden schon gegen seinen grauen Anzug getauscht hatte. Er gefiel sich ausnehmend gut darin. Normalerweise pflegte er in Momenten wie diesen ein paar zierliche Tanzfiguren vor dem großen Barockspiegel zu vollführen, aber heute schien er anderen Gedanken nachzuhängen.

    „So, so, Efrem Zimpallon jun. und Manuel Orales“, sagte er gefährlich leise zu sich, „ihr ausgefuchsten Obergangster wolltet mich da wohl ausspielen? »Boys’n Gois« in Hoboken drüben. Da lass ich mir heute Abend doch glatt eine Extramassage verabreichen. Auf Regimentskosten, versteht sich.“

    Er lachte grimmig auf, zog seinen alten, verbrauchten Körper vom Stuhl hoch und quälte sich fluchend in seinen Trenchcoat hinein. Routinemäßig richtete er sich noch einmal die Strapse und verließ danach mit kurzen Schrittchen sein Büro.

Kapitel 3

 

Jack Label verließ verärgert das Luxusappartement seines Kollegen. Er war in Eile, da Vic D. Bersell langsam das Bewusstsein wiedererlangte, und ihn bald wegen des Vorfalls wohl zur Rede stellen würde. Eine nochmalige Auseinandersetzung konnte Label jetzt nicht gebrauchen.

    So kletterte er die Feuerleiter hinab. Als er schon beinahe wieder zu ebener Erde war, fiel ihm plötzlich ein, dass er seine mitgebrachten Champagnergläser bei Nylon vergessen hatte. Verärgert machte er sogleich wieder kehrt. Es war ein langer Weg nach oben.

    In Höhe der zweihundertfünften Etage begegnete er einem Fensterputztrupp rund um Freddy 'Sugar' Dice, einem Kollegen vom FBI, der hier offenbar einer Observation nachging, und sich aus diesem Zweck die professionelle Gondel geborgt hatte. Mit Hilfe dieses Gerätes, das am Dach an einer beweglichen Vorrichtung befestigt war, konnte man mittels Fernsteuerung jedes beliebige Fenster in jedem beliebigen Stockwerk in Kürze erreichen.

    Mit Dice in der Gondel befanden sich noch die beiden G.-men Percy Loser und Percy Loser, die trotz desselben Namens nicht miteinander verwandt, sich aber in vielen Belangen sehr ähnlich waren.

    „He, Jungs“, rief Jack Label, „könnt ihr mich ein Stück nach oben mitnehmen?“ Die beiden Loser zogen sofort ihre Dienstwaffen, auf denen überdimensionierte Schalldämpfer montiert waren.

    „Nicht schießen, Percy, Percy!“, zischte Freddy 'Sugar' Dice, der seinen Kollegen erkannte, „das ist ’Fatty’ Jack Label! Der ist von unserem Verein.“

    Trotzdem drückte einer der Percys ab und zog Label mit einem Streifschuss einen eleganten Mittelscheitel. Die ohnedies schlecht sitzende Perücke verrutschte nun vollends, landete kurz auf Jack Labels Schultern und segelte von dort in sanften, vom Wind hin und her getragenen Bewegungen unaufhaltsam in die Tiefe. Label winselte vor Schmerz, den der Streifschuss verursacht hatte, aber auch vor Demütigung. Nun konnte alle Welt sehen, dass er ein Toupet trug, und in ein paar Minuten würde ihm noch dazu der Kamm ordentlich schwellen. Da er jedoch nach wie vor mit ihnen nach oben wollte, versuchte er die Situation mit einem verzerrten Lächeln herunterzuspielen.

    „Macht nichts“, meinte er mit zusammengebissenen Zähnen, „es war ja meine Schuld. Ich hätte euch nicht so erschrecken sollen! Ihr habt ja alle eure zarten Seelen, nicht wahr? Und Toupets gibt’s ja außerdem wie Sand am Meer!“ Dabei lachte er falsch und beschwichtigend.

    „Ja, aber so einen Scheitel gibt’s nur einmal, Fatty“, erwiderte humorlos der eine Percy, der soeben geschossen hatte, während der andere Percy und Freddy 'Sugar' Dice bestätigend nickten.

    ’Blöde Scheißkerle’, dachte sich Label. Als er schon zur wesentlichen Frage ansetzen wollte, ob man ihn eventuell per Knopfdruck ein paar Etagen weiter nach oben transportieren könne, spürte er, wie jemand auf seine Finger der linken Hand stieg, mit denen er sich momentan an der Feuerleiter anklammerte.

    Das war Vic D. Bersell, der von Nylons Appartement kommend sich nun ein paar Meter oberhalb von Label befand, und den Absprung in die Gondel ausgerechnet von jener Sprosse aus ansetzte, an der sich der fette G.-man gerade festhielt. Dass er dabei auf dessen Finger stieg, war keineswegs Absicht, doch nahm Bersell diesen Umstand mit grimmiger Genugtuung zur Kenntnis.


Jack Label jaulte erbärmlich auf, und ihm wurde erst jetzt bei näherer Betrachtung der vier Polizisten in diesem lächerlichen Fensterputzgestell viel zu spät gewahr, dass sie alle kurze und sehr enge, gelbe Lederhosen anhatten. Da gingen Label plötzlich die Augen auf, und es wurde ihm ganz schnell klar, dass dies ein eingespieltes Team und diese an sich recht fesche Maskerade ihr internes Erkennungszeichen war!  


„Nach unten!“, schrie Vic D. Bersell, und Freddy 'Sugar' Dice legte die Schalter um. Sogleich raste die Gondel quietschend abwärts.

    Zurück blieb ein ziemlich geschändeter G.-man. Zudem begann sein Kamm tatsächlich schon leicht zu schwellen.  

Kapitel 4 

 

Mr. Hyde fuhr mit einem Taxi nach Hoboken rüber. Zwei Häuserblocks vor seinem erklärtem Ziel, »Boys’n Gois«, wurde der Fahrer zudringlich. Zuerst richtete sich der Kerl lediglich den Rückspiegel zurecht, damit er seinen schräg hinter ihm sitzenden Fahrgast, der andauernd an seinen Strapsen herumhantierte, genauer betrachten konnte. Dann begann er zu sprechen

    „Geile Fummel, die Sie da anhaben, Opa!“ Er grinste unverschämt und schnalzte dabei mit der Zunge.

    Mr. Hyde hob die Augenbrauen und fragte mit leiser, gefährlich hoher Stimme: „Was sagst du?“

    „Dass du einen enorm geilen Fummel anhast, sag' ich. Den möchte ich haben. Ich meine, den möchte ich mir ausborgen. So für dreißig, vierzig Jahre! Verstehst du, Opa? Du bist zwar auch nicht schlecht, du alter Schweinehund, aber dein herziges rosa Kleidchen gefällt mir eben besser!“

    Der Taxifahrer lachte gemein in sich hinein, riss das Steuer herum und fuhr in eine dunkle, schmutzige Seitenstraße, vor der sogar den Ratten zu grausen schien, denn keine war dort zu sehen.

    „So, so”, murmelte Mr. Hyde, „mein Kleidchen gefällt dir also besser.“ Er blickte verträumt aus dem Seitenfenster. „Was weißt du denn von der Hoffnung, mein Sohn?“, fragte er plötzlich unvermutet.

    „Dass sie zuletzt stirbt, Opa!“, lachte der Taxifahrer rau und gab ordentlich Gas.

    „Oh, ein Philosoph!“ Mr. Hydes Stimme hatte nun einen süßlich-höhnischen Tonfall. „Ja, aber wer stirbt denn vorher, weiß man das?“

    Der Fahrer hielt abrupt an. „Na ja, im Prinzip stirbt immer irgendwo etwas, um neu zu entstehen. Dabei dürfte es sich um eine universelle Maxime handeln, eine schöpferische Maxime des Suchens mit der verschwommenen Idee einer noch verschwommeneren Vermutung als Leitideal, als ahnenden Agens, der sich erst einmal in alle Richtungen hin entwickelt, sich empor räkelt, überall hineinschnuppert, um überhaupt erkennen zu können, worin vielleicht ein Sinn liegen mag. Ein solcher Prozess ist sehr langwierig und schwer, denn die Auflage einer physischen Dimension, die z.B. wir als Menschen nun einmal haben, schließt uns von einer vollwertigen Teilnahme, vom vollwertigen Genuss einer direkten Erfahrbarkeit an  sozusagen reinrassigen Wesensheiten, aus. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob es eine solche quellende Wesenheit überhaupt gibt, ob sie nicht nur eine sehnsüchtig herbei gewünschte Märchengestalt ist, eine teuflisch lechzende Projektion am Ende einer muffigen Sackgasse. Die beiden Aggregatszustände von Schrödingers Katze, die beiden möglichen Wahrheiten – denn keine ist falscher als die andere – diese beiden Katzen also beißen sich nun gegenseitig in den Schwanz, die Tote und die Lebende!“ Der Taxifahrer hielt kurz inne und fuhr sich mit einer Hand über die Haare.

    Mr. Hyde beugte seinen Kopf nach vor. „Kannst du das bei mir auch machen?“

    „Klar“, sagte der philosophische Fahrer und kraulte dem Chef des FBI nun kurz und sensibel dessen bereits angegraute Locken.

    „Ah, tut das gut, du hast ein geschicktes Händchen dafür, weißt du das?“ Mr. Hyde blickte den Fahrer wohlwollend an.

    Dieser rutschte nun verlegen auf seinem Sitz hin und her. „Meinst du wirklich?“, fragte er leise.

    „Aber ja, ich kenne mich da aus. Wir wollen jedoch unser Gespräch von vorhin nicht so harmonisch ausklingen lassen, nicht wahr? Denn jetzt scheint es ja erst richtig spannend zu werden. Der Betrachter von Schrödingers Katze braucht nun Wagemut, er muss sich jetzt entscheiden, ohne auch nur einen einzigen Anhaltspunkt zu haben, welchen theoretischen Zustand er bevorzugt, um daran anzuknüpfen. Er muss auf seine eigenen, sympathischen Qualitäten eingehen, die sich während des ganzen Entwicklungsprozesses durch die Äonen, an deren aktueller Spitze er steht, ja ohnehin auch parallel versucht haben, ihren Weg zu bahnen, um dann endlich das zu sein, was sie gegenwärtig nun sind. Der Beobachter in Schrödingers Gedankenexperiment öffnet letztlich die Kiste, in der sich die Katze befindet und überprüft die atomare Wahrheit, das Resultat dieser nuklearen Entscheidung quasi. Entweder ist sie so, wie sie nun einmal ist, oder das Gegenteil eben. Beide Entwicklungsstrukturen beinhalten jedoch bis zu ihren jeweiligen, konträren  Schlusspunkten ein absolutes Wahrheitspotential. So, als gäbe es zwei Päpste.“

    „Ja“, unterbrach der Taxifahrer erregt, „weil in Wirklichkeit die Wahrheit kein Ziel hat. Sie ist ein realer, formloser aber willentlicher Prozess aus einer anderen, fremden Ordnungsebene, dessen Sinn nicht darin besteht sich zu entwickeln, sondern sich zu spielen. Weil sie sich nämlich mit der Zeit, der verwirrt verwirrenden Maskerade der Ewigkeit, eingelassen hatte. Denn diese Ewigkeit, ein weiteres Subprinzip, wodurch sich die Wahrheit mitteilt, gefällt sich ja nicht nur darin, dass in ihr alles möglich ist, sondern dass tatsächlich auch alles passiert, was nur passieren kann!“ 

    „Genau“, sagte Mr. Hyde und wollte gerade fortfahren, als ein heftiges Pochen am Seitenfenster ihn von seinem Vorhaben abhielt. Zwei tänzelnde Neger blickten ungemütlich ins Auto hinein. Sie trugen handliche Miniaturflammenwerfer bei sich, die vergoldet zu sein schienen, und mit denen sie nun gefährlich herumfuchtelten.

    Mr. Hyde, die Ruhe selbst, kurbelte das Fenster hinunter und weihte die beiden Fremden mit kurzen Stichworten in das soeben stattgefundene Gespräch zwischen ihm und dem Taxifahrer ein.

    „Oh, Baby“, sagte der eine, der nun ungezwungen in den Wagen stieg und es sich neben Mr. Hyde auf dem Rücksitz bequem machte, „da habt ihr ja auf was ganz Wesentliches vergessen.“

    „Hey Boys, wie kann man denn nur so beklopft sein!“, meinte sein Kumpan kopfschüttelnd und setzte sich seinerseits lachend neben den Fahrer. Seine weißen, diamantbesetzten Zähne strahlten unanständig durch die Dunkelheit.

    Mr. Hyde räusperte sich. „Und was sollen wir Ihrer werten Meinung nach vergessen haben, wenn ich fragen darf?“

    „Na, was denn?“, meinte süffisant der Kerl neben Mr. Hyde. „Ihr habt übersehen, dass das Gedankenexperiment von Schrödinger …“

    „Übrigens ein österreichischer Mathematiker!“, unterbrach ihn mit erhobenem Zeigefinger belehrend sein Freund.

    „Bist du dir da sicher?“, meinte wiederum der Erstere. „War das kein Ungar? Also, ich glaube, das war ein Ungar.“

    Sein Gefährte zuckte mit den Schultern, um so eine große Verunsicherung zu bekunden. „Vielleicht aus der Monarchie“, meinte er noch kleinlaut, verstummte jedoch vollends, als er das souveräne Grinsen seines Genossen bemerkte. Dieser fuhr nun fort.

    „Darf ich jetzt anknüpfen? Also, ihr habt übersehen, dass die bereits erwähnte Theorie von diesem Ungarn – ich glaube, aus Kecskemét stammt er – in einem übersehbaren Zeitrahmen stattfindet. Das ist nämlich wichtig, weil das heißt, dass er in seinem versoffenen Pusztaleben dieses Experiment viele Male wiederholen kann, um eventuell auf kleine, feine, verfickte Nuancen draufzukommen, Baby - Nuancen, die wiederum eventuell gänzlich andere, weiterführende Maßnahmen empfehlen. Diese habe ich, soweit ich das verstanden habe, in deiner ursprünglichen Version vermisst. Fuck you, die hab’ ich total vermisst. Weißt du eigentlich, was du mir damit antust, Baby?“ Seine Stimme überschlug sich wie bei einem Pubertierenden.

    „Na gut“, fuhr er schon bald etwas beruhigter fort, „darin steht also immer wieder ein Individuum, von einer Generation zur anderen, mit dem Gewicht seines Arsches auf den Schultern seines Vorgängers und hofft, dass wiederum seine breiten Schultern der folgenden Brut als Ausgangsposition zur Verfügung stünden, und so weiter, und so weiter. Der Uropa vor zweihundert Jahren hatte also gar keine Ahnung, wohin das ganze Theater führt, hätte jedoch für ein ihm unbekanntes Ziel in unbekannter Zukunft sein bekanntes, konkretes Fuckerleben geopfert. Oh, Mann, ihr seid doch alle solche Wichser!“

    „Das Ziel ist doch nur ein Abfallprodukt des Weges“, setzte der andere fort. „Ein blindes, willkürlich gewähltes Abfallprodukt. Das ist wie eine lächerliche Fotografie. Man fotografiert in den Fluss hinein und hat eine starre Fixierung von etwas Beweglichem. Das ist doch so was von beschissen! Ihr fabriziert euch das Dreidimensionale zu einem Punkt zurecht, damit ihr es mit euren degenerierten Affengehirnen lange betrachten könnt. Das ist Götzendienst! Schon einmal was von Heissenbergs Unschärfetheorie gehört, ihr Weicheier?“

    „Das ist doch dieser Ungar“, fiel ihm nun sein Kollege ins Wort.

    „Mach du mich jetzt auch noch wahnsinnig. Das war’n Kraut!“ Die letzten Worte schrie er und verdrehte dabei fassungslos seine Augen.

    „Aha? Das war gefälligst ein Ungar aus Nyíregyháza!“

    „Ein verdammter Kraut war das!“

    „Ein Ungar!“

    „Ein Krautfresser, Nigger, ein Krautfresser war das!“

    „Ein verfickter, schwuler Ungarbengel, du Bimboarsch! Aus Ostungarn!“ Auf diesem hässlichen Niveau ging der Disput eine ganze Weile hin und her, bis Mr. Hyde die beiden Kontrahenten schließlich energisch bat, sie mögen ihr Geplänkel doch vor der Wagentür fortführen.

    „Und Hitler war wahrscheinlich ein maurischer Spanier“, schrie zynisch der Eine, während er vom Wagen ausstieg. Auch sein Kompagnon stieg aus.

    „Nein, der war kein maurischer Spanier“, erwiderte er schnippisch, „der hieß nämlich ursprünglich Árpád Hítel und kommt aus Keszthély am Plattensee, und der liegt nun einmal in Ungarn. Tut mir leid!“

    Sein Freund grölte entgeistert auf. „Du bist doch so was von beschissen, das geb’ ich dir schriftlich!“  

    „Da müsste man ja schreiben können!“ 

    „Ist doch ohnedies egal, du kannst ja sowieso nicht lesen, du lausiger Affe!“

    „Ich könnte ja deinen Heissenberg fragen, damit er mir dein Geschmiere vorliest. Der muss ja enorme Spezialbrillen haben wegen seiner verfickten Unschärfetheorie!“

    „Klar, der soll’s dir vorlesen.“

    „Einen Ungar frag’ ich aber nicht!“

    „Weil du nicht verstehst, was er sagt! “

    Beide zogen nun ihre vergoldeten Flammenwerfer. Das Taxi fuhr sanft an. Im Rückspiegel konnte der Fahrer schon bald zwei in Flammen stehende Gestalten erkennen.