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Alfred Polansky

Spiegelglatt

Ein zeitloses Märchen

(Roman)

 

 

 

Copyright © 2015 Der Drehbuchverlag, Wien 

2. Auflage, 14. Februar 2016 

Alle Rechte vorbehalten 

eBook: Spiegelglatt - Ein zeitloses Märchen (Roman) 

ISBN: 978-3-99041-550-4 

I.

 

In Damaskus, gleich in der Nähe der Omajjadenmoschee, gab es einst, als Suleiman Kalif war, einen märchenhaften Basar, dessen Zauber, dessen sinnliche Düfte und Gerüche, dessen überbordendes Angebot an exotischen Wohlgeschmäcken aller Art weit über die Grenzen Arabiens hinaus berühmt waren.

    Auch noch fernab, selbst an den Oasen der Wüste Nefud, wo sich spätabends müde die Händler der Karawanen einfanden, um sich vom anstrengenden Tagesritt oder gar von den Attacken herumstreunender Wüstenräuber zu erholen, wusste man am Lagerfeuer, bei Dattelwein und geschmortem Lammfleisch, von der anmutigen Magie jenes Ortes in geheimnisvollen Fabeln so manche Geschichte zu berichten.

 

Fortwährend trafen zu jener Zeit in Damaskus Karawanen mit seltenen Gütern ein. Aus Aden, Bagdad, ja, manchmal sogar aus Samarkand kamen sie und füllten so die geräumigen Lagerhäuser der Händler mit Kurkuma, Ambra, Jasmin, Haschisch, Bergamotte, Moschus, Sandel und vielen anderen Köstlichkeiten aus fernen Ländern, zu denen man stetige Handelsbeziehungen pflegte.

    Der Basar von Damaskus war ein lebendiger Organismus, wo Neuigkeiten und Gerüchte aus den benachbarten Ländereien und Städten sich von Mund zu Mund in Windeseile verbreiteten und sich dabei nicht selten auch letztlich neu einkleideten.

    Die erfindungsreiche Geschwätzigkeit der heimischen Händler und Kaufleute war für manch verschlagenen Aufrührer von unschätzbarem Wert, und so konnte auf diesem Weg die eine oder andere Nachricht gezielt unters Volk gebracht werden. Was danach daraus wurde, hing davon ab, wem man sie wie ins Ohr weiterflüsterte. 

    Sollte sich die Botschaft schnell wie ein Lauffeuer verbreiten, musste man deren Inhalte schlicht und einfach belassen und unter dem Siegel größter Verschwiegenheit mitzuteilen verstehen.

    Wollte man sie jedoch ertragreich und kräftig wiederhaben, dann sollte man sie bereits von Anfang an pikant und anrüchig würzen, um somit der Phantasie des jeweiligen Boten noch zusätzlich eine feurige Anregung zukommen zu lassen. Dieser Parcours dauerte zwar für gewöhnlich etwas länger, der Aufwand an Geduld zahlte sich aber letzten Endes immer wieder aus, denn die Verwandlungen an Form und Inhalt waren meist überaus erstaunlich.

    Nie verließ ein Gerücht den Mund des Überbringers so, wie es eben gerade noch zuvor sein Ohr vernommen hatte.

   Wollte man jedoch sowohl Tempo als auch kreative Zierkunst miteinander paaren, dann wendete man sich einfach an Ibn Balq, den man auch Al Turki nannte, da seine Familie aus einem kleinen Dorf am Ende der Welt, in der Nähe von Byzanz stammte, welches damals noch an das Omajjadenreich grenzte.

    Schon vor langer Zeit hatte sich Al Turkis jüdischer Großvater als Händler in Damaskus niedergelassen, passte sich geschmeidig der neuen Kultur an und konvertierte schließlich im hohen Alter aus wohldurchdachten Überlegungen zum Islam.

    Dieser geschickte Schachzug gereichte schon der folgenden Generation sehr zum Vorteil. Sein Sohn, Ibn Balq al Shmoq, brachte es nämlich im Laufe vieler Jahre zu ansehnlichem Reichtum und Wohlstand, welchen er und seine Familie in solch ausschweifendem Ausmaß zur Schau stellte, dass seine leichtlebige Sippe nach und nach gewaltigem Ärgernis ausgesetzt war und schon bald die Missgunst vieler Gläubiger auf sich zog.

    Da half letztlich auch kein diplomatischer Bakschisch mehr, den wiederum eine Generation später Al Turki, welcher des pompösen Al Shmoqs Erstgeborener war, regelmäßig an die Ärmsten der Armen verteilen ließ, um dem Ansehen seiner Familie dergestalt zumindest einen Hauch von Gottesfurcht und Volksnähe zu verleihen.

    Und so entschloss er sich dann endlich eines Tages, nach endlos langem Grübeln, nach zauderndem Hin und Her, ein gewaltiges Gerücht in die Welt zu setzen, welches von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr wandernd, seine liederliche Sippschaft, und dadurch natürlich auch ihn, für alle Zeiten veredeln sollte. Aber so einfach war das nicht.

 

Das ist gar nicht so einfach’, dachte sich Al Turki. Er lag inmitten eines seidenen Polstermeeres in einem halbdunklen, hohen Raum seines prächtigen Domizils in Damaskus und blickte gedankenverloren auf die kunstvoll verzierte Decke aus indischem Palisander über ihm. Die Motive, die er darauf zu erkennen glaubte, und die sich zueinander immer wieder unterschiedlich neu in Beziehung zu setzen schienen, als hätten sie ihr eigenes Leben, beunruhigten ihn.

    Aufgewühlt wendete er den Blick ab und zuckte plötzlich zusammen, als er einer weiteren Person an diesem stillen Ort der Einkehr gewahr wurde, von deren lautloser Anwesenheit er bislang nichts bemerkt hatte.

    „Himmel, Allah noch einmal!“, entfuhr es ihm verärgert. „Wie oft soll ich es dir denn noch erklären, dass du dich nicht immer so anschleichen sollst. Zumindest nicht, wenn ich gerade nachdenke! Das wird noch einmal ein böses Ende mit dir nehmen, mein Sohn!“

    Al Murzi, der jüngste Sohn Al Turkis konnte jedoch momentan darauf nichts antworten. Sein Mund war ziemlich vollgestopft mit Fleisch, das er offensichtlich von der Lammkeule, die er in seiner linken Hand hielt, eben erst abgenagt hatte. Mit hochrotem Kopf, welchem er dem andauernden Kauen und Würgen an seiner geschmorten Delikatesse verdankte, stand er recht knieweich im Raum und schaute mit fragendem Blick auf seinen Vater.  

    Als Al Turki auffiel, dass der Unterkörper seines Sohnes unbekleidet war, wurde er zornig. Nun bekam  auch er einen roten Schädel.

    „Warst du schon wieder in meinem Harem wildern? Bei dieser ungläubigen Hure, die ich vorige Woche bei einer Wette gewonnen habe? Bei meiner weißen, blassen Fränkin? Ich kenne dich! Rede!“

    Er zeigte rügend mit dem Finger auf das winzige, schlaffe Gemächt seines Sprösslings.

    Reflexartig ließ Al Murzi die köstlich duftende Lammkeule fallen und schüttelte verneinend sein Haupt. Gleichzeitig bückte er sich, hob ein Polster auf und bedeckte beschämt damit notdürftig seine, hier in der Gegenwart des Vaters, äußerst unangemessene Blöße. Die Bissen in seinem Mund schienen indessen auch nicht weniger zu werden, und so kaute er keuchend weiter, nach wie vor unfähig, sich auch nur halbwegs verständlich zu artikulieren.

    Als Al Turki zornig ein paar Schritte näher an seinen Sohn herantrat, bemerkte er nun obendrein noch den süßlichen Geruch von Dattelwein, der Al Murzis kindlichem Körper entwich. Empört prallte er zurück.

    „Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen, des Allmilden! Das ist ja widerlich! Du, Sohn, solltest einmal in dein Inneres schauen. Ich kann das gegenwärtig nämlich nicht, mir ist das verwehrt, weil deine fettverschmierte Pforte von blökenden Lämmern bewacht wird! Schande über dich, Al Murzi! Könnte ich dennoch reinschauen, würde ich wohl nur Treulosigkeit und Verrat wahrnehmen. Was soll ich nur von dir halten? Wer bin ich denn für dich, kannst du mir das erklären? Du plünderst meine Vorratskammer und besteigst meine Weiber, du kleiner Wicht! Meine Weiber! Sag an, was soll das?“

    Außer sich vor Zorn hob Al Turki die halb abgenagte Lammkeule vom Boden auf und streckte damit seinen verschreckten Sohn mit einem einzigen, wuchtigen Hieb nieder. Während Al Murzi fiel, glitt aber das Polster, welches bislang seine Scham bedeckt hatte, seitlich ab und gab so den Blick auf sein mittlerweile wahrscheinlich aus innerer Aufruhr erigiertes Glied frei. Entsetzt schrie Al Turki auf.

    „Das kann nicht Allahs Wille sein!“ Er stürzte sich wie besessen auf den Ohnmächtigen, raffte mit zitternden Fingern eines der vielen Seidenpolster an sich und erstickte damit – halb wahnsinnig vor selbstgerechtem Zorn - seinen eigenen Sprössling.

    Kurz zappelte dieser noch mit seinen Füßchen, und dann war es ruhig. Keuchend erhob sich nun Al Turki. Er starrte wie betäubt ins leere Nichts, so, als könne er dort seiner vermaledeiten Zukunft begegnen. Hastig steckte er die Lammkeule wieder zurück in die mittlerweile entspannte Hand seines Sohnes. Dann trat er ein paar Schritte nach hinten.

   Geräusche von Fußstapfen, die sich rasch näherten, rissen ihn aus seinen Gedanken. Die klappernden Schritte verstummten jäh vor seinen Räumlichkeiten. Al Turki zerrte eilig den leblosen Körper seines Kindes in die dunkelste Ecke und bedeckte ihn notdürftig mit ein paar der herumliegenden Polster.

    „Hast du unser Murzilein vielleicht gesehen, mein einzigartiger, mächtiger Gebieter? Von den süßen Datteln nahm er sich eine Hand voll und patzte sich natürlich sofort an. Ich musste ihm den Kaftan abnehmen, um ihn zu säubern, und während ich dies tat, ist er mir entwischt. Und weißt du wohin? Du wirst es nicht glauben! Direkt in die Speisekammer, um sich dort eine Lammkeule zu stibitzen. Deine Lammkeule!“

    Safiya, die Hauptfrau Al Turkis, die unbefangen eingetreten war, sah ihn verschmitzt lächelnd an. In ihrer kindlichen Freude bemerkte sie nichts von der Blässe, die dem schwitzenden Antlitz ihres Gebieters ein schauerliches Fluidum verlieh. Unbekümmert und heiter fuhr sie in ihrem Gerede fort. 

    „Und zwar genau die, welche ich in ‚Iskebey’ einlegte, du weißt ja, nach dem Essig-Rezept meiner Mutter, welche die Marinade noch mit Dill, Koriander, Fenchel, Petersilie, Knoblauch, Bohnenkraut, Salbei, Minze, Thymian, Weinkraut und noch vielen anderen Raffinessen zu würzen verstand.“

    Der Gedanke an diese außergewöhnliche Rezeptur ließ Safiya vergnügt im abgedunkelten Raum herumtanzen. Anders jedoch wie bei seinem arglosen Weib schwirrten böse Gedanken in Al Turkis Kopf hin und her.

    In heiligem und gerechtem Zorn hatte er gerade eben seinen Sohn erstickt. Durch eine fromme Verzückung, so dachte er bei sich, die ihn für kurze Momente zum Instrument einer höheren Ordnung gemacht und ihn willenlos zu jener Tat verlockt hatte, war er zwar rein vor Allah, aber würde das Safiya, seine Frau, auch so sehen? Wohl eher nicht.

    Al Turki flehte nun den Allbarmherzigen, den Allmächtigen, um eine weitere statthafte Ekstase an. Schließlich ging er doch jeden Tag dreimal in die Moschee zum Gebet.

    Ein schriller Aufschrei riss ihn aus seinen wilden Hirngespinsten. Safiya hatte soeben den schlaffen Körper ihres Sohnes entdeckt, als sie während ihres läppischen Dahintanzens geradezu drüber gestolpert war. Durch den unglückseligen Sturz verschob sich eines der übereilt positionierten Polster und gab somit den Blick auf Al Murzis entstelltes Antlitz frei.

    „Er war doch noch ein Kind“, stotterte Safiya entsetzt, als ihr der nun zeitlose Zustand ihres Sohnes gewahr wurde. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie da, hielt sich die Hände vor den Mund und blickte so auf ihr seltsam erlöstes Kind. „Er war doch erst zwölf Jahre alt“, flüsterte sie verwirrt, „er war doch noch ein Kind!“

    Al Turki musste jetzt handeln.

    „Allah ist groß!“, schrie er in veredelt heiligem Eifer und stürzte sich wild auf seine fassungslose Frau. Dabei übersah er den langen, bis zum Boden reichenden Seidengürtel, mit dem er seinen Kaftan geschlossen hielt.

    Der Rasende stieg partout darauf, beschrieb eine energische Pirouette und landete schließlich in der nach oben weisenden, halb abgenagten Lammkeule, welche nach wie vor von der Faust seines Sohnes umklammert wurde, und die sich ihm nun genau in den Schlund jenes kryptischen Körperteils rammte, den die anatomische Vorsehung eher als Aus- statt als Eingang des Leibes konzipiert hatte.

    Ein schriller, schmerzlicher Aufschrei war Al Turkis letzte Botschaft ans Diesseits, denn die Bruchlandung war nicht nur gewaltig, sie war auch letal. Dass Ibn Balq, genannt Al Turki sofort als Kämpfer ins Paradies kam, um dort von hochbusigen Himmelssklavinnen sinnenfreudig umsorgt zu werden, kann als sicher gelten.

    Seiner Frau aber reichte er dadurch sein eigenes Dilemma, an dessen Lösung er gerade eben noch erfolglos herumgekiefelt hatte, einfach weiter, jedoch mit dem wesentlichen Unterschied, dass Safiya in diese Zwickmühle, in der sie nun steckte, völlig unschuldig hineingeschlittert war. Aber wer würde ihr das schon glauben?

    Ibn Balq selbst galt nämlich in der Gemeinde, trotz der verschwenderischen Arroganz seiner Vorfahren, als höchst gottesfürchtig und ehrenwert. Und da war auch noch der kleine, unglückliche Al Murzi, der offenbar zur falschen Zeit den Mund zu voll genommen hatte. Kein Gericht der Welt würde ihr Glauben schenken, erst recht keines, welches durchwegs aus Männern bestand, und schon gar kein islamisches.

    Man würde ihr die Zähne ausreißen, eine Hand abhacken und sie an einen Pfahl vor der Moschee anbinden, wie das zu jener Zeit eben üblich war, um sie so den phantasievollsten Quälereien auszusetzen, die jeder, der es wollte, ungestraft an ihr vornehmen durfte.

    Diese Vorstellung gefiel Safiya nicht. So hob sie sich die Trauer für später auf, verschleierte vorschriftsmäßig ihr Antlitz und begab sich flugs auf den Basar. Dort herrschte wie immer ungetrübte Geschäftigkeit. Zahllose Menschen und Tiere drängten sich zwischen den Ständen der Händler, die verführerisch mit ausführlichsten und lieblichsten Worten ihre Waren feilboten.

    Von Lämmern über Teppiche bis hin zu Sklaven, von Gewürzen bis zu Schläuchen voll von köstlichem Dattelwein, war an diesem heißen, windstillen Vormittag, wie immer alles zu erfeilschen.

    Safiya jedoch hatte in dieser schweren Stunde keinen Sinn dafür. Aufgeregt suchte sie nach Ibn Aser al-Shwaiq, dem unzugänglichen, tauben Sänger und Dichter, der meist einsam in der Nähe des sorglos dahinplätschernden Brunnens saß. Ihm wollte sie, dem Allah die Gnade der Abgeschiedenheit gewährte, ihre unfassbare Geschichte erzählen. Dem alten Ibn Aser, der nicht mehr zu hören vermochte, ihm, dem Gehörlosen, wollte sie alles anvertrauen und somit gleichsam ihre Seele entlasten, um mit Hilfe der eigenen Rede, die ja klare Gedanken und Formulierungen voraussetzte, vielleicht doch noch zu einer günstigen Lösung der abstrusen Probleme zu gelangen, welche ihr momentan, durch das chaotische Durcheinander im Kopf, nicht zugänglich war.

    Ibn Aser hielt sich, wie jeden Tag, tatsächlich in der Nähe des Brunnens beim kühlenden Wasser auf. Als Safiya ihn bemerkte, lief sie hin, nahm seine Hand und zog ihn sanft zur Seite.

    „Ibn Aser, ehrwürdiger Gebieter edelster Wohlklänge. Allah verleihe dir ein langes Leben. Ich muss mit jemandem reden, und ich habe dich dazu erkoren, weil du, wie ja jeder hier in Damaskus weiß, stocktaub bist. Aber darum geht es jetzt gar nicht, oder lediglich ein bisschen. Eigentlich spreche ich natürlich zu mir selbst, um so meine verwirrten Gedanken besser ordnen zu können.“

    Safiya nahm erneut die Hand des Alten und begann eingehend ihr schreckliches Problem zu schildern. Als sie schließlich fertig war, umarmte sie Ibn Aser, so, als würde sie bei ihm Geborgenheit und Schutz finden. Sie hatte ja wirklich sonst niemanden mehr. Danach begann sie verzweifelt und heftig zu weinen und zu schluchzen.

    Ibn Aser al-Shwaiq streichelte ihr freundlich durchs Haar.

    „Eine ziemlich verflixte Geschichte, die du mir da erzählt hast.“

    Safiya, die zu Tode erschrak, sprang auf.

    „Aber du bist doch taub“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.

    „Ach was“, erwiderte der Greis und winkte verächtlich ab. „Seit wann kann denn der Sänger in mir taub sein? Der Dichter schon, aber der Sänger? Denke doch einmal nach.“

    Er blickte Safiya gütig an.

    „Gut. Ja, vielleicht sehe ich schon schlecht, aber taub? Nein! Ich hinke etwas, und alt bin ich. Ja, das gebe ich zu. Möglicherweise alt, aber taub niemals!“

    Mit einer langsamen, respektvollen Handbewegung winkte er die bebende Safiya nun zu sich und deutete ihr mit dieser Geste, dass sie sich doch wieder zu ihm, an seine Seite, gesellen möge.

   Nach anfänglichem Zögern kam die Ängstliche schließlich näher und setzte sich erneut neben den Alten. Nun ergriff er ihre zitternden Hände und legte sie in die Seinigen.

    „Du hast ein ärgerliches Problem, mein Kind. In der Tat!“

    Safiya begann sogleich wieder zu weinen. Der alte Poet nahm sie verständnisvoll in seine Arme.

    „Wenn ich abends allein bin, für mich dichte und singe, dann blicke ich aus dem Fenster meiner Hütte und denke mir, eigentlich ist all das, was Form findet, lendenarmes Eunuchenwerk, verstehst du? Gemessen an dem, was sein kann, ist das, was ist, einfach erbärmlich. In mir drin, tief in meiner Seele, tobt ein chaotischer Ozean voll von Gesängen wilder Schönheit und dunkler Grausamkeit, deren Gesetze und Regeln ich in meiner natürlichen Beschränktheit nicht einmal zu erahnen imstande bin. Nun habe ich aber ein Hilfsgerät, mein Instrument, meine Stimme, und glaube damit das Maßlose messen zu können. Aber, siehe da, es gibt keine Uhr für die Ewigkeit.“

    „Was ist denn eine Uhr?“, fragte Safiya verweint, jedoch neugierig.

    „Also bitte, du wirst doch wohl eine Sonnenuhr kennen.“ Der Alte schien etwas irritiert. „Na, gut. Lass mich nun aber weiterfahren. Wo war ich denn stehengeblieben? Ach ja, wieder einmal bei der Ewigkeit.“

    Ibn Aser hielt an dieser Stelle kurz inne und strich sich nachdenklich durch die weißen Haare seines Bartes. Langsam, Wort für Wort abwägend, fuhr er dann fort.

    „Wenn ich also dichtend über meiner Lyrik gebeugt daheim sitze und singe, dann wird aus jenseitig heiligem Dröhnen ein diesseitig klägliches Zirpen, vorgetragen von ein paar armselig schwingenden Stimmbändern, die z.B. eine schmachtende Romanze gestalten oder lüsterne Erwartungen weitertragen. Für die Straße reicht dieses Blendwerk allemal. Aber für den grübelnden Philosophen? Nein, ich glaube nicht. Der denkt sich nämlich: der Abgesandte ist eben nicht der König, genauso wenig, wie die Landkarte das Land ist.

    Alle lebenden Elemente haben nur ihre künstliche Wichtigkeit hier auf Erden, ihre nichtswürdige Verkleidung, weil sie sich lediglich in dieser groben Form unserer bescheidenen Wahrnehmungskraft darbieten können. Anders, in ihrem wirklichen Erscheinungsbild nämlich, würde man sie ja gar nicht entdecken, geschweige denn erkennen. Zu fremd, zu beängstigend wären sie nämlich für unsere Vorstellung der Realität nicht greifbar. Darum die Maskerade.

    Oder ist es aber nicht eher umgekehrt? Sehe ich die Welt nur aufleuchten, wenn ich mich über repräsentative Symbole, Wegmarkierungen, einem erahnten Inhalt nähere, indem ich mittels dieser verschwommenen Zeichen mich schließlich zu dessen vermuteten, konkreten Qualitäten in Beziehung stelle? Ich kann doch nur mit dem arbeiten, was ich zu erfassen in der Lage bin. Was muss ich denn tun, womit soll ich den anfangen, um das Meer zu begreifen?“

    Aufgewühlt durch seine eigene Rede stand Ibn Aser al-Shwaiq nun auf und ging humpelnd hin und her.

    „Es nur einfältig anzuschauen, oder am Strand bis zu den Knöcheln im Wasser zu stehen, reicht nicht, diese Art der Begegnung erfasst den Charakter des Betrachteten nicht in dessen Wesen, sondern offenbart nur meinen willentlichen Zugang dazu, der natürlich wiederum vom eigenen Wissen und Können abhängt. Und von Mut! Den darf man auf keinen Fall vergessen! Mut. Beherzte Entschlossenheit! Wie sehr bin ich bereit, mich aufzugeben, um das Andere zu begreifen?“

    Durch das ständige Auf- und Ablaufen war Ibn Aser mittlerweile etwas kurzatmig geworden. Nun setzte er sich wieder neben Safiya und spann mit geschlossenen Augen seinen einsamen Monolog fort.

    „Ich will dir ein Beispiel geben, mein Kind. Wenn ich mit einem Schöpflöffel zum Meer gehe, ihn mit Wasser fülle, um es dir dann zu bringen und sage: siehe, das ist das Meer, dann beschreibt dieser Vorgang eher meinen Zustand als den des Ozeans, nicht wahr? So ähnlich verhält es sich aber auch mit der Kunst und vielen anderen Dingen zwischen Himmel und Erde!

    Zu Beginn meiner Wissbegier werde ich nur derer Boten habhaft, derer Köder sozusagen. Das sind diplomatische Mittlerwesen, die ein bisschen da und ein bisschen dort schnuppern und eben problemlos in meinem Schöpflöffel Platz nehmen.

    Das Wesen der Musik z.B. hat aber überhaupt nichts mit Tönen und Harmonien zu tun. Da der Mensch seiner physischen Gebundenheit wegen den Klang aber eben nur über Töne und Harmonien begreift, werden ihm diese verführerischen Halluzinationen geboten. Die Musik ist ein so feines Netzwerk dynamischer Stille, dass sie durch ihren formalen Zwang, werbend zu erklingen, selbst zu ihrer eigenen Verräterin wird, indem sie die Menschen damit ködert, was sie eigentlich gar nicht ist: klingend. Und die Unterhaltung, die Kurzweil, die man so gerne in ihr sieht, ist ein strukturelles Missverständnis von den unendlich vielen Verzweifelten, eine eisige Vergewaltigung durch die Ärmsten der Armen. Billige Unterhaltung aber bewirkt immer wieder hochwertiges Scheitern.

    Wie bei der Liebe dreht sich auch hier alles um eine mystische Identitätserweiterung. Ich löse praktisch das Alte im Neuen auf, ohne es zu verletzen und verbinde somit das Alte, an dessen Spitze ich selbst naturgemäß stehe, mit dem Neuen, das ich immer sein werde, zu einer einzigen Wahrheit, die eigentlich nie getrennt war – außer für mich durch meine Irrtümer.

    Eine Höhle kann man eben nicht im Freien erleben, mein Kind, aber sie definiert sich andererseits trotzdem auch dadurch, dass es ein Draußen gibt! Das Begreifen von Drinnen bestimmt das Begreifen von Draußen!“

    „Ja?“, fragte Safiya verunsichert.

    „Ja!“, bestätigte der Greis. „Das soeben erwähnte symbolhafte Drinnen, das ist das Paradies, in deinem Fall dein friedliches Haus, Safiya. Das Draußen ist die Hölle, die feindliche Welt mitsamt dem Basar.

    Nun, da dieser stinkende Abgrund in dein Domizil einbrach, wie es seiner drängenden Natur entspricht, dann lassen wir ihn das, was er angerichtet hat, auch wieder entfernen. Deine Lieben wirst du zwar wohl nicht mehr zurückbekommen, aber du kannst ihrer ja bis an dein Lebensende ehrenvoll gedenken! Und das ist, wenn Allah es so will, noch eine sehr, sehr lange Zeit.“

    Nachdenklich betrachtete der Alte die vielen lustigen Wirbel, welche die aus den unzähligen, dünnen Röhrchen heraussprudelnden Fontänen auf der smaragdenen Wasseroberfläche des Brunnens erzeugten.

    „Weißt du, was wir tun müssen?“, fuhr Ibn Aser nun fort.

    „Ja“, erwiderte die schöne Safiya, „wir müssen ein Gerücht erfinden!“

    „Genau. Erfinden und lenken! Na ja, durch eine anfängliche Gängelung erfindet es sich ja danach eigentlich selbst. Es geht im Grunde, wie gesagt, ums Lenken.“ Der alte Poet schien grimmig entschlossen, in sein Innerstes hineinzuhorchen.

    „Und wenn es die Runde gemacht hat“, ergänzte Safiya, „dann muss es letztlich so ausschauen, wie wir es geplant haben!“ Ihre Wangen gewannen nun wieder langsam an Farbe.

    „Vorher sollte jedoch geklärt werden, wer alles davon weiß!“

    „Niemand!“, rief Safiya. „Al Turkis Söhne samt den Nebenfrauen und Konkubinen finden Gefallen an Weinrausch und Schachspiel. Mit Vorliebe gehen sie, wie du ja vielleicht weißt, auch dem Jagdvergnügen nach und finden Lust und Behagen an Speisen und Wohlgerüchen.“

    Ibn Aser nickte.

    „Ja, ja“, meinte er nachdenklich, „sie messen dem Geistigen keinen Wert mehr bei und sind in ihrer gierigen Dekadenz schuld am Untergang ihrer einst edlen Familie.“ Nach kurzem Überlegen fuhr er dann fort. „So bist du also allein zu Hause, Safiya?“

    „Nein, so will ich das nicht gesagt haben“, antwortete die Schöne, „ich verriegelte zwar den Raum, in dem sich die leblosen Körper meiner Liebsten befanden, stellte zuvor noch tönerne Gefäße mit Ambra, Aloe und Blüten hinein, aber weit entfernt in der Küche hörte ich die alte, blinde Nazhan laut ihren Hauspflichten nachgehen.“

    „Hm, ist diese so blind wie ich taub?“ Safiya erschrak nun heftig wegen Ibn Asers zweifelnder Worte. „Wir könnten ja ihr die Tat in die Schuhe schieben! Ich kenne Nazhan. Sie ist wirklich schon alt und hat vom Leben nichts mehr zu erwarten, außer Leid, Plagen und erdrückenden Kummer! Im Paradies würde es ihr besser ergehen als auf Erden!“ Der alte Poet blickte verschlagen. 

    „Und der Fränkin!“, ergänzte übereifrig Safiya.

    „Wie, bitte?“

    „Na, der Fränkin könnten wir das ja auch noch in die Schuhe schieben. Der blassen Sklavenhure, die mein Mann vergangene Woche beim Spiel gewonnen hatte! An deren lustvoller Besteigung er all die Nächte größte Wonnen empfand! Seine strenge Gazelle!“ Bei den letzten beiden Worten wurden Safiyas Züge hart und grausam, und sie stampfte wütend mit ihren Füßchen auf.

    Ibn Aser musste schmunzeln. „Und wir würden uns das Gerücht ersparen!“

    „Nein!“ Safiya war nun wild entschlossen. „Nein, Ibn Aser. Jetzt bräuchten wir erst recht ein praktisches Gerücht, eine anonyme Bezichtigung mit Hand und Fuß.“

    Ibn Aser al-Shwaiq schloss die Augen und beugte sich nach vor. Nach einer Weile, die er in dieser grüblerischen Stellung verharrt hatte, begann er leise zu singen:

 

„Wir, die wir aus Damaskus sind,

sind viel gescheiter und schon viel weiter:

wir halten nämlich zusammen - auch bei Gegenwind.

An jedem lassen wir ein gutes Haar,

es sei denn, er ist g’rad nicht da.

Auf diese Art können wir uns jeden

herrichten und hinreden.

Das, was dem Vater sein Kebab bedeutet

Ist für den Säugling die Muttermilch.

Das, was der Mutter ihr Geburtstag bedeutet,

ist für die Tochter ein brünstiger Knilch.

Bei uns bekommt eben jede Person,

von dem, was sie braucht, eine Riesenportion.“

 

„Ja!“, rief nun Safiya. „Du bist ein sehr weiser Mann, Ibn Aser! Nazhan, die Haushälterin, bekommt das Paradies und die fränkische Sklavenhure zuerst die Peitsche und dann den Tod! Allah ist groß!“

    „Ja, das ist er wahrlich“, antwortete Ibn Aser bedächtig und blickte aus den Augenwinkeln Safiya nun listig von oben bis unten mit unverhohlener Begierde an. 

     „Das ist er, Allah ist groß, denn ich werde dich, schöne Safiya, bekommen! Ich habe mir das soeben genau überlegt. Du selbst wirst nämlich der Preis für meine Hilfe sein!

    Deine Haut, die so weiß wie der Schnee auf den Bergen des Nordens ist, die Vertiefung deines Nabels, geeignet, duftende Essenzen aufzunehmen, deine grazilen Brüste, die von großen, runden Monden gekrönt werden, deine begehrenden Schenkel, dein weicher Bauch und dein haarloser, zierlich eingeschnittener Schoß, der nur darauf wartet, sich zu öffnen, das alles wird mein sein, denn sonst, Safiya, sonst werde ich dich verraten und dein elendes Schicksal damit besiegeln!“

    Ibn Asers Antlitz hatte nun teuflische Züge. Er griff Safiya mit der einen Hand schamlos auf die Brüste, die andere hatte er hart um ihre Hüfte geschlungen, um sie so am Entweichen zu hindern, während er mit seiner alten Zunge gekonnt ihrem Ohr einen lasziven Besuch abstattete.

    „Aber das, was du vorhin gesagt hast, dein philosophischer Diskurs, deine feinen, weisen Einsichten!“ Safiya stöhnte auf und wehrte sich vergeblich vor der anwachsenden Zudringlichkeit des sinnlichen Poeten.

    Ibn Aser al-Shwaiq musste jetzt höhnisch auflachen. „Das habe ich doch alles zusammengestohlen, meine weiße, ahnungslose Antilope! Das meiste von einem alten Lautenspieler aus Salamis auf der Insel Zypern, der ich damals vor vielen Jahren, als ich noch jung und kräftig war, einen Besuch abgestattet habe. Glaubtest du denn tatsächlich, mir sei dieser Schwachsinn selbst eingefallen? Ich bin doch kein Narr! Komm, wir wollen nun ins Haus von Al Turki gehen. Ich muss dich dringend besteigen! Danach regeln wir das Geschäftliche. Damit meine ich dein durchgedrehtes Problem!“

    Ibn Aser zitterte vor Erregung, während er versuchte, Safiya, die sich mit allen Kräften sträubte, zu ihrem Domizil zu zerren.

    „Zuerst das Gerücht!“, zischte die Schöne.

    „Nein! Zuerst dein Leib!“

    „Das werden wir ja sehen!“ Mit einem kräftigen Ruck riss sie sich nun los und sprang wie eine Gazelle ein paar Schritte nach hinten, immer den Blick auf den Alten gerichtet.