Illustration

Schriftenreihe des Demokratiezentrums Wien
Band 3

Birgitta Bader-Zaar/Gertraud Diendorfer/
Susanne Reitmair-Juárez (Hg.)

Friedenskonzepte im Wandel

Analyse der Vergabe des
Friedensnobelpreises von 1901 bis 2016

StudienVerlag

Innsbruck
Wien
Bozen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1.   Gesamtanalyse der Vergabe der Friedensnobelpreise – Längsschnitt

1.1   Methodische Vorgehensweise

1.2   Der Datensatz im Überblick – Was erzählt uns die Quelle?

1.3   Quantitative Auswertung

1.4   Qualitative Auswertung der Diskurse – Welche Friedenskonzepte vertraten die PreisträgerInnen?

1.4.1  Friedenskonzept „Friede durch Recht – Verrechtlichung der internationalen Beziehungen“

1.4.2  Friedenskonzept „Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsarbeit“

1.4.3  Friedenskonzept „Friede durch Abrüstung“

1.4.4  Friedenskonzept „Frieden durch Entwicklung“

1.4.5  Friedenskonzept „Beilegung konkreter, regional begrenzter Konflikte“

1.4.6  Friedenskonzept „Kodifizierung der Menschenrechte und Demokratisierung“

1.4.7  Friedenskonzept „Klimawandel und Umweltschutz“

2.   Fallstudien zu FriedensnobelpreisträgerInnen und ihren Friedenskonzepten

2.1   Begründung der Fallauswahl

2.2   Das Internationale Friedensbüro, 1910

2.3   Aristide Briand und Gustav Stresemann, 1926

2.4   Jane Addams, 1931

2.5   Friends Service Council und American Friends Service Committee, 1947

2.6   George Catlett Marshall, 1953

2.7   René Cassin, 1968

2.8   Andrei Sacharow, 1975

2.9   Alfonso García Robles, 1982

2.10 Nelson Mandela, 1993

2.11 Vereinte Nationen (UNO), 2001

2.12 Wangari Muta Maathai, 2004

2.13 Europäische Union, 2012

2.14 Schlussbetrachtungen

Quellen und Literatur

Einleitung

Die jährliche Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo findet regelmäßig großen Widerhall in den Medien. Besonders in die Tagespolitik eingreifende Vergaben werden breit diskutiert und auch kritisiert, so etwa 2009 jene an den US-Präsidenten Barack H. Obama für seinen Einsatz für verstärkte internationale Kooperation oder 1994 an Yasser Arafat, Shimon Peres und Yitzhak Rabin für ihre Bemühungen um Frieden im Nahen Osten. Einzelne PreisträgerInnen wie z.B. die junge Malala Yousafzai, die 2014 für ihren Einsatz für das Recht von Kindern auf Schulbildung ausgezeichnet wurde, oder 1993 der südafrikanische Bürgerrechtler Nelson Mandela erreichten einen hohen Bekanntheitsgrad, andere geraten schnell in Vergessenheit. Umso erstaunlicher erscheint es, dass dieser wichtigste internationale Friedenspreis wissenschaftlich noch wenig erforscht ist. Bisherige Studien sind stark biografisch und häufig populärwissenschaftlich ausgerichtet, nur wenige streben eine Kontextualisierung im Rahmen der Diskussionen des Nobelkomitees und der internationalen Beziehungen im Allgemeinen an.

Beispielsweise erschienen zum 100-Jahr-Jubiläum der Preisverleihung 2001 zwei Sammelbände, welche die Biografien der bisherigen PreisträgerInnen in chronologischer Reihenfolge präsentieren und auch versuchen, die jeweiligen Diskussionen im Vorfeld der Verleihung innerhalb des Nobelkomitees zu beleuchten, soweit dies anhand der Quellenlage möglich war (Abrams 2001a; Stenersen/Libaek/Sveen 2001). Diese Bände versuchen auch eine erste Kontextualisierung der internationalen Beziehungen und gelten als wichtige Beiträge zur Forschung im Bereich des Friedensnobelpreises, fokussieren jedoch nicht auf die zugrunde liegenden Konzepte von Frieden. Daneben gibt es Sammelbände zu Lebenswerken von PreisträgerInnen, welche entweder nach ihrer geografischen Herkunft ausgewählt wurden (Kloft 2011), eine bestimmte Zeitspanne abdecken (Gallmeister 1987; Keene 1998; Raschka 2005; Zajonc 2009) oder eine Anzahl von besonders „inspirierenden“ PreisträgerInnen auswählen (Milstein 2009; Melach 2010).

Neben Buchveröffentlichungen gibt es auch zahlreiche Artikel in wissenschaftlichen Journalen, welche das Thema des Friedensnobelpreises und dessen TrägerInnen behandeln. Hier stehen quantitative Untersuchungen einzelner Merkmale im Vordergrund, etwa welche mediale Aufmerksamkeit der Friedensarbeit der PreisträgerInnen direkt nach der Verleihung zuteil wurde (Krebs 2009), wie viele Preise zur „Ermutigung“ und Unterstützung eines bestehenden Friedensprozesses vergeben wurden und wie viele als „Anerkennung“ für ein schon erreichtes Ziel (ebd.), oder welche „Werte“ in den Dankesreden der PreisträgerInnen am häufigsten erwähnt wurden (Kinnier/Kernes et al. 2007). Darüber hinaus gibt es eine Debatte über die vom Nobelkomitee durch die Preisverleihung verfolgte „Politik“ bzw. über die Angemessenheit einiger Auszeichnungen (Bulloch 2008; Adams/Raymond 2008; Bobi 2015). Auch Texte über Alfred Nobel selbst und die „korrekte“ Interpretation seines Testaments sind häufige Themen in der Literatur (Hennig 2014; London 2011; Heffermehl 2010).

Die nun vorliegende Publikation „Friedenskonzepte im Wandel. Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2016“ interessiert sich hingegen für die Friedenskonzeptionen, die der Vergabe des Friedensnobelpreises zugrunde liegen, und spürt ihren Veränderungen ab der ersten Preisverleihung 1901 bis zur Gegenwart nach. Dabei werden auch Ergebnisse der Friedensforschung und die internationalen politischen Kontexte der Preisvergaben berücksichtigt, um aufzuzeigen, inwiefern die Vergabe des Preises auch auf wissenschaftliche und politische Entwicklungen im Lauf der Zeit reagierte.

Zur Geschichte des Friedensnobelpreises

Der Begründer des Friedensnobelpreises, der schwedische Chemiker und Erfinder des Dynamits Alfred Nobel (1833–1896), hatte in seinem Testament verfügt, dass die Zinsen aus seinem Vermögen für Preise in den Bereichen Physik, Chemie, Medizin, Literatur und Frieden zu stiften seien. Der Friedenspreis sollte derjenigen Person, egal aus welchem Land, verliehen werden, die sich jeweils im Jahr vor der Verleihung „am meisten oder besten für die Brüderlichkeit zwischen den Nationen, für die Abschaffung oder Verringerung der stehenden Heere und für die Abhaltung und Förderung von Friedenskongressen eingesetzt“ habe (Alfred Nobel’s Will). Erstmals wurde der Preis 1901 verliehen – und gleich geteilt, und zwar zwischen Jean-Henri Dunant (1828–1910), dem Begründer des Roten Kreuzes, und Frédéric Passy (1822–1912), dem Begründer der ersten französischen Friedensgesellschaft 1863 (Ligue internationale et permanente de la paix). Passy gründete zudem 1889 gemeinsam mit William Randall Cremer, dem Friedensnobelpreisträger von 1903, die Interparliamentary Union (IPU), einen Zusammenschluss nationaler Parlamente, mit dem Ziel zwischenstaatliche Schiedsverträge zu erreichen (Uhlig 1988). Die IPU war wesentlich an der Einberufung der Haager Friedenskonferenz 1899 beteiligt (Cortright 2008: 40–43).

Der Friedensnobelpreis sticht unter den naturwissenschaftlichen Preisen und jenem für Literatur heraus, zumal er von einem Sprengstoff- und Waffenproduzenten gestiftet wurde. Nobels Interesse an Frieden wird in der Forschung allgemein mit seiner Freundschaft zu Bertha von Suttner (1843–1914) in Zusammenhang gebracht (Fant 1995; Tägil o.J.), der bekannten österreichischen Friedensaktivistin, die 1889 ihren pazifistischen Roman „Die Waffen nieder!“ veröffentlicht und 1891 die Österreichische Gesellschaft der Friedensfreunde gegründet hatte. Gemeinsam mit Alfred Hermann Fried (1864–1921), Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft 1892, gab sie 1892 bis 1899 die Zeitschrift „Die Waffen nieder“ heraus (Gütermann 1987: 19–43). Suttner sollte den Friedensnobelpreis 1905 erhalten, Fried 1911. Nobel war zwar der Meinung, dass Waffen zur Abschreckung notwendig waren und damit Kriege verhinderten, unterstützte aber auch den Pazifismus finanziell, so als Mitglied der Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde, auch wenn er der Wirksamkeit der Friedensbewegung skeptisch gegenüberstand (Fant 1995: 362f, 366f; Tägil o. J.). Somit war die Friedensbewegung, die sich im 19. Jahrhundert in vielen Nationen formiert hatte, eng mit dem Friedensnobelpreis verbunden, und es waren auch die europäischen Friedensbewegungen von Anfang an als Preisträger stark präsent.

Ihre Wurzeln hatte die europäische Friedensbewegung bereits nach der Französischen Revolution in den Koalitionskriegen 1792–1815 zwischen Frankreich, insbesondere Napoleon, und den anderen europäischen Mächten. Die Idee des Pazifismus reicht jedoch noch weiter zurück. Insbesondere Freikirchen wie die der Society of Friends/Quäker oder die Mennoniten sprachen sich bereits ab dem 17. Jahrhundert auf der Grundlage des Christentums gegen Krieg und Gewalt aus und sollten die ersten Friedensvereine 1815/16 im angloamerikanischen Raum gründen (Brock 1972). Die ersten Vereine auf dem europäischen Kontinent hatten ihren Ursprung dann in einem von der Aufklärung beeinflussten bürgerlichen Elitenmilieu und entstanden ab den 1820er Jahren in Paris und Genf (Cooper 1991: 13–29; Cortright 2008: 26–32). Die in den folgenden Jahrzehnten in den verschiedenen Nationen gegründeten Friedensvereine waren einerseits von der Idee geprägt, Frieden müsse auf der Grundlage des Völkerrechts geschaffen werden, und setzten ihre Hoffnungen in der Zwischenkriegszeit vor allem auf den Völkerbund. Andere, wie die 1867 in Genf gegründete Ligue internationale de la paix et de la liberté, betonten Gerechtigkeit und Demokratie als notwendige Basis des Friedens (Chatfield 2001: 11144; Cortright 2008: 37f). Auch die Frauenbewegungen, sowohl des 19. wie auch des 20. Jahrhunderts, waren vielfach vom Pazifismus in einem breiteren Verständnis notwendiger gesellschaftlicher Veränderungen geprägt (z.B. Flich 1987: 418–422; Oldfield 2000). Die Friedensbewegung war zudem schon früh international vernetzt, so im Rahmen internationaler Kongresse (erstmals 1848 in Brüssel) und Weltfriedenskongresse (erstmals 1889 in Paris) sowie durch einen Dachverband nationaler Vereine, das International Peace Bureau, das 1891/92 in Bern entstand (Cooper 1991: 60–139).

Wie schon der Krimkrieg 1853–56 (Cooper 1991: 30f) bedeutete der Erste Weltkrieg eine tiefe Zäsur für die Friedensbewegungen, denn zahlreiche AktivistInnen stellten nun den Patriotismus an erste Stelle (Chatfield 2001: 11145). Für andere brachte der Krieg aber eine Neuorientierung. Beispiele hierfür sind die aus der Frauenfriedenskonferenz von Den Haag 1915 im Jahr 1919 hervorgegangene Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (Women’s International League for Peace and Freedom), die neben Frieden ein breiteres Programm zur Frauenemanzipation verfolgte (Rupp 1997: 26–29; Wilmers 2008), sowie der Zusammenschluss der Kriegsdienstverweigerer in der International War Resisters League (heute: War Resisters’ International) 1921. Der Zweite Weltkrieg bildete eine weitere Zäsur. Im Rahmen der Internationalisierung durch die Vereinten Nationen wurden Menschenrechte nun als zentrale Basis für den Frieden gesehen; es kam aber, auch beeinflusst durch den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, im Kalten Krieg zu einem Fokus auf die Abrüstung von Atomwaffen. Sowohl die Bewegung gegen Nuklearwaffen als auch der Vietnamkrieg brachten dann in den 1960er und 1970er Jahren eine Massenbewegung von FriedensaktivistInnen hervor (Carter 1992; Holl 2001: 11151; Giugni 2015: 644f; Ziemann 2007: 5–19). Nach dem Ende des Kalten Krieges orientierte sich der Fokus der Friedensbewegungen wieder neu, so auf der nationalen Ebene etwa gegen Waffenexporte oder den obligatorischen Militärdienst und auf der internationalen Ebene gegen Militäreinsätze wie den Golfkrieg 1990/91 oder den Bosnienkrieg 1999 (Giugni 2015: 645). Ab Ende der 1990er Jahre wurde die Friedensagenda mit einem breiten Spektrum von globalen Problembereichen in Zusammenhang gebracht – zusätzlich zu Menschenrechten auch mit Umweltschutz, sozialer Gerechtigkeit und Gleichberechtigung (Giugni 2015: 646), eine Entwicklung, die sich auch in den Friedenskonzepten bei der Vergabe des Nobelpreises ablesen lässt.

Vergabe des Friedensnobelpreises

Während die Nobelpreise für Literatur, Medizin, Chemie und Physik in Schweden von den jeweiligen wissenschaftlichen Akademien vergeben werden, ist das norwegische Parlament (Storting), wie im Testament Alfred Nobels vorgesehen, dafür verantwortlich, ein fünfköpfiges Komitee zu wählen, das die PreisträgerInnen bestimmt. Das Storting entwickelte für diese Wahl Statuten, die etwa bestimmen, dass die im Parlament vertretenen politischen Parteien entsprechend ihrer Stärke im Parlament im Komitee vertreten sein sollen. Ein Mitglied wird für sechs Jahre in das Komitee gewählt, Wiederwahl ist möglich. Im Laufe der Zeit hat das Storting diese Regelungen immer wieder angepasst. So gehören beispielsweise seit den 1970er Jahren keine aktiven PolitikerInnen mehr dem Nobelkomitee an, was die Unabhängigkeit der Entscheidung des Komitees gegenüber der norwegischen (Außen-)Politik stärken soll (Johnsen 2012). 1904 wurde ein Nobel Institut in Oslo gegründet, das eine Bibliothek beherbergt, die Nobelsymposien organisiert und das Komitee bei der Auswahl berät.

Bis zum 1. Februar jedes Jahres können mögliche Friedensnobelpreisträger-Innen nominiert werden. Der Kreis derjenigen, die nominieren können, ist groß: frühere und derzeitige Mitglieder des Nobelkomitees sowie dessen frühere BeraterInnen, bisherige NobelpreisträgerInnen (bei Organisationen deren DirektorInnen oder Vorstandsmitglieder), Mitglieder von Regierungen oder Parlamenten sowie Oberhäupter aller souveränen Staaten, Mitglieder des Internationalen Gerichtshofs sowie des Schiedsgerichts in Den Haag, Mitglieder des Institute of International Law und UniversitätsprofessorInnen für Geschichte, Sozialwissenschaften, Recht, Philosophie, Theologie oder Religionswissenschaften ebenso wie RektorInnen von Universitäten und DirektorInnen von Forschungsinstituten zu Frieden oder Außenpolitik. Wie bereits beschrieben, sollen sich die Nominierten besonders für Brüderlichkeit zwischen den Nationen, die Abschaffung oder Verringerung stehender Heere und für die Abhaltung von Friedenskongressen eingesetzt haben. Die Zahl der Nominierten ist im Lauf der Zeit stark angestiegen. 2016 wurde, laut Website des Friedensnobelpreises, ein Höhepunkt mit insgesamt 376 Nominierten erreicht, 228 Personen und 148 Organisationen.

Nach dem 1. Februar trifft sich das Nobelkomitee, es wird die vollständige Liste der KandidatInnen vorgestellt – an diesem Punkt können noch Namen hinzugefügt werden – dann ist der Nominierungsprozess abgeschlossen. In dieser ersten Sitzung wird eine engere Auswahl getroffen. Diese wird von den ständigen BeraterInnen des Nobel Instituts – d. h. dessen DirektorIn und ausgewählten norwegischen UniversitätsprofessorInnen – begutachtet, wofür einige Monate zur Verfügung stehen. Es können auch von ForscherInnen in einem speziellen Gebiet oder Themenbereich Expertisen den KandidatInnen angefordert werden. Wenn alle Gutachten vorliegen, trifft sich das Komitee erneut und diskutiert diese eingehend. Bei Bedarf wird nochmals eine vertiefende Expertise zu einzelnen Nominierten eingeholt. Die Entscheidung wird bei einer letzten Sitzung im Oktober getroffen, kurz bevor diese auch offiziell verkündet wird. Üblicherweise ist die Entscheidung einstimmig, ansonsten bestimmt eine einfache Mehrheit.

Die Verleihung des Friedensnobelpreises fand anfangs im Rahmen einer regulären Parlamentssitzung statt, als kurze Ankündigung, ohne geladene Gäste und Dankesrede. Nach der Einweihung des Sitzes des Nobel Instituts in Oslo 1905 wurden die Zeremonien bis 1947 in diesem Gebäude abgehalten. Danach fand die Verleihung in der Aula der Universität Oslo statt, seit 1990 wird sie im Rathaus von Oslo veranstaltet. Traditionell ist der 10. Dezember – der Todestag von Alfred Nobel – der Tag der Auszeichnung.

Methodik und Inhalt der Studie

Zunächst gibt eine Längsschnittstudie im ersten Teil der Untersuchung einen Überblick über die bisherige Vergabe des Friedensnobelpreises. Die Quellen für diese Untersuchung bilden – neben biografischen Informationen zu den PreisträgerInnen bzw. Erläuterungen zu Geschichte und Wirken der ausgezeichneten Organisationen – die Reden des norwegischen Nobelkomitees anlässlich der Vergabe sowie, soweit gehalten bzw. überliefert, die Dankesreden (Acceptance Speeches) und Nobelvorträge (Nobel Lectures) der PreisträgerInnen. Auffallend ist, dass diese Reden im Lauf der Zeit immer länger, programmatischer und kritischer wurden, möglicherweise aus dem Grund, dass die steigende Bedeutung des Friedensnobelpreises eine Zunahme an medialer und politischer Aufmerksamkeit nach sich zog.

Aufgrund dieser Quellen wurden quantitative Variablen zur formalen Einordnung der PreisträgerInnen angelegt, etwa die AkteurInnenebene, die – zunehmend globaler werdende – geografische Herkunft, der Wirkungsbereich und die Arbeitsweise. Bei Personen wurde auch das Geschlecht erfasst, was zutage treten ließ, dass nur eine Minderheit der PreisträgerInnen, nämlich 16 Prozent, weiblich war. Das Nobelkomitee war sich zunehmend der Problematik bewusst, denn seit den 1970er Jahren ist allmählich eine Zunahme an weiblichen PreisträgerInnen zu verzeichnen. Neben den genannten Kodierungen wurde auch festgehalten, welche Institutionen oder Gruppierungen von den jeweiligen PreisträgerInnen als die wichtigsten friedensschaffenden AkteurInnen angesehen wurden, z.B. Staat, Zivilgesellschaft oder internationale Organisationen, und auch welche Instrumente und Strategien als besonders effektiv für die Herstellung von Frieden angesehen wurden, wie etwa Verhandlungen, Verrechtlichung oder sozioökonomische Entwicklung.

Aus der qualitativen und quantitativen Analyse dieser Quellen wurden dann sieben verschiedene Friedenskonzepte abgeleitet: 1) die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen im Sinne der Stärkung völkerrechtlicher Instrumente wie bilaterale Verträge und zunehmend Kooperationen im Rahmen internationaler Organisationen in Richtung eines Systems kollektiver Sicherheit; 2) humanitäre Hilfe und Flüchtlingsarbeit, die vor allem von der organisierten Zivilgesellschaft, aber auch – im Rahmen der UNO – von supranationalen Organisationen wahrgenommen wurden; 3) Abrüstung, wofür vor allem nichtstaatliche AkteurInnen ausgezeichnet wurden, die zur Überwindung des Sicherheitsdilemmas die Schaffung kollektiver Sicherheitssysteme, den Ausbau internationaler Kooperationen sowie die Beschränkung oder das Verbot spezifischer Waffen und Technologien einforderten; 4) Frieden durch Entwicklung, ein Konzept, das nach dem Zweiten Weltkrieg eine Bewegung weg vom negativen Friedensbegriff im Sinne der Abwesenheit von Krieg hin zur Qualität des Friedens im Sinne der Abwesenheit von Not und vor allem die Fokussierung auf innerstaatliche gesellschaftliche Entwicklungen bedeutete, wodurch auch die Zivilgesellschaft stärker in die Pflicht genommen wurde; 5) die Beilegung konkreter, regional begrenzter Konflikte oder Kriege, die als Hindernis für eine friedliche Welt gesehen wurden, wobei auch hier zunehmend die Notwendigkeit der Verbesserung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Strukturen hin zu Gerechtigkeit und Demokratisierung als entscheidend gesehen wurde; 6) besonders nach dem Zweiten Weltkrieg die Kodifizierung der Menschenrechte und Demokratisierung auf rechtlicher Ebene sowie deren praktische Umsetzung; und schließlich 7) Klimawandel und Umweltschutz, ein junges, erst ab 2004 ausgezeichnetes Konzept, das in der Bedrohung der Umwelt eine massive Gefahr für den Frieden sieht.

Neben dieser systematischen Analyse aller Preisverleihungen wird im zweiten Teil des Bandes in zwölf repräsentativen Fallstudien, die die verschiedenen Friedenskonzepte und Dekaden des Untersuchungszeitraums verdeutlichen, im Detail auf die unterschiedlichen Zugänge zu Friedensarbeit und die verschiedenen Definitionen von Frieden sowohl der jeweiligen PreisträgerInnen als auch des Nobelkomitees eingegangen. Diese Fallstudien betreffen: das International Peace Bureau, eine 1891 gegründete Dachorganisation verschiedener nationaler Friedensvereine (Preisvergabe 1910), den französischen Außenminister Aristide Briand sowie den deutschen Außenminister Gustav Stresemann, die beide für ihre Bemühungen um die Beilegung des deutsch-französischen Konflikts ausgezeichnet wurden (1926), die US-amerikanische Sozialreformerin und Feministin Jane Addams (1931), die angloamerikanischen Quäkergruppierungen Friends Service Council und American Friends Service Committee (1947), den amerikanischen Außenminister und Begründer des European Recovery Programs („Marshallplan“) George Catlett Marshall (1953), den französischen Koautor der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 und Präsidenten des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte René Cassin (1968), den sowjetischen Atomphysiker und Dissidenten Andrei Dmitrijewitsch Sacharow (1975), den mexikanischen Diplomaten und Außenminister Alfonso García Robles (1982), den südafrikanischen Bürgerrechtler und späteren Präsidenten Nelson Mandela (1993), die Vereinten Nationen (2001), die kenianische Universitätsprofessorin, Feministin und Begründerin des Green Belt Movement Wangari Maathai (2004) sowie die Europäische Union (2012).

Die zentralen Ergebnisse der Studie

Die Arbeitshypothese, dass sich das Friedensverständnis von Nobelkomitee und PreisträgerInnen seit 1901 schrittweise von einem engen negativen Friedensbegriff, im Sinne von Frieden als Abwesenheit von Krieg, hin zu einem umfassenden positiven Friedensbegriff im Sinne von Abwesenheit von Furcht und von Not, entwickelte, bestätigte sich im Laufe der Untersuchung. Wenn diese Entwicklung auch nicht als eine lineare aufzufassen ist, so lassen sich dennoch der Zweite Weltkrieg, insbesondere aber die 1970er Jahre in dieser Hinsicht als zentrale Zäsuren festmachen. Es wird deutlich, dass nun zunehmend die Berücksichtigung von Faktoren wie innerstaatliche Demokratisierung, sozioökonomische Gleichheit und Einhaltung von Menschenrechten, inklusive der Rechte von Frauen und Kindern, wie auch der Umweltschutz als zentral für den Frieden gesehen wurden und werden. Diese Entwicklung wurde dadurch unterstrichen, dass das Nobelkomitee offenbar besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie im beginnenden 21. Jahrhundert mit seiner Auswahl der PreisträgerInnen bewusst und aktiv diese Themen als friedensrelevant hervorhob und dabei auch eine Einengung oder Fokussierung der jeweiligen Friedensarbeit der PreisträgerInnen vornahm.

All dies bedeutet auch, dass nicht mehr der Staat als einheitlicher Akteur mit einheitlichen Interessen im Verhältnis zu anderen Staaten im Fokus der Friedensbemühungen steht, sondern nun die Beziehung zwischen Staaten und ihren eigenen Gesellschaften bzw. BürgerInnen. Der Staat wird nicht länger als eine homogene, intransparente Black Box betrachtet, sondern besteht aus verschiedenen Institutionen, AkteurInnen und Interessen, deren Zusammenspiel staatliche Politik nach innen und außen prägt. Auch die Rolle der Zivilgesellschaft als Akteurin der Friedensarbeit veränderte sich, von einer Bittstellerin mit Druckmitteln wie Kampagnen, Öffentlichkeitsarbeit und Meinungsbildung zur selbstbewussten Einforderin von Frieden und Demokratie als Recht.

Die Herausgeberinnen möchten sich bei den Fördergebern dieser Studie, dem Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (Projekt-Nr. 16774), der Kultur- und Wissenschaftsabteilung der Stadt Wien und dem Zukunftsfonds der Republik Österreich bedanken, ohne die dieses zum überwiegenden Teil von Susanne Reitmair-Juárez, MA durchgeführte, umfangreiche Forschungsprojekt sowie dessen Publikation nicht möglich gewesen wäre. Herrn Univ.-Prof. Dr. Werner Wintersteiner sind wir für wichtige Anregungen und Kommentare im Laufe der Projektentwicklung besonders dankbar. Dr. Manfred Kohler danken wir für die Mitwirkung an zwei Fallstudien. Ein großer Dank gilt auch dem Projektmitarbeiter Simon Machleidt, der uns bei der Auswertung der Quellen unterstützt hat.

Die Herausgeberinnen

1.  Gesamtanalyse der Vergabe der Friedensnobelpreise – Längsschnitt

1.1  Methodische Vorgehensweise

Diese Studie untersucht die Forschungsfrage, inwiefern sich die Friedenskonzepte, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden, im Laufe der Zeit (1901–2016) verändert haben. Die Analyse zielt auf die Ableitung unterschiedlicher Friedenskonzepte aus den verwendeten Quellen. Als Arbeitshypothese wurde formuliert, dass sich das Friedensverständnis von Nobelkomitee und PreisträgerInnen seit 1901 schrittweise von einem engen negativen Friedensbegriff (Frieden bedeutet Abwesenheit von Krieg) hin zu einem positiven Friedensbegriff, der die Qualität des Friedens einbezieht (Freiheit von Not, Freiheit von Furcht), entwickelt hat. Es wird davon ausgegangen, dass diese Öffnung und Erweiterung des Friedensbegriffs weitgehend linear verläuft, sodass etwa ab den 1970er Jahren ein immer umfassenderes Verständnis von Frieden vorherrscht, indem etwa die Regierungsform eines Staates, die sozioökonomische Entwicklung und vor allem die Verteilung von Wohlstand innerhalb einer Gesellschaft, Bildung, Einhaltung der Menschenrechte etc. als wichtige Elemente nachhaltigen Friedens verstanden werden.

Als Quellen für diese Untersuchung wurden die Reden des norwegischen Nobelkomitees bei der Vergabe des Preises am 10. Dezember jedes Jahres analysiert. Ebenso wurden Acceptance Speeches und Nobel Lectures der PreisträgerInnen verwendet. Diese Texte beziehen sich ausführlich auf die Errungenschaften, für die jemand ausgezeichnet wird. Es wird von Nobelkomitee und PreisträgerIn argumentiert, welche Ziele das jeweilige Engagement verfolgt und warum diese Arbeit als Friedensarbeit verstanden wird, was wiederum auf das dahinterstehende Friedenskonzept schließen lässt. Besonders in späterer Zeit benennt das Nobelkomitee explizit den eigenen Friedensbegriff und argumentiert diesen. Die Wortwahl lässt dabei darauf schließen, dass es (wiederkehrende) Kritik an der Vergabe der Preise und/oder dem dahinterstehenden Konzept von Frieden bzw. an der Interpretation von Alfred Nobels Testament durch das Komitee gibt.

Diese Texte sind fast alle online auf der Homepage des Nobel Instituts in englischer Sprache verfügbar. Für die frühen Jahre ist die Quellenlage nicht vollständig. Es fehlen die Dankesreden von 1901 (Jean Henry Dunant und Frederic Passy), 1909 (Auguste Marie Francois Beernaert und Paul Henri Benjamin Balluet d’Estournelles de Constant), 1910 (Permanent International Peace Bureau), 1911 (Tobias Michael Carel Asser und Alfred Hermann Fried), 1913 (Henri La Fontaine) und 1917 (International Committee of the Red Cross). 1925 (Joseph Austen Chamberlain und Charles Gates Dawes) wurden nur Telegramme der Preisträger mit Danksagungen verlesen, sie waren aber beide nicht persönlich anwesend und hielten keine Reden, ebenso Gustavo Stresemann und Aristide Briand (1926). 1931 konnte Jane Addams nicht an der Verleihung teilnehmen, ihr Co-Preisträger Nicholas Murray Butler war jedoch anwesend und hielt auch eine Rede. 1935 wurde Carl von Ossietzky vom NS-Regime, dessen Gefangener er war, daran gehindert, den Preis entgegenzunehmen und zu sprechen. Dag Hammarskjöld war zum Zeitpunkt der Preisverleihung bereits verstorben, weshalb der schwedische Botschafter Rolf Edberg eine Rede (über Hammarskjöld und seine Überzeugungen) hielt. 1973 lehnte der vietnamesische Politiker Le Duc Tho den Preis ab, dementsprechend war er nicht bei der Verleihung anwesend und es gibt keine Rede. Sein Co-Preisträger Henry Kissinger ließ nur ein Telegramm verlesen. 1975 war der Preisträger Andrei Sacharow bei der Zeremonie verhindert, da er nicht aus der Sowjetunion ausreisen durfte, seine Frau verlas seine Rede. Für den Preis 1976 an Betty Williams und Mairead Corrigan gibt es nur eine Rede (obwohl beide anwesend waren), vorgetragen von Betty Williams. Liu Xiaobo konnte 2010 nicht zur Preisverleihung aus China ausreisen, da er gerade im Gefängnis saß und seinen Prozess erwartete. Es wurde ein Statement von ihm verlesen, das er bereits 2009 veröffentlicht hatte, in dem er seine Arbeit erläuterte und gleichzeitig, wohl in Richtung der chinesischen Behörden, betonte, dass er „keine Feinde habe“.

Laut Statuten des Nobel Instituts kann das Nobelkomitee in einem Jahr auch entscheiden, dass keine/r der Nominierten die von Alfred Nobel vorgegebenen Kriterien für den Friedensnobelpreis erfüllt und die Vergabe aussetzen. Es kann dann im darauffolgenden Jahr der Preis für das vergangene und das aktuelle Jahr vergeben werden. Davon wurde mehrmals Gebrauch gemacht: Elihu Root erhielt den Friedensnobelpreis für 1912, dieser wurde aber erst 1913 vergeben (in diesem Jahr wurde Henri La Fontaine ausgezeichnet). Auch die Preise 1919 (Woodrow Wilson), 1925 (an Chamberlain und Dawes), 1929 (Frank Billings Kellogg), 1933 (Sir Norman Angell), 1935 (Carl von Ossietzky), 1944 (Internationales Komitee vom Roten Kreuz), 1952 (Albert Schweitzer), 1954 (UN-Flüchtlingshochkommissariat), 1960 (Albert John Lutuli), 1962 (Linus Carl Pauling) und 1976 (Mairead Corrigan und Betty Williams) wurden jeweils erst im darauffolgenden Jahr verliehen. Davon zu unterscheiden sind Jahre, in denen das Nobelkomitee verkündete, dass es keinen Preis geben würde, weil es keine bedeutenden Fortschritte hin zum Frieden gegeben habe – darauf wird später eingegangen.

In frühen Jahren waren einige PreisträgerInnen aufgrund von Krankheit, Reisen oder Ähnlichem verhindert – sodass die Zeremonie mit der Rede, die hier analysiert wird, erst später stattfand. Dies mag auch darin begründet sein, dass anfangs das Prestige des Preises nicht so groß war; darüber hinaus waren die Reisemöglichkeiten noch beschwerlicher und die Verleihung auch weniger „institutionalisiert“. Es kam also mehrmals vor, dass Reden nur von VertreterInnen (meist den BotschafterInnen der jeweiligen Länder) verlesen bzw. Jahre später bei einer Veranstaltung gehalten wurden. Dadurch konnten sich die PreisträgerInnen dann auf Entwicklungen nach ihrer Auszeichnung beziehen.

Das Nobelkomitee verliest seine Entscheidung in englischer Sprache. Viele PreisträgerInnen halten ihre Dankesreden in ihrer jeweiligen Muttersprache. Das bedeutet, dass die Texte, die hier als Quellen verwendet wurden, meist Übersetzungen aus der Originalsprache ins Englische sind und die vorliegende Analyse wiederum auf Deutsch durchgeführt wird. Bei manchen Begriffen, die für das Konzept des Friedens oder die Konzeptualisierung von AkteurInnen bedeutend sind, werden daher hier die englischen Begriffe, die im Quellentext verwendet wurden, in Klammern ergänzt. Aus diesen Texten sowie aus (online zugänglichen) Kurzbiografien wurden die Kodierungen für die quantitativen sowie für die qualitativen Variablen, die im Folgenden vorgestellt werden, abgeleitet. Das Gerüst aus Variablen und Ausprägungen wurde im Laufe der Quellenarbeit weiterentwickelt.

Allgemein lässt sich feststellen, dass diese Reden mit der Zeit immer länger, programmatischer und kritischer werden. Das kann als Ausdruck der steigenden Bedeutung des Friedensnobelpreises gesehen werden: Die „Institution“ des Preises und die große Plattform der Verleihung mit der medialen und politischen Aufmerksamkeit, die damit einhergeht, werden zunehmend genützt, um eigene Interessen und Anliegen vorzubringen, öffentlich auf Missstände oder auch auf Fortschritte hinzuweisen und mehr Engagement für den Frieden einzufordern – dies gilt sowohl für das Nobelkomitee als auch für die PreisträgerInnen.

Kodierung der quantitativen Variablen

Für die Erstellung eines quantitativen Überblicks und chronologischen Längsschnitts wurde eine Datenbank angelegt, die kodierte Informationen zu allen PreisträgerInnen enthält. Diese Kodierungen lauten:

Zur formalen Einordnung eines Preisträgers/einer Preisträgerin wurde zunächst die AkteurInnenebene definiert. Dazu wurden drei Kategorien verwendet, nämlich staatlich, nichtstaatlich sowie supranational. Unter staatlichen AkteurInnen werden sowohl Personen als auch Organisationen verstanden, welche im Auftrag eines Staates bzw. in einer politischen Funktion handeln. Sie sind mit formeller (Entscheidungs-)Macht und Handlungsspielräumen ausgestattet, die nichtstaatlichen AkteurInnen in diesem Ausmaß nicht zur Verfügung stehen. Das bedeutet, sie handeln für einen Staat und können für diesen Staat verbindliche Entscheidungen treffen, Abmachungen eingehen usw. Prozesse, die von staatlichen AkteurInnen angestoßen oder dominiert werden, sind demnach top-down organisiert.

Nichtstaatliche AkteurInnen werden als Personen oder Organisationen definiert, die in ihrer Funktionsfähigkeit, Organisationsstruktur und Handlungsweise außerhalb des formellen politischen Systems operieren. Nichtstaatliche AkteurInnen haben weder formelle Entscheidungsbefugnis noch ein Mandat von einem Staat und können keinen Friedensvertrag unterzeichnen. Sie sind Teil der Zivilgesellschaft und versuchen, politische oder gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen, z.B. durch den Aufbau öffentlichen Drucks, Meinungsbildung, Kampagnen, durch Kontakte zu EntscheidungsträgerInnen, Lobbyarbeit usw. Prozesse, die von nichtstaatlichen AkteurInnen angestoßen oder dominiert werden, sind demnach bottom-up organisiert.

Die Unterscheidung in staatliche oder nichtstaatliche AkteurInnen sollte eigentlich eindeutig sein. Jedoch verbinden vor allem vor dem Ersten Weltkrieg die Biographien der Preisträger (Preisträgerinnen finden sich abgesehen von Bertha von Suttner nicht) die staatliche sowie die nichtstaatliche Sphäre auf vielfältige Weise, sodass eine klare Einordnung, für welche Aktivität der Preis vergeben wurde, oft schwer vorzunehmen war bzw. vom Nobelkomitee nicht eindeutig benannt wurde. So wurde einer der beiden Preisträger des Jahres 1902 (Charles Albert Gobat) für Aktivitäten bzw. Funktionen sowohl der staatlichen wie auch der nichtstaatlichen Sphäre ausgezeichnet. Er war ehrenamtlicher Generalsekretär des Internationalen Friedensbüros in Bern, organisierte Konferenzen in dieser Funktion, engagierte sich Zeit seines Lebens in der Friedensbewegung und war auch publizistisch aktiv – scheinbar eindeutig ein nichtstaatlicher Akteur. Jedoch nennt das Nobelkomitee auch sein Engagement für die Interparlamentarische Union, in der sich VertreterInnen aus den Parlamenten der Mitgliedsländer trafen und für eine friedliche Verständigung und Zusammenarbeit ihrer Länder arbeiteten. Parlamente und ihre Abgeordneten sind eindeutig der staatlichen Sphäre zuzuordnen. Letztlich haben wir uns dafür entschieden, Gobat als staatlichen Akteur zu kodieren, da er über lange Jahre hinweg als Abgeordneter tätig war und davon ausgegangen werden muss, dass seine politische Laufbahn (und damit einhergehend sein sozioökonomischer Status) ihm einerseits das private Engagement erst ermöglichten und diesem „nichtstaatlichen Engagement“ andererseits mehr Gewicht verliehen. Besonders vor dem Ersten Weltkrieg waren die meisten PreisträgerInnen in einem Netzwerk verbunden, das die europäischen Friedensbewegungen, das Internationale Friedensbüro und die Interparlamentarische Union personell und inhaltlich eng miteinander verknüpfte. Dieses Netzwerk wird bei der Fallstudie zum Internationalen Friedensbüro näher analysiert.

Unter supranationalen AkteurInnen werden Organisationen oder Personen verstanden, die international oder „überstaatlich“ handeln oder zusammengesetzt sind. Diese AkteurInnen zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass ihnen politische wie rechtliche Zuständigkeiten zukommen, die nicht (mehr) bzw. nicht zur Gänze auf nationalstaatlicher Ebene wahrgenommen werden. AkteurInnen auf der supranationalen Ebene wurden von souveränen Staaten geschaffen und handeln im Rahmen eines staatlich definierten Mandats. Sie sind für die Überprüfung und Implementierung internationaler Verträge und Regime verantwortlich, sollen also Staaten und deren Handeln koordinieren und kontrollieren. Dennoch sind sie nicht mit einer vergleichbaren Entscheidungsbefugnis ausgestattet – sie können Staaten nicht zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen von Handlungen zwingen und können keine effektiven Sanktionen verhängen. Diese Kategorie betrifft vor allem UN-assoziierte Organisationen und deren VertreterInnen sowie die EU.

Als weitere Variable wurde Person oder Organisation eingeführt, wobei beide jeweils der staatlichen, der nichtstaatlichen oder der supranationalen Sphäre zugeordnet werden können. Auch das Geschlecht der PreisträgerInnen wurde erhoben.

Die Variable Wirkungsbereich ist in insgesamt zehn verschiedene Ausprägungen gegliedert und versucht ein „Oberthema“ der jeweiligen Friedensarbeit zu benennen. Die Reihung der Merkmalsausprägungen im Text entspricht dem erstmaligen Auftreten bei der Preisvergabe.

Humanitäre Hilfe bezeichnet „Nothilfe“ in akuten Krisen- oder Kriegssituationen, wie sie bspw. das Internationale Komitee vom Roten Kreuz leistet, das insgesamt dreimal den Friedensnobelpreis erhielt. Darüber hinaus wird auch die Arbeit für und mit Flüchtlingen in dieser Kategorie erfasst.

Die Kategorie Verrechtlichung internationaler Beziehungen verweist auf Bemühungen, die internationale Anarchie zu beenden oder zumindest einzuschränken. Es sollen Verträge zwischen Staaten erarbeitet werden, die entweder konkrete Konflikte oder Themen betreffen, bspw. Schlichtungsverträge zwischen Staaten; andererseits wird häufig die Notwendigkeit eines umfassenden Völkerrechts analog zum innerstaatlichen (Straf-)Recht eingefordert, sodass Krieg ebenso verboten sein soll wie Mord. Es geht hier um die Beschränkung staatlichen Handelns gegenüber anderen Staaten auf Basis eines allgemein gültigen Rechts sowie dessen Institutionalisierung und Sanktionierung.

Hierbei wurde unterschieden, ob sich ein/e AkteurIn aus der staatlichen oder der nichtstaatlichen Sphäre heraus für die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen einsetzte. Diese Unterscheidung ist notwendig, da es für den konkreten Handlungsspielraum einen großen Unterschied macht, ob man z.B. als Staatspräsident oder Minister einen Schlichtungsvertrag unterzeichnet, oder ob man juristische Expertise zur möglichen künftigen Ausgestaltung von Verträgen zur Verfügung stellt bzw. über die Friedensbewegung versucht, öffentlichen Druck auf staatliche Akteure aufzubauen, damit diese die Verrechtlichung vertiefen. Supranationale AkteurInnen wurden hier mit dem Code belegt, der für staatliche AkteurInnen gewählt wurde (bspw. UNO).

Abrüstung bedeutet, dass die Reduktion bestehender Waffenarsenale, die Regulierung des Einsatzes oder das Verbot bestimmter Waffen als wichtigstes Themenfeld gesehen wurde, um den Frieden zu fördern. 1905 wurde erstmals der Nobelpreis für den Einsatz für Abrüstung vergeben – an Bertha von Suttner, die damit die erste Frau (und Österreicherin) war.

Diplomatie oder Politik wurde bei PreisträgerInnen kodiert, die sich langfristig für friedliche Lösungen von Konflikten eingesetzt haben, allerdings nicht explizit für eine konkrete Errungenschaft, z.B. ein bestimmtes Friedensabkommen, ausgezeichnet wurden, sondern eher für ihr Lebenswerk.

Im Gegensatz dazu wurde die Ausprägung Verhandlungen kodiert. Dies meint die Beilegung eines konkreten Konflikts zwischen zwei oder mehreren Parteien durch Verhandlung oder Vermittlung.

Die Merkmalsausprägung Entwicklung kann in gewisser Weise als inhaltliche Weiterentwicklung der Ausprägung humanitäre Hilfe verstanden werden. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg – auch mit dem Aufkommen der Begriffe Entwicklungsländer, Dritte Welt und Entwicklungshilfe – gehen AkteurInnen, die für humanitäre Hilfe ausgezeichnet wurden, bspw. das UN-Kinderhilfswerk UNICEF, sowohl in ihrer praktischen Arbeit als auch in ihren dahinter stehenden Konzepten über die Idee des unmittelbaren Helfens hinaus und wenden sich einem „Hilfe zur Selbsthilfe“-Ansatz zu. Bei einigen AkteurInnen geht damit auch eine ausdrückliche Kritik an strukturellen Ungleichheiten zwischen reichen und armen Ländern, welche Auswirkungen auf die Entwicklungsmöglichkeiten der armen Staaten haben, einher. Der erste entsprechende Preis wurde 1949 an Lord John Boyd Orr, einen Ernährungswissenschaftler und ersten Direktor der Food and Agriculture Organization (FAO), vergeben.

Der Wirkungsbereich Menschenrechte wurde einerseits kodiert, wenn die Kodifizierung der Menschenrechte im Mittelpunkt der Friedensarbeit stand, wie etwa die Erarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder die Durchsetzung bestimmter Menschenrechte, z.B. Kinderrechte, Frauenrechte, das Recht auf Asyl oder soziale Rechte. Ein weiterer Aspekt der Menschenrechtsarbeit bezieht sich auf die Durchsetzung der Menschenrechte in einem konkreten politischen System. Hier stehen meist die Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen und die Implementierung der Grundrechte innerhalb eines Staates im Vordergrund, wie etwa im Falle des Apartheid-Regimes in Südafrika, der Bürgerrechtsbewegung in den USA oder Rigoberta Menchús in Guatemala. In jedem Fall geht es um das Verhältnis zwischen Staaten und ihren BürgerInnen. Der erste Preis für diesen Themenbereich wurde im Jahr 1951 an Léon Jouhaux vergeben.

Versöhnung als übergeordnetes Thema der Friedensarbeit widmet sich der innergesellschaftlichen Aussöhnung verschiedener ethnischer, religiöser oder sozialer Gruppen. Diese Friedensarbeit ist also auf einen konkreten gesellschaftlichen Kontext gerichtet und versucht bottom-up, alte Konflikte und Gräben zu überwinden und Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen zu finden bzw. gleiche Rechte für diese Gruppen einzufordern. Der Präsident des African National Congress, der Südafrikaner Albert John Lutuli, wurde 1960 als Erster in diesem Bereich ausgezeichnet.

Der Wirkungsbereich Umwelt bezeichnet Friedensarbeit, die die Problematik Klimawandel, Umweltschutz und Ökologie ins Zentrum rückt. Dies ist das jüngste Themenfeld beim Friedensnobelpreis. Erst 2004 wurde Wangari Muta Maathai für ihren Einsatz für Umweltschutz und gegen Klimawandel ausgezeichnet. Dies verdeutlicht, dass Umwelt- und Klimathemen durchaus Konfliktpotenzial in sich tragen, etwa indem sich Verteilungsfragen verschärft stellen.

Die Variable Arbeitsweise hat insgesamt sechs verschiedene Ausprägungen und dient als Überbegriff für die gewählte Strategie oder das Instrumentarium des Preisträgers/der Preisträgerin.

Organisation/Koordination meint, dass Friede durch die Etablierung einer Organisation mit entsprechenden Verfahrensweisen und Prinzipien gefördert werden soll. Durch Institutionalisierung können Normen geschaffen und gestärkt werden, die in weiterer Folge Staaten oder andere AkteurInnen in ihrem Handeln begrenzen. Handlungen im Rahmen dieser Normen oder mit dem Rückhalt und der Reputation dieser Organisation haben die Friedensarbeit ermöglicht oder erleichtert.

Eine politische Arbeitsweise entspricht und verstärkt in gewisser Weise die in der Rubrik Wirkungsfeld vorgenommene Kodierung Politik/Diplomatie. Es geht wiederum um den langfristigen Einsatz für Frieden im Rahmen einer politischen oder diplomatischen Tätigkeit. In Abgrenzung dazu bezieht sich Friedensvertrag/-konferenz auf konkrete Abkommen, Verträge oder Ereignisse.

Wissenschaftlich ist die Arbeitsweise dann, wenn die ausgezeichnete Person oder Institution auf Basis ihrer fundierten Kenntnisse in einem bestimmten Fachgebiet zu Sicherung oder Erhalt des Friedens beiträgt. Ihre Forschungstätigkeit ermöglichte bspw. die Schaffung von Abrüstungsregimen oder den Kampf gegen Mangelernährung.

Unter Meinungsbildung wurde eine Arbeitsweise dann kodiert, wenn etwa auf künstlerischer, literarischer oder journalistischer Ebene sowie durch Bildungsarbeit die öffentliche oder veröffentlichte Meinung im Sinne des Friedens beeinflusst werden sollte. Die Bedeutung der Mobilisierung der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft, die in weiterer Folge Druck auf staatliche Akteure aufbauen können, wird in den Quellen immer wieder als zentral herausgearbeitet. Als erstes Beispiel ist hier Bertha von Suttner (1905) zu nennen, die wesentlich über ihre literarischen Werke, vor allem mit ihrem Roman „Die Waffen nieder!“, Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen konnte.

Religion wurde bei religiösen Würdenträgern oder Organisationen kodiert, die vorwiegend aus ihrer religiösen Lehre und Überzeugung heraus handelten. Sie sahen ihre Friedensarbeit als Teil ihrer religiösen Pflicht oder argumentierten damit und motivierten dadurch andere Menschen zu (gewaltfreien) Handlungen.

Als Nächstes wurde versucht, die PreisträgerInnen bzw. ihre Friedensarbeit geografisch zu verorten, wobei die Herkunft von Personen bzw. der Sitz von Organisationen einerseits und die Verortung des Wirkungsbereichs andererseits unterschieden wurden. Es wurden Regionen bzw. Kontinente als Codes vergeben: Afrika, Asien, Australien/Ozeanien, Europa, Nord- und Südamerika, Naher Osten sowie international. International wurde dann gewählt, wenn eine Friedensarbeit nicht geografisch zuzuordnen war bzw. vom Preisträger/der Preisträgerin als genuin international und – zumindest potenziell – die ganze Welt betreffend verstanden wurde. Darüber hinaus wurden Friedensbemühungen, die zwei oder mehr Kontinente betrafen, als „international“ eingestuft. So wurden Bemühungen um die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen verständlicherweise nicht auf einen bestimmten geografischen Raum eingeengt, sondern sollten – zumindest dem Anspruch nach – die ganze Welt betreffen. Allerdings muss dabei im Auge behalten werden, dass das Verständnis von „international“ oder „weltweit“ sich von 1901 bis 2016 erheblich verändert – nämlich erweitert – hat.

Um die teils sehr vielfältigen Wirkungsbereiche und Arbeitsweisen, die die einzelnen PreisträgerInnen bearbeiteten bzw. verwendeten, nicht zu stark zu simplifizieren und damit zu verfälschen, wurden bei diesen Mehrfachkodierungen vorgenommen. Es wurden allerdings maximal zwei Codes pro PreisträgerIn vergeben.

Qualitative Operationalisierung der verschiedenen Friedenskonzepte

Neben der Kodierung der oben genannten Variablen wurde auch herausgearbeitet, welche AkteurInnen vom jeweiligen Preisträger/der Preisträgerin als besonders wichtig für die Schaffung von Frieden angesehen wurden (z.B. Staat, Zivilgesellschaft, Internationale Organisation). Daneben wurden die Instrumente und Strategien benannt, die zu Frieden führen sollen, wie etwa Verhandlungen, Verrechtlichung, sozioökonomische Entwicklung etc. Aus der Kombination der quantitativen und qualitativen Variablen konnte das konkrete Friedensmodell des/der jeweiligen Preisträgers/in inhaltlich definiert und daraus verschiedene Konzepte abgeleitet werden.

1.2  Der Datensatz im Überblick – Was erzählt uns die Quelle?

Der Friedensnobelpreis wird seit 1901 vergeben. Laut den Statuten des für die Vergabe gegründeten Nobel Instituts können pro Jahr maximal drei Personen oder Organisationen ausgezeichnet werden. Wenn in einem Jahr niemand einen entscheidenden Beitrag für den Frieden geleistet hat, so kann die Vergabe ausgesetzt werden, und das Preisgeld verbleibt im Fonds. Das Komitee kann auch entscheiden, dass es den Preis erst ein Jahr später vergibt, wie oben bereits beschrieben wurde. Das bedeutet, dass der Preis zwar seit 116 Jahren vergeben wird, durch Mehrfachvergaben einerseits und mehrere Jahre ohne Vergabe andererseits unterscheidet sich die Anzahl der vergebenen Preise aber deutlich von der Anzahl der Jahre. 19-mal wurde kein Friedensnobelpreis vergeben, dagegen gab es in 29 Jahren jeweils zwei PreisträgerInnen. Zweimal wurden sogar drei Preise vergeben. Insgesamt wurden bis 2016 demnach 130 AkteurInnen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

In den Jahren 1914 bis 1916 sowie 1918, 1923 und 1924, 1932, 1939 bis 1943 sowie 1948, 1955 und 1956 sowie 1966, 1967 und 1972 wurden keine Friedensnobelpreise vergeben. Ab 1973 wurde jedes Jahr mindestens ein Preis vergeben.

Vom ersten Jahr an gab es Mehrfachvergaben, also mehr als eine/n PreisträgerIn pro Jahr. Besonders bis Anfang der 1930er Jahre wurden oft zwei Preise vergeben, wobei die beiden PreisträgerInnen häufig für inhaltlich verwandte Tätigkeiten oder Errungenschaften ausgezeichnet wurden bzw. auch zusammengearbeitet haben, etwa Gustav Stresemann und Aristide Briand 1926 für ihren Beitrag zur deutsch-französischen Aussöhnung nach dem Ersten Weltkrieg.

Ein erster Blick auf die Problematiken oder Konflikte, zu deren Beilegung es Auszeichnungen gab, zeigt, dass einige so intensiv waren, dass Versuche zu deren Schlichtung sogar mehrmals mit dem Friedensnobelpreis bedacht wurden. Fortschritte in der Beilegung des Nordirland-Konflikts fanden bspw. zweimal Anerkennung, mit der Preisvergabe an jeweils zwei Personen: 1976 erhielten Betty Williams und Mairead Corrigan als zivilgesellschaftliche Akteurinnen den Preis für die Gründung und Mobilisierung der Friedensbewegung Peace PeopleAfrican National Congress