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Hadmar von Wieser

Der Lichtvogel

Elementare Gewalten

1. Teil

Ein Das Schwarze Auge-Roman

Impressum

Ulisses Spiele
Band 26

Titelbild: Malte Zirbel
Umschlaggestaltung: Nadine Schäkel
Überarbeitung und Lektorat: Frauke Forster
Layout: Michael Mingers

Copyright ©2018 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.
DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN und DERE sind
eingetragene Marken.
Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

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ISBN-Print: 9783963310614
ISBN-Ebook: 9783963310621

Widmung

Für meinen Sohn Christoph,
der wie ich vom Fliegen träumt

Die Al’anfanischen
Prophezeiungen des
Thamos Nostriacus

(stark gekürzt):

Wohl erzittert der Sterbliche, wenn sich der Kelch der Katastrophe über ihn ergießet, doch wisse, dass die Ungaben der Unsterblichen stets zwiefach sind.

Zweimal, nicht einmal, wird der Zwist der Zwillingsbrüder offenbar, und der Geber der Gestalt unterliegt, damit der Nehmer der Welt unterliegen muss.

Zweimal, nicht einmal, wird der Rabe nach dem Thron des Herrn über Zwölf greifen.

Wenn sich Drachenblut mit Menschenblut auf einem Berg von Gold verbindet.

Wenn in der Neunflüssigen ein Alter Drache bar eines Karfunkels und ein Alter Karfunkel bar eines Drachen weilen.

Wenn der Diener jenseits des Todes den Meister außerhalb des Todes ruft.

Wenn die Verderberin der Leiber einen Leib dem Verderber der Welten verschafft.

Wenn die Bäume auf der See wurzeln, die Festungen über das Land wandeln und die Belagerungstürme über den Himmel ziehen.

Wenn der allein Ahnende mit dem almadinen Auge angekommen.

Wenn nur noch die stählerne Stirn den schrecklichen Schatten standhält.

Wenn das geflügelte Geschoß dem Grauen der Götter gilt.

Wenn aus sieben Schalen Schärfe schäumt, dagegen kein Schrecknis gewachsen ist.

Dann wird in den Kerker der feurige Blick des Weltenschöpfers fallen.

Dann wird die rote Saat der Gor aufgehen.

Dann wird die Letzte Kreatur geboren und gebären.

Dann werden Löwin und Einhorn zu zweien ins Tal der Finsternis gehen.

Dann werden die Wasser blutig und die Brunnen sauer, der Regen wird brennend und das Land schimmlig.

Dann wird die Brut den Boden verschlingen.

Dann wird der Rausch der Ewigkeit über die Schöpfung wehen.

Prolog: Friedenslieds Ende

»Zerreißt ihn!« Der Befehl kam mit der Beiläufigkeit einer höflichen Floskel. Die drei Zantim dagegen stimmten ein schrilles Trillern an, in dem unstillbare Wut lag. Dann legten sie die zehn Schritt in einem einzigen Sprung zurück.

Angstvoll wieherte der mächtige graue Hippogriff. Er bäumte sich auf und schlug mit den Adlerfängen aus. Bereitwillig warf sich die violett-gelbe Gestalt des ersten Zant in die Krallen. Seine eigenen Klauen schlugen in die erhobenen Vorderbeine. Der zweite Dämon ergriff einen der weitgespreizten blaugrauen Flügel und riss den Pferdegreifen um.

Der Ruck schleuderte auch den Reiter auf den Boden, der von schwefligen Krusten überzogen war. Mit ihm war auch der magische Schutz vom Rumpf des Tieres genommen. Ehe der Hippogriff noch einmal wiehern konnte, schlugen die glühenden Säbelzähne des dritten Kampfdämonen in seinen Hals.

Der Elf sprang mit der unvergleichlichen Gewandtheit seines Volkes auf. Er hob die Faust zum Kampfzauber. Seine goldgrünen Augen blitzten auf, als er sich den Dämonen zuwandte.

»Kämpf um dein eigenes Leben, Elf.« Die Gedanken ­drangen wie ein brennendes Schwert in seinen Geist.

Der Elf blickte ruckartig zu dem Herrn der drei Kampfdämonen. Wieder hallte die Stimme durch seinen Geist: »Bist du überrascht, dass wir dich erwarten? Dein lächerliches Friedenslied hat dich eine Meile weit angekündigt. Bist du der Wirklichkeit so entrückt, dass du ernsthaft dachtest, damit Kreaturen der Niederhöllen beeinflussen zu können?«

»Das Friedenslied war ein Zeichen«, sandte der Elf fassungslos zurück, »dass ich mit dir sprechen wollte.«

»Wer in meiner Umgebung die Kraft einsetzt«, kam schneidend die Antwort, »ohne meinen Befehl, der greift mich an. Und: Ich führe keine Gespräche. Ich habe vierhundert Jahre lang darauf gewartet, dass jemand mit mir spricht. Jetzt befehle ich.«

Athavar Friedenslied blickte zu dem Hippogriffen, der unter den tobenden Zantim verschwunden war.

»Das ist Zeitenflug«, dachte er erregt. »Ich habe ihn selbst aufgezogen.«

»Und jetzt«, antwortete der Dämonenmeister kalt, »hast du ihn selbst in den Tod geschickt.«

Die niederhöllischen Kreaturen ließen nicht ab, Stück um Stück aus dem leblosen Leib zu reißen.

Friedenslied war ein Kind der Lichtelfen, aus unerfindlichen Gründen in diese Welt geboren. So wenig er sie verstand, so sehr hatte er sich immer bemüht, sie zu verteidigen.

»Bringt ihn her!«, rief der Magier. Die Zantim ließen von dem zerfleischten Leib des Hippogriffen ab und antworteten mit einem trillernden Kreischen. Der Befehl lief ihrer Natur völlig zuwider. Es schien, dass sie sich auf ihren Beschwörer stürzen wollten.

Borbarad wiederholte seinen Befehl nicht. Aber in der Siebengehörnten Dämonenkrone, die sein Haupt umgab, glühte eines der Hörner auf. Die gelbvioletten Ungeheuer krümmten sich unterwürfig und umzingelten den Elfen mit grotesken Sprüngen.

Friedenslieds Katzenaugen verengten sich zu engen Schlitzen. »Fial miniza dao’ka«, fauchte er und stieß die linke Faust vor. Borbarad fing den Zauber mit einer Geste seiner silbern aufleuchtenden Hand auf und warf ihn gleichmütig zurück. »Invercarno, mein Freund!« Der unsichtbare Schild, der den Elfen beschützte, erzitterte mit einem Licht, das nur die beiden Gegner wahrnehmen konnten.

Beide waren Freizauberer. Sie sahen die Welt von astralen Energien durchzogen, die ihr Wille beliebig formen konnte. Athavar Friedenslied warf die schwarzen Haare zurück und streckte beide Hände mit gespreizten Fingern aus. Während das astrale Netz sich vor ihm langsam zu einem Knäuel ballte, schien der Dämonenmeister nichts zu tun. Ein Sterblicher hätte überhaupt nur zwei Wesen gesehen, die einander feindselig gegenüberstanden.

Das Knäuel hatte die kritische Essenz erreicht, die einen einfachen Menschen töten oder unterwerfen konnte. Plötzlich erklangen Borbarads Gedanken:

»Du willst es? Dann nimm es!« Das Energiebündel drängte auf Friedenslied zu. Dieser trat zurück und versuchte es angestrengt unter Kontrolle zu halten.

Dann sah er aus Borbarads Augen zwei armdicke Strahlen dringen. Mit unwiderstehlicher Gewalt schoben sie die gesammelte Energie in Friedenslieds Astralleib. Sonnenhell flammte die Energie auf und warf den Elfen nieder.

»Warum?« dachte er am Boden kauernd. »Warum tust du der Welt das an?«

»Weil sie da ist, du Narr, und weil ich es kann.«

»Du gefährdest alles, was ist. Dein Pakt mit den Niederhöllen wird die Ordnung der Welt zerstören.«

»Richtig! Die Ordnung der Welt – aber nicht die Welt«, kam eine Antwort, die äonenlang geschliffen worden war. »Es gibt viel mehr mögliche Welten, als jeder begreifen kann, der in einem sterblichen Leib steckt. Jeder der zwölf Erzdämonen will eine andere erschaffen – und ich ebenfalls.« Borbarad trat drohend näher. »Und es ist nicht wahr, dass ich einen Pakt mit den Niederhöllen habe. Es sind auch nicht zwei oder drei. Es sind so viele, dass sie sich gegenseitig zerfetzen werden. Meine Seele ist der größte Schatz seit den Versuchungen Levthans, Kr’thon’chhs und des Namenlosen. Und während die Erzdämonen darum kämpfen, werde ich die neue Ordnung schaffen.«

»Aber die Harmonie der Sphären …«

Borbarads Lachen war hörbar und messerscharf, aber seine Gedanken waren noch grausamer. »Du nennst dich Athavar Friedenslied, der Hüter der Harmonie. Aber deine Harmonie der Sphären, guter Elf, ist eine Illusion. Die Schöpfung ist ein Kampf, vom ersten Augenblick an, als Los Sumu erschlug. Ich werde dir deine Harmonie zeigen. Eigene Ängste quälen dich!«

Bei aller Gewandtheit war Friedenslied nicht imstande, Borbarads Berührung auszuweichen. Alle seine Sinne erloschen gleichzeitig. Der Elf, gefangen in seinem eigenen Geist, stürzte in eine Welt, in der es keine Harmonie gab. Es war das, was er immer gefürchtet und bekämpft hatte. Oder war es, wie die Welt wirklich war?

Friedenslied wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er wieder sehen, hören und fühlen konnte. Er war in einem Raum von bösartiger Fremdheit. Es schien ein kristallener Dom zu sein, dessen spitze Kuppel sich in der Unendlichkeit verlor. Draußen, vor den Fenstern, die wie baumlange Sprünge in den Wänden waren, tobte ein dröhnender gelber Mahlstrom, in dem riesenhafte rote Fratzen lauerten.

Friedenslied stand vor einem brunnengroßen Krater. Seine zerfleischten Arme wurden von zwei Zantim festgehalten, seine Beine von dem dritten, der hinter ihm kauerte. Keiner der Dämonen bewegte sich. In dem Krater blubberte schwarze Lava, von der eine mörderische Kälte ausging.

»Ich danke dir«, drangen Borbarads Worte messerscharf in die geschundene Seele des Elfen. Der Dämonenmeister hatte den Beherrschungszauber offensichtlich selbst beendet: »Es war höchste Zeit, dass auch dein Volk von mir erfährt – bis zum letzten Elfen. Und wer könnte die Botschaft besser überbringen als ein Elf?«

Der Zant zur Rechten zog überraschend die Klauen aus dem Arm. Dann spie er dem Elfen eine elfenbeinerne Flöte, die er im Maul gehalten hatte, ins Gesicht. Friedenslied fing sie ohne jeden Gedanken auf. Es war seine iama, seit seiner Geburt untrennbar mit ihm verbunden. »Spiel, Friedenslied. Spiel dein Lied.«

Eine sterbende Stimme sagte dem Elfen, dass er sich nicht zu Borbarads Instrument machen durfte. Aber er wusste, dass dies sein Ende war. Tief in ihm war noch eine Melodie, die gesungen werden musste.

Er setzte die Flöte an und begann zu spielen. Er legte die ganze Liebe zur Schöpfung und die Schönheit der Welt hinein. Die Melodie begann sich mit dem Herzschlag der Welt zu drehen. Sie wog und neigte sich, wuchs an sich selbst …

Da stieß Borbarads wohlklingende Stimme dazwischen: »Für Fabelwesen ist in dem neuen Zeitalter kein Platz mehr!« Ein einziger Hieb des Zants zur Rechten trennte Friedenslieds Kopf ab. Die Flöte fiel zu Boden. Die Fußklaue eines Zants stieß vor und zermalmte sie. Das Gesicht des Elfen hatte noch immer den halb entrückten, halb erstaunten Ausdruck, als der Zant den Kopf an den wartenden Boten weitergab.

Von oben fiel baumelnd eine Schlange herab, die wie aus bläulichen Kettengliedern gemacht schien. Sie wand sich um die Beine des zusammengesunkenen Leichnams. Kopfüber schaukelte der Körper über dem brodelnden Krater. Aus dem zerfetzten Hals troff warmes Blut und vermengte sich mit der dämonischen Lava zu wundersamen Schlieren. Die unwiderstehlich beeindruckende Gestalt Borbarads beugte sich über den Rand des Kessels und studierte die magischen Bilder, die in dem Kessel erschienen.

DAS RÜCKGRAT DER WELT

Bestien der Berge

Raidri Conchobair:

»Du sein Fressen für Geier!« Der Ferkina versperrte mir den Aufstieg in der Schlucht. Er beugte sich auf dem Rücken seines Ponys drohend vor. Seine dunkelhäutige Linke krallte sich in die schmutzige Mähne des kleinen Braunen, seine Rechte hielt einen kurzen Speer mit bronzener Spitze erhoben.

Links und rechts von ihm erschienen zwei weitere Barbaren, die ihre zähen kleinen Reittiere mit Zungenschnalzen und Fersenhieben in die Klamm lenkten. Auch auf dem Abhang zu meiner Rechten erhoben sich drei Krieger mit Steinbeilen aus der Deckung.

Sechs also! Weniger als erwartet. Die dreißig Schritt lange Schlucht des Bosquir mit dem kleinen Wasserfall zu meiner Linken war ein hervorragender Platz für einen Hinterhalt. Die Ferkinas waren geschickt wie die Raschtulsluchse, in deren Felle sich zwei kleideten. Ich hatte weder ihr Warnzeichen noch ihr Lauern bemerkt. Aber die Stelle schrie förmlich danach, einen einsamen und offensichtlich ortsfremden Wanderer wie mich zu erwarten.

Sechs Augenpaare starrten mich aus dem Düster der rostroten Tücher an, die sie um den Kopf gewickelt trugen. Noch war keiner näher als ein Dutzend Schritt heran, die drei Reiter waren sogar noch weiter entfernt. Aber ich las Stolz und unerschütterliche Selbstsicherheit in ihren Blicken.

Zeit für meine Antwort! Ich warf den Bergstock, den ich mir im Tal von einem Nussbaum geschnitten hatte, ruckartig weg. Dann ging ich einfach weiter auf sie zu, gemäßigten Schrittes, aber zielsicher.

Die zwei jungen Krieger ganz rechts hatten sich schon bereitgemacht, mir vom Hang herab den Fluchtweg abzuschneiden. Jetzt zögerten sie überrascht. Ich stieg weiter bergan, die Augen fest auf den Anführer gerichtet. Meine Füße fanden ihren Weg um Geröll und Kies mit jener blinden Sicherheit, die man nur hat, wenn man sie zum Überleben braucht.

Der Anführer wartete gespannt, den Speer unbeweglich erhoben. Der Bergwind spielte mit den Fransen seines Kopftuches und mit der charakteristischen Schultermähne der Khoramsbestie, die er als Trophäe trug. Sein nackter Oberkörper war in eine schmutzige Wolldecke gehüllt. Die Beine steckten in einer engen Hose aus verschiedensten Lederflecken, bunt bestickt mit barbarischen Szenen.

Als ich auf zehn Schritt heran war, blieb ich stehen. Den äußersten der drei auf dem Hang hatte ich gerade noch im Augenwinkel. Auch ein Ferkina konnte sich auf dem Geröll nicht bewegen, ohne dass ich es bemerkte.

Zu den Reitern hatte ich ebenfalls noch ausreichend Abstand. Auf dem bröckeligen Boden verschaffte ihnen das Pony vielleicht eine eindrucksvolle Erscheinung, bestimmt aber keinen Angriffsvorteil. Und den Speer des Anführers behielt ich genau im Auge.

Ich wollte keinen Kampf. Hier, auf ihrem ureigensten Gebiet, würde keiner fliehen. Gegen alle sechs musste ich zumindest mit einem Treffer rechnen. Und ich hatte nicht vor, meinen Aufstieg in den Raschtulswall mit einem zerschundenen Bein oder geprellten Arm zu beginnen.

Ich war mir sicher, dass das nicht ganz die menschenfremden Barbaren waren, die man mir beschrieben hatte. Die Ferkinas, hieß es, kannten nur Waffen aus Stein und Obsidian. Diese Räuber aber trugen doch einige von Ingerimms Gaben. Der metallene Dolch mochte geraubt sein, aber die Speerspitze musste erhandelt worden sein. Die Wolldecken waren eindeutig in Almada gewebt worden – vermutlich Beute aus einer Karawane. Der Anführer hatte annehmbar gutes Garethi gesprochen, wenn auch mit gutturalem Akzent. Und immerhin waren sie neugierig genug, um mich nicht in üblicher Weise ohne Warnung anzugreifen.

Mit etwas Glück hatten diese Wegelagerer wiederholten Kontakt mit der Zivilisation gehabt; auch wenn es vielleicht nur die kaiserlichen Lanzenreiter auf ihren Strafexpeditionen gewesen waren. Wenn sie vom Kaiser gehört hatten, dann – das erlaubte ich mir mit dem Selbstbewuddtsein eines Albernianers anzunehmen – mochten sie auch von mir gehört haben.

»Ich bin Raidri Conchobair, Markgraf von Winhall!«, rief ich, um den gurgelnden Bach zu übertönen. Dann fügte ich hinzu, was meistens bereits mein Gegenüber ausrief: »Der Schwertkönig.«

»Chwertkönich?«, grollte der Anführer und beugte sich noch weiter vor. »Großer Krieger«, radebrechte hilfreich der Reiter links von ihm, ehe ihn ein Blick zum Schweigen brachte. »Größter Krieger von allen«, sagte der Häuptling stolz, als spräche er von seinem Bruder, und lehnte sich zurück. Plötzlich schnellte er wieder vor – und das alles ohne Sattel – und dröhnte:

»Zeige mir!«

Ich antwortete kühl, während ich innerlich schon grinste: »Zeig du mir, dass du mir nicht glaubst!«

Sein dunkler Blick ruhte undurchdringlich auf mir, wanderte dreimal von meinem Gesicht zu den Griffen meiner Schwerter, die mir beidseits über die Schultern ragten, und zurück zu meinen Augen. Ich legte großen Wert darauf, mich nicht zu bewegen. Ich wusste, dass keiner seiner Leute weiter als einen Schritt laufen konnte, ehe ich gezogen hatte – und er wusste, dass ich das wusste.

»Raschtula!« rief er den Namen seines Mördergottes aus. Er warf das Bein über den Kopf seines Ponys und glitt zu Boden. Dabei senkte er den Speer und wickelte das rote Tuch vom Kopf. Er war unrasiert, trug die Wangen voll Ritualnarben und Ehrenmalen und die Ohren gespickt mit Zierat aus Gehörn. Mit ausgebreiteten Armen, wie ein balzender Fasan, kam er auf mich zu, den Kopf hin und her werfend, ganz der stolze Gastgeber.

»Schwertkönig!«, rief er, und seine Leute grunzten zustimmend und wickelten ebenfalls ihre Tücher ab. Auch sie trugen Gesichtszeichnungen nach altem Brauch, einige davon in Form scheußlicher Brandnarben. Wie vermutet, waren die drei Fußgänger oben auf dem Hang noch keine zwanzig und trugen nur die allgemeinen Stammeszeichen im Gesicht.

Der Häuptling steckte den Speer achtlos in ein Grasbüschel, trat vor mich und legte mir die Hände auf die Schultern. Obwohl er etwas bergan stand, reichte er mir nur bis zum Kinn. »Du alt«, beschwerte er sich und deutete auf meine grauen Schläfen. Er selbst mochte wohl um die vierzig sein.

»Ich musste alt werden, damit mein Name bis zu deinen Zelten wandert«, sagte ich langsam. Die Zelte zu loben ist immer gut bei Nomadenstämmen. Er bleckte eine Reihe brauner Zähne, warf den Kopf zurück und lachte. Ein Gemütsmensch!

In einem Schwall aus Höflichkeiten des Händlergarethi und gutturalem urtulamidischen Gebell wurde ich eingeladen. Ein klarer Fall: Er hatte der Sippe versprochen, etwas zum Abendessen mitzubringen. Nach Art aller Wilden, war es für sein Ansehen gleichgültig, ob das Mitgebrachte am Kochtopf oder im Kochtopf landete.

Wie eine graugrüne Weltenmauer erhob sich vor mir der Raschtulswall. Eine schier unüberblickbare Kette von vielen Tausend Schritt hohen Bergriesen teilte den Kontinent. Sie lag verborgen hinter kaum kleineren Vorgebirgen mit Hunderten von unerforschten Gipfeln und Tälern. Rings um mich erstreckten sich die Ausläufer, durch die ich seit beinahe einer Woche wanderte. Andernorts hätten die Menschen sie noch immer als Gebirge bezeichnet.

Doch diese gigantische Bergwildnis aus grauem und grünem Marmor und gelbgesprengeltem Obsidian war nicht für Menschen gemacht. Der Raschtulswall war ein Monument aus der Urzeit der Schöpfung.

Den ältesten Sagen zufolge war der gesamte, fünfhundert Meilen reichende, Gebirgszug das Ruhelager, wenn nicht der Leib selbst des gefallenen Giganten Raschtul. Jener größte der Urriesen, Stammvater aller Trolle, hatte dereinst in der Gigantenschlacht um die Herrschaft über die Schöpfung gekämpft. Unverwundbar war sein marmorner Leib gewesen. Erst der Kriegsgöttin Rondra war es gelungen, ihn mit ihrem Blitzschwert niederzustrecken.

Dieser Gedanke war es, der seit Tagen in mir pochte, der mit jedem Schritt, mit dem ich mich dem Leib des Sumusohnes näherte, anwuchs, zu einem Gefühl alleserfüllender Ehrfurcht. Denn unter all den Sterblichen Aventuriens war ich einer der ganz wenigen, denen es vergönnt war, sie gesehen zu haben: die göttliche Löwin, die Donnernde, die Himmlische Kriegsherrin Rondra. Wohl keinem anderen hat sie ihre Gnade so offen und deutlich erwiesen.

Erst vor wenigen Monaten hatte ich die Nachricht erhalten, dass man mir in der Ruhmeshalle zu Arivor eine Säule errichtet hatte, inmitten der hundert anderen Helden, deren Namen seit über zweitausend Jahren bewahrt werden. Man hatte auch nicht vergessen, hinzuzufügen, dass ich erst der dritte sei, der diese Ehrung zu Lebzeiten erfahren durfte.

Drei Kaiser hatten mich mit Orden und Würden bedacht. Der König von Albernia, den ich meinen Freund nennen durfte, hatte mich zum Markgrafen gemacht. Aber all das war nur weltlicher Glanz, der dem Kind in mir schmeichelte, nicht aber dem Mann.

Denn der Mann in mir wusste, dass Rondra selbst ihn auserwählt hatte. Ich war gerade erst zwanzig geworden, als ich das Donnersturm-Rennen gewann. Jener heiligster aller rondrianischen Wettstreite wird nur einmal im Vierteljahrhundert ausgetragen. Mein Preis war wie seit Jahrhunderten der Donnersturm selbst gewesen: ein Streitwagen aus Gold und Eternium, von vier unsterblichen Rossen gezogen – das Fahrzeug der Sturmgöttin selbst.

Ich mag wie alle Albernier zu großen Worten neigen, aber die Lüge ist mir fremd. Ich kann beschwören, dass diese Leihgabe Rondras bei jedem Gewitter aus meinem Stall verschwand. Danach erschien der Wagen wieder, glühend und tropfend, die Pferde dampfend und schnaubend, von einer heiligen Aura umstrahlt, die mich jedesmal wieder in die Knie zwang.

Fünfundzwanzig Jahre lang hatte ich Wagen und Gespann bewahrt, ehe ich sie traditionsgemäß weitergab an den Sieger des nächsten Rennens. Ich hatte den Donnersturm in der Tausend-Oger-Schlacht und bei anderen würdigen Anlässen gefahren und wusste um seine überirdischen Fähigkeiten.

Bisweilen, wenn der rondrianische Geist über mich kam, war ich imstande zu glauben, dass dieser Streitwagen im wahrsten Sinn des Wortes der Donnersturm war, mit dem Rondra über den Himmel fährt; dass das funkensprühende Donnern der Räder unter mir und das Brausen und Rauschen um mich herum das gleiche waren, was, durch Rondras Macht tausendfach verstärkt, Millionen Aventurier bei jedem Gewitter hörten.

Aber nun, da ich vor dem Raschtulswall stand, stieß ich an die Grenzen meines Glaubens. Nicht in meinen kühnsten Gedanken konnte ich mir vorstellen, was die Sage berichtete: Raschtul, fünfhundert Meilen groß aufragend, das Haupt so nahe an der Sonne, dass es kahl gebrannt war, zog mit Dutzenden seiner Brüder gegen Alveran, die Zitadelle der Götter. Dann tobte in Rondrikan und Donnersturm – in eben jenem Donnersturm – die Kriegsgöttin über den Himmel heran. Sie fällte den Giganten mit einem Blitzschlag, so gleißend, dass Hunderte von sterblichen Trollen ringsum das Augenlicht verloren.

Raschtul jedoch war noch nicht tot. Wohl lag sein Haupt unten am Rande der Khomwüste, und blutrot entsprang der Mhanadi daraus. Aber es hatte die ganze Macht Borons gebraucht, den Schlaf der Götter über Raschtul zu legen, auf dass er sich nicht mehr erhob.

Seit Äonen lag er nun da, gefällt von seinem Hochmut, vielleicht auch nur vom Recht des Siegers. Niemals schmelzender Schnee bedeckte seine Schultern. Urtümliche Eibenforste und zerzauste Lärchenwälder wuchsen auf seinen Seiten. Adler, Luchse, ja sogar Drachen jagten auf seinem Rücken.

Da und dort wühlten sich sogar Menschen und Zwerge in seine Flanken und brachen schimmernden Marmor, gebänderten Achat und glitzernden Obsidian aus seiner schier unerschöpflichen Masse. Ich fragte mich, ob er all das bemerkte. Was hielt er davon? Und ob sein abgeschlagenes Haupt wohl träumte?

Ich fragte mich auch, was die Ferkinas darüber wussten, die nun rings um mich schweigend durch die Bergwildnis zogen. Grimmig und stolz waren ihre Mienen. Denn natürlich war Raschtula, der Abgott, zu dem sie kaum zu beten wagten, niemand anderer als der Gigant, auf dem sie lebten.

Während wir über einen kaum sichtbaren Saumpfad leicht bergan zogen, nutzte ich vorsichtig die Gelegenheit, mir die Bergbarbaren näher anzusehen. Es gab nicht viele Aventurier, die lebende Ferkinas gesehen hatten und das selbst überlebt hatten.

Sie waren klein, drahtig, unrasiert, mit scharfen Gesichtszügen und den blitzenden Augen wilder Tiere. Ihre Ritualnarben waren, wie ich gehört hatte, mit Obsidian oder Eis in die Haut geritzt oder mit glühenden Steinchen eingebrannt worden.

Bekleidet waren sie mit engen Hosen und festen Schuhen aus verschiedensten Lederflecken von Ziege, Esel und Höhlendrache. Über den nackten Oberkörpern trugen sie, mehr Schmuck denn Kleidung, Wolldecken oder Felle.

Mich fröstelte bei dem Anblick. Obwohl Hochsommer war, blies hier oben ständig der Beleman. So warm er unten im Yaquirtal war, so firunisch kalt machte er die Bergluft.

Vor mir hieb der Häuptling seinem urtümlichen Zottelpony die Fersen in die Seiten und trieb es mitleidlos bergan. Ich war mir sicher, dass die Ferkinas ihre berggängigen Tiere hemmungslos verspeisten, wenn sie einmal kein Jagdglück hatten.

Die menschenfeindliche Bergwildnis und ihre Vergangenheit hatten sie so hart und grausam gemacht. Ich hatte mit Tulamiden gesprochen, die als Ureinwohner des Kontinents mehr über seine Vorzeit wussten. Sie hatten behauptet, dass zumindest das Land der Ersten Sonne vor Jahrtausenden nicht von Menschen, sondern von Sultansechsen, Leviatanim, Schlangenmenschen und ähnlichen Rassen beherrscht worden war. Damals mussten sich die Ferkinas im Gebirge verstecken, in Gebieten, die so kalt waren, dass selbst die unheilige Magie der Echsen sie nicht mehr erreichte.

Wie auch immer: Die Ferkinas galten als äußerst blutrünstig und tollkühn bis zum Wahnsinn. Auf der nordwestlichen Seite des Raschtulswalles waren sie der Schrecken der Einödbauern und Hirten. Mindestens einmal in jedem Jahrzehnt mussten die Kaiserlichen eine Strafexpedition ausrüsten.

Vor allem aber die Tulamiden auf der anderen Seite des Gebirges litten unter den ständigen Überfällen der Bergbarbaren. Wenn sie sich auf eine Karawane stürzten, metzelten sie nicht selten im Blutrausch auch noch Kamele und Pferde nieder. Gefangene machten sie überhaupt nur, um sie zu verschleppen und zu Tode zu foltern. Was sie allerdings mit ihren Gästen taten, noch dazu während der fünf Namenlosen Tage, darüber war nichts bekannt …

Nach einer Dreiviertelstunde hatten wir einen Sattel zwischen den schroffen Abhängen erreicht. Nun wandten wir uns wieder bergab. Wir waren hier jenseits der Baumgrenze, wo nur noch der Felsbrecher und bunte Flechten gediehen.

Aber das Tal vor mir war wie so viele zuvor, die ich durchquert hatte. Es war von urtümlichen Wäldern bedeckt, die so hoch hinaufreichten, wie ihnen Atem blieb. Zwischen den uralten Eiben und den mächtigen Zedern schien es nicht geheuer: Nebelschwaden zogen aus den hinteren Bergtälern. Die dumpfe, fast greifbare Stille wurde zuweilen von Schreien zerrissen, die weder von Tier noch von Mensch zu stammen schienen. Zuweilen hastete ein erschreckter Rehbock vorbei, oder ein Auerhahn flog laut purrend auf.

Unermüdlich ging es weitere eineinhalb Stunden talwärts. Vorbei an steinernen Brücken, nur von den Mächten Satinavs und den Elementen gemeißelt, und an Felsformationen, die wie Mäuler und Fratzen wirkten. Zusehends gediehen wieder einzelne Lärchen und Zirbelkiefern. Über uns flimmerte der Schnee unter sengender Sonne, unter uns verlief der Waldrand.

Dann tauchte vor uns das Lager auf, ausreichend für eine fünfzigköpfige Sippe. Es war ein halbes Dutzend einfacher Zelte mit bunten Stickereien, die grausige Marterszenen zeigten. Sie waren über und über mit Idolen behängt, Götzenbildern, Fetischen und Masken. Ringsum rupften die Tiere das karge Almgras: Mherwedböcke, Langohrschafe, Esel, Ponys und sogar drei mächtige Rashduler Drehhörner.

Mit gurgelndem Kriegsgeheul stürmten uns die Frauen und Kinder entgegen. Alle waren sie klein, braunhäutig und schmutzig. Alle hatten sie diesen schwarzäugigen Mörderblick. Die Frauen, einige davon durchaus hübsch, trugen in Ohrläppchen, Nasenflügeln und sogar Wangen Stücke der gedrehten Stierhörner, kleine Quarze und ähnliche Halbedelsteine.

Die ganze Sippe brabbelte durcheinander. Ihre Sprache war ein herrisches, dumpfes Gurgeln, kaum erahnte ich einige tulamidische Worte.

Aber es war klar, dass der Häuptling mich vorzeigte. Schlechte Zähne grinsten mich an. Als ich zurückgrinste, wurden sie mutiger. Sie zupften an meinem Waffenrock. Besonders bestaunten sie die Einsätze aus weißem Hirschleder. Sie tuschelten ehrfürchtig angesichts der Unmengen von Metall auf meinem Rücken, die ich in Gestalt meiner Schwerter trug.

An mich selbst wagten sich zunächst die alten Hexen, dann auch einige jüngere Weiber. Sie strichen mir ungläubig über die Haut, die ihnen trotz aller Narben und trotz der Bräune wie makelloser Alabaster erscheinen musste.

Einige der weiblichen Blicke glitten eindeutig tiefer, gefolgt von Kichern oder glutvollen Blicken. Ich versuchte gleichmütig zurückzuschauen, schielte aber gleichzeitig nach den Männern. Die standen etwas abseits und diskutierten ebenfalls meine Qualitäten.

Nicht abweisend wirken, sagte ich mir, aber auch nicht zu offen. Ich hatte keine Ahnung, welche Bräuche diese Barbaren pflegten. Bei manchen Wilden durfte man die Frauen nicht einmal anschauen, bei anderen bekam man als Gast für die erste Nacht gleich einen ganzen Harem.

Bald zeichnete sich ab, dass es sich um einen Mittelweg handelte, der auch nicht selten war: Man versuchte mich an die schönste der Jungfrauen zu verheiraten. Wilde müssen jede Gelegenheit nutzen, ihre Kopfzahl zu vergrößern und ihr Blut aufzufrischen.

Duncha hier, Duncha dort, hieß es die ganze Zeit. Die Angesprochene stand da, umringt von unanständigem Gelächter, und schwankte zwischen Koketterie mit dem Schwertkönig und Angst vor dem blutlosen Ungetüm.

Sicherheitshalber machte ich, was jeder Junggeselle in so einer Lage tut: Ich verdrückte mich zu den Männern. Ich trat zum Haran, wie man den Häuptling nannte, und legte ihm die Hände auf die Schultern, wie er es getan hatte.

Dann kratzte ich mein Fasarer Bazartulamidisch zusammen und lobte seine prächtigen Herden, seine kräftigen Brüder und seine vielen Frauen – in dieser Reihenfolge. Er war geschmeichelt wie alle Orientalen, warf den Kopf wieder hin und her und eröffnete die Feier.

Man schlachtete einen Esel und steckte ihn auf einen mächtigen Spieß. Es war die Ehrung eines Gastes, dem man nicht bloß Bock oder Langohrschaf anbieten konnte. Auf einem zweiten Feuer stand ein Kessel voll siedendem Schmalz.

Die Frauen servierten Hufe voll euterwarmer Milch von Bock, Esel und Pony, gemischt mit dem warmen Blut des Esels. Dazu reichten sie Schläuche mit dem gleichen Inhalt, aber bereits gärend und berauschend. Der halbranzige rötliche Käsequark, der folgte, hatte vermutlich den gleichen Ursprung.

Außerdem gab es irgendein gehäckseltes Rauschkraut, das man unzenweise in die Nase stopfen musste, damit es Wirkung zeigte. Übrigens blieb das die einzige Art, pflanzliche Produkte zu sich zu nehmen.

Während wir um die zwei Feuer saßen, machte ich mir langsam ein Bild von dem Leben dieser Menschen. Vermutlich gehörten sie zu den Shai’Aian, dem größten Stamm des Raschtulswalles. Aber schon mit den meisten Sippen ihres Stammes lebten sie in Blutfehde.

Die Blutlosen im Tal waren ihnen so widerlich, dass sie sie nur mit Kopftuch angreifen konnten. Dass sie mir ihre Male gezeigt hatten – ein sternförmiger Schnitt für jeden getöteten Feind –, sei eine große Ehre, grunzte der Haran.

Immer deutlicher dämmerte mir, dass sie die Leute im Tal für Kaltblüter hielten. Anscheinend hatten sie uralte Überlieferungen über dämonische Echsenwesen nach deren Aussterben einfach auf alle anderen Menschen übertragen – obwohl viele davon ihre eigenen ausgewanderten Nachfahren waren.

Ihre ganze Kultur wurde vom Kampf bestimmt. Sie glaubten unerschütterlich daran, dass nur jener im Tode Frieden fände, der das ihm zugedachte Maß an Kampf und Qualen bereits zu Lebzeiten erlitten habe. Irgendwie bemühten sich die armen Ferkinas eigentlich nur, für einen kurzen Moment die Aufmerksamkeit der Götter zu erhaschen, ob sie sich nun in aussichtslose Kämpfe stürzten, ihre Folteropfer zum Himmel schreien ließen oder sich – wie sie es nun zusehends taten – vollgestopft mit vergorener Milch und Rauschkraut in Borons Arme warfen.

Inzwischen standen die Sterne am Firmament, das Feuer loderte prasselnd. Um mich grölten die Ferkinas merkwürdige textlose Lieder. Sie rissen halbrohe Stücke aus dem Eselbraten, tanzten zwischen den Zelten und schleuderten ziellos Steine in die Finsternis.

Auch der Haran war kaum noch bei Verstand. Er saß mit schwankendem Oberkörper im Schneidersitz da, grinste mich glücklich an und kippte bisweilen beinahe ins Feuer.

Die Frauen nutzten die Gelegenheit, um sich ihrerseits vom Fleisch zu holen. Die älteren griffen auch nach den Schläuchen, Hufen und Hörnern und leerten sie unter ständigem Keifen und Streiten. Wo immer sie Rauschkraut fanden, schnupften sie es, bis es ihnen beinahe zu den Ohren herauskam.

Als es dann rings um uns leiser wurde, weil ein Mann nach dem anderen liegenblieb, wurden die Frauen etwas vergnügter. Über das Lagerfeuer sah ich mehr als einen eindeutigen Blick, und nicht nur von der hübschen Duncha.

Ich überlegte kurz, ob ich mich auf eine womöglich recht wilde Angelegenheit einlassen wollte. Ich bin ja nun ein Mann, der Rahjas Ruf stets und willig folgt. Aber hier wäre das wirklich unvernünftig gewesen. Ich hatte keine Ahnung, welche Ansprüche eine Frau nach einer Nacht stellen konnte – oder ihr Ehemann. Im dümmsten Fall hätte ich morgen einen tobsüchtigen Stamm Ferkinas am Hals.

Daher erinnerte ich mich geflissentlich daran, dass ich hundemüde und außerdem schon deutlich über fünfzig Jahre alt war. Die magische Luft Aventuriens hält einen Helden wirklich jung. Aber nachdem ich eine Woche Bergmarsch hinter und noch einige Tage vor mir hatte, war etwas Nachtruhe wirklich angesagt.

Also gähnte ich unüberhörbar und ging zum Zelt des Harans, das heute nacht wohl ohnehin leer bliebe. Denn der Häuptling war endlich hintüber gekippt und schnarchte himmelwärts.

Auch mein Blick glitt zum Sternenzelt. An der höchsten Stelle des Zwölfkreises stand die Leere, die der Namenlose Gott zwischen Gesetz und Leidenschaft gesprengt hatte: Praios’ Greif und Rahjas Stute. Ich schmunzelte: Da behaupte einer, die Sterne gäben keine Antwort. Heute nacht wollte ich mich an Praios halten und Rahja vermeiden, um nicht in die Namenlose Leere zu fallen …

Farmosch Sohn des Fanderam:

Angroschs Hammer! Plötzlich greifen sie an. Ich lasse die Druse mit dem wunderschönen weiß-, braun- und blaugebänderten Achat und den Hammer fallen.

Sie stürmen vom Sattel herunter, den ich eben überquert habe. Zwei traben auf mich zu, das zahnstarrende Maul aufgerissen, fauchend und dämonisch heulend. Schon liegt die Eisenwalder in meiner Faust. Der Geißfuß rastet ein. Eine dritte Bestie hetzt rechter Hand herunter, will mich umgehen.

Nichts da! Der harte Holzgriff aus almadanischem Goldregen ruckt herum, ich lege an. Herrlich singt der Federbogen aus Zwergenstahl. Der Bolzen bohrt sich in die schwarzgelb gescheckte Flanke des Raubtieres, das sich jaulend überschlägt.

Khoramsbestien! Eine vierte jagt auf der anderen Seite heran. Auch die beiden Heuler in der Mitte sind auf fünfzehn Schritt heran. Einen Schritt hoch, schnell wie Wildhunde, Kiefer wie eine Bärenfalle.

Farmosch Sohn des Fanderam hingegen ist ein hilfloser Zwerg. Ich stütze die Eisenwalder auf die Hüfte. Der Geißfuß gleitet quengelnd zurück, spannt den Federbogen und lässt den nächsten Bolzen in die Führungsrinne fallen.

Noch zehn Schritt! Keine Zeit anzulegen. Ein Schuss aus der Hüfte, knapp am Schädel vorbei, verschwindet in der Schultermähne. Die Bestie taumelt gegen ihre Begleiterin, bleibt zurück. Der zweite Heuler geht aus dem Trab in den Sturm über. Der Greifer zu meiner Linken kommt in Riesensprüngen heran. Noch einmal nachladen. Braucht etwas Kiefernöl, mein Schatz.

Zu langsam! Schon fliegt der Greifer heran. Mein Ellbogen ruckt hoch, siebzig Stein Zwergenmasse stoßen hinterher. Messerscharfe Zähne gegen feinstes Kettenwerk. Ich spüre einen Zahn durch die Ringe dringen. Der Stoß ist gewaltig, aber einen Angroschim wirft man nicht leicht um.

Nun gut! Der letzte Schuss für den letzten Angreifer. Der Greifer zerrt an meinem Arm. Der Heuler kommt auf zwei Schritt heran. Da fährt ihm der Bolzen genau in das aufgesperrte Maul. Er ist tot, bevor er zu meinen Füßen aufschlägt.

Weg mit der Eisenwalder. Jetzt den Lindwurmschläger, dessen Blatt griffbereit neben meinem Fuß im dünnen Erdreich steckt.

Hat sich was mit dem Beil! Die Bestie an meinem Ellbogen reißt und zerrt. Ich stemme mich dagegen. Nun kommt von rechts der erste Heuler fauchend heran. Seine Schultermähne ist blutig, aber seine Zähne blecken.

Wahrlich, die Väter haben mir erzählt, sie seien die bösartigsten Raubtiere, die es so gibt. Vor allem während der Namenlosen Tage zwischen Brautmond und Sommermond, wenn Angrosch verwirrt und geschwächt ist.

Ich reiße den Drachenzahn aus dem Gürtel, halte ihn mir mit waagerecht angewinkeltem Arm zum Stich vor den Hals. Das verletzte Raubtier kauert, duckt und lauert. Ich warte unbeweglich, soweit das mit einem tobenden Mordviech am anderen Arm möglich ist.

Wahrlich, Geduld ist eine der Neun Tugenden der Erzzwerge. Farmosch Sohn des Fanderam kann warten. Die Khoramsbestien auch. Oben auf dem Sattel kreist der erste Geier. Hier ist eine andere Tugend gefragt: Erfindungsreichtum.

Als der Greifer das nächstemal alle vier Pfoten einstemmt und an meinem Ellbogen reißt, halte ich nicht dagegen. Stattdessen werfe ich mich auf ihn und bringe ihn unter mich. Wenn ein Wolf einmal gebissen hat, kann er nicht mehr loslassen. Ich zwinge seinen Kopf zu Boden, auch wenn sich mir der Reißzahn in den Knochen gräbt.

Endlich springt der angeschossene Heuler. Ein liegender Gegner ist eine unwiderstehliche Einladung. Mein Dolch, aufs Äußerste verdreht, bohrt sich ihm von unten in die Kehle. Das Gebiss schnappt vor meiner Nase zu. Atem voll faulem Fleisch und Blut schlägt mir ins Gesicht. Aber es ist das Blut der Bestie, die auf Farmosch Sohn des Fanderam zu liegen kommt und verröchelt.

Das letzte Untier unter mir kämpft verzweifelt. Kräftige lange Läufe stoßen nach mir. Kurze Hundekrallen kratzen über mein Kettenhemd. Mit einem Ruck des Drachenzahns stoße ich das andere Viech von mir hinunter. Die Bestie im selbstgelegten Würgegriff ahnt ihr Ende, zappelt mit aller Kraft. Dann stößt der Dolch in die gestreckte Kehle.

Ich brauche den Meißel, um den Biss der toten Bestie zu brechen. Aber ein Angroschim verlässt nicht ohne Werkzeug die Kammer. Genau besehen war das ja auch der Anlass des Überfalls.

Die Mordviecher sind schon seit etlichen Stunden hinter mir hergeschlichen. Als ich kurz hinter dem Sattel die herrliche Druse mit dem Achat finde, kann ich nicht widerstehen, sie zu öffnen. Da sehen die vier Wildhunde ihre Gelegenheit.

Ich sammle Waffen, Bolzen und Werkzeug ein, und suche mir eine schattige überhängende Stelle am Fuß eines der graugrünen Türme. Während am Sattel Schwarzgeier und Raben kreisen, versorge ich die Bissstelle.

Das Kettenhemd ist unbeschädigt, meine golddurchwirkte schwarze Edelfilzhose hat einige Risse. Die Wunde ist ein fingerkuppentiefer Krater. Angroschim erkranken selten an Wundfieber, aber bei diesen Aasfressern schlucke ich sicherheitshalber etwas Traschbart, eine pulverisierte Flechte.

Dann untersuche ich meine Eisenwalder. Sie hat Kampf und Wegwerfen gut überstanden. Wie versprochen öle ich den Geißfuß meiner treuen Gefährtin. Ich kenne ihre kleinen Wehwehchen – immerhin habe ich die Repetierarmbrust selbst erfunden.

Ich nehme einen Schluck Ferdoker aus dem Schlauch und schiebe einige getrocknete Pilze hinterher. Mein Marsch ins Land des Drachen hat vielversprechend begonnen.