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Bettina Kluge

Identitätskonstitution im Gespräch:
Südchilenische Migrantinnen in Santiago de Chile

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Lengua y Sociedad en el Mundo Hispánico
Language and Society in the Hispanic World

Editado por / Edited by:
Julio Calvo Pérez (Universitat de València)
Luis Fernando Lara (El Colegio de México)
Matthias Perl (Universität Mainz)
Armin Schwegler (University of California, Irvine)
Klaus Zimmermann (Universität Bremen)

Vol. 13

Bettina Kluge

Identitätskonstitution im Gespräch:

südchilenische Migrantinnen in
Santiago de Chile

Iberoamericana • Vervuert • 2005

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Diseño de la portada: Michael Ackermann

Fotografía: Bettina Kluge

ISBN 84-8489-192-5 (Iberoamericana)

ISBN 3-86527-152-9 (Vervuert)

 

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ISO 9706

Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

0Einleitung

0.1Fragestellung

0.2Ziele der Arbeit

0.3Die Feldforschungen in Santiago de Chile und Paillaco

0.4Methodik

0.5Aufbau der Arbeit

I.Theorie

1Sprachwissenschaftliche Untersuchungen der internen Migration: ein Forschungsüberblick

1.1Methodische Probleme der sprachwissenschaftlichen Migrationsforschung

1.1.1Wer wird untersucht?

1.1.2Wo wird untersucht?

1.1.3Welche Erhebungsmethode wird gewählt?

1.1.4Welche Varietäten werden untersucht?

1.2Interne Migration und sprachliche Variation

1.2.1Bortoni-Ricardo (1985)

1.2.2Kerswill (1994)

1.2.3Barden/Großkopf (1998)

1.2.4Diskussion

1.3Interne Migration und Kommunikationskultur

1.3.1Werlen (1998)

1.3.2Diskussion

1.4Stadtsprache – Landsprache

1.5Moderne Stadt versus traditionelles Land?

2Land-Stadt-Migration und die Arbeit als Hausangestellte

2.1Der 'Sonderfall' der weiblichen Migration

2.1.1Sozialpsychologische Ansätze

2.1.2Haushaltstheoretische Ansätze

2.2Die Lebenswelt der Hausangestellten

2.2.1Hausangestellte – gestern und heute

2.2.2Empleada: ein Arbeitsmodus für Migrantinnen

3Identitätskonstitution und Individualisierung in der Migration

3.1Individualisierungsprozesse als Ausgestaltung der Moderne

3.1.1Ulrich Beck: Das 'eigene leben'

3.1.2Individualisierungstendenzen in Chile

3.1.2.1Armutsindividualisierung und symbolische Teilhabe

3.1.2.2Valdés/Araujo (1999): vida privada

3.2Identität in der Zweiten Moderne: Das 'eigene reden'

3.2.1Kohärenzzumutungen der Zweiten Moderne: Kraus (1996, 2000)

3.2.3Identititätskonstitution im Sprechen, Zimmermann (1992)

3.2.2.1Identitätsbeschädigung als negative Identitätskonstitution

3.2.2.2Strukturell bedingte Identitätsbeschädigung

3.2.3Zusammenfassung: Identität und Kohärenz

3.3Identität und Identitätskonstitution im Gespräch

3.3.1Identitätskonstitution auf der phonetischen und morpholexikalischen Ebene

3.3.2Identitätskonstitution mittels Kategorisierungsverfahren

3.3.3Identitätskonstitution mittels Narration

3.3.4Identitätskonstitution mittels Stilisierung

3.4Individualisierung und Identitätswandel in der Migration der Hausangestellten

3.5.Ich-Identität und die soziale Identität als Hausangestellte

II.Die Feldstudien von 1995 und 1998

4Ethnographische Darstellung von Paillaco

4.1Allgemeine Darstellung

4.1.1Historische Entwicklung der comuna Paillaco

4.1.2Wirtschaftliche Entwicklung Paillacos

4.2Einbezug in das nationale Modernisierungsprojekt

4.2.1Urbanisierung und Infrastruktur

4.2.2Bildungssystem

4.2.3Gesundheit

4.2.4Medien

4.3Der kommunikative Alltag in der comuna Paillaco

4.3.1Innerfamiliäre Kommunikation

4.3.2Kommunikation zwischen Frauen und Männern

4.3.3Fehlende Streitkultur in den Institutionen

4.3.4Kommunikative Unterschiede zwischen Paillaco und den ländlichen Sektoren

4.3.5Zusammenfassung und Bewertung

4.4Einstellungen zu Paillaco vor der Migration

5Ethnographische Darstellung von Santiago de Chile

5.1Allgemeine Darstellung

5.1.1Historische Entwicklung Santiagos

5.1.2Santiago de Chile heute

5.2Die Sicht der Migrantinnen auf Santiago

5.2.1Die ersten Tage nach der Migration

5.2.1.1Unkenntnis Santiagos bei der Ankunft

5.2.1.2Einsamkeit am Arbeitsplatz

5.2.1.3Eingewöhnung in den Arbeitsalltag

5.2.2Suche nach dem buen trato

5.2.3Mittel- und langfristige Adaption an urbane Normen

5.2.3.1Aufbau eines eigenen sozialen Netzwerks

5.2.3.2Erleben der Bewohner von Santiago

5.2.3.3Erleben der Stadt und ihrer Viertel

5.2.4Instituto Luisa Cardijn

5.3Unterschiede im Erleben von Stadt und Land

5.3.1Wetter und Klima

5.3.2Ernährung

5.3.3Ansprüche an Hygiene

5.3.4Ansprüche an das ästhetische Empfinden

5.3.5Körperempfinden

5.3.6Zeit- und Raumempfinden

5.3.7Einbindung in die Welt des Geldes

5.3.8Empfinden von persönlicher Sicherheit

5.4Der kommunikative Alltag der asesoras in Santiago

5.4.1Während der Arbeitswoche

5.4.2Am freien Tag

5.4.3Kontakt nach Südchile im kommunikativen Alltag

5.4.4Ausbrechen aus dem Alltag: Ferien in Südchile

5.5Der freie Tag: Ein Nachmittag mit Laura

5.6Einstellungen zu Santiago vor und nach der Migration

5.6.1Einstellungen zu Santiago vor der Migration

5.6.2Einstellungen zu Santiago nach der Migration

5.7Zusammenfassung der wahrgenommenen Veränderungen und identitäre Auswirkungen

III.Materialanalysen

6Die familiale Identität in den biographischen Erzählungen

6.1Die Nichtmigrantinnen

6.1.1Fallstudie 1 (Mirta und Carolina): Zurückgelassen im campo

6.2Die Migrantinnen

6.2.1Fallstudie 2 (Laura): Arbeiten für das uneheliche Kind in Südchile

6.2.2Fallstudie 3 (Roxana): Heirat in Santiago

6.2.3Fallstudie 4 (Irina): Wechsel in einen anderen Beruf

6.2.4Fallstudie 5 (Sra. Olga): la vieja nana de siempre

6.2.5Fallstudie 6 (Sra. Marisa): Trennung vom Partner

6.3Die Rückkehrerinnen

6.3.1Fallstudie 7 (Sra. Alejandra): Heirat im Süden

6.3.2Fallstudie 8 (Carla): Rückkehr aus Heimweh

6.3.3Fallstudie 9 (Mónica): Rückkehr aus familiären Gründen

6.4Diskussion

7Die regionale Identität als 'sureña' und 'campesina'

7.1Der chilenische Süden: Abgrenzungsversuche

7.2'sureña' als Eigen- und Fremdkategorisierung

7.2.1Fremdkategorisierung als 'sureña'

7.2.2Eigenkategorisierung als 'sureña'

7.2.2.1Raquel: 'sur' als geographische Orientierung

7.2.2.2Laura: 'sureña' und 'la gente sureña/del sur'

7.3'Campesina/gente del campo' als Eigen- und Fremdkategorisierung

7.3.1Fremdkategorisierung als 'huaso'

7.3.2Eigenkategorisierung als 'gente del campo'

7.3.3Eigen- und Fremdkategorisierung als 'de provincia'

7.3.4Zusammenfassung

7.4Die Ethnisierung des Arbeitsmarktes: Fremdkategorisierungen als 'sureñas', 'chilenas' und 'peruanas'

8Die soziale Identität als Hausangestellte in Santiago

8.1Die Identität sichernde Strategien

8.1.1Rolleninszenierung

8.1.2Rollendistanz

8.1.3Rollendevianz

8.1.4Kompensationsrolle

8.1.5Rollenwechsel

8.2Die Kategorisierung als 'asesora', 'empleada' oder 'nana'

8.2.1Fremdkategorisierung als 'asesora', 'empleada' oder 'nana'

8.2.2Eigenkategorisierung als 'asesora', 'empleada' oder 'nana'

8.2.3Weitere Eigenkategorisierungen: 'estar/trabajar en una casa'

8.2.4Die komplementäre Fremdkategorisierung der Arbeitgeberin

8.2.4.1Fremdkategorisierung als 'patrona' und 'jefa'

8.2.4.2Fremdkategorisierung durch implizite Nennungen

8.2.5.Zusammenfassung Kategorisierungsverfahren

8.3Das Anredeverhalten zwischen Arbeitgeber und Hausangestellter

8.3.1Anrede der Arbeitgeber durch die Hausangestellte

8.3.2Anrede der Hausangestellten durch die Arbeitgeber

8.3.2.1Anrede mit tuteo

8.3.2.2Anrede mit voseo

8.3.2.3Anrede mit usted

8.3.2.4Fazit der Analyse der Anredeformen

9Der Wandel in der kommunikativen Kompetenz

9.1Die superación personal als Ergebnis der erweiterten kommunikativen Kompetenz

9.1.1Positiv beurteilter Persönlichkeitswandel

9.1.2Grenzen des Persönlichkeitswandels

9.2Veränderungen der kommunikativen Kompetenz

9.2.1Erweiterte Medienkompetenz: Das Telefonieren

9.2.2Ausdehnen des kommunikativen Aktionsradius

9.2.3Größere Direktheit im Umgang miteinander

9.3Arbeitskonflikte und ihre Darstellung im Gespräch

9.3.1Lohnerhöhung

9.3.2Streit mit der Arbeitgeberin und/oder der Kollegin

9.3.2.1Streit mit den patrones

9.3.2.2Streit mit der compañera de trabajo

9.3.3Entlassung oder Wechsel in ein anderes Haus

9.3.3.1Laura: Die Stilisierung zur guten Mutter

9.4Sprachwandel durch die Rückmigrantinnen?

10Zusammenfassung, Fazit und Ausblick

IV.Anhang

Bibliographie

Kartenmaterial

Verzeichnis der verwendeten Aufnahmen

Anmerkungen zum verwendeten Transkriptionssystem

Glossar der verwendeten Chilenismen

Dankeschön…

Diese Arbeit ist eine leicht gekürzte Version der Dissertation, die ich im Mai 2002 an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld eingereicht habe. Die Bibliographie wurde teilweise um seit diesem Zeitpunkt erschienene Literatur aktualisiert und ergänzt, jedoch nicht mehr in systematischer Form eingearbeitet.

Für das Interesse und Vertrauen in meine Arbeit und die vielen guten Ratschläge danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Reinhard Meyer-Hermann sowie den Zweitkorrektoren PD Dr. Ulrich Dausendschön-Gay und Prof. Dr. Klaus Zimmermann. Im Graduiertenkolleg 'Dynamik von Substandardvarietäten' der Universitäten Heidelberg und Mannheim, in dem ich als extern Assoziierte Gaststatus genoß, fand ich viele interessierte Zuhörer. Mein Dank gilt stellvertretend den beiden Sprechern des Graduiertenkollegs, Herrn Prof. Dr. Edgar Radtke und Herrn Prof. Dr. Klaus Mattheier sowie den Koordinatoren Volker Mohr und Isolde Opielka. Für die gewährte finanzielle Unterstützung bedanke ich mich bei der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft, dem Land Nordrhein-Westfalen sowie dem DAAD. Erst hierdurch wurden meine Feldforschungen in Chile überhaupt ermöglicht. Für die Unterstützung bei der Drucklegung danke ich der Prof. Dr. Hugo-Schuchardt'schen Malvinenstiftung.

Auch wenn ich sie hier nicht namentlich nennen kann, gilt mein Dank allen Gewährspersonen in Santiago und Paillaco. Ein von Herzen kommendes 'Gracias por todo' gebührt den Lehrenden des Instituto Luisa Cardijn und des ANECAP in Santiago, den Angestellten des Gesundheitsamts von Paillaco und der ländlichen Gesundheitsstationen, sowie Padre René und den ländlichen Basisgemeinden, die mich erstaunlich schnell als selbstverständliche Begleiterin ihrer Aktivitäten willkommen hießen. Für ihre großartige Unterstützung danke ich ferner Alfonso (Yayo) Byrt, Marcela Márquez, Ada Pérez, Ramona Reyes, Mary Ríos sowie den Familien Delgadillo Uribe, Morales Parra, Quezada Navarrete, Sepúlveda Díaz und Vera Márquez.

Sabine Heinemann und Rolf Kailuweit haben in einer frühen Phase einigen Kapitelentwürfen mit ihrem kritischen Blick gutgetan, Sabine Klaeger und Eva-Katrin Müller später fertige Kapitel Korrektur gelesen. Eva-Katrin Müller hat sich ferner bei der Korrektur der Transkripte von Laura und Roxana verdient gemacht. Martin Hummel hat die zur Publikation überarbeitete Fassung Korrektur gelesen. Dafür bedanke ich mich ebenso herzlich wie bei denen, die mir durch ihr Einfach-nur-Dasein weitergeholfen haben: Christine Domke, Matthias Hinghaus, Lydia Juretzka, Elsbeth und Oliver Kluge und Gaby Otto. Last not least danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Romanistik der Karl-Franzens-Universität Graz für die herzliche Aufnahme einer Migrantin in der Steiermark und für die tatkräftige Unterstützung bei der sozialen und sprachlichen Akkomodation.

Kiel/Graz, im November 2004

Einleitung

In Chile arbeitet circa ein Viertel aller erwerbstätigen Frauen als Hausangestellte1 in den Häusern der Mittel- und Oberschicht, die Mehrzahl von ihnen wohnt auch dort im sogenannten puertas adentro-Modus. Viele Frauen kommen direkt aus ihren Heimatorten im ländlichen Süden Chiles in die Häuser ihrer neuen Arbeitgeber. Häufig ist dies der erste Aufenthalt außerhalb der eigenen Familie, noch dazu in einer großen, unbekannten und zuweilen angsteinflößenden Stadt mit über fünf Millionen Einwohnern. Die Frauen leben im Haushalt ihrer patrones isoliert, der Kontakt zu Familienangehörigen ist begrenzt, manche werden von ihren Arbeitgebern bewußt schlecht behandelt. Durch die asymmetrische Rollenverteilung und die rigiden Klassengrenzen wird ihre Außenseiterstellung am Wohn- und Arbeitsort weiter verstärkt.

Diese Arbeit untersucht die sprachlichen und außersprachlichen Strategien der Migrantinnen, unter diesen Arbeitsbedingungen und isoliert von ihren bisherigen sozialen Bezugspunkten ihr Selbstwertgefühl nicht zu verlieren. Im Vordergrund stehen dabei neben der erlittenen Identitätsbeschädigung (Zimmermann 1992)2 auch die Adaptionsstrategien, mithilfe derer die Frauen ihre Identität aufrechterhalten und verändern, also, welche Auswirkungen das Erleben der Migration und des Stadtlebens auf den Wandel der Ich-Identität und der kommunikativen Kompetenz von Migrantinnen haben. Insbesondere interessiert dabei, wie die Frauen ihre Erfahrungen versprachlichen und ihre Identität im Gespräch konstituieren.

0.1Fragestellung

Migration ist in der Kontakt- und Soziolinguistik häufig untersucht worden, allerdings fast immer nur der Sonderfall der aus der internationalen Migration resultierenden Bilingualität, bei dem die Migranten die Sprache des Gastlandes lernen. Relativ wenige Untersuchungen haben sich dagegen mit dem Thema der internen Migration und daraus folgender Bidialektalität beschäftigt.

Auch für Lateinamerika wird die interne Migration am ehesten in Verbindung mit nicht spanischsprechenden oder bilingualen Indígenas thematisiert. Die sprachwissenschaftliche Forschung ist dabei stark von der deskriptiven, überwiegend statistisch argumentierenden Dokumentation schichtspezifischer Sprache geprägt. Damit verschließt sie sich allerdings einer Fülle von Fragestellungen, wie sie derzeit in der Konversationsanalyse und der Interaktionalen Soziolinguistik bearbeitet werden, etwa der Erforschung der Darstellung von Identität im Gespräch oder der städtischen Kommunikationskultur. Die vorliegende Arbeit soll die Auswirkungen der Migration und des Stadtlebens auf die Identität von Migrantinnen aus dieser Sicht untersuchen.

Bei der Untersuchung der Migration ist eine Gruppe weitgehend unbeachtet geblieben, nämlich die der Hausangestellten. Zwar existiert in den Sozialwissenschaften eine weitverzweigte Literatur zum Thema der im Haushalt Dritter arbeitenden und häufig dort auch lebenden Frauen. In der Sprachwissenschaft ist eine Untersuchung beinah schon auffällig abwesend, obwohl sich bereits früh Hinweise auf die spezielle sprachliche Situation fanden, die diese Frauen erleben. So kam Rudolf Lenz zu der Einschätzung, daß die städtische Gesellschaft Santiago de Chiles zu Ende des 19. Jhs. aus fünf Gesellschaftsschichten bestand, wobei er die Hausangestellten als eine eigene soziale und sprachliche Gruppierung ansah. Er unterteilte die Bevölkerung Santiagos und ihrer Umgebung wiefolgt:

1. "Los guasos, el estrato último de la población rural, cuya pronunciación y vocabulario son los que más rasgos indígenas ofrecen." [Lenz weist ausdrücklich darauf hin, daß er wenig Möglichkeiten hatte, diese soziale Gruppe direkt zu studieren.]

2. "En la ciudad, la clase ínfima la forman los rotos, el proletariado. Ni los rotos ni los guasos saben, naturalmente leer ni escribir, y no hay, por tanto, estorbos en la evolución fonética."

3. "Individuos aislados de estos dos primeros grupos, que encuentran ocupación en la ciudad como criados y en otras funciones parecidas y tienen a menudo ocasión de oír hablar castellano: en estas mismas condiciones se hallan los oficiales de mano rurales; no es raro que sepan leer y escribir, pero tampoco es lo habitual." [meine Unterstreichung]

4. "La clase llamada aquí de medio pelo; los empleados modestos, dependientes de comercio y oficios análogos; poseen siempre alguna instrucción escolar, pero no pueden sustraerse del todo, por más buena voluntad que tengan, al dialecto vulgar."

5. "La clase social que sigue en orden ascendente corresponde a las personas que han estudiado 'gramática castellana'; en la conversación despreocupada, el lenguaje de estas gentes no se diferencia apenas del habla 'mejor' de los de medio pelo; pero si se les interroga, por ejemplo, sobre la pronunciación de una palabra, contestarán seguramente en puro español." Lenz (1940:92/93) [1893]

Zwar erfolgte Lenz' Strukturierung der Gesellschaft nach nur einem Jahr Aufenthalt in Chile, und er war stark geprägt durch den in Deutschland erhaltenen formalen, auf das Spanische der Iberischen Halbinsel ausgerichteten Unterricht. Aber auch wenn er selbst und andere Gelehrte später viele seiner früheren Thesen widerlegten oder präzisierten3, ist zumindest bedenkenswert, daß Lenz die sprachliche Situation der Hausangestellten als einzigartig darstellt und sie nicht mit dem übrigen 'Pöbel' (rotos und guasos) zusammenfaßt wie etwa sein Schüler Oroz (1966:47).

Im deutschsprachigen Raum ist der Fall der Hamburger Hausangestellten am bekanntesten, die häufig aus der ländlichen Umgebung kamen, in der Niederdeutsch die Umgangssprache war. Die hyperkorrekte Verwendung des Hochdeutschen und die Interferenzen aus dem Niederdeutschen waren bei ihnen (und anderen Migranten mit niederdeutscher L1) derart auffällig, daß ein eigener Name, Missingsch, geprägt wurde.4 Auch im Katalonien des 18. Jhs. war man sich dieses Verhaltens der Hausangestellten bewußt, ebenfalls in einer diglossischen Situation. Kailuweit (1997:130) erwähnt den Leserbrief eines Herrn P.F., der sich wiederum auf einen früheren Leserbrief bezieht, in dem der Fall eines geistig verwirrten Schuhmachers beschrieben wurde. Dieser habe nach dem Besuch einer spanischen Verwandten diejenigen Wörter, an die er sich nicht erinnerte, auf kastilisch gesagt oder sie 'kastilisiert' (z.B. carabasones statt katal.

carabasons oder kast. calabacines). Der Leserbriefschreiber P.F. relativiert nun:

…castellanizaba las palabras, llamándoles a los carabasons, carabasones, que es lo que hacen las muchachas de Collsuspina al primer día de servir en la casa de cualquiera de más allá de Fraga. [Diario de Barcelona, 18.2.1795, in: Kailuweit 1997:130, meine Unterstreichung]

Obwohl es sich im Fall der südchilenischen Migrantinnen nur in wenigen Fällen um eine diglossische Situation handelt, ist auch in meinen Feldforschungsorten Santiago und Paillaco die hyperkorrekte Aussprache der Hausangestellten häufig kommentiert worden.

0.2Ziele der Arbeit

Die eigentliche Herausforderung für die Migrantinnen aus den ländlichen Gebieten Südchiles stellt die Überwindung ihrer in Chile beinah sprichwörtlichen, häufig kommentierten 'Schüchternheit' (la timidez de la gente del campo) dar, die aus dem Umgang mit zunächst unbekannten Interaktionspartnern und - situationen resultiert. Die Adaption der Frauen an die urbane Kommunikationskultur führt zu weitreichenden Veränderungen in ihren kommunikativen Kompetenzen, insbesondere zum Erwerb einer größeren kommunikativen Flexibilität. Ein Hauptziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, daß diese Veränderungen kein isolierter Bestandteil, sondern ein zentraler Aspekt in der Wahrnehmung der eigenen Identität als Migrantinnen sind, und daß ihre erweiterten kommunikativen Kompetenzen insofern Ausdruck einer superación personal sind.

Ferner soll die Individualisierungshypothese Ulrich Becks aus sprachwissenschaftlicher Sicht hinterfragt werden, verstanden als Verlust 'traditionell' vorgegebener sozialer Rollen und die lebenslange Suche nach der eigenen Identität, dem 'eigenen leben'5 (Beck et al. 1995). Individualisierung bedeutet für den Einzelnen das Recht, aber auch die Pflicht zur Gestaltung des eigenen Lebenslaufs, zudem unter dem Eindruck der globalen weltweiten Umstrukturierungen und in Einklang mit den Erfordernissen des (Arbeits-)Marktes. Beck et al. (1995) bezeichnen die biographische Analyse als geeignete Methode zum Beleg ihrer Thesen, sie vermeinen, in einem 'aktivischen Reden' Hinweise auf die Führung eines individualisierten Lebens, mit der bewußten Entscheidung für oder gegen das Leben einer bestimmten sozialen Rolle finden zu können, insbesondere im urbanen Kontext. Das zweite Ziel dieser Arbeit ist daher zu untersuchen, inwiefern sich in den Gesprächen Spuren eines 'eigenen redens' als Anzeichen einer in der chilenischen Gesellschaft fortschreitenden Individualisierung finden lassen.

0.3Die Feldforschungen in Santiago de Chile und Paillaco

1995 führte ich eine Feldstudie im Santiaguiner Instituto Luisa Cardijn durch, einem der Hausangestelltengewerkschaft ANECAP (Asociación Nacional de Empleadas de Casa Particular) angeschlossenen Bildungsinstitut, in dem sich die Frauen an ihrem freien Nachmittag weiterbilden. Mit 20 Frauen aus dem ländlich geprägten Süden Chiles (vgl. Karte 1 mit den Herkunftsorten im Anhang) führte ich halboffene, relativ strukturierte soziolinguistische Interviews, die zwischen 30 Minuten und zwei Stunden dauerten. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde von den Frauen eine Umorientierung der Studie eingefordert: Sie nannten in beinah stereotyper Regelmäßigkeit das Problem der sprachlichen Unsicherheit in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kommunikationskulturen in Südchile und Santiago. Hierfür wurde eine weitere Feldforschung für die Gewinnung von Vergleichsdaten im chilenischen Süden notwendig.

Diese zweite Studie wurde 1998 begonnen. Durch private Kontakte gelangte ich im August 1998 in die Kleinstadt Paillaco in der Nähe von Valdivia. In den folgenden acht Monaten pendelte ich mehrfach zwischen Paillaco und Santiago. Insgesamt nahm ich in dieser Zeit ca. 100 Stunden Gesprächsdaten auf. Davon entfallen etwa 35 Stunden auf intensive Interviews mit 14 Informanten und Informantinnen (1 männlich, 13 weiblich), sowie weitere 15 auf informelle Situationen wie Kaffeeklatsch, während der Ärztevisite auf dem Land (ronda médica) oder Essensrunden in verschiedenen Situationen. Die Informantinnen wurden von mir mehrfach besucht. Die eigentliche Aufnahme fand oft erst beim dritten oder vierten Besuch statt, fast immer in der Wohnung der Gewährsperson. Die im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung gewonnenen zusätzlichen Daten wurden mit den Interviews und weiteren Gesprächsaufnahmen verglichen. In allen Gesprächen wurde eine vollständige Anonymisierung der Persönlichkeitsdaten zugesichert und durchgeführt.

Meine Absicht, ganze Familien aufzunehmen, um nicht migrierte Geschwister als Kontrollpersonen mit den Migrantinnen vergleichen zu können, erwies sich als komplizierter als zunächst gedacht. Häufig stimmte nur ein Teil der Familienmitglieder meinem Gesprächswunsch zu, einige Familienmitglieder zogen ihre Zustimmung später zurück, oder es war einfach nicht möglich, einen Termin zu vereinbaren. In Santiago waren insbesondere diejenigen Migrantinnen, die noch als Hausangestellte arbeiteten, in großer Zeitnot – nicht dagegen Hausfrauen und Schülerinnen. Generell waren in Paillaco Aufnahmen einfacher zu realisieren, die Informantinnen verfügten über mehr Zeit und fühlten sich vielleicht auch 'auf Heimatterritorium' sicherer. In einer Familie war meine Aufnahmetätigkeit besonders erfolgreich: Mit zwei Schwestern der Familie D. mit 7 Geschwistern (davon 2 Schwestern als Hausangestellte in Santiago, eine Rückkehrerin) konnten Interviews sowohl in Paillaco als auch in Santiago durchgeführt werden, ferner begleitete ich die Schwestern an mehreren Nachmittagen in Santiago. Weitere Aufnahmen im informellen Rahmen konnten auch in der Herkunftsfamilie im Landkreis Paillaco gemacht werden. Das geplante Interview mit der zurückgekehrten dritten Schwester mußte aus Krankheits- und terminlichen Gründen mehrfach verschoben werden und letztendlich leider entfallen.

Als etwa gleichaltrige Frau fand ich relativ leicht Zugang zu vielen jüngeren Migrantinnen. Meine Stellung als Ausländerin schätze ich als überwiegend positiv ein, denn sie erlaubte mir, Fragen zu Themengebieten zu stellen und somit Erklärungen zu erhalten, die eine Chilenin vermutlich nicht derart ausführlich bekommen hätte.6 Da ein gemeinsamer Wissenshintergrund zwischen mir und meiner Gesprächspartnerin nicht vorausgesetzt und erst interaktiv ermittelt werden mußte, inwiefern wir ein gemeinsames Wissen teilten, ergab sich hier die Notwendigkeit, sonst häufig ungesagt Bleibendes zu verbalisieren.

Mein Korpus enthält zwar auch einige Interviews mit Frauen der ethnischen Minderheit der Mapuche7, von allen wird jedoch Spanisch als Muttersprache angegeben. Andererseits treffen viele Aussagen von Montecino/Rebolledo/Willson (1993) und Rebolledo (1995) über den identitären Wandel von Mapuchefrauen in Santiago auch auf Migrantinnen ohne diesen ethnischen Hintergrund zu. Es erschien daher sinnvoll, die 'chilenas' separat zu untersuchen. Mir ist dabei die häufig fließende Unterscheidung zwischen Mapuche und Nicht-Mapuche bewußt, ebenso die verschiedenen Kriterien für eine derartige Kategorisierung.

Die aus den Interviews gewonnenen Daten wurden durch die ethnographisch motivierte Darstellung der Lebenswelten der Migrantinnen in Paillaco und Santiago ergänzt. Sie ermöglichen es, die Interviewdaten zu komplettieren und teilweise aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können. Die Verwendung von ethnographischen Daten hat auch aus einem weiteren Grund ihre Berechtigung: Die Beschäftigung mit der timidez campesina wäre schlichtweg absurd, wollte man sich nur den Interviewdaten widmen, denn diejenigen, die sich zu einem Interviewgespräch bereit erklärten, sind nur eine Teilgruppe der eigentlich interessierenden Personen. Sie haben einen Teil der sprachlichen Unsicherheit bereits abgelegt und können darüber berichten, was für sie Schlüsselerlebnisse waren – aber mindestens ebenso interessant sind diejenigen, deren Unsicherheit noch offen zutage tritt und die ein Interview ablehnen. Daher kann ihr kommunikatives Verhalten nur mittels teilnehmender Beobachtung Eingang in diese Arbeit finden, wird dadurch aber nicht weniger wichtig.

Wichtig ist aber auch zu sehen, welche Fragestellungen meine Daten nicht beantworten können: Es wäre zwar äußerst interessant gewesen, Aussagen über die tatsächlich beobachtbaren Veränderungen in der kommunikativen Kompetenz und den Verlust der timidez campesina treffen zu können. Aber hierfür wäre eine mehrjährige Longitudinalstudie notwendig geworden, die mit einer weitgehenden Präsenz vor Ort verbunden gewesen wäre. Weiterhin wäre ein direkter Zugang zur Kommunikation zwischen patrona und asesora notwendig gewesen – trotz aller Versuche meinerseits waren derartige Aufnahmen nicht möglich. Keine Informantin war bereit, ihre Arbeitgeberin um die Erlaubnis zu bitten, Aufnahmen des Arbeitsalltags machen zu können.8 Daher kann ich nur indirekt, über die Darstellung der wahrgenommenen Veränderungen durch die Frauen selbst, diesen wichtigen Bereich des Identitätswandels nachvollziehen.

0.4Methodik

In der vorliegenden Arbeit werden unterschiedliche Ansätze der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, der Ethnographie der Kommunikation und der Interaktionalen Soziolinguistik kombiniert. Mehr als dreißig Jahre nach den ersten konversationsanalytisch geprägten Arbeiten verzichte ich auf eine erneute Darlegung dieser Ansätze, in der Annahme, dass diese inzwischen hinlänglich bekannt sind; aber vgl. zuletzt Berkenbusch (2002:22-40) für einen knappen Überblick über die Vorgehensweise und die Fragestellungen der (ethnomethodologischen) Konversationsanalyse und der Interaktionalen Soziolinguistik. In der interpretativen Tradition steht die verstehensorientierte Arbeit am Datenmaterial – hauptsächlich den Transkripten und den systematisierten Berichten der teilnehmenden Beobachtung während der Feldforschungsphase – im Vordergrund. Mithilfe der in der Ethnomethodologie üblichen sequentiellen Analyse möchte ich dabei zeigen, wie die Informantinnen Zug um Zug 'Identität konstituieren', wie sie sich und ihre Erfahrungen im Gespräch darstellen und die Relevanz der vorgebrachten Teilidentitäten untereinander aushandeln.

Durch den Kontakt mit dem 'Anderen', dem 'Fremden' wird das Nachdenken über sich selbst stimuliert: Identität braucht die Bestätigung des präsentierten Selbstbildes durch das Gegenüber (Goffman 1959). Durch die Erfahrung einer vollkommen anders gearteten Welt infolge der Migration, aber auch im Interviewkontext9 mit mir, der ebenfalls Fremden, wird die eigene Identität immer wieder thematisiert und im Sprechen erzeugt. Indem die in der Gemeinschaft geltenden und als gültig erfahrenen Normen durch die Migration zeitweise infragegestellt werden – und möglicherweise später bewußt akzeptiert werden –, zeigt sich Identität im Sprechen über sich selbst sowohl in der Retrospektive als auch in der Prospektive: Dem Sprechenden fällt dabei die Aufgabe zu, sich selbst in den verschiedenen sozialen Rollen als kohärentes Selbst zu präsentieren.

Aber das Sprechen über sich ist nicht der einzige Bereich, in dem das eigene Selbst überzeugend dargestellt werden kann:

So richtig die ethnomethodologische Wendung ist, Praktiken der Sinnkonstitution zum Gegenstand der Analyse zu machen statt sie als unbefragte Ressourcen einfach zu benutzen, so verkehrt ist es zu meinen, dass man nach dieser Wendung darauf verzichten könne, kulturelles und anderes Hintergrundwissen des Interpreten als Ressource einzusetzen. (Deppermann 1999a:3; vgl. auch 2000a, b)

Aus diesem Grund mußten die Aufnahmedaten zwangsläufig durch ethnographisch erhobene ergänzt werden. Im übrigen ist die ethnographische Unterfütterung bei der Analyse fremdsprachlicher Daten zwar bewußter, sie findet aber auch bei muttersprachlichem Material statt. Gerade deshalb ist es sinnvoll, anhand fremdsprachlichen Materials das Ausmaß der sprachlichen Verfahren der Identitätskonstitution auszuloten, die sich dann realiter mit denen der außersprachlichen Identitätskonstitution verbinden werden. Die Kombination aus ethnographischen und konversationsanalytischen Methoden ist ferner auch deshalb besonders gut für andere kulturelle Kontexte geeignet, weil beide Methoden die Entwicklung einer Sensibilität für das Verständnis von alltäglichen Situationen voraussetzen, verbunden mit dem ständigen Hinterfragen der eigenen Position sowie dem Versuch, die Bedeutung einer Interaktion für die Interagierenden selbst zu rekonstruieren. Hiermit wird die Gefahr verringert, eigene Gedanken und Thesen nur am Datenkorpus darzustellen und dadurch im Endeffekt für die eigenen Zwecke zu mißbrauchen. Hak (1999) und Silverman (1999) haben zudem überzeugend gezeigt, daß die ausschließliche Verwendung von Tonband- oder Videoaufnahmen dazu verführen kann, alle nicht auf diesen Medien darstellbaren Daten in unzulässiger Weise zu vernachlässigen. Auch aus diesem Grund ist eine Kombination mit einer ethnographischen Analyse angezeigt.

0.5Aufbau der Arbeit

Ich verstehe diese Arbeit als eine nicht nur sprach-, sondern auch kulturwissenschaftliche innerhalb der Romanistik. Die Interdisziplinarität ist bereits im Thema angelegt, aber sie ist auch die Konsequenz aus der von den Migrantinnen während der Feldarbeit eingeforderten Fokusverlagerung auf den für sie problematischeren Aspekt der sprachlichen Unsicherheit und des Lebens zwischen zwei (Kommunikations-)Kulturen mit unterschiedlichen Erwartungen und Ansprüchen.

In dieser Arbeit sollen fünf analyseleitende Hypothesen behandelt werden:

Die ländlichen Herkunftsgebiete der Migrantinnen und die städtische Zielregion Santiago de Chiles unterscheiden sich in ihren Kommunikationskulturen.

Migrationslinguistische Untersuchungen wurden bisher vor allem auf der Ebene der phonetischen und morpholexikalischen Akkomodation an die Varietät der Zielregion durchgeführt. In Kap. 1 gebe ich einen problemorientierten Forschungsüberblick, der mit einem Blick auf die Relevanz der Kommunikationskultur schließt. Die eigentliche Beschreibung der Unterschiede in den Kommunikationskulturen Santiagos und Paillacos muß jedoch bis zu den Kap. 4 und 5 zurückgestellt werden, in denen das Erleben der Feldforschungsorte ausführlich beschrieben wird.

Verglichen mit dem ländlichen Süden Chiles weist das Leben in Santiago selbst für Hausangestellte mehr Identitätsangebote auf, aus denen die Frauen nach der Migration wählen können.

Die Migration der Frauen nach Santiago erfährt auch unter dem Blickwinkel der Individualisierung eine Begründung. Im 2. Kapitel wird ein kurzer Überblick über die bisherige Forschung zur weiblichen Migration und zum Arbeitsmodus der Hausangestellten gegeben. In Kap. 3 behandle ich die Frage, inwiefern sich Individualisierungstendenzen in Chile unterscheiden müssen von dem, was Beck für die Wohlstandsgesellschaften Mitteleuropas beschrieben hat, und wie sie sich auf die Identität der Gewährspersonen auswirken, insbesondere unter den Bedingungen der Migration. Identität und Identitätskonstitution sowie deren Darstellung im Gespräch, anhand der Verfahren der Narration, Kategorisierung und Stilisierung, sind das Thema des restlichen 3. Kapitels.

Eine der wichtigsten Quellen der Identitätskonstitution der Migrantinnen ist ihre alte und neue Stellung innerhalb der jeweiligen Herkunftsfamilie. Weitere relevante Teilidentitäten sind sozialer und regionaler Art.

In Kap. 6 werden daher die jeweiligen biographischen Hintergründe erfaßt und systematisch an Fallstudien dargestellt. Kap. 7 fokussiert die regionale Identität als 'sureña' und 'campesina' sowie als 'chilena'. In Kap. 8 wird die soziale Identität als 'empleada/asesora del hogar' untersucht. Während in Kap. 6 und 8.1 die Identitätskonstitution mittels Narrationen im Vordergrund steht, wird in Kap. 7 und in Kap. 8.2 die identitätsstiftende Rolle von Kategorisierungen untersucht.

Die Migrantinnen erwerben zumindest teilweise neue kommunikative Kompetenzen der Kommunikationskultur der Zielregion Santiago, insbesondere in Bereichen der beruflich motivierten Kommunikation.

Nachdem die Kap. 6 bis 8 die verschiedenen Teilidentitäten und Bedingungen der Identitätskonstitution im Gespräch thematisierten, findet in Kap. 9 eine Rückwendung zum Thema der Kommunikationskultur und der damit verbundenen kommunikativen Kompetenz statt. Die Migrantinnen müssen, bedingt durch den Wechsel in eine andere Kommunikationskultur und unter den erschwerten Bedingungen des Arbeitsmodus als Hausangestellte, neue kommunikative Kompetenzen erwerben. In diesem Verlauf verlieren sie die von ihnen selbst so bezeichnete timidez. Die veränderte Identität wird von ihnen positiv als superación personal wahrgenommen. Einzelne Aspekte dieses Wandels, z.B. die erhöhte verbale Konfliktlösungskompetenz, werden in Kap. 9.1 bis 9.3 thematisiert.

Die Migrantinnen nach Paillaco spielen eine wichtige Rolle als 'agents of change' in der südchilenischen Kommunikationskultur.

Diese These wird in Kap. 9.4 behandelt und anhand von Transkripten überprüft, die Hinweise auf eine aktive Veränderung der südchilenischen Kommunikationskultur durch die Migrantinnen und insbesondere die Rückmigrantinnen liefern.

Zuletzt noch einige Hinweise zur Typographie:

Ich folge den Regeln der alten Rechtschreibung – nicht aus besonderer Überzeugung, sondern zugegebenermaßen aus Bequemlichkeit. Ausschnitte aus Transkripten sowie fremdsprachliche Ausdrücke im Text (vgl. auch das Glossar im Anhang) sind kursiv gesetzt, im Fall der Transkripte manchmal leicht gekürzt. Hervorhebungen in Zitaten der Sekundärliteratur werden unterstrichen wiedergegeben. Bei einem Verweis auf eine andere Seite desselben Werkes wie im vorangehenden Zitat gebe ich nur die betreffende Seitenzahl an.

Nähere Erläuterungen zum Transkriptionssystem und der Aufnahmenschlüssel finden sich im Anhang der Arbeit. In vielen Transkripten bin ich als Interviewerin zwangsläufig am Gespräch beteiligt. In diesen Fällen folge ich der Konvention der Gesprächsanalyse, analytisch zwischen der Gesprächsteilnehmerin und der Analysierenden zu unterscheiden. Dies wird in der Analyse durch die Verwendung der 3. Person Singular verdeutlicht.

1Sprachwissenschaftliche Untersuchungen der internen Migration: ein Forschungsüberblick

Jeder Leser und jede Leserin werden Personen kennen – oder auch selbst eine sein – die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr in der unmittelbaren Nähe des Herkunftsortes leben. Migration, so definiert Werlen (1998:69) im Anschluß an Treibel (1990:21) bewußt schwammig, ist "der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende 'freiwillige' Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen." Der Begriff der Migration wird jedoch häufig auf die auffälligste Variante, nämlich die internationale Grenzen überschreitende Arbeitsmigration, beschränkt. Für die Soziolinguistik wird eine derartige Migration meist erst dann interessant, wenn sie mit Mehrsprachigkeit, Diglossie oder Sprachkonflikten auf gesellschaftlicher oder individueller Ebene verbunden ist.10 Sprachkontakt aufgrund von Migration ist somit ein Sonderfall der Kontaktlinguistik.

Aber es gibt auch noch eine andere, weniger auffällige – vielleicht einfach weniger bedrohlich wirkende – Art der Migration, nämlich die interne Migration. Sie ist unschärfer zu fassen, denn: Ab welcher Entfernung, ab welchem Zeitpunkt beginnt, in den Worten obiger Definition "der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende 'freiwillige' Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region"? Die Soziolinguistik hat sich bisher am ehesten mit der internen Migration beschäftigt, wenn es sich dabei um die Wanderungsbewegungen von Individuen handelte, die infolge der Migration mehrsprachig wurden bzw. in deren Zielorten sich das Varietätenspektrum vergrößerte, wie z.B. in der Schweiz (Lüdi/Py 1984, Lüdi 1992, 1995) oder in Katalonien (Boix 1997).11 In der Lateinamerikanistik erfolgt häufig die Verbindung mit der internen Land-Stadt-Migration und der kulturellen Überformung von ethnischen Minderheiten, beispielsweise bei Gugenberger (1995, 1997) für Quechuasprecher im peruanischen Arequipa oder Steckbauer (1997) für Lima als Schmelztiegel verschiedener peruanischer Ethnien. Dagegen fehlt auch hier, ebenso wie in Europa, die detaillierte Untersuchung der innersprachlichen Kontaktsituation, durch die eine Person sich weiterhin in der Lage wähnt, 'dieselbe Sprache', wenn auch vielleicht eine andere dialektale Varietät, sprechen zu können und sich unter Ihresgleichen aufzuhalten.

Andersson/Thelander (1994:55) führen die jüngste sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit interner Migration auch auf die in Europa zu beobachtende Tendenz zur Standardisierung der Nationalsprachen zurück, die durch die Mobilität der Bevölkerung einen neuerlichen Schub erfahren hat:

It has gradually become more and more clear that geographic mobility – to a greater degree than the impact of schooling or the broadcast media – is the factor that has perhaps most vigorously fueled the tremendous levelling of dialects that has characterized so many linguistic communities over the past forty years.

Daher kann ein Großteil der europäischen Literatur zum Thema eher unter den Stichwörtern 'dialect levelling' und 'Standardisierung von Nationalsprachen' gefunden werden. Migration wird hier aber mit Blick auf das Endergebnis 'Ausbreiten eines nationalen Standards zuungunsten der dialektalen Varietäten' betrachtet, der Prozeß an sich und die Auswirkungen auf die Einzelpersonen werden zwangsläufig vernachlässigt. Neben mehreren Studien im angelsächsischen (u.a. der Klassiker Trudgill 1986) und deutschen Raum berücksichtigen einige hispanistische Beiträge die Migration aus dem direkten Hinterland der untersuchten Stadt, etwa die Studie von Moya/García (1995) und Moya (2000) zur Stadtsprache Granadas. Im Anschluß an und angeregt durch das 'Norma Culta'-Projekt (vgl. Lope Blanch 1986) erfuhren zwar viele Stadtsprachen Lateinamerikas eine soziolinguistische Beschreibung ihres Varietätenraums. Durch das häufig vorhandene Ausschlußkriterium, daß die Gewährspersonen aus der jeweils untersuchten Metropole stammen sollten, wurden aber – wie auch in vorherigen dialektologischen Untersuchungen12 – Migranten zwangsläufig ausgeschlossen. So begründet Caravedo (1990:19) ihre Entscheidung, 42,7% der (offiziellen!) Bevölkerung Limas nicht in ihre Studie aufzunehmen, im Sinne der Vergleichbarkeit ihrer Daten mit denen anderer Teilprojekte der 'Habla Culta' bzw. Habla Popular'. Nur: Kann eine Beschreibung des Varietätenraums einer Stadt vollständig sein, die eine derart große Proportion ihrer Bewohner ausschließt?13 Wird eine derartige Be- und Ausgrenzung nicht gerade die interessantesten sprachlichen Tendenzen unbeachtet lassen, die durch das Aufeinandertreffen von Eingesessenen und Neuankömmlingen und der folgenden Aushandlung von sprachlichen Normen entstehen?

In diesem Kapitel beschäftige ich mich zunächst mit den generellen Problemen und Forschungsfragen der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit interner Migration. Nach einer Diskussion allgemeiner methodischer Probleme folgt ein Blick auf die gängige Praxis, anhand sozialer Netzwerke und quantifizierender Methoden Indizes der sprachlichen und sozialen Akkomodation der Migranten aufzustellen. Die Arbeiten dieser Richtung beschäftigen sich hauptsächlich mit der phonetisch-phonologischen und lexikalischen Akkomodation der Migranten. Die Vor- und Nachteile dieser Vorgehensweise werden anhand der Arbeiten von Bortoni-Ricardo (1985), Kerswill (1994) und Barden/Großkopf (1998) diskutiert. Einen anderen Blickwinkel bietet dagegen Werlen (1998), die Unterschiede in der deutschen und schweizerischen Kommunikationskultur anhand von Heiratsmigranten und deren Partnern untersucht. Werlens Studie ist besonders interessant für das hier behandelte Thema der südchilenischen Migrantinnen, weil sie den Konfliktbereich untersucht, der sich aus der kulturell unterschiedlichen Deutung von Kommunikationssituationen und -strategien ergeben kann.

Abschließend erscheint es mir notwendig, einige Überlegungen zu den in allen Studien implizit immer wieder auftauchenden Begriffen 'Stadt', 'Land' sowie – darin enthalten – den Konzepten 'Urbanisierung', 'Modernität' und 'Natur' anzustellen. Es zeigt sich, daß auch in vorgeblich rein auf das sprachliche Material gerichteten Studien eine ambivalente Haltung zu 'Stadt' und 'Land' zum Ausdruck kommt, die mit der Debatte um das Wesen der Natur und des menschlichen Fortschritts in Verbindung steht. Und dies hat natürlich Auswirkungen auf die Beurteilung von ländlicher und städtischer Sprache bzw. deren Sprecher.

1.1Methodische Probleme der sprachwissenschaftlichen Migrationsforschung

Die folgenden Überlegungen sind zunächst einmal unabhängig davon, ob es sich um Studien der internen oder internationalen, monolingualen oder bi-/multilingualen Migration handelt. In den Beispielen beziehe ich mich jedoch auf Studien zur internen, monolingualen Migration (vgl. auch zusammenfassend Kluge 2003).

Der Anspruch an die beim Individuum ansetzende Migrationslinguistik muß es sein, Antworten zu geben auf die Fragen, welche Veränderungen des sprachlichen Verhaltens im Laufe des Lebens eines Individuums auf die Tatsache der Migration – und nur auf die der Migration – zurückzuführen sind und wie die betreffende Person mit dem Wechsel in eine andere Gesellschaft oder Region umgeht. Zusätzlich muß für den Bereich der Identitätskonstitution und ihrer sprachlichen Darstellung im Gespräch deutlich werden, welche Bedeutung die Person selbst der Tatsache beimißt, daß sie nicht mehr an ihrem Herkunftsort lebt, und inwiefern sich ihrer Meinung nach durch die Migration ihre 'Identität' verändert hat. Ein Grundproblem der Migrationslinguistik ist dabei, wie sich zeigen wird, daß sich sprachliche Veränderungen nicht ohne die Veränderungen der sozialen Identität der migrierten Person erklären lassen, sich letztere aber allein schon durch die Migration an sich stark verändert. Zum Begriff der Identität vgl. ausführlicher Kap. 3.

1.1.1Wer wird untersucht?

Viele 'klassische' Variablen der Soziolinguistik wie Alter und soziale Herkunft werden auch in den gesichteten Migrationsstudien verwendet, müssen aber häufig noch weiter spezifiziert werden.

* Geschlecht: Die Variable 'Geschlecht' scheint zunächst ebenso verwendet zu werden wie in anderen soziolinguistischen Studien; Frauen werden in gleicher Anzahl untersucht wie Männer. Problematisch ist, daß viele Studien nur die Tatsache der Migration der Gewährspersonen an sich berücksichtigen, nicht jedoch, aus welchen Gründen sie unternommen wurde. Viele Studien konzentrieren sich auf die Migration aus beruflichen Zwecken. Die Migration von Arbeitnehmern, die nicht in die üblichen Schemata passen – wie im Haushalt ihrer Arbeitgeber lebende Hausangestellte – wird dabei häufig vernachlässigt. Auch die von Werlen (1998) als Ausgangspunkt genommene Heiratsmigration wird ebenso wie die Bildungsmigration üblicherweise nicht behandelt. Dadurch wird die Grundgesamtheit der Gewährspersonen unzulässigerweise beschränkt, was sich vermutlich im Fall der weiblichen Migranten stärker auswirken wird als bei den Männern.

* Alter: Es muß zwischen dem Alter zum Zeitpunkt der Untersuchung und dem Alter zum Zeitpunkt der Migration unterschieden werden, sowie zum Teil abweichend davon die Länge des Aufenthalts am untersuchten Ort. Nur Barden/Großkopf (1998) können auf eine derartige Differenzierung verzichten, weil bei ihnen beide Zeitpunkte praktisch zusammenfielen und die erste Aufnahme zeitnah zur Migration erfolgte. Unklar ist immer noch, ob das Alter zum Zeitpunkt der Migration oder die Länge des Aufenthalts am Zielort für die Adaption entscheidender ist. Verschiedene in Kerswill (1994:63) diskutierte Studien scheinen Lennebergs (1967) Hypothese, daß ab einem 'kritischen Alter' eine neue Varietät nicht mehr perfekt gelernt werden kann, zu unterstützen. Ebenso äußert sich auch Bortoni-Ricardo (2000). Offenkundig ist nur (auch abzulesen aus Studien zur internationalen, bilingualen Migration), daß kein direkter, kausaler Zusammenhang zwischen Aufenthaltsdauer und Akkomodation an die Varietät der Zielregion besteht. Nach Großkopf/Barden (1998) finden die größten sprachlichen Akkomodationen in den ersten zwei Jahren nach der Migration statt.

* Soziale Schichtung: Diese auch in der allgemeinen Soziolinguistik unumstritten wichtige, aber in den gesichteten Studien sehr unterschiedlich gemessene Variable wird in der Migrationssituation besonders relevant, gerade weil ein häufig wiederkehrendes Motiv für die Migration das Ziel des sozialen Aufstiegs (oder auch: Nichtabstiegs) ist. Insbesondere für die Migranten aus ländlichen Gebieten ist die Zuschreibung eines sozialen Status für die Zeit vor der Migration sehr schwierig, da viele städtische Stratifikationsparameter (Beschäftigung, Bildung, Wohnung) auf dem Land offenbar weniger wichtig sind. Die Höhe des Einkommens spielt dabei eine geringere Rolle, während die Unterscheidung in Unter- und Mittelschicht oder auch Arbeiter vs. Angestellte vereinzelt vorkommt. Als wichtig wird dagegen häufig der ausgeübte Beruf angesehen, insbesondere die damit verbundenen Kommunikationsanforderungen an die migrierte Person und ihr Kontakt mit Einheimischen. So klassifiziert beispielsweise Nuolijärvi (1994) ihre Gewährspersonen aufgrund des Grads der im derzeit ausgeübten Beruf notwendigen kollegialen Kommunikation und/oder dem beruflichen Kontakt zu Nichtbetriebsangehörigen. Ähnlich unterscheidet Ivars (1994) zwischen dem ausgeübten Beruf vor und dem Beruf nach der Migration. Diejenigen Migranten, die schon vor der Migration in Dienstleistungsberufen tätig gewesen waren, zeigten eine größere sprachliche Akkomodation. Dies setzt jedoch voraus, daß die Befragten eine Berufstätigkeit ausüben, was für die Heirats- und Bildungsmigranten aber nicht immer gilt. Im Fall der hier untersuchten Hausangestellten wird in einigen Fällen die Beziehung zur Arbeitgeberfamilie, insbesondere zur patrona sowie gegebenenfalls zu weiteren Beschäftigten, sehr wichtig, in anderen jedoch nur in geringfügigem Maße. Für beinah alle Gewährspersonen sind die sozialen Kontakte am freien Tag, dem día de salida, besonders relevant (vgl. Kap. 5).

Tendenziell ist die Gefahr erkennbar, daß die Forschung dem beruflichen Umfeld vor und nach der Migration eine stärkere Rolle beimißt als den restlichen sozialen Kontakten im persönlichen Netzwerk. Hier wirkt möglicherweise die lange Zeit verbreitete Annahme nach, daß die meisten Migrationen im Familienverband unternommen werden und sich daher die größten Unterschiede in der 'Außenkommunikation' ergeben. Gerade im Fall der Hausangestellten kann davon keine Rede mehr sein, auch wenn die Existenz von Familienangehörigen im Stadtgebiet von Santiago weiter eine große Rolle spielt.