Toggle

Cover

Inhaltsverzeichnis

Lawrence Lessig

Das Ziel

»Wäre es möglich, unseren Silver Seraph für wenige Minuten auf Ihrem wunderbaren Anwesen abzustellen?«

»Bitte was?«, erklang es aus der Sprechanlage.

»Unseren Silver Seraph. Wir sind zwei Amerikaner auf Reisen und müssen für einen Moment austreten.«

Allister McCrew war perplex. Weniger, weil jemand mit einem Rolls Royce bei ihm klingelte und Parkplatzprobleme reklamierte – die Bold Lane war wirklich nicht sehr breit und das seitliche Buschwerk unüberwindbar –, als darüber, dass dieser Jemand das McCrew’sche Anwesen ›wunderbar‹ genannt hatte. Der Futtermittelhändler erlebte sonst andere Reaktionen. Als ›Baumarkt-Tudor‹ verspotteten die Einwohner von Aughton seine freistehende Villa. Dabei verband diese doch nur die praktischen Vorzüge der Fertigbetonbauweise mit der Schönheit klassischer Landhausästhetik. Das war nicht jedermanns Geschmack und erhielte wohl kaum eine Prince-Charles-Medaille für vorbildliche Traditionspflege. Aber das Foto eines Silver Seraph vor seinem Haus würde sich bei einem späteren Immobilienverkauf gut machen.

Der Futtermittelhändler drückte auf den Toröffner.

»Sie können eines meiner Badezimmer benutzen«, sagte McCrew zuvorkommend.

Freundlich lehnten die Besucher das Angebot ab. Mit einiger Kraftanstrengung stemmten sie das überwucherte Gartentor einen Spalt weit auf und marschierten dann entlang eines verwilderten Ackers nach Norden. Wenige Meter vor dem oberen Feldrand hielten sie an. Einer der beiden zauberte einen Klappspaten hervor, der andere zog eine hühnereigroße, matt glänzende Metallkapsel aus der Tasche seines Blousons. Beide traten fünf Schritte aufs Feld hinaus, wobei der Größere sorgfältig die geografischen Koordinaten auf einem hochauflösenden GPS-Empfänger überprüfte. Dann nickte er, und der Kleinere begann ein Loch zu graben. Zehn Minuten später war die silberne Kapsel tief im Erdboden verschwunden. Die Männer machten sich auf den Rückweg. Sie bedankten sich bei Allister McCrew, schlugen mit dem Verweis auf ihren engen Terminplan eine Einladung zum Tee aus und fuhren über Aughton hinaus in Richtung Süden zum John Lennon Airport Liverpool.

 

Als neunzig Minuten später eine Boeing 767 erstaunlich tief über 56 Bold Lane hinwegzog und Allister McCrew die Faust gen Himmel reckte, konnte er nicht ahnen, dass seine freundlichen Besucher vom Nachmittag auf ihn herabsahen. Hätten sie es zustande bringen können, wäre ein Golden Eagle als Trinkgeld auf den erneut perfekt geharkten Kiesparkplatz gefallen. Aber nicht einmal die Toggle One besaß eine derartige Abwurfeinrichtung. Stattdessen stießen die beiden Passagiere mit ihrer letzten Flasche 1928er Krug Collection an.

Sie befanden sich auf dem Gipfelpunkt ihres Erfolgs.

Die Niederlassung

1

Mittwoch, 7. Juli, 15:00

Das Mädchen sah zur Lagerhalle hinüber und spürte ein Kribbeln im Bauch.

Endlich mussten sie vor der Hitze kapitulieren!

Seit Wochen wartete das Dorf auf Regen. Überall hatte sich die Erde pulverisiert, selbst Fahrradfahrer zogen auf den Feldwegen meterlange Staubfahnen hinter sich her. Manchmal konnten die Dorfbewohner Windhosen beobachten, die sich über den verkrüppelten Halmen der Roggen- und Gerstenfelder erhoben und in der Luft tanzten, bevor sie nach ein paar Minuten wieder zerfielen.

Das war außergewöhnlich.

Kein Mensch musste solche Temperaturen beim Bau von Gebäuden berücksichtigen.

Die Lagerhalle stand in der prallen Sonne, eine billige Flachdachkonstruktion ohne jegliche Isolation. Der Vater des Mädchens hatte die elektrischen Leitungen verlegt und zu Hause erzählt, dass der Hallenbesitzer knauserig geblieben war: Kabel auf Putz, ein paar Schalter, Deckenlampen – mehr nicht. Nur der Starkstromanschluss fiel aus dem Rahmen.

Klimaanlage?

Fehlanzeige.

Das Dorf lag nahe der Autobahn, Speditionen sollten die Halle als Umschlagplatz buchen. Für einen dauerhaften Aufenthalt von Menschen war sie nicht gedacht.

Ende Mai waren jedoch Männer gekommen, Männer in LKW. Sie trugen geschlossene blaue Plastikkisten in die Halle. Jeden Morgen

Bei der ersten Lieferung schleppten die Männer nur Kisten hinein. Nach einigen Tagen trugen sie auch wieder welche heraus. Ihrem gebückten Gang nach zu urteilen, waren die Kisten auch auf dem Rückweg gefüllt.

Der Vater wunderte sich, dass auf keinem der LKW ein Firmenschild zu sehen war. Alles Betrug, vermutete er. Jemand spiegele vor, Waren in Deutschland zu produzieren, ließ sie aber anderswo herstellen. In der Halle klebe man nur deutsche Etiketten auf.

Das Mädchen wusste es besser. Denn sechs Wochen vor diesem heißen Sommertag, als es gerade mit seinem Hund auf dem Hügel oberhalb des Gewerbegebiets gestanden hatte, war einem der Männer eine Kiste entglitten. Ihr Deckel war verrutscht, und für einen kurzen Moment hatte das Mädchen gesehen, was die Männer in die Halle trugen.

Und jetzt mussten sie vor der Hitze kapitulieren!

Das Mädchen band seinen Russellterrier an einer einsamen Krüppelkiefer fest. Jackie wollte ohnehin nur faul im Schatten liegen. Dann stieg es die Böschung hinab. Leer und öd gähnte der Parkplatz in der Sonne. Achtzig Meter vom Mädchen entfernt blitzte ein gelber Schriftzug auf einer roten Stahltür auf: ALARMBEWEHRT! KEIN EINTRITT!

Die Tür stand eine Handbreit offen.

Noch nie war sie geöffnet gewesen.

Aus dem Halleninneren drangen pfeifende, sirrende und zischende Maschinengeräusche. Das Mädchen konnte sich keinen Reim darauf machen. Es konnte sich überhaupt keinen Reim auf die Vorgänge rund um die Lagerhalle machen. Doch gleich würde es wissen, warum man den Stoff, aus dem seine Träume waren, lastwagenweise herbeikarrte, ein paar Tage lagerte und dann wieder fortbrachte. Ohne das Mädchen auch nur einen Blick darauf werfen zu lassen!

Vorsichtig drückte es gegen die Tür.

Gut geölt.

 

Diese verdammte Hitze! Anton Purgler wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Blick fiel auf das billige Plastikthermometer, das er am Rahmen einer der zwölf schnaufenden SR-300 festgeklebt hatte.

Füüüsch … püh … füüüsch … püh … füüüsch …

34 Grad! Und dazu diese trockene Papierluft. Wahrscheinlich war die Stahltür schon wieder zugefallen. Er sollte sie mit einem Stein fixieren.

Anton Purgler seufzte.

Warum hatte er damals nicht gleich aufgelegt? Im Mai, als der Anruf kam, war er noch nicht völlig abgebrannt gewesen. Seine Reserven hätten locker noch ein paar Monate gereicht. Aber die »körperlich leichte Arbeit« hatte vielversprechend geklungen. Obwohl es ein ausgesprochen schlechtes Zeichen gewesen war, dass sich der Anrufer auf den Bewährungshelfer berufen hatte. Darum hatte Purgler so lange gezögert, bis der Anrufer mit seinem etwas verwaschenen Deutsch seine Trumpfkarte ausspielte: »Ihre philologischen Qualifikationen werden Ihnen nützlich sein.«

Philologische Qualifikationen!

Das klang nicht nach einem jener Dreckjobs, die ihm nach zehnjährigem Vielfachstudium und diversen Vorstrafen wegen kleinerer Eigentumsdelikte noch übrig geblieben waren: Chemietanks reinigen, S-Bahnen putzen, bestenfalls Hamburger braten, das alles für 7,30 Euro die Stunde … oder weniger. Länger als vier Wochen war er nirgends geblieben. Nur bei einem Bestatter hatte er es zwei Monate ausgehalten, weil er geglaubt hatte, sich auf diese Weise zum Trauerredner fortentwickeln zu können. Doch schon nach dem ersten Emanzipationsversuch hatte ihm die rabiate Chefin einen Fünfziger in die Hand gedrückt und gesagt, er dürfe wiederkommen, sobald ihm jemand die Zunge herausgeschnitten hätte.

Wer den Sarg trägt, soll die Klappe halten.

Schon klar.

Immerhin, jetzt betrug sein Stundenlohn zwanzig Euro. Netto! Er war alleine, niemand konnte seinen Arbeitstakt kontrollieren.

Lachhaft!

Was konnte man denn groß erzählen über diesen Ort, diese Arbeit, diese Bücher?

Maschine Nummer drei gab ein akustisches Signal von sich, eine scheppernde Fanfare. Anton Purgler hätte gerne etwas Melodischeres gewählt, aber ihm war verboten worden, irgendeine Einstellung an den Geräten zu verändern. Dann fiel Nummer drei mit einem letzten Schnaufen in den Ruhemodus.

Das lag exakt im Rhythmus.

In den vier Monaten, in denen Purgler nun mit den Buchscannern zu tun gehabt hatte, hatte er ein ausgeklügeltes System entwickelt, wie er morgens zu Schichtbeginn unterschiedlich dicke Bücher – oder Bücher verschiedener Sprachen oder Bücher unterschiedlicher Schrifttypen – in die zwölf Maschinen einlegte, damit nicht alle zugleich mit ihrer Aufgabe fertig wurden. Obwohl jede LKW-Lieferung eine unmissverständliche schriftliche Anweisung enthielt, in welcher Reihenfolge die Kisten abzuarbeiten seien, klappte das erstaunlich gut. Zwischenfälle ereigneten sich nur, wenn ein Scanner aus Not stoppte, weil er auf verklebte Seiten stieß. Oder weil er bei sehr brüchigem Papier einen Schaden am Buch angerichtet hatte.

Bei Nummer drei war alles in Ordnung.

Anton Purgler warf einen Blick auf den Computermonitor links neben dem Scanroboter, scrollte ein paar Seiten rückwärts und fand nicht ein einziges unterkringeltes Wort in der Textdatei.

Makellos.

Das OCR-Programm der SR-300 war phänomenal. Selbst Frakturschrift wandelte es in eine für jedermann lesbare Datei um. Bei manchen Vorlagen konnte man ganze Kapitel durchforsten, ohne auf einen einzigen Umwandlungsfehler zu stoßen. Bücher, die über Jahrhunderte hinweg in dunklen Bibliotheksmagazinen vor sich

So jedenfalls hatte es ihm der Mann beim Einstellungsgespräch erklärt: Die Textdateien wanderten ins Internet, und mit dem richtigen Stichwort in einer Suchmaschine konnte sie jedermann zum eigenen Gebrauch aufrufen.

»Wozu dann diese Geheimniskrämerei?«, hatte Purgler gefragt und die Stirn gerunzelt. »Abgelegene Lagerhalle mitten in der Pampa, keine Kollegen, Schweigepflicht?«

Der Mann hatte maliziös gelächelt: »Konkurrenzdruck. Unsere Roboter sind Spezialanfertigungen. Und das mit der Konventionalstrafe hat etwas damit zu tun, dass Ihr Lebenslauf, sagen wir mal … ein paar Schönheitsfehler enthält.«

Daraufhin hatte es Purgler vorgezogen, keine weiteren Fragen zu stellen.

Er nahm Der Menschenseele Not aus der Scannerwiege von Nummer drei und warf das Buch achtlos in eine der blauen Plastikkisten. 1927, das bedurfte keiner besonderen Rücksichtnahme. 20. Jahrhundert fand man überall, in Bibliotheken und Antiquariaten, da beschädigte er kein Unikat, falls er die Kiste verfehlte. Und der Autor Maximilian Bircher-Benner … ein Nobody.

Oder war das der mit dem Müsli?

Die Hitze ließ noch das letzte bisschen Bildung in seinem Kopf verdampfen!

Purgler nahm ein neues Buch vom Stapel. August Bier, Die Seele. Die dunkelblaue Box mit der Nummer 44-321 schien eine Psychokiste zu sein. Die hellblaue 42-845, deren letzte drei Exemplare eben in den Scannern lagen, war dagegen ausnahmslos 18. Jahrhundert gewesen, verstaubte Traktate über Gott und die Welt. Hinter der vorgeschriebenen Scanreihenfolge ließ sich keine Logik ausmachen, genauso wenig wie hinter der Nummerierung der Kisten.

Purgler klappte das schlammgrüne Buch auf – fester Einband, Erscheinungsjahr 1939 – und legte es in die Scannerwiege. Sie bestand aus zwei massiven Eichenholzbrettern, die sich im Winkel von 45 Grad spreizten.

Die SR-300 faszinierte Purgler. Natürlich hatte der Mann beim Einstellungsgespräch gelogen: Man konnte diese Maschinen frei kaufen, sofern man 80000 Euro besaß. Sie waren keine Spezialanfertigung. Möglicherweise hatte sein Arbeitgeber allerdings die Software überarbeitet. Deswegen reagierte er so nervös, als Purgler im Menü herumfingern wollte.

Ansonsten entsprachen alle Maschinen den Beschreibungen, die man auch im Internet finden konnte. Im Wesentlichen – und das war genial! – hatten die österreichischen Erfinder das Glasplattenproblem gelöst. Purgler kannte es noch aus seiner Studentenzeit, als er Handlangerdienste in der Bibliothek verrichtet hatte: Wann immer man Laien Bücher zum Kopieren aushändigte, pressten sie diese mit brachialem Druck auf die Glasplatte des Kopiergeräts. Jedem Bibliothekar grauste es davor. Mit dem Siegeszug des privaten Scanners zu Hause waren die Leute nicht etwa sensibler geworden, sondern im Gegenteil noch achtloser. Tief in ihrem Inneren schienen sie zu glauben, dass man nur mit roher Gewalt das Beste beim Kopieren rausholen konnte.

Anton Purgler rückte Die Seele noch einmal in der Scannerwiege zurecht.

Doch die Bücher brachen. Je älter, desto schneller. Waren sie geklebt statt gebunden, zerfielen sie oft schon nach wenigen Kopiervorgängen. Lose Seiten flogen herum und gingen verloren. Die Österreicher hingegen waren auf eine pfiffige Idee gekommen. Bei ihnen wurde jedes Buch halb aufgeklappt auf dem Rücken in den Scanner eingelegt. Dann fuhr eine breite Düse zum Buchblock hinunter, saugte die Seite mit Druckluft an und tastete sie, sobald sie senkrecht stand, blitzschnell links und rechts mit einem Scannerkopf ab. Nach getaner Arbeit glitt die Düse ein Stückchen hoch, zwang die Seite durch einen Luftstoß zum Umblättern, senkte sich wieder herab, saugte eine neue Seite an und fraß erneut die Buchstaben in sich hinein. So blieben auch wertvolle Folianten unversehrt.

Purgler drückte auf den Startknopf und sah auf die Uhr: Der Wechsel hatte genau 120 Sekunden gedauert. Das bescherte ihm vier Minuten Pause. Bei anderen Temperaturen hätte er sich eine

Lustlos griff er sich ein Buch aus einer der unzähligen Kisten, setzte sich auf seinen Pausenhocker und blätterte darin herum.

Wieder Seelenkram.

Er legte das Buch zurück. Unmenschlich, diese Hitze!

Ganz sicher war die Tür zugefallen.

Plötzlich erklang ein lautes Hupen.

Es kam von Nummer zwölf.

Purgler rannte zur betreffenden Maschine. Ihre Düse berührte gerade noch die Kante der angesaugten Seite, doch der Scannerkopf konnte nicht an ihr heruntergleiten.

Es war keine Seite.

Es war ein Bündel von Seiten.

Jemand hatte vergessen, das Buch bis zum Ende aufzuschneiden. Der letzte Bogen zeigte eine noch geschlossene Falz. Ein ärgerliches Phänomen des 18. Jahrhunderts, als Bücher unaufgeschnitten über die Ladentheke gingen. Fand sich kein williger Leser, blieb das Buch zugeknöpft wie eine alte Jungfer, manchmal über Generationen hinweg. Für diesen Fall, so lauteten Anton Purglers Anweisungen, sollte er das Papier ohne Hemmungen auftrennen. »Lesbarkeit geht vor Jungfräulichkeit«, hatte der Mann mit seinem seltsamen Akzent meckernd gelacht.

Purgler fluchte. Wenn er die Maschine nicht binnen einer Minute wieder in Gang brachte, geriet sein ganzes Scannerballett aus dem Takt. Fieberhaft überlegte er, wo er sein Tai Pan beim letzten Mal liegen gelassen hatte.

Bei Nummer acht, vor drei Tagen!

Er hechtete hinüber, fand den edlen zweischneidigen Dolch hinter der Tastatur, bekam ihn am falschen Ende zu fassen, konnte seinen Schwung jedoch nicht mehr bremsen, schnitt sich tief in die Handfläche hinein, ignorierte das Blut, obwohl er dessen Anblick normalerweise nicht ertrug, wirbelte das Messer in der Luft herum, griff nun richtig zu, hechtete zurück zur Nummer zwölf und riss mehr als er schnitt die Falz des Seitenbündels auf.

Geschafft!

Füüüsch … püh … füüüsch … püh … füüüsch …

»Bücher darf man aber nicht zerschneiden!«, sagte eine Stimme voller Empörung hinter ihm.

Purgler fuhr herum.

Vor ihm stand ein Mädchen.

Anton Purgler dachte an die zwanzig Euro in der Stunde, an seine Bewährungsauflagen, an 250000 Euro Konventionalstrafe, spürte den Dolchschaft in seiner Hand, noch mehr den aufwallenden Schmerz, und wurde von einer namenlosen Wut gepackt.

Dann riss der Film.

2 Hamburg

Mittwoch, 7. Juli, 15:50

»Süßigkeiten?«

Melissa Stockdale schob mit spitzen Fingern die Jellybeans von Holzwangers Tastatur.

»Gehirnnahrung.«

»Das sagen alle!«

Eine hellgrüne Bohne kullerte aus der Packung und blieb zwischen F und G liegen.

»Es ist das einzige Feld, auf dem die USA Europa überlegen sind.«

»Bei Süßigkeiten?«

»Bei der Entwicklung künstlicher Aromastoffe, die die Natur in ihrer sensorischen Durchschlagskraft weit übertreffen. Außerdem machen sie glücklich.«

»Dachte ich mir: Es ist eine Droge!«

»Iwo«, sagte Holzwanger und steckte die hellgrüne Bohne in den Mund. Birne. Ganz gut, aber bei Weitem nicht so berauschend wie Wassermelone. Wassermelone in natürlicher Form enthielt Enzyme aus der Gruppe der Superoxid-Dismutase. Superoxid-Dismutase wirkte stressabbauend, weswegen ihn schon der bloße Geschmack in Urlaubsstimmung versetzte.

»Twenty percent«, gab Holzwanger in der Konzernumgangssprache zurück. Melissa war die Tochter eines US-Offiziers und einer deutschen Lehrerin. Sie mochte es, wenn man ihr Gelegenheit bot, die Aussprache ihrer Untergebenen zu korrigieren.

Diesmal verzichtete sie allerdings darauf. Stattdessen starrte sie weiter auf den Bildschirm und schüttelte missbilligend den Kopf.

»Darf ich dich daran erinnern, Lady Boss«, hob Holzwanger an, »dass in meinem Vertrag steht, ich dürfe – nein müsse! – zwanzig Prozent meiner Arbeitszeit mit sinnlosen Tätigkeiten verbringen, die man mit Müh und Not gerade noch als kreativ bezeichnen kann?«

»Was ist daran kreativ, wirre Zeichenfolgen anzustarren und dabei auf Firmenkosten Jellybeans zu vertilgen?«

»Oh, das ist ein kleines Proggie, das ich selbst geschrieben habe«, antwortete Holzwanger stolz, »und Jellybeans gehören zu unseren Sozialleistungen. Das Proggie spielt mir alle Suchworte zu, die bei uns null Treffer erzielen. Hier: Syndoneria! Oder Thayesula.«

»Herr Doktor Holzwanger«, sagte Melissa förmlich, »Sie sind 47 Jahre alt, promovierter Mediziner, nur durch einen dummen Zufall bei Toggle Inc. gelandet und haben absolut nicht das Recht, ein Wort der Jugendsprache wie ›Proggie‹ zu verwenden.«

Holzwanger seufzte. »Schon vergessen, hier herrscht ja Altersrassismus.«

Das Durchschnittsalter bei Toggle betrug 29 Jahre, seine Worte enthielten also etwas Wahres. Dennoch mussten beide lachen. Dann klickte Holzwanger mit dem Mauszeiger auf ein kleines Kästchen in der Menüleiste. »Ich bin auf etwas Merkwürdiges gestoßen. Das Proggie …« – er kostete das Wort genüsslich aus – »… speichert nämlich auch, was es über den Tag so einfängt. Mit der Zeit ergibt sich ein Verlaufsmuster. Da!«

Ein paar Kurven erschienen auf dem Bildschirm.

»Seit Wochen tauchen über Stunden hinweg immer wieder

»Na und?« Melissa Stockdale kaute an einer Haarsträhne. Sie sah aus wie die junge Juliette Binoche, ein bisschen zu mager allerdings, und wer ihr das erste Mal begegnete, hielt sie für eine hübsche, aber desorientierte BWL-Studentin. In Wahrheit unterstand ihr das Deutschlandgeschäft von Toggle Inc., dem größten Suchmaschinenbetreiber der Welt.

Holzwanger knurrte: »Wenn ich mich als User vertippe und deswegen keinen Suchtreffer erziele, korrigiere ich meine Eingabe, statt sie falsch zu wiederholen. Nein, hier sucht jemand mit voller Absicht nach nicht existenten Begriffen.«

Er hielt einen Moment inne.

»Falls es wirklich nur einer ist. Mein Programm zeigt bis zu zwanzig verschiedene IP-Nummern, unter denen der jeweilige Begriff abgefragt wird.«

»IP-Nummern sind nicht dein Ressort«, ermahnte ihn Melissa. »Du bist Personalentwickler, kein Programmierer. Außerdem überwachen die IT-Cracks in Zürich das Suchwortkorpus. Das müssen sie allein schon tun, um ihre Rechtschreibkorrektur auf dem Laufenden zu halten. Wenn es Auffälligkeiten gäbe, wären sie dort längst bekannt.«

»Mhm«, machte Holzwanger. Er schien nicht überzeugt.

»Und außerdem … warum soll jemand nicht sinnlose Buchstabenkombinationen suchen? Bestehen Passwörter aus sinnvollen Worten?«

Sie blickte ihn triumphierend an.

»Passwörter«, murmelte Holzwanger, »ja, das könnte es sein! Jemand sucht Passwörter.«

»Nicht, dass wir sie ihm lieferten«, sagte Melissa, die selbst im Gespräch mit ihrem Personalchef ums Image der Firma besorgt war. »Aber sicherlich gibt es da draußen immer noch ein paar Idioten deines Alters, die glauben, Passwörter schwämmen im Ozean des Internets offen herum.«

»Trotzdem bleibt es ein seltsames Muster«, beharrte Holzwanger, ohne auf den erneuten Affront einzugehen.

Dort, in Kalifornien, saß die Firmenzentrale.

Holzwanger zuckte mit keiner Wimper, griff aber nach der Jellybeans-Packung und warf ein buntes Bohnengemisch ein.

»Es beeindruckt dich also auch«, stellte Melissa Stockdale fest, die Holzwangers Verlegenheitsgeste kannte. »Folge mir in die Große Freiheit. Wir haben um 16 Uhr eine Videokonferenz mit Amerika.«

 

Toggle Inc. war ein junger, aber dennoch schon sehr großer IT-Konzern. An zwei Dutzend Standorten arbeiteten über 23000 Menschen, und dass man in Valley Hills nach einem deutschen Angestellten mit der Mitarbeiternummer 19388 gefragt hatte, erschien nicht nur diesem bemerkenswert. Auch seine Vorgesetzte wunderte sich. Sie trug zwar die Nummer 4533, aber trotz ihrer Stellung als deutsche Niederlassungsleiterin kam sie nur in Ausnahmefällen – rein privater Natur – mit der obersten Ebene in Kontakt.

Melissa Stockdale war fünfzehn Jahre jünger als Nikolaus Holzwanger, doch in der Firmenkultur von Toggle spielte das kaum eine Rolle. Manchmal wünschte sich Holzwanger ein bisschen weniger Lockerheit und etwas mehr Form – Melissa mangelte es deutlich am Gespür für Anstand und Abstand –, doch der deutsche Personalchef sah die Gründe dafür: Sie lebte den american way of career. Als hochintelligente Praktikantin begonnen, nie Urlaub genommen, keine Mission als ehrenrührig empfunden, immer auf dem Sprung zu neuen Außenposten. Wer eine solche Schule absolviert hatte, erwies sich als ebenso begeisterungsfähig in der Sache wie nassforsch im Umgang mit anderen Menschen.

Las Holzwanger dagegen Lebensläufe deutscher Uni-Absolventen, fühlte er sich in die Zeit seines Urgroßvaters zurückversetzt. Zwar betonten alle Bewerber, mindestens zwei Semester in Rom, London, Paris oder Barcelona verbracht zu haben, aber nie schimmerte eine persönliche Neigung durch. Im Gegenteil, es wirkte wie der Vermerk, auch mal am Kaisermanöver teilgenommen zu haben. Was

Nikolaus Holzwanger kannte das aus eigener Erfahrung.

Ganz anders bei ausländischen Bewerbern, die häufig berufliche Sackgassen aufzuweisen hatten. Amerikanische Toggle-Bewerber stellten sie sogar extra heraus. Denn die Einstellungspolitik der Firma galt als legendär: Ein Ausflug ins Musikgeschäft, ein gescheitertes Startup, eine abgebrochene Karriere als Hundetrainer, ja selbst eine psychotische Sektenerfahrung waren nicht ehrenrührig. Dahinter verbargen sich womöglich schlummernde Talente, die sich für den Konzern nutzbar machen ließen.

Toggle liebte kreative Geister.

Aber dass kreative Geister auch Toggle liebten, bereitete dem deutschen Personalchef zuweilen Kopfzerbrechen. Regelmäßig musste er dann Kunststudenten erklären, dass die Firma vornehmlich Computerfachleute einstellte, um den Betrieb der weltweit größten Suchmaschine aufrechtzuerhalten, und nur in Sonderfällen reine Kreativität ankaufte. Das ließ sich umso schwerer vermitteln, je genauer die Kunststudenten den Laden kannten. Dessen Büros waren nämlich so bunt wie sein Firmenlogo, im Hausjargon Doodle genannt, und irgendjemand musste ja einst für die Farbgebung gesorgt haben.

»Ein Zufallsgenerator«, antwortete Holzwanger dann mit einem strahlenden Lächeln. »Wir sind ein Hightech-Unternehmen. Simple Gebrauchskunst erzeugen wir maschinell.«

 

»Lieber noch mal aufs Klo?«, fragte ihn Melissa, als sie entlang blauer und roter Wände in Richtung Große Freiheit schritten. Die Konferenzräume hießen alle nach Straßen im Rotlichtbezirk der Stadt.

»Ich denke mal, ein CEO hat gelernt, sich kurz zu fassen. Wenn er überhaupt was gelernt hat.«

»Na, du greifst nach den Sternen! Es ist nicht der CEO, sondern Weinberger vom Strategieboard.«

»Er war bei der Air Force«, sagte Melissa knapp. »Fliegt noch heute seinen eigenen Jet.«

»Deswegen! Fragt sich nur, wie der zu unserem undisziplinierten Haufen stieß.«

»Kannst du dir vorstellen«, entgegnete Melissa spitz, »dass es Menschen geben muss, deren einzige Aufgabe darin besteht, Strukturen ins Chaos einzuziehen?«

»Schwer. Nennt man die Kindergärtner?«

Ihre Augen blitzten wütend auf: »Er ist ein Freund meines Vaters und so oft dekoriert worden, dass seine Uniform irgendwann mal in die Altmetallsammlung statt in den Altkleidercontainer wandern wird.«

Holzwanger schwieg. Soldatenkinder waren unzugänglich für den leisesten Zweifel am Nutzen militärischer Kompetenzen.

Die beiden betraten das Videokonferenzzimmer und sahen Walter Weinberger schon sitzen. Respektive hängen, denn der Bildschirm war an der Decke angeschraubt.

»Hi, Mel!«, erklang eine dröhnende Stimme.

Offensichtlich erfasste die Kamera bereits den Türbereich.

»Sollen wir nicht besser hier stehen bleiben?«, raunte Holzwanger seiner Vorgesetzten ins Ohr. »Dann können wir uns aus dem Staub machen, falls er bissig wird.«

Weinberger war trotz seines Pilotenscheins ein massiger Mann mit dem Schädel eines afrikanischen Kaffernbüffels. Man konnte sich kaum vorstellen, dass sich über ihm eine Cockpithaube schließen ließ. Holzwanger erinnerte sich daran, dass er sich in London gefragt hatte, wie viele Frauen unter diesem schweren Körper schon Atemnot erlitten haben mussten.

Melissa Stockdale stieß ihn unwirsch in die Seite.

»Ich sehe nur eine Hand!«, erklang es aus dem Monitor. »Würdet ihr euch bitte vor die Kamera setzen, Mel! Ist der Doc dabei?«

Weinberger grinste.

»Das nenn ich europäische Umgangsformen!«

Erst jetzt fiel Holzwanger auf, dass Weinberger deutsch konnte. So etwas gab es unter Amerikanern selten.

»Doc, in Ihren Unterlagen steht, dass Sie Englisch sprechen wie ein Litauer Russisch«, dröhnte Weinberger. »Nämlich perfekt, doch mit äußerstem Widerwillen. Keine Ahnung, warum. Aber weil ich Ihren vollen Einsatz brauche, mache ich eine Ausnahme und rede in der Sprache meines Geburtslandes.« Er hielt kurz inne. »Ich sehe immer noch bloß eine Hand!«

Die beiden Deutschen setzten sich am Konferenztisch der fest installierten Webcam gegenüber.

»So ist’s prima! Ah, seit unserer Londoner Begegnung haben Sie abgenommen, Doc! Sehen aus wie ein Strich in der Landschaft.«

»Das macht die Datenkompression«, entgegnete Holzwanger knapp.

»Er hat vier Kinder«, warf Melissa ein.

»Ach du Scheiße! So jemanden stellen wir ein?«

»Walter!«, entfuhr es der Deutschlandchefin. »Du hast selber fünf! Mit drei Frauen!«

Der Amerikaner grinste fröhlich, und für einen Moment wurde er Holzwanger fast sympathisch.

»Darum weiß ich, wovon ich rede! ›Wer Weib und Kind hat, gibt dem Schicksal Geiseln in die Hand.‹ Kennen Sie den Satz, Doc? Stammt von irgendeinem blöden Philosophen. Toggeln Sie das mal! Hatte unser Fliegerarzt ständig auf den Lippen, um uns den Gebrauch von Kondomen schmackhaft zu machen. Tripper ist ja keine wirkungsvolle Abschreckung.«

Für einen Moment brach der Ton ab, und das Bild fror in einer unvorteilhaften Mundstellung Weinbergers ein.

»Ich kenne ihn schon sehr lange«, flüsterte Melissa Stockdale. »Er ist mein Patenonkel. Darum fällt es mir schwer, immer die Form zu wahren.«

»Ihm auch.«

Da löste sich Weinberger wieder aus der Erstarrung.

»Walt, das ist unser Programm!«, sagte Melissa.

»Sind eben sehr viele Daten zu übertragen, bei so einer Statur«, murmelte Holzwanger.

Weinberger ging über beides hinweg. »Schluss mit dem Schmu«, erklärte er. Das Wort bewies, dass er wirklich einem deutschen Elternhaus entstammte. »Wie Sie wissen, haben wir ein großartiges Projekt am Laufen. Ein absolut einzigartiges Ding! Seit Jahren scannen wir alle Bücher der Menschheitsgeschichte ein. Zuerst in den USA, nun auch in Europa. Jeden auf der Welt macht das glücklich. Jeden! Nur die Deutschen nicht.«

»Das stimmt nicht«, warf Melissa Stockdale ein. »In Frankreich, Spanien, Italien, Dänemark –«

»Dänemark!«, höhnte Weinberger. »Mir kommen die Tränen.« Er knackte nach Art eines Hollywood-Mafioso mit den Fingerknöcheln. »Nein, die Deutschen sind die größten Querulanten. Und jetzt werden sie aggressiv! Wie wir aus sicherer Quelle erfahren haben, drängen sie in Washington darauf, uns das Handwerk zu legen. Nur um ihre eigenen Staatsgelder zum Fenster rauszuwerfen! Sie wollen eine ›Europäische Bibliothek‹ in der EU aufbauen. Dass ich nicht lache! Dazu hinken sie technologisch viel zu weit hinterher.«

»Was heißt, das Handwerk legen?«, unterbrach ihn Melissa. Sie verspürte eine gewisse Unruhe. Seit Monaten hatte sie für nichts als den Erfolg von Toggle Books gearbeitet.

»Sie wollen die Einstellung des gesamten Projekts. Kein kostenloses Weltkulturerbe mehr auf den Bildschirmen der Welt, für niemanden. So sieht’s aus!«

»Das tut Washington nie«, warf Holzwanger ein.

»Natürlich nicht, Doc! Für irgendwas müssen unsere Wahlkampfspenden ja gut sein. Aber Washington will auch nicht sein Gesicht verlieren.« Weinberger machte eine kurze Pause. Dann grinste er in die Kamera: »Man hat uns nahegelegt, die Deutschen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Ihnen fehlt jedes sachliche Argument, sie werden nur von dumpfer Angst gequält. Diese Hosenscheißer!«

»Das stimmt leider auch nicht!«

Weinberger winkte gelangweilt ab. »Ein Nebenkriegsschauplatz. Das erledigen wir mit dem Scheckbuch. Nein, bei euch geht es um nackte Panik. Angst vor Veränderung, Misstrauen gegenüber Technik, Angst vor Spitzeln.«

Damit lag er nicht ganz falsch.

Wollte Holzwanger – rein aus Neugier – in Bewerbungsgesprächen kritische Töne zu Toggle hören, blieben ausländische Kandidaten stumm. Nicht, weil sie feige waren – ihnen fiel einfach nichts ein! Bei Deutschen verursachte die Frage dagegen stets einen Dammbruch. Er begann mit George Orwells 1984 und endete bei Gestapo und Stasi. Weil man bei Toggle neben der Suchmaschinenfunktion auch viele andere Datendienste nutzen, ja sogar die Welt aus der Vogelperspektive betrachten konnte, glaubte Umfragen zufolge jeder dritte Anwender, ein Toggle-Satellit würde ihn ständig beobachten. Sobald er sich öffentlich küsste, wanderte das Foto mit Name, Anschrift, Geburtsdatum und Blutgruppe ins Internet.

Absurd!

Toggle hatte nicht mal eigene Satelliten. Alle Geodaten kaufte der Konzern zu. Als Spione agierten seit jeher die Regierungen der Welt.

»Was heißt, die Europäer mit ihren eigenen Waffen schlagen?«, hakte Holzwanger nach.

»Wir entängstigen sie«, brüllte Weinberger begeistert in die Kamera. »Washington schlägt vor, dass wir freiwillig – freiwillig, hahaha! – einen großen TA-Zinnober veranstalten, wie man ihn noch nie gesehen hat! Mit hochkarätigen Wissenschaftlern, Nobelpreisträgern, meinetwegen auch Kirchenleuten und Journalisten, diese ganzen Wichtigtuer und Windmacher eben, und wenn sich darunter ein Datenschützer versteckt, werdet ihr beiden Hübschen

»TA?« Dieser Abkürzung war Holzwanger noch nie begegnet.

»Technology Assessment«, erklärte Melissa, »Technikfolgenabschätzung. Ist so eine Modeerscheinung.«

Sie wirkte dennoch erleichtert. »Jeder Gegner kann seine Horrorvision ausbreiten. Wir hören nur zu, zensieren nichts, das bringt uns exzellente PR. Weil sich Wissenschaftler aber immer sofort zerstreiten, relativiert sich jede gefährliche Aussage.«

»Genau«, freute sich Weinberger. »Doc, das ist Ihr Spielfeld! Sie kennen diese Eierköpfe doch alle. Holen Sie sich, wen immer Sie brauchen. Aber machen Sie das ganz große Fass auf! Ich will –«

Die Datenleitung nach Valley Hills brach zusammen. CONNECTION FAILED vermerkte der Bildschirm weiß auf blau.

»Hat eigentlich schon mal jemand eine Technikfolgenabschätzung für Videokonferenzen vorgenommen?«, fragte Holzwanger. »Könnte sein, dass auf diesem Gebiet einiges im Argen liegt.«

Melissa Stockdale lächelte vielsagend. »Unvollständige Anweisungen von oben sind besser als vollständige«, entgegnete sie. »Lernt man in jedem MBA-Studium … nach der Vorlesung, wenn einem die Professoren verraten, wie’s in der Praxis wirklich läuft. Am besten sind natürlich gar keine Anweisungen von oben.«

Sie stand auf. »Wollen wir gleich einen Plan machen?«

Holzwanger schüttelte den Kopf: »Schluss für heute. Ich muss Joshi vom Kindergarten abholen, Olga hat Geigenunterricht, und die Zwillinge brauchen neue Fußballschuhe. Morgen beginnen die großen Ferien.« Er hielt inne, als habe er sich bei einem Fauxpas ertappt. »Aber das kannst du ja nicht wissen.«

Seine Vorgesetzte blickte ihn mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an.

War es der Neid einer Kinderlosen?

3

Mittwoch, 7. Juli, 16:30

Anton Purgler hatte sich einen der herumliegenden Wälzer gegriffen, dessen Papier ihm als Verband brauchbar erschien, hatte aus ihm ein Dutzend Seiten herausgerissen und damit notdürftig die Hand versorgt. Dann hatte er den nutzlos gewordenen Buchtorso über die Blutlache auf dem Boden gestülpt und endlich die Notfallnummer gewählt.

Der Anruf tutete ins Leere.

Unruhig lief er in der großen Halle, die von den Maschinen und Bücherkisten kaum zu einem Drittel ausgefüllt wurde, auf und ab.

Er würde kündigen, sofort!

Natürlich musste er den Mercedes abstoßen, das tat weh. Andererseits hatte er ihn nur dazu gebraucht, jeden Tag aufs Land hinauszufahren, und im Kiez fand sich sowieso nur schwer ein Parkplatz für die klobige S-Klasse aus den 90ern. In Gold, so ein Wahnsinn! Was hatte er sich dabei nur gedacht? Jede Polizeistreife hielt so eine Kiste an. Der reinste Aufschrei: Hallo, hier kommt ein Zuhälter, Drogendealer und Waffenschieber!

War wohl deswegen auch so billig gewesen. 2000 Euro, bar auf die Hand des Neuköllner Türken. Dafür bekam man sonst nur einen rostigen Fiesta.

Plötzlich klingelte das Handy.

Rufnummernunterdrückung.

»Ja?«

»Was ist passiert?«, fragte eine kratzige Stimme. Purgler erkannte sie auf Anhieb. Es war der Mann, der ihn eingestellt hatte.

»Ich kündige«, sagte Purgler. »Sofort.«

»Warum?«, fragte der Mann.

»Hitze. Es ist die Hitze! Nicht auszuhalten.«

Der Mann lachte. Es war ein unangenehmes Lachen. »Ich erhöhe: 25 Euro netto! Und einen Kühlschrank, voll mit … was trinken Sie gerne? Cola light?«

»Bier!«, sagte Purgler rasch. »Wernesgrüner. Aber es nützt nichts. Ich kündige trotzdem.«

Anton Purgler schluckte. »Nein, ich …«

»Ist was passiert?«, fragte die Männerstimme, plötzlich so scharf wie ein Vollzugsbeamter. Jetzt klang sein Akzent gar nicht mehr weich.

»N… nein!«

»Wie weit sind Sie heute gekommen?«

Purglers Blick fiel auf die Kisten zu seinen Füßen. Er las die Nummern ab: »42-845 ganz, 44-321 zu zwei Dritteln.«

»Das 18. Jahrhundert ist durch?«

»Ja«, sagte Purgler nach kurzem Zögern.

»Komplett?«, hakte die Stimme nach.

»Komplett!«, bekräftige Purgler.

»Alle Bücher?«

»Alle Bücher.«

Für einen Moment blieb es still im Hörer.

»Ich bin nett«, sagte die Männerstimme dann. »Ich bleibe dabei, 25 Euro und ein Kühlschrank voller Wernesgrüner. Aber nur wenn nichts passiert ist. Sonst –«

Die Telefonverbindung brach ab.

Anton Purgler atmete tief durch.

Mannomann!

So gut hatte er noch nie verhandelt.