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INHALT

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Vorwort

Einleitung

Stammbaum des Hauses Hannover, 1714–1837


DIE KLEINE DRINA

VOM KENSINGTON PALACE ZUM BUCKINGHAM PALACE

DIE JUNGFRÄULICHE KÖNIGIN

LORD M.

DER DEUTSCHE HUNGERLEIDER

DER HAUSHALT IHRER MAJESTÄT

KÖNIGIN VICTORIAS HOF

DAS WOHLERGEHEN MEINES VOLKES

MUTTERSCHAFT

HINTER DEN KULISSEN


Besetzungsliste

Bildquellen

VORWORT

VON DAISY GOODWIN

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Wer war Königin Victoria? Wenn wir diesen Namen hören, denken die meisten von uns an eine schwarz gekleidete alte Dame mit einer schwarzen Haube auf dem Kopf. Bis 2016 war sie die am längsten regierende Monarchin Großbritanniens, denn sie bestieg den Thron 1837 im Alter von 18 Jahren und regierte das Land 63 Jahre lang bis zu ihrem Tod im Jahr 1901. Kurz nach Beginn ihrer Regierungszeit wurde die Fotografie erfunden, doch die ersten Aufnahmen von Victoria und ihrem Gemahl Albert entstanden in den 1850er-Jahren, als die Königin bereits neun Kinder geboren hatte. Wir besitzen also keine Fotos der jungen Victoria, die am Morgen des 20. Juni 1837 beim Aufwachen feststellte, dass sie Königin des mächtigsten Staates der Welt geworden war. Sie hinterließ uns jedoch ihre Tagebücher, die ein lebhaftes Bild eines charakterstarken und leidenschaftlichen jungen Mädchens vermitteln. So schrieb sie kurz nach der Verlobung über Albert: „Ich sah gerade meinen allerliebsten Albert in seiner weißen Kaschmir-Reithose, und er hatte nichts darunter an!“ Oder, nach dem ersten Abschiednehmen: „Oh, wie sehr ich ihn liebe, wie intensiv, wie hingebungsvoll, mit welcher Leidenschaft! Ich habe geweint und war so traurig. Habe Tagebuch geschrieben. Bin spazieren gegangen. Habe geweint.“

Ich las diese Tagebücher zum ersten Mal, als ich mich während des Studiums mit dem England des 19. Jahrhunderts beschäftigte, und fühlte mich sofort zu dem Mädchen hingezogen, das diese Zeilen geschrieben hatte. Viele Jahre später, als meine Tochter ein Teenager war, musste ich eines Tages daran denken, dass sie so ziemlich dasselbe Alter hatte wie Victoria, als diese Königin wurde, und auch ungefähr gleich groß war (gerade mal anderthalb Meter hoch), und ich dachte, was würde passieren, wenn sie eines Morgens aufwachte und feststellen musste, dass sie über Nacht die berühmteste Frau der Welt geworden war? Von diesem Moment an entstanden in meinem Kopf Szenen, und die Idee für die TV-Serie Victoria war geboren.

Von Anfang an wollte ich Victoria als ein Mädchen darstellen, das unter den Augen der Öffentlichkeit aufwachsen musste. Die meisten von uns machen ihre pubertätsbedingten Fehler im privaten Bereich, doch Victoria war nahezu ständig den kritischen Blicken der Höflinge, der Presse und des Publikums ausgeliefert. Damals gab es noch nicht einmal Pressesprecher, die irgendwelche Schnitzer ausbügeln konnten. Dafür jede Menge Leute, die davon überzeugt waren, dass ein 18-jähriges Mädchen keine verantwortungsbewusste Monarchin sein konnte. Aus dem, was Victoria geschrieben hat, geht hervor, dass sie selbstbewusst war. Obwohl sie in jungen Jahren von ihrer Mutter und deren Berater, Sir John Conroy, in jedem Bereich ihres Alltags streng kontrolliert wurde, ließ sich Victoria von ihnen nicht formen. Von dem Augenblick an, in dem die junge Königin den Thron bestieg, tat sie nur noch das, was sie für richtig hielt. Ein Beispiel: Als Baby war sie auf den Namen Alexandrina Victoria getauft worden, nach ihrem Patenonkel Alexander von Russland und ihrer Mutter Victoire; als kleines Mädchen wurde sie von ihrer Mutter und der Gouvernante Lehzen „Drina“ gerufen. Als Königin aber wollte sie nicht einen der Namen ihrer Vorgängerinnen tragen wie Elisabeth oder Maria, sondern als „Königin Victoria“ angesprochen werden. Das war schockierend, denn dieser Königinnenname war vollkommen neu. Mit ihrer Entscheidung hob sie praktisch das Viktorianische Zeitalter aus der Taufe. Ich baute die Figur, die Jenna Coleman so glaubwürdig in der TV-Serie verkörpert, auf dem Mädchen auf, das sich in seinem Tagebuch und seinen Briefen offenbart, und hoffe, das Publikum dadurch neugierig auf Victoria zu machen. Dieses von Helen Rappaport kenntnisreich und kompetent verfasste Buch bietet dafür den idealen Einstieg.

Ich hoffe, dass die TV-Serie und dieses Buch deutlich machen, dass Victoria sehr wohl als Heldin auch unserer Zeit gesehen werden kann. In vielerlei Hinsicht ist sie eine der ersten Frauen, die alles schafften, denn sie war Ehefrau und Mutter und gleichzeitig eine Königin, deren Einfluss noch Jahrhunderte später spürbar ist. Sie war nicht perfekt, aber sie war mutig und resolut – und sehr viel mehr als nur eine schwarz gekleidete alte Dame.

~DAISY GOODWIN, AUTORIN DES DREHBUCHS VON VICTORIA

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EINLEITUNG

GEDANKEN UND GEFÜHLE EINER JUNGEN KÖNIGIN

„ Jedes Handwerk muss erlernt werden, und das Handwerk eines konstitutionellen Monarchen unserer Tage ist, wenn man alles richtig machen will, ein sehr schwieriges.“

… KÖNIG LEOPOLD I. VON BELGIEN AN KÖNIGIN VICTORIA …
… 16. JANUAR 1838 …

Nur über wenige britische Monarchen wurde so viel geschrieben wie über Königin Victoria. Sie scheint uns ebenso zu faszinieren wie Henry VIII und Elizabeth I und sich mindestens ebenso gut als Hauptfigur von Filmen und TV-Serien zu eignen. Ähnlich wie ihre beiden charismatischen Tudor-Vorfahren wurde sie zum Gegenstand zahlloser Interpretationen, und man könnte meinen, dass es über sie nichts Neues mehr zu sagen, zu schreiben oder zu enthüllen gäbe.

Die meisten bisher gedrehten Historiendramen um Victoria hatten die ältere, reifere Königin im Fokus und beschäftigten sich insbesondere mit ihrem Leben als Witwe nach Alberts Tod. Für diese neue achtteilige Serie für ITV nahm Drehbuchautorin Daisy Goodwin dagegen die ersten unsicheren Schritte Victorias als Monarchin unter die Lupe.

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„Dieses Buch, das Mamma mir gab “

… VICTORIA …

Am 31. Juli 1832 begann Victoria als 13-jährige Prinzessin und designierte Herrscherin über das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland, die Geschichte ihres Lebens aufzuschreiben – in ein in rotes Leder eingebundenes Tagebuch, ein Geschenk ihrer Mutter.

Dieses Buch, das Mamma mir gab, damit ich darin meine Reise nach Wales aufschreibe.

~VICTORIAS TAGEBUCH, 31. JULI 1832

In den nächsten 70 Jahren sollte Victoria tagtäglich ihre Erlebnisse aufschreiben, und zu Beginn ihrer Aufzeichnungen musste sie das Tagebuch regelmäßig ihrer Mutter und ihrer Gouvernante vorlegen. Was als Erziehungsmaßnahme begann, wurde zu dem ausführlichsten und umfangreichsten persönlichen Dokument, das von einer Königin je verfasst wurde. Im Laufe ihres Lebens wuchs die Zahl der Tagebücher auf 141 an.

Die ersten Bände enthielten Victorias noch kindliche Beschreibungen von Personen, Orten und Ereignissen, vom Leben des Mädchens im Kensington Palace; Victoria schrieb von ihrer Liebe zu ihren Puppen und zu ihrem Hund Dash, aber auch darüber, wie sie von der Außenwelt abgeschirmt wurde. Nach ihrer Krönung 1837 und ihrem Umzug in den Buckingham Palace füllte sie die Seiten ihrer Tagebücher mit faszinierenden Berichten über Menschen, die sie sehr beeindruckten (insbesondere ihr erster Premierminister Lord Melbourne); sie vertraute den Tagebüchern ihre Hoffnungen an, ihre Kommentare zu ihrem Umgang mit der großen Verantwortung, die ihr auferlegt worden war, und ihre Freude darüber, eine glückliche Ehe führen zu können.

Parallel dazu schrieb sie ab 1832 auch eine beeindruckende Anzahl von Briefen, aus denen wir einiges über die politischen Probleme jener Zeit erfahren, und über die schweren Entscheidungen, die sie als Monarchin zu treffen hatte.

Zusammen mit der TV-Serie erzählt dieses Buch die berührende Geschichte der Entwicklung einer jungen Frau, die 1837 zur Königin gekrönt wurde, auf der Grundlage ihrer Tagebücher und Briefe. Es enthält zahlreiche Zitate, durch die Königin Victoria selbst zu Wort kommt, sodass wir sie mitsamt all ihrer Stärken und Schwächen, ihrer Leidenschaft und Barmherzigkeit auf eine sehr persönliche Weise kennenlernen.

~HELEN RAPPAPORT, JUNI 2016

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DIE KLEINE
DRINA

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„Es war eine ziemlich melancholische Kindheit “

… VICTORIA …

Am 28. April 1819 erreichte ein in Amorbach in Franken aufgebrochener Konvoi von 20 staubbedeckten Kutschen und Wagen nach 30-tägiger Fahrt die Auffahrt des Kensington Palace in London. Die Reise war ein Rennen gegen die Zeit gewesen, denn es ging darum, dass der erste legitime Nachkomme eines Sohnes von George III auf englischem Boden zur Welt kam.

Die zukünftigen Eltern waren Edward, Herzog von Kent, viertältester der vier Söhne von George III, und seine Gattin Marie Louise Victoire, vor ihrer Heirat Prinzessin des deutschen Herzogtums Sachsen-Coburg-Saalfeld. Das Paar hatte bisher in eher bescheidenen Verhältnissen in Amorbach gelebt, denn der Herzog hatte nach seinem Ausscheiden aus der Armee nur Schulden angehäuft.

Der tragische Tod von Prinzessin Charlotte von Wales (Nichte des Herzogs und Schwägerin der Herzogin) hatte in ihnen die Hoffnung auf ein besseres Leben aufkeimen lassen. Falls der Herzog seine älteren kinderlosen Brüder überlebte, würde er eines Tages König sein. Und das Kind, das seine Frau erwartete, würde bei der Geburt den fünften Rang in der Thronfolge einnehmen.

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Im Jahr 1819 war der Herzog von Kent 50 Jahre alt. Wild entschlossen, zu heiraten und einen Erben zu zeugen, hatte er sich im Vorjahr von seiner langjährigen französischen Geliebten Madame St. Laurent losgesagt, sie mit einer großzügigen Pension bedacht, damit sie keine Schwierigkeiten machte, und war auf Brautschau gegangen. Er war sich darüber im Klaren, dass seine Heirat mit Victoire von Sachsen-Coburg alles andere als ideal war, da sie im Rang unter ihm stand und eine Witwe mit zwei Kindern war. Doch war dem Herzog sehr daran gelegen, seinen Anspruch auf den Thron zu untermauern, indem er ein respektabler Familienvater wurde.

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In The London Gazette wird die Geburt der kleinen Prinzessin verkündet.

Trotz der anstrengenden Reise gebar die Herzogin von Kent am 24. Mai um 4.15 Uhr ein hübsches, blondes und rundliches Mädchen. Das Baby sah dem Vater bemerkenswert ähnlich und hatte von ihm die großen blauen Augen der Hannoveraner geerbt. Die Geburt löste einen landesweiten Seufzer der Erleichterung aus, denn sie fiel mit einem der Wahnsinnsanfälle von George III zusammen, unter denen dieser während der Regentschaft seines unbeliebten Sohnes George, des späteren George IV, litt.

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„Schön und dick“ – Victoria als Säugling.

Die Herzogin von Kent hatte sich geweigert, den Beistand eines männlichen Arztes in Anspruch zu nehmen, und sich bei der Geburt stattdessen von der deutschen Frauenärztin Charlotte von Siebold betreuen lassen, einer der ersten Frauen in Europa, die einen medizinischen Abschluss erreicht hatte. Von Siebold verkündete Victorias Geburt den Würdenträgern, die sich im Vorzimmer eingefunden hatten, um das Ereignis zu bezeugen. Unter ihnen war der Herzog von Wellington, der die Hebamme nach dem Geschlecht des Kindes fragte.

„Ein Mädchen“, antwortete die Ärztin und fügte hinzu: „Ein sehr hübsches Baby. Nicht groß, aber dick. Wenig Knochen, viel Speck.“

Nur drei Monate später half die der Familie sehr verbundene Charlotte von Siebold einem weiteren Baby auf die Welt, diesmal auf Schloss Rosenau bei Coburg: dem Sohn von Ernst von Sachsen-Coburg-Saalfeld, Bruder der Herzogin von Kent und Cousin der kleinen Prinzessin. Von Anfang an hegte Auguste Herzogin von Sachsen-Coburg, Großmutter der beiden Säuglinge, den Plan, dass ihr lieber Enkelsohn Albert und ihre entzückende Enkeltochter eines Tages heiraten sollten. In ihrem Wohnsitz in Ebersdorf schrieb sie begeistert über den kleinen Albert: „Was für einen charmanten Begleiter würde er doch für die hübsche Cousine abgeben.“ Ein sehr langfristig angesetztes Eheanbahnungsprojekt nahm seinen Lauf.

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Der junge Prinz Albert, Victorias Cousin und späterer Prinzgemahl.

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PRINZESSIN
CHARLOTTE

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„Sie hätte gerettet werden können, wäre sie nicht bereits derart geschwächt gewesen.“

… VICTORIA …

Die 1796 geborene Charlotte war das einzige Kind des Prinzregenten George und seiner Gattin Caroline von Braunschweig, und damit bis zu ihrem Tod einziges legitimes Enkelkind von König George III Die warmherzige junge Frau sollte durch eine Heirat mit Prinz Wilhelm von Oranien eine vorteilhafte dynastische Verbindung eingehen, suchte aber verzweifelt nach einer Alternative. Nachdem sie Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeld kennengelernt hatte, bat sie ihren Vater, diese Ehe zu erlauben. Alexander I. von Russland unterstützte sie, indem er Prinz Wilhelm die Hand seiner eigenen Schwester Anna anbot, und Charlotte und Leopold durften 1816 heiraten. Das Paar schien glücklich zu sein und war beim Volk beliebt. Die 1817 verkündete Nachricht von der Schwangerschaft der Prinzessin löste großen Jubel aus.

Die von Natur aus gesunde Charlotte wurde durch die ihr in der Schwangerschaft verordneten Diäten und Aderlässe allzu stark geschwächt. Nachdem sie zwei Tage lang in Wehen gelegen hatte, gebar sie am 5. November 1817 ein totes Kind und verblutete kurz darauf. Als sie starb, rief das große Bestürzung hervor und galt als nationale Katastrophe, da der Tod zweier potenzieller Thronerben die Monarchie in die Krise stürzen könnte. Nun begann unter den noch lebenden Söhnen von George III eine besondere Art von Wettrennen: Jeder von ihnen versuchte, Thronerben zu zeugen. Adelheid, Gattin des Herzogs von Clarence (der zukünftige William IV), verlor zwischen 1819 und 1822 alle ihre vier Babys.

Nachdem er seine Frau und sein Kind verloren hatte, machte es sich Leopold zur Lebensaufgabe, seine Nichte Victoria auf das Amt vorzubereiten, das eigentlich Charlotte zugestanden hätte.

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Prinzessin Charlotte, durch deren Tod Victoria in der Erbfolge nachrückte.

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Der stolze Vater beschrieb die neugeborene Prinzessin mit den Worten „rundlich wie eine Wachtel“ und war unglaublich stolz auf sein kleines Mädchen, das er stets zu beschützen trachtete.

„Lassen Sie sie nicht fallen! Sie könnten eine Königin beschädigen!“, sagte er zum Bischof von Salisbury, als dieser kurz nach der Geburt zu Besuch kam und das Baby ungeschickt auf den Arm nahm. Der Herzog, der sich der Position seiner Tochter in der Erbfolge wohl bewusst war, verkündete, dass sie nach der großen Tudor-Monarchin Elizabeth genannt werden sollte. Dennoch nannte der Prinzregent George bei der Taufe den Namen Alexandrina, denn Pate des Kindes war Alexander I. von Russland, der im kürzlich überstandenen Krieg gegen Napoleon Verbündeter Großbritanniens gewesen war. Nach einer kurzen Pause fügte George den zweiten Vornamen Victoire hinzu. Die Prinzessin, die 1837 Königin werden sollte, wurde ihre frühe Kindheit hindurch von ihrer deutschen Mutter und Großmutter zärtlich „Maiblume“ genannt und ansonsten „Drina“ gerufen.

Auf das große Glück folgte ein tragisches Unglück: Im Januar 1820 erkältete sich der Vater bei einem Aufenthalt im Küstenort Sidmouth in Devon und starb in der Folge an Lungenentzündung. Seine letzten Worte waren ein Gebet: „Gott möge seine Frau und sein Kind schützen.“

Obgleich sie sich später kaum noch an ihren Vater erinnern konnte, sagte Victoria von sich: „Ich wurde dazu erzogen, mich selbst als Soldatenkind zu sehen.“ Sie entwickelte ein relativ verklärtes Bild der langen, insgesamt jedoch nicht besonders bemerkenswerten militärischen Karriere ihres Vaters und fühlte sich ihr Leben lang der Armee verbunden; und sie knüpfte immer wieder Beziehungen zu starken Vaterfiguren.

Sechs Tage nach dem Tod des Herzogs starb dessen Vater, König George III. In weniger als einer Woche war die kleine Drina dem Thron ein ganzes Stück nähergerückt.

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Victorias Vater, der Herzog von Kent, vierter Sohn von George III.

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Kensington Palace, in dem Victoria ihre Jugend verbrachte.

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KENSINGTON PALACE

„Mein liebes altes Zuhause“

… VICTORIA …

Der ursprüngliche, 1661 am westlichen Rand des Hyde Park erbaute Kensington Palace war ein Herrenhaus aus roten Ziegeln im jakobinischen Stil und von einem Park mit Rosskastanien und Buchen umgeben. Das Königshaus erwarb das Anwesen 1689 für William III, weil dessen Asthma in der bisherigen feuchten Residenz Whitehall schlimmer geworden war. William ließ die Innenräume von Architekt Sir Christopher Wren neu gestalten. Königin Anne liebte den Kensington Palace so sehr, dass sie 1704 eine Orangerie errichten ließ; die schönen Gärten hatte der Landschaftsgärtner William Kent 1723 bis 1727 im Auftrag von George I angelegt.

In die eigentliche Erhaltung des Gebäudes wurde jedoch nur wenig investiert, und nach dem Tod Georges II diente es nicht länger als königliche Residenz.

Nachdem Buckingham House im Zentrum Londons fertig war, zog es George III vor, dort zu residieren, und Kensington Palace wurde zum Wohnsitz rangniederer Mitglieder des Königshauses. Dem Herzog von Kent wurden 1798 zwei Stockwerke des Gebäudes zugewiesen, und er richtete sie aufwändig mit neuen Polstermöbeln und Vorhängen ein. Die teuren Stoffe konnten jedoch wenig am düsteren Charakter der Räume ändern, und der Herzog musste ohnehin bald vor seinen Gläubigern ins Ausland fliehen.

Als Victoria geboren wurde, war der einzige Bewohner von Kensington Palace ihr exzentrischer Onkel, Augustus Herzog von Sussex. Später erinnerte sie sich:

Im Mittelpunkt meiner frühesten Erinnerungen steht Kensington Palace, wo ich auf einem eigens für mich ausgebreiteten, gelben Teppich herumkrabbelte. Man sagte mir, wenn ich unartig sei und weinte, würde mein Onkel Sussex mich bestrafen. Deshalb schrie ich jedes Mal vor Angst, wann immer ich ihn sah.

VICTORIAS ERINNERUNGEN AN IHRE FRÜHE KINDHEIT, AUFGESCHRIEBEN 1872

Onkel William und Tante Adelaide schicken der lieben kleinen Victoria herzliche Grüße und Glückwünsche zu ihrem Geburtstag und hoffen, dass sie nun, da sie drei Jahre alt ist, ein sehr braves Mädchen sein wird. Onkel William und Tante Adelaide bitten die kleine Victoria auch, der lieben Mamma und der lieben Sissi in ihrem Namen einen Kuss zu geben, und auch der großen Puppe. Onkel William und Tante Adelaide bedauern sehr, an diesem Tag abwesend zu sein und ihre liebe, liebe Victoria nicht besuchen zu können, aber sie sind sicher, dass Victoria an diesem Tag sehr artig sein und der lieben Mamma gehorchen wird. Außerdem hoffen sie, dass die liebe kleine Victoria sie nicht vergisst und wieder erkennt, wenn Onkel und Tante zurückkehren.“

BRIEF DER HERZOGIN VON CLARENCE AN PRINZESSIN VICTORIA, 24. MAI 1822

Mein liebster Onkel – ich wünsche Ihnen viele glückliche und gesunde Jahre. Ich denke sehr oft an Sie und hoffe, Sie bald wiederzusehen, weil ich Sie sehr gern hab. Ich sehe meine Tante Sophie häufig. Ich benutze jeden Tag Ihren hübschen Suppenteller. Ist es in Italien sehr warm? Hier ist es so mild, dass ich jeden Tag nach draußen gehe. Ihre Sie liebende Nichte Victoria.
   PS:Ich bin sehr böse auf Sie, Onkel, denn seit Ihrer Abreise haben Sie mir kein einziges Mal geschrieben, und diese ist schon lange her.

BRIEF VON PRINZESSIN VICTORIA AN PRINZ LEOPOLD, 25. NOVEMBER 1828

Die meiste Zeit verlief der Alltag in Kensington Palace ruhig und ereignislos:

Wir lebten ein sehr einfaches Leben: Um halb neun gab es Frühstück, um halb zwei Mittagessen, um sieben Abendessen, und zu Letzterem aß ich stets (wenn gerade keine große Abendgesellschaft gegeben wurde) Brot mit Milch aus einer kleinen Silberschüssel. Tee durfte ich erst später, und auch dann nur zu besonderen Gelegenheiten, trinken.

~VICTORIAS ERINNERUNGEN AN IHRE FRÜHE KINDHEIT, AUFGESCHRIEBEN 1872

Der Herzogin war es ein wichtiges Anliegen, ihre Tochter vor den schädlichen Einflüssen bei Hof und ihren gierigen Hannoveraner Onkeln zu schützen. Sie ließ Drinas kleine chintzbezogene Wiege neben ihr eigenes Bett stellen. „Ich wurde auf sehr schlichte Weise aufgezogen. Ich bekam mein erstes eigenes Zimmer erst, als ich schon fast erwachsen war, und schlief im Zimmer meiner Mutter, bis ich den Thron bestieg“, schrieb Victoria später.

Auf der anderen Seite des Bettes der Herzogin schlief Feodora, ihre Tochter aus erster Ehe. Drina, die nur sehr wenige handverlesene Spielkameraden hatte, hing sehr an ihrer Halbschwester. Feodora verwöhnte sie, holte sie morgens oft in ihr eigenes Bett und zog sie gern in einem Handwagen über die Gartenwege. Doch weil Victoria so sehr im Mittelpunkt stand, wurde Feodora wenig beachtet; sie selbst bezeichnete sich später als „scheue Zuschauerin“ im Leben ihrer umso vieles wichtigeren Schwester.

Victoria liebte Feodora heiß und innig: „Meine allerliebste Schwester war mir Freundin, Schwester und Spielgefährtin, in all unseren Gefühlen und Vorlieben stimmten wir so sehr überein“, schrieb sie später, und es verletzte sie, dass „Fidi“, wie sie die Halbschwester nannte, so wenig Aufmerksamkeit abbekam. „Warum ziehen so viele Herren vor mir den Hut, aber nicht vor Feodora?“, fragte sie einmal.

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DIE HERZOGIN VON KENT

– VICTORIAS MUTTER –

„Es ist, als hätte man einen Feind im Haus“

… VICTORIA …

Die Herzogin von Kent kam 1786 als Marie Louise Victoire, Tochter des Herzogs von Sachsen-Coburg-Saalfeld und seiner Frau Auguste zur Welt. Sie war die Schwester von Leopold I., König von Belgien, und Ernst I., Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha, Vater von Prinz Albert. Im Alter von 17 Jahren heiratete Victoire den 23 Jahre älteren Emich Carl, 2. Fürst zu Leiningen, dem sie zwei Kinder schenkte: Karl 1804 und Feodora 1807. Nach dem Tod ihres Gatten machte ihr ehrgeiziger Bruder Leopold sie mit dem unverheirateten Herzog von Kent bekannt, der darauf aus war, einen Erben für den britischen Thron zu zeugen. Auf dem Papier bedeutete diese Ehe für Victoire einen gesellschaftlichen Aufstieg; tatsächlich aber war das kurze Zusammenleben mit dem Herzog von finanzieller Not und der endlosen, sie quer durch Europa führenden Flucht vor den Gläubigern geprägt. Der plötzliche Tod des Herzogs 1820 ließ Victoire arm und gesellschaftlich isoliert zurück, bis Leopold, der seine Nichte auf dem britischen Thron sehen wollte, ihr eine jährliche Apanage gewährte.

Die Herzogin hatte am britischen Hof weder Freunde noch Verbündete, und der König konnte sie nicht leiden. Sie kapselte sich mit ihrer Tochter im Kensington Palace vom Hof ab und geriet dabei zunehmend unter den Einfluss des Nachlassverwalters Sir John Conroy, der sie anstachelte, sich um die Regentschaft zu bemühen. Victorias Onkel, William IV, war diesem Ansinnen derartig abgeneigt, dass er es mit schierer Willenskraft schaffte, so lange am Leben zu bleiben, bis Victoria im Mai 1837 mit ihrem 18. Geburtstag ihre Volljährigkeit erreichte.

Sobald sie Königin geworden war, verbannte Victoria ihre Mutter aus ihren Privaträumen, und erst viel später und durch Vermittlung von Prinz Albert söhnten sich die beiden Frauen miteinander aus.

CATHERINE H. FLEMMING SPIELT DIE HERZOGIN.

„Angesicht der politischen Strategien, in deren Mittelpunkt die junge Victoria stand, wollte ihre Mutter verhindern, dass ihre Tochter den falschen Weg einschlug. Conroy war der Einzige, dem die Herzogin vertraute. Sie lebte am Hof, wo sie weder Freunde noch Verbündete hatte. Zu den erlauchten Kreisen dort fand sie keinen Zugang. Sie war eine Außenstehende, die alles genau beobachtete, um ihre Tochter zu schützen.“

Als Drina vier Jahre alt wurde, stellte die Herzogin auf Anraten des Nachlassverwalters Sir John Conroy einen Erziehungsplan auf, der später die Bezeichnung „Kensington System“ erhielt. Conroy war zuvor persönlicher Assistent des Herzogs von Kent gewesen und nach dessen Tod zum Verwalter seines Nachlasses ernannt worden. Indem das kleine, beeinflussbare Kind gezielt von der Außenwelt abgeschirmt wurde, sollte Victorias Loyalität der Mutter gegenüber erhalten und sichergestellt werden, sodass die Prinzessin ihren Anspruch auf den Thron nicht gefährdete. Außerdem strebte die Herzogin an, selbst zur Regentin ernannt zu werden, falls Victoria die Krone erbte, bevor sie mit 18 Jahren volljährig wurde.

Conroy und der Herzogin war es wichtig, Victoria zu kontrollieren und zu verhindern, dass der König sie als seine Erbin zu sich an den Hof holte. Doch indem sie dem kleinen Mädchen eine strenge Isolation aufzwangen, sorgten sie auch dafür, dass sich dessen Liebe in Groll und schließlich in Hass verwandelte.

Drinas Tagesablauf wurde streng bewacht und aufgezeichnet. Nach dem Frühstück wurde sie hinaus in den Garten gebracht. Hier durfte sie bis zehn Uhr auf ihrem Esel reiten oder in einer kleinen Ponykutsche herumfahren. In den folgenden zwei Stunden erhielt Drina Unterricht von ihrer Mutter und Baronin Louise Lehzen (die ursprünglich Fidis Gouvernante gewesen war und 1824 zu Drinas Hilfsgouvernante ernannt worden war). Die Kinderschwester Mrs Brock, „liebe Boppy“ genannt, stellte für zwei Uhr ein einfaches Mittagessen zusammen. Danach gab es wieder zwei Stunden Unterricht, um vier durfte Drina hinaus in den Garten. Um sieben gab es Brot und Milch zum Abendessen, um neun Uhr abends wurde das Kind ins Bett gesteckt. Tag und Nacht wurde es bewacht und vor allen nur denkbaren Gefahren geschützt. Drina durfte nicht einmal allein die Treppe hinauf- und hinuntergehen.

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Die junge Victoria.

Als Drinas reguläre Schulausbildung begann, warnte ihre Mutter den Privatlehrer Reverend George Davys: „Ich fürchte, Sie werden feststellen, dass mein kleines Mädchen sehr dickköpfig ist, denn die Damen des Hauses verwöhnen es.“ Später gab die Königin selbst zu, im Schulunterricht nicht besonders eifrig gewesen zu sein, und gestand: „[Ich] sabotierte bis zum Alter von fünf Jahren jeden Versuch, mir die Buchstaben beizubringen; erst dann gestattete ich, dass sie [auf ein vor mir liegendes Blatt Papier] geschrieben wurden.“

Davys war beauftragt worden, Drina das Alphabet und die Redekunst nahezubringen. Zudem sollte er den harten deutschen Akzent abschleifen, den die Prinzessin von ihrer Mutter übernommen hatte. Auch Feodora half der Halbschwester beim Schreibenlernen und beim Verfassen der ersten, explizit formulierten Briefe, wie diesen an Reverend Davys:

SEHR GEEHRTER HERR, ICH WERDE DIE BUCHSTABEN NICHT VERGESSEN UND SIE AUCH NICHT.

~VICTORIA

Lektüren waren ein wichtiger Bestandteil des Lehrplans. Gelesen wurden vor allem die Bibel und zahlreiche religiöse Texte, gelegentlich Gedichte und nur sehr selten Romane. Mr Stewart kam zweimal pro Woche von der Westminster School herüber, um mit Drina Rechnen und Schreiben zu üben. Madame Bourdin unterwies das Mädchen in Tanz, Haltung und Benehmen. Mr Bernard Sale von der Chapel Royal förderte Drinas musikalisches Talent und ihren Gesang. Ihr Reitlehrer Mr Fozard sorgte dafür, dass sie eine geschickte Reiterin wurde, während sich Richard Westall von der Royal Academy um ihr zeichnerisches Talent kümmerte. Französisch lernte Drina bei Monsieur Grandineau und Deutsch bei Reverend Henry Barez. Später kamen noch Latein und Italienisch hinzu.

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Vielleicht noch wichtiger als all diese Kenntnisse und Fertigkeiten war die Unterweisung in moralischen Dingen: Drina sollte stets ehrlich, pünktlich und bescheiden sein und sich viel an der frischen Luft bewegen. Bei jedem Wetter war sie in den Kensington Gardens unterwegs und ritt dabei oft auf ihrem weißen Esel Dickey, der ein Geschenk des Herzogs von York war. Das am Kopf mit blauen Bändern geschmückte Tier wurde von einem alten Soldaten geführt, der einst unter dem Vater der Prinzessin gedient hatte. Wann immer Drina den Palast verließ – oft an der Hand von Feodora – begrüßte sie freundlich lächelnd jeden, dem sie begegnete.

Im Alter von elf Jahren war sie eine vollendete junge Dame und ihren Altersgenossen in vielem voraus. „Ein sehr einfühlsames Kind“, wie Reverend Davys fand. Sie war spontan und großzügig, konnte aber auch sehr eigensinnig sein. Das Behaviour Book, in dem all ihre kleinen Sünden notiert wurden, hielt fest, sie sei bei einer Gelegenheit „sehr, sehr, sehr furchtbar unartig“ gewesen.

Königin Victoria erklärte später: „Ich war von Natur aus sehr temperamentvoll, hinterher aber immer sehr zerknirscht.“ Zu ihren großen Stärken zählte dagegen Ehrlichkeit wie aus vielen, oft überraschend naiven Äußerungen in ihren Tagebüchern hervorgeht.

Feiertage und Sommerferien verbrachte Drina in den 1820er-Jahren in Ramsgate und anderen englischen Badeorten. Hier ritt sie auf ihrem Esel am Strand entlang und durfte gelegentlich mit den Kindern adeliger Familien spielen. Noch mehr als diese Ausflüge liebte das Mädchen die Besuche bei ihrem Onkel Leopold, dem Bruder ihrer Mutter. „Claremont stellt die strahlendste Epoche meiner ansonsten ziemlich melancholischen Kindheit dar“, schrieb die Königin später. Zusammen mit Feodora wohnte sie oft wochen-bis monatelang in seinem Herrenhaus bei Esher in Surrey und spielte vergnügt in dessen weitläufigem Park.

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Prinzessin Victoria in Kensington Gardens.

Gut 20 Jahre später erinnerte Feodora in einem Brief daran, wie viel wohler sich die beiden Mädchen in Claremont als in Kensington gefühlt hatten:

Wenn ich an jene Jahre zurückdenke, die Jahre zwischen 14 und 20, die eigentlich die glücklichsten in meinem Leben hätten sein sollen, kann ich nicht anders, als mich zu bedauern. Die Freuden der Jugend nicht genossen zu haben ist weniger hart, als von jeglicher Gesellschaft ferngehalten worden zu sein und keine einzige frohe Erinnerung zu besitzen. Glücklich war ich nur, wenn ich mit Dir und Lehzen ausging oder ausfuhr, denn dann durfte ich reden und sein, wie ich wollte.

~BRIEF FEODORAS, 1843

Drinas deutsche Großmutter Auguste von Sachsen-Coburg-Saalfeld schrieb all diese Jahre hindurch liebevolle Briefe, in denen sie sich nach dem Wohlergehen ihrer kleinen „Maiblume“ erkundigte. 1825 kam die 68-jährige Herzogin für zwei Monate zu Besuch. Darauf hatte sich Drina lange gefreut: