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Werner Wintersteiner

Transkulturelle literarische Bildung

Die »Poetik der Verschiedenheit« in der literaturdidaktischen Praxis

 

 

 

ide-extra
Eine deutschdidaktische Publikationsreihe
Herausgegeben von Werner Wintersteiner

Band 12

Werner Wintersteiner

Transkulturelle literarische Bildung

Die »Poetik der Verschiedenheit«
in der literaturdidaktischen Praxis

Illustration

Inhalt

Warum transkulturelle literarische Bildung?
Vorwort

1.      Für eine »Poetik der Verschiedenheit«
Einleitung

1.1   »Poetik der Verschiedenheit« als literaturdidaktischer Paradigmenwechsel

1.2   Zur Kritik traditioneller literaturdidaktischer Theorie und Praxis

1.3   Zum Aufbau dieser Arbeit

2.      Transkulturalität im literaturdidaktischen Diskurs
Eine kritische Bestandsaufnahme

2.1   »Wirkungsvolle Fiktionen von lesenden Öffentlichkeiten«. Literaturdidaktik in der Krise

2.2   Der literaturdidaktische Umgang mit kultureller Vielfalt

2.3   »Die Sprachlichkeit des Menschen als Bildungsaufgabe in der Zeit«

2.4   Zusammenfassung und Ausblick

3.      Exkurs: Schule und Alterität
Streiflichter auf die Situation in Österreich

3.1   »Machtpolitik macht Schule«. Ethnische und sprachliche Minderheiten im österreichischen Schulwesen

3.2   Transkulturelle Literaturdidaktik in der Schulpraxis. Die Meinung der Opinion-leaders der österreichischen Deutschlehrerschaft

3.3   »Bei Bedarf Weltliteratur«. Wie die Lehrpläne die transkulturelle Perspektive ignorieren

3.4   Ein transkultureller Kanon in Österreichs Schulbüchern? Eine kritische Sichtung der approbierten Werke

3.5   Die Ausbreitung der deutschen Sprache und Literatur. Ein Blick auf Sprachlandkarten in Schulbüchern

4.      Umrisse einer transkulturellen Literaturdidaktik
Begriffe und Programme

4.1   Literarische Bildung als globales und interkulturelles Lernen

4.2   Vom nationalen zum transkulturellen Literaturbegriff

4.3   Literarische Mehrsprachigkeit als literaturdidaktische Herausforderung

5.      Weltliteratur
Die Kanonfrage

5.1   Wozu ein literarischer Kanon?

5.2   Kanonbegriffe und Kanondebatte

5.3   Plädoyer für einen transkulturellen Literaturkanon

5.4   Zur Umsetzung eines transkulturellen Literaturkanons. Einwände und offene Fragen

6.      Perspektivenwechsel
Methoden der transkulturellen Literaturdidaktik

6.1   Das Konzept der »literarischen Begegnung«

6.2   Literarisches Verstehen und Alltagsverstehen

6.3   Verstehen im transkulturellen Kontext – zwei Positionen

6.4   Interkulturelle und existentielle Fremdheit. Skepsis gegenüber der Hermeneutik

6.5   Transkulturelle Literaturdidaktik als organisierter Perspektivenwechsel

7.      Literarische Begegnung als produktive Irritation
Unterrichtsbeispiele

7.1   Zwischen Unterwerfung und Ausgrenzung. Identitätssuche im Spiegel des Bilderbuchs

7.2   Sprachliche Machtausübung im Spiegel der Literatur. Eine Fallstudie zu den deutsch-slowenischen Sprachbeziehungen

7.3   Identität zwischen Automarke und Fußballklub. Der Roman Das Findelkind von Didier Cauwelaert

7.4   »Den Zorn verstehen lernen«. Orhan Pamuks multiperspektivischer Roman Schnee

7.5   Formen kultureller Fremdheit im Unterricht: Fremdheit der Literatur, Fremdheit in der Literatur, Verfremdung durch die Literaturdidaktik

8.      Transkulturelle Literaturdidaktik – 30 Thesen
Ausblick

 

Literatur

Personengister

Sachregister

 

 

NOTIZ ZUR ÜBERSETZUNGSPRAXIS

Die fremdsprachigen wissenschaftlichen Passagen im Text wurden von mir selbst ins Deutsche übertragen, die Anmerkungen wurden hingegen im Original belassen. Literarische Texte sind immer im Original wiedergegeben, aber (wo es nötig schien), in einer Anmerkung zusätzlich übersetzt.

 

 

Warum transkulturelle literarische Bildung?

Vorwort

Es bleibt eine offene Frage,

inwieweit der Deutschunterricht sich noch

als muttersprachlicher Unterricht

zur Einführung in eine muttersprachlich

zu erfahrende Schriftkultur verstehen kann.

Sigrid Luchtenberg

 

 

Schulpolitik steht meist nicht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Umso bemerkenswerter ist es, dass bestimmte schulische Fragen in letzter Zeit prominent und andauernd medial aufbereitet werden. Es sind Themen wie

der Streit um die Frage, ob in deutschen oder österreichischen Schulhöfen nur Deutsch gesprochen werden soll;

die Debatte darüber, ob es gerechtfertigt ist, an französischen Schulen Mädchen zuzulassen, die das Kopftuch als religiöses Symbol tragen;

die immer offener geäußerte Forderung nach einer (deutschen) »Leitkultur«, an der sich auch alle Zuwanderer zu orientieren hätten;

Meldungen über Jugendgewalt an Schulen, bei denen ein direkter Zusammenhang zwischen Gewalt und schulischem Ausländeranteil behauptet wird;1

Warnungen vor einer »untragbaren Quote« an Ausländerkindern in der Schule, meist verbunden mit dem Hinweis auf deren schlechte Deutschkenntnisse (seien sie real oder nur unterstellt); nicht-deutsche Muttersprache, an sich ein neutrales Kriterium, wird so zu einem Mittel der Stigmatisierung;2

Äußerungen bestimmter politischer Parteien, die mit Berufung auf solche Meldungen harte Maßnahmen gegen MigrantInnen fordern;

Pläne wie die von Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber, der Einwandererkinder mit mangelnden Deutschkenntnissen nicht mehr zum Unterricht zulassen möchte;

Kommentare, die von einem »Scheitern der Integration« sprechen, aber nicht fragen, ob bislang überhaupt Maßnahmen zur Integration gesetzt wurden;

bizarre »Staatsbürgerschaftstests« für ImmigrantInnen, die zwar auch viele Einheimische nicht schaffen würden, die aber Einiges über das Selbstverständnis der Gesellschaft verraten;3

Berichte über Migrantenkinder, denen die Eltern aus religiösen oder kulturellen Gründen die Teilnahme an bestimmten Schulveranstaltungen und ähnlichen Aktivitäten verbieten;

Rassistisch motivierte Gewalt in Schulen, wobei je nach Fall In- oder AusländerInnen Opfer bzw. Täter sind;

Vereinzelt aber auch Berichte über das Engagement von SchülerInnen, wie etwa einer Schulklasse in Wien, die dazu beigetragen hat, die Abschiebung einer Klassenkameradin aus Moldawien zu verhindern …4

All diese Beispiele zeigen, dass unsere Schulen immer mehr zum Kristallisationspunkt für die Auseinandersetzung um eine gesellschaftliche Grundfrage werden: Sollen wir uns nach wie vor als monokulturelle und einsprachige Gesellschaft verstehen? Oder zumindest als eine Gesellschaft, deren Ideal die Monokultur und Einsprachigkeit ist, auch wenn es davon leider in letzter Zeit viel zu viele Abweichungen gibt? Müssen wir, um die Werte dieser Gesellschaft zu schützen, eine »Leitkultur« kodifizieren und verordnen?

Oder sollen wir Einwanderung und Durchmischung, Mehrsprachigkeit und Multikulturalität nicht als Ausnahme und Fehler, sondern als Chance begreifen und uns als eine multikulturelle, offene Gesellschaft definieren? Das hieße, statt auf Abwehrmaßnahmen gegen Zuwanderung auf Integration zu setzen. Integration bedeutet nicht (wie viele meinen), den Zuwanderern zu helfen, »so wie wir« zu werden. Integration bedeutet viel mehr, dass sich alle, die neu Hinzugekommenen wie die bereits länger Einheimischen, ändern müssen, um eine Gesellschaft zu schaffen, die auf Demokratie und Menschenrechten beruht. Integration erfordert mehrsprachige und transkulturelle Bildung, um alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig von ihrer Herkunft, zu einem Zusammenleben in Diversität zu befähigen.

Dieses Buch ergreift in diesem Streit eindeutig Partei. Es plädiert dafür, endlich auch auf pädagogischem Gebiet die Tatsache anzuerkennen, dass wir – in ganz Europa – längst zu sprachlich und kulturell gemischten Staaten geworden sind. Mehr noch: dass wir uns – bedingt durch die Globalisierung – nicht am nationalen oder europäischen Rahmen, sondern an den Anforderungen der Weltgesellschaft und Weltzivilisation orientieren müssen. Etwas pathetisch gesprochen: Aufgabe von Erziehung und Bildung ist es heute, junge Menschen auf das Leben in einer solidarischen Weltgesellschaft vorzubereiten.

Dieses Grundziel darf nicht gegen bestehende Probleme, zum Beispiel bei der Integration von MigrantInnen, ausgespielt werden. Gerade weil es um das – notwendigerweise konflikthafte – Zusammenleben von Menschen mit sehr unterschiedlicher Herkunft und Ausrichtung geht, muss die Gesellschaft dieser Diversität Rechnung tragen. Dabei ist davor zu warnen, Menschen einseitig auf ihre ethnische Herkunft oder religiöse Zugehörigkeit zu reduzieren. Es geht vielmehr darum, die Rahmenbedingungen für die freie Entfaltung aller Menschen in allen ihren Dimensionen zu schaffen. Der Nobelpreisträger für Ökonomie des Jahres 1998, Amartya Sen, hat dies am Beispiel Großbritannien erläutert:

Und doch ist es für die Zukunft des multikulturellen Großbritanniens unerläßlich, daß die verschiedenen Arten und Eigenschaften, in denen die Bürger mit ihren jeweiligen politischen Ansichten, linguistischen Voraussetzungen und sozialen Prioritäten (sowie ihren unterschiedlichen ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten) miteinander interagieren können, anerkannt, unterstützt und befördert werden. (Sen 2006, 106)

Diese Haltung muss sich in Bildungspolitik, Schulorganisation und Unterrichtsinhalten niederschlagen. Besonders ein Fach wie der Deutschunterricht, das wesentlich zur sprachlichen Bildung und zur kulturellen und politischen Orientierung der Jugend beiträgt, muss umdenken. Der Unterricht in der Staatssprache Deutsch – die eben nicht für alle die Muttersprache ist – spielt eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung junger Menschen zu WeltbürgerInnen, die sich ihrer multiplen Identitäten bewusst sind, nationale Vorurteile hinter sich lassen und eine kritisch-kosmopolitische Weltsicht entwickeln. Es geht dabei nicht nur um sprachliche und kommunikative Kompetenzen. Um einen breiteren Horizont zu eröffnen, ist literarischkulturelle Bildung nach wie vor unerlässlich. Lange Zeit ist Literaturunterricht dazu eingesetzt worden, Nationalbewusstsein zu entwickeln, während die Vielfalt der Literaturen der Welt unterbelichtet blieb. Dieser Standpunkt ist heute nicht mehr zeitgemäß. Denn Literatur ist und bleibt ein wunderbares Feld, sich fremden Erfahrungen zu öffnen, von ihnen zu lernen und das selbstverständlich »Eigene« kritisch zu hinterfragen, sich mit dem »Anderen« auseinander zu setzen und Gemeinsames zu definieren. Anders als unter globalen Prämissen ist nicht nur die Welt, sondern auch die Welt der Literatur heute nicht mehr zu begreifen. Wenn er in diesem Sinne transkulturell verstanden wird, trägt Literaturunterricht zu weltoffener politischer Bildung und globalem Lernen bei.

Transkulturelle Literaturdidaktik wirft einen anderen Blick auf die Literatur, wie sie auch den Blick auf eine andere Literatur richtet. Ein transkultureller Zugang zur Literatur interessiert sich für die Differenzen wie für die Gemeinsamkeiten von Literaturen, für das »Dazwischen«, das bei nationaler Betrachtungsweise unbeachtet bleibt. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf sprachliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Machtverhältnisse, wie sie in der Literatur thematisiert werden, wie sie aber auch im Literaturbetrieb ihren Niederschlag finden. Transkulturelle literarische Bildung erweitert den Kanon über die deutschsprachige Literatur hinaus – durch die Einbeziehung von Texten der ethnischen Minderheiten, der Migration und der Kontaktzonen zu den Nachbarländern sowie durch eine neu verstandene Weltliteratur, die auch die postkolonialen Literaturen der »Dritten Welt« berücksichtigt. Wie dies im Einzelnen zu verstehen und zu praktizieren ist, davon handelt dieses Buch.

Mit transkulturellem Literaturunterricht verbindet sich auch die Hoffnung, die eminente gesellschaftliche Bedeutung von literarischer Bildung wieder stärker sichtbar machen zu können. Schulischer Literaturunterricht sollte wieder die Akzeptanz gewinnen, die er aufgrund seiner Rolle für die Identitätsbildung von Jugendlichen wie für die gesamte Gesellschaft verdient.

*

Es bleibt mir noch, mich bei allen zu bedanken, die zum Entstehen dieser Publikation beigetragen haben. Wenn ich auch alle Irrtümer selbst zu verantworten habe, so danke ich folgenden Personen, ohne deren Ermunterung, Ratschläge, Ideen und kritische Einwände dieses Buches nicht hätte zustande kommen können: Werner Delanoy, Norbert Griesmayer, Dieter Kinkelbur, Heidi Rösch, Johann Strutz und den Studierenden meiner Lehrveranstaltung »Poetik der Verschiedenheit« (Wintersemester 2002). Birgit Kassl danke ich für das kompetente Lektorat und Marlies Ulbing für das sorgfältig gearbeitete Layout.

Anmerkungen

1   Vgl. die Medienkommentare im Anschluss an die Meldungen über die Berliner Rütli-Hauptschule im März und April 2006, so eine Schlagzeile einer Tageszeitung: »Gewalt an Schulen fordert zum Nachdenken über geeigneten Umgang mit Migranten heraus« (Der Standard, 5. April 2006, 6).

2   Aus einer Aussendung des BZÖ-Sprechers Uwe Scheuch, April 2006: »In den Wiener Schulen gibt es aufgrund der SPÖ-Politik von Bürgermeister Häupl einen Ausländeranteil von bis zu 90 Prozent. Es herrschen Chaos und Gewalt« (zitiert nach Profil 17, 24. April 2006, 40).

3   In verschiedenen Ländern sind solche Bestimmungen schon länger in Kraft, in Österreich wurden sie im Frühjahr 2006 eingeführt.

4   Der Standard, 12. April 2006, 8.

1

Für eine »Poetik der Verschiedenheit«

Einleitung

Keine Kunstgattung eignet sich besser,

eine andere Mentalität, eine anders laufende Geschichte,

eine Variante in der Sozialisierung oder in der Psychologie

verstehen zu lernen als die Literatur.

Marianne Gruber

 

 

1.1 »Poetik der Verschiedenheit« als literaturdidaktischer Paradigmenwechsel

Neulich, in der Galerie, spricht Galeristin G. doppelt so lahm mit mir, auch nach neuerlichem, meinerseitigem Versichern, ich verstünde die deutsche Sprache, sie wäre mir nicht fremder als ihr selbst, der Galeristin, die doppelt so lahm mit mir spricht aufgrund meines Aussehens, doppelt so fremd vielleicht. Eine Situation, in die ich häufig gerate. Es knirscht an meinem Selbstbewußtsein, nehme ich mich verstärkt aus ihrer Perspektive wahr, der Perspektive derer, die mein fremdes Äußeres mehr hören als sehen. Bald antworte ich auf solch gedehnt verzerrtes Deutsch mit eindeutigem Stottern und angedichtetem Akzent, bald glaube ich, die falsche Position zu vertreten, ihnen, jenen, recht geben zu müssen – doch nicht, nie berechtigt gewesen zu sein, sicheres, perfektes Deutsch sprechen zu können, wie auch, sieht nicht alles dagegen? Mein Stammeln bestätigt ihr Sehen; sie fahren fort, idiotisch zu reden, ich fahre fort, mich diebisch zu fühlen, benutze ich unberechtigterweise diese Sprache, unerlaubterweise perfekt. (Kim 2004, 36)

Die in Wien aufgewachsene, in Korea geborene Schriftstellerin Anna Kim berichtet ein Alltagserlebnis, das symptomatisch unser Verständnis von Sprache, Kultur und Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Da sie anders, »asiatisch« aussieht, kann sie gar kein richtiges, korrektes Deutsch sprechen. Die Sprache, verstanden als genuiner Ausdruck der angeborenen Nationalität, ist Privileg der jeweiligen Nation und Unterscheidungsmerkmal von den anderen. Diese Haltung ist selbstverständlich und verinnerlicht: »Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß all dies harmlose Verwunderung, kindliches Staunen, kein absichtliches Verletzen sei, kein Ausschluß aus der Gemeinschaft, nur Einüben in das Gewöhnen an das Außergewöhnliche« (Kim 2004, 36). Die kulturelle Hegemonie dieser Einstellung ist so mächtig, dass sie sogar die erfasst, die größtes Interesse haben müsste, dagegen anzukämpfen: Anna Kim reagiert – wider Willen – »mit eindeutigem Stottern und angedichtetem Akzent«. Sie ist irritiert, es »knirscht« in ihrem Selbstbewusstsein, sie fühlt sich »diebisch«, schuldig, einen grundlegenden Regelverstoß begangen zu haben.

Anna Kim hat mir ihren Schuldgefühlen »recht«. Sie hat tatsächlich einen klassischen Glaubenssatz angezweifelt, ein heiliges Grundgesetz verletzt, sie hat die »logische Gleichung« Sprache=Nation in Frage gestellt, durch ihr allzu perfektes Deutsch außer Kraft gesetzt. Sie rüttelt damit an einer ehrwürdigen, gut eingeführten, traditionsreichen Auffassung von Kultur und Gesellschaft, mehr noch: an einem tief sitzenden Denkmodell, einem Paradigma der Wahrnehmung von kulturellen und gesellschaftlichen Vorgängen – an der Ideologie des Monokulturalismus. Monokulturalismus, das ist die Theorie der Nation in ihrer klassischen Ausformung, das Modell des Nationalstaats, der auf der einen nationalen Tradition, der einen nationalen Sprache, dem einen Nationalvolk beruht. Ich spreche von Modell, um das Idealtypische dieser Konstruktion zu betonen. Natürlich geben realistische Monokulturalisten zu, dass dieses Modell im konkreten Fall nicht immer erreicht werden kann: Dem Ideal der Einsprachigkeit stehen ethnische Minderheiten oder Einwanderer entgegen, die nationalen Traditionen sind oft nicht besonders offensichtlich und müssen eher erfunden als gefunden werden, das Nationalgefühl ist nicht – wie eigentlich vorgesehen – der Motor für die nationalstaatliche Vereinigung, sondern zumeist erst deren späteres Nebenprodukt. Doch immer bleibt nach dieser Anschauungsweise nationale Einheit, kulturelle Reinheit und Monolingualismus des Staatsvolkes das Ideal, der eigentliche Maßstab für das Gelingen des Projekts Nation.

Heute, in Zeiten des Postkolonialismus und der Globalisierung, ist die Nation als Modell und Träger von Identität – und mit ihr auch nationale Bildung – fragwürdig geworden. Treibende Faktoren dafür sind einerseits der Widerstand der Marginalisierten – der bisher aus dem kulturellen Machtspiel ausgeschlossenen »Minderheiten« oder nicht als vollwertig anerkannten »Nationen«. Dies zeigt sich an dem Erstarken von indigenen Bewegungen in allen Weltteilen sowie am Renouveau sprachlicher und ethnischer Minderheiten, wie er auch in Europa deutlich zu registrieren ist. Zugleich – und dieser Faktor ist wohl noch bedeutender – hat die massenhafte Migration weltweit neue Dimensionen angenommen, und die Erwartungen, dass diese MigrantInnen schnell und im Selbstlauf von der »Mehrheitsbevölkerung« assimiliert und deren »Leitkultur« untergeordnet werden können, hat sich als pure Illusion erwiesen. Die multikulturelle Gesellschaft, lange Zeit bekämpft, oft geleugnet, mehr als Gefahr denn als Wunschbild betrachtet, ist in allen Ländern Europas längst Realität geworden.

Andrerseits steigt aber der hegemoniale Druck der größten Mächte, die dank der medialen Revolution, der Globalisierung der Verkehrs- und Kommunikationsmittel, nun buchstäblich in die letzten Winkel der Welt eindringen, welche bisher abgeschottet existieren konnten. Diese Tendenz wird oft als Amerikanisierung oder McDonaldisierung denunziert – zwei Formulierungen, die der Komplexität der Entwicklung in keiner Weise gerecht werden. Weder ist dieses Phänomen auf die angloamerikanische Sprache und Kultur begrenzt, noch ist dieser Prozess einseitig als Kolonialisierung zu interpretieren.1

Die Folge dieser vielfältigen und oft kontroversen Trends ist ein äußerst widersprüchlicher, permanenter Prozess der Mischung von Kulturen, der gleichzeitig von Druck, Widerstand, Aneignung und Subversion gekennzeichnet ist. Es entstehen, im besten Falle, immer neue »nicht-authentische« kulturelle Formen und Ausdrucksweisen, deren wahre Authentizität nicht in einer konsequenten Bewahrung lokaler Traditionen, sondern in einer permanenten Auseinandersetzung mit den realen Problemen der Gegenwart besteht. Die Elemente für diese Auseinandersetzung kommen von überall her – aus der traditionellen »eigenen« Volkskultur ebenso wie aus der industriell gefertigten globalen Massenkultur, die selbständig angeeignet und »relokalisiert« wird, aus »exotischen« Elementen fremder Volkskulturen wie benachbarter Hochkulturen. Dies ist vielleicht am deutlichsten im Bereich der Musik zu registrieren, wo klassische Musik nicht mehr nur mit traditioneller Volksmusik angereichert wird, sondern zunehmend mit Instrumenten, Melodien, Rhythmen und Musikstilen aus aller Welt, mit internationaler Popmusik wie »autochthoner« Musik aus der Dritten Welt – ein Phänomen, das meist mit dem unscharfen Begriff »world music« bezeichnet wird.

Für alle diese Trends, Tendenzen und Entwicklungen sind nun nicht mehr die Reinheit und die Einheit, sondern die Verschiedenheit und die Mischung das Typische und Charakteristische. Wolfgang Welsch hat dafür den Begriff »Transkulturalität« vorgeschlagen, ein Konzept, »das deskriptiv und normativ ein anderes Bild vom Zustand und Verhältnis der Kulturen entwirft: eines nicht der Isolierung und des Konflikts, sondern der Verflechtung, Durchmischung und Gemeinsamkeit« (Welsch 1997, 13). Damit sagt Welsch zweierlei:

Erstens, dass kulturelle Mischung, Multikulturalität und Mehrsprachigkeit nicht den Ausnahmezustand, sondern den Normalzustand darstellen; und

Zweitens, dass dieser Zustand nicht widerwillig hingenommen werden soll, sondern auch einen positiven Wert darstellt, der das alte Ideal der Reinheit, der Monokulturalität und des Monolingualismus ablösen sollte.

Mit Welsch bin ich der Meinung, dass der Begriff Transkulturalität schärfer als der besser eingeführte Begriff Interkulturalität die Hybridität und Mischung kultureller Elemente zum Ausdruck bringt.2 Transkulturalität grenzt sich bereits als Begriff ab von einem Ethnopluralismus oder »pluralen Monokulturalismus« (Sen 2006, 104), also einem Nebeneinander von Traditionen, die möglichst nicht miteinander in Berührung kommen sollen, um ihre »Authentizität« zu bewahren. Transkulturalität macht auf eindringliche Weise deutlich, dass es nicht einfach um die Darstellung neuer kultureller Phänomene geht, sondern – viel grundsätzlicher – um eine neue Sichtweise auf das Phänomen Kultur.3 Diese neue Sichtweise muss auch rückblickend auf die nationale Epoche der Kulturbetrachtung angewandt werden.

Dieser Standpunkt hat erhebliche Konsequenzen für unser Konzept von kultureller und literarischer Bildung. Literarische Bildung ist als nationale Bildung entstanden. Europäische Literatur ist seit der Renaissance im Dienst der Nationswerdung gestanden. Auch der Deutschunterricht verdankt seine Einführung im 19. Jahrhundert wie seine Bedeutung für den Fächerkanon der Tatsache, dass er als Kernfach der Nationalbildung galt. Zugleich sind Nation und Nationalbildung allerdings ein inter-nationales Projekt, denn die Nationen entwickelten sich in gegenseitiger Abgrenzung und Konkurrenz. Nationale Bildung ist das historisch in Europa entstandene Konzept, dem es gelungen ist, weltweit zum Paradigma von Bildung überhaupt zu werden. Seine Kennzeichen sind die Identifizierung, also Abgrenzung einer eigenständigen nationalen Identität, die besonders in einer eigenen Sprache, Geschichte, Tradition und eben auch Literatur zum Ausdruck kommt. Dieses höchst erfolgreiche Konzept ist, wie noch auszuführen sein wird, eng mit Imperialismus und Kolonialismus verbunden. Wer auch heute noch Literatur als nationale Literatur (mit einigen wenigen Verweisen auf gesamteuropäische Entwicklungen) lehrt, vermittelt implizit und unterschwellig zugleich die Botschaft, dass Literatur als Nationalliteratur zu verstehen ist.

Doch in Zeiten der Globalisierung – also der »Allgegenwart des Fremden« (Hunfeld 2004) – kann es nicht mehr darum gehen, dieses Modell von Bildung fortzuführen, sondern nur darum, es kritisch zu beleuchten und zu verändern. Als Bezeichnung für transkulturelle Bildung habe ich (in Anlehnung an Edouard Glissant4) den Begriff der Poetik der Verschiedenheit in die Diskussion gebracht (vgl. Wintersteiner 2006) – ein Begriff, der die Anerkennung von Vielfalt nicht als unvermeidliches Übel, sondern als positiven Wert betrachtet, der Mischung statt der Reinheit vertritt, der Alterität als Grundlage von Identität postuliert. Mit Poetik der Verschiedenheit kennzeichne ich ein kulturpädagogisches Programm, das durch eine grundsätzlich positive Einstellung zu Diversität und Alterität gekennzeichnet ist. Kultur wird nicht mehr statisch – als Produkt erfolgreicher Abgrenzung von anderen – verstanden, sondern als dynamischer Prozess, bei dem »fremde« Elemente in das »Eigene« permanent integriert werden. Jede Abgrenzung, so notwendig sie auch für die Ausbildung der eigenen Identität ist, bleibt provisorisch, veränderbar, »freundlich«. Sie schließt weitere Öffnungen, Mischungen, Integrationen keineswegs aus.

Poetik der Verschiedenheit als Programm transkultureller Bildung grenzt sich somit in mehrfacher Hinsicht ab: zunächst gegenüber dem »klassischen« hegemonistischen Universalismus, wie er in den traditionellen monokulturell-nationalen Bildungsprogrammen zum Ausdruck kommt. Ihr Kennzeichen ist die Vorstellung von einer sprachlich und inhaltlich homogenen nationalen Kultur. Vielfalt und Diversität der Welt werden nicht bestritten, aber ausschließlich im Außerhalb der eigenen Kultur als positiv gesehen.

Aber auch gegenüber einem »liberalen Konzept der Vielfalt« (Bachmann-Medick 1996, 263), einem modischen Multikulturalismus der Beliebigkeit, muss eine Poetik der Verschiedenheit Distanz wahren. Denn er stellt nur scheinbar eine Alternative zur realen Hegemonisierung und Homogenisierung der Welt dar, ist aber in Wirklichkeit deren Begleitmusik, nach Žižek bloß eine zeitgemäße Version der »Ideologie des derzeitigen globalen Kapitalismus« (Žižek 2001, 13).

Schließlich grenzt sich Poetik der Verschiedenheit auch gegenüber einem Partikularismus oder kulturellem Egoismus (auch von Minderheiten) ab, der die Idee weltweiter Verständigung, Solidarität und universeller Menschenrechte leugnet. Diesem »multikulturellen Dogmatismus« gilt es ebenso entgegen zu treten wie einer Missachtung von kultureller Diversität.

Zwischen blindem Universalismus und radikalem Kulturalismus heißt es einen dritten »transkulturellen« Weg zu finden – eine globale Sichtweise, die Diversität weder unterschlägt noch heilig spricht.

Das ist gerade für kulturelle Bildung und für den Literaturunterricht von elementarer Bedeutung. Literarische Bildung sollte nicht mehr als nationale Bildung, sondern als kosmopolitische oder globale Bildung konzipiert werden. Globale Bildung bedeutet nicht Standpunktlosigkeit, sie verlangt auch nicht gleichmäßige Beschäftigung mit allen Literaturen der Welt nach einem Gießkannenprinzip. Es soll auch nicht die »eigene« Literatur gegen die »Weltliteratur« ausgetauscht werden, wie manchmal befürchtet wird. Sondern es geht primär um die Dezentrierung des »Eigenen« und damit Öffnung für neue Sichtweisen. So könnte etwa die deutschsprachige Literatur, die an unseren Schulen gelehrt wird, in einen größeren Kontext gestellt und durch die Sicht auf Literaturen aus anderen Räumen relativiert werden. Literarische Phänomene können weiterhin am Beispiel der deutschsprachigen Literatur vermittelt werden, doch es sollte nicht die Illusion erzeugt werden, dass damit bereits alle ästhetischen Möglichkeiten dargestellt und ausgeschöpft wären. Es geht auch um einen neuen Blick auf die deutschsprachige Literatur. Dann wird sich schnell zeigen, aus wie vielfältigen Quellen das »typisch Deutsche« entstanden ist. Beispiele für »hybride« Entwicklungen, Mischungen und Austausch bietet die Literaturgeschichte genug: Man könnte etwa Charles Adélaïde Chamisso de Boncourt ansprechen, den französischen Adeligen, der als deutscher Dichter berühmt wurde (und nach dem der heutige Chamisso Preis für deutsche Literatur für AutorInnen nicht-deutscher Muttersprache benannt ist), oder Ludwig Börne, der in seinem Pariser Exil Französisch zu schreiben begonnen hat. Man könnte auf die vielen Einflüsse der »kleinen Literaturen« der ungarischen und slawischen Völker der Donaumonarchie auf das aufmerksam machen, was wir heute österreichische Literatur nennen. Vor allem sollten wir auch im Literaturunterricht zur Kenntnis nehmen, dass die österreichische »Identität« nicht nur aus der deutschsprachigen Kultur besteht.

Aber ebenso entscheidend ist, dass das im Unterricht vermittelte literarische Feld tatsächlich kosmopolitisch erweitert wird. Damit wird nur eine faktische Entwicklung nachgezeichnet, die auch der Westen langsam zur Kenntnis nimmt. Ein Paradebeispiel dafür sind die Literaturnobelpreise, die seit 1945 mehr und mehr auch an AutorInnen aus Asien, Afrika, Lateinamerika vergeben werden, während vor 1945 (mit Ausnahme des Inders Rabindranath Tagore) nur EuropäerInnen und NordamerikanerInnen zum Zug kamen.

Diese »postkoloniale« Literatur hat neue Themen und neue Formen ins Spiel gebracht: die Beschäftigung mit dem Nord-Süd-Konflikt, dem Identitätsverlust kolonisierter Kulturen, dem Massenphänomen Migration usw., aber auch eine Wiederaufwertung der Oralität, die Ausbildung hybrider literarischer Formen und Sprachmischungen – diese Charakteristika wirken nun auch auf die westliche Literatur zurück: »The Empire writes back to the centre« (Salman Rushdie).

Was die vorliegende Arbeit mit anderen »transkulturellen« literaturdidaktischen Publikationen gemeinsam hat, ist, dass sie auf die Veränderungen reagiert, denen die literarische Landschaft durch Migration, Minderheiten, Mehrsprachigkeit, durch Globalisierung und Durchmischung unterworfen ist. Was sie von vielen dieser Publikationen unterscheidet, ist, dass diese Veränderungen nicht bloß als neue Bereiche betrachtet werden, die in das bestehende Konzept einzufügen sind, die aber das Konzept selbst unangetastet lassen. Sondern ich sehe die genannten kulturellen Veränderungen als neue Faktoren, die zu einem Überdenken und einer Veränderung des bisherigen Konzepts von Literaturdidaktik zwingen. Es geht mir also nicht um eine inhaltliche Erweiterung, sondern um einen Paradigmenwechsel in der Literaturdidaktik.

Denn mit kleinen Korrekturen, wie sie gegenwärtig allerorts versucht werden, ist es nicht getan. Es geht nicht darum, »interkulturelle« Aspekte in ein national verfasstes und inhaltlich national bestimmtes System zu integrieren, sondern um die systematische Abkehr von Ideologie und Struktur einer Bildung, die auf eurozentristischen Grundlagen beruht. Ziel sollte die Gewinnung einer transkulturellen und damit nicht eurozentristischen, sondern »globalen« Perspektive sein, die aber notwendig eurozentrisch bleiben wird. Der Unterschied ist dennoch elementar. Wenn die lokale Positionierung jeder Perspektive notwendig und unvermeidlich ist, so macht es einen gewaltigen Unterschied, welcher Blick aus dieser Position auf »die Anderen« geworfen wird und ob auch die Blicke der Anderen5 mit einbezogen werden. Mit anderen Worten: Transkulturelle Literaturdidaktik versteht sich nicht als eine Ergänzung, sondern als Alternative zur herkömmlichen, in nationalen Bahnen konzipierten Literaturdidaktik. Sie erfordert nicht, dass ab nun alle Forschung wie jeder Literaturunterricht transkulturelle Themen behandelt. Allerdings setzt sie voraus, dass keine Forschung wie auch keine Unterrichtspraxis mehr ohne Berücksichtigung des Rahmens erfolgt, den das Paradigma der Transkulturalität bereitstellt, so wie bisheriges Denken vom Rahmen des nationalen Paradigmas ausgegangen ist.

Ich betrachte die Auseinandersetzung zwischen monokultureller und transkultureller Bildung als eine Form – vielleicht als die heutige Form – die Frage nach den politischen Implikationen von (Literatur-)Unterricht und Deutschdidaktik zu stellen. Meine Fragestellung hat, über ihr unmittelbares Ziel hinaus, noch ein weiterführendes Interesse, das nach der Festigung oder vielleicht sogar Wiederherstellung einer sich politisch verstehenden Deutschdidaktik. Denn transkulturelle Literaturdidaktik soll anschlussfähig an interkulturelle und anti-rassistische Bildung, an Friedenspädagogik, an globales Lernen und weltbürgerliche Bildung sein.

In neuen literaturdidaktischen Publikationen wird meist der medialen Herausforderung breiter Raum gewidmet, während die nicht minder drängende interkulturelle Herausforderung (Mehrsprachigkeit, Migrationsliteratur, Weltliteratur) kaum diskutiert wird. Auch in Publikationen, die »neue Wege« für Literaturstudium und Deutschunterricht vorschlagen, werden transkulturelle Fragen ausgeklammert (Lecke 1996). Andere wiederum (z.B. Karg 2003), die sehr wohl den Rahmen eines zusammengerückten, multikulturellen Europas thematisieren und sich anschicken, zukunftsfähige Konzepte muttersprachlichen Deutschunterrichts zu entwerfen, laufen Gefahr, in einen Abwehrgestus zu verfallen, der nur einem Aspekt der komplexen Situation Rechnung trägt – dem Vormarsch der global players (des Englischen und der Massenkultur), denen gegenüber der Deutschunterricht das »Eigene« erhalten, pflegen und tradieren müsse. Dass die Dialektik von Fremdem und Eigenem bereits innerhalb des Eigenen wirkt, wird dabei nicht berücksichtigt. Dieser Diskurs – im Kontext des Europagedankens – zeigt zugleich, dass Europa kein Allheilmittel gegen nationale Enge bedeutet. Falsch verstanden, kann es statt eines Impulses für transnationale Konzepte zu einer Form der Konservierung nationalen Gedankengutes in etwas vergrößertem Maßstab werden. Damit wird aber aus einem an sich progressiven, weil die Nation de facto und ideell überwindenden Programm, ein Rückschritt, ein großräumiger Autismus, der sich nur scheinbar vom traditionellen Provinzialismus unterscheidet.

Tatsächlich sehe ich die Gefahr der Provinzialisierung der österreichischen wie auch der europäischen Bildungspolitik, wenn wir weiterhin Bildung als nationale oder eben als europäisch-nationale Nabelschau konzipieren. Da das Eigene und das Fremde nicht fein säuberlich zu trennen sind, vielmehr nur verschiedene Mischungsverhältnisse aus einem endlichen Fundus von Grundsubstanzen darstellen, bedeutet jede Abschottung, jede Fixierung auf das vermeintlich Eigene einen Verlust an kultureller Vielfalt, mehr noch, an Kultur selbst. Die Öffnung ist der Idee der Kultur wie der Idee der Bildung immanent, nicht aber unbedingt ihrer Praxis. Viele Jahre lang werden SchülerInnen beispielsweise dazu erzogen, »ihre« Probleme in der »eigenen«, nationalen Literatur wieder zu finden, als ob es nicht darum ginge, aus einer Vielzahl von Blickmöglichkeiten auszuwählen, um die eigene Situation zu betrachten, sie zu »erkennen«, was nichts anderes heißt als eine Entscheidung zu treffen, wie man die Situation betrachten will. Somit errichtet die Bildungspolitik eine doppelte Falle der Identität: zunächst in der Fixierung des Blicks der SchülerInnen auf ihr vermeintlich Eigenes, und dann dadurch, dass ihnen vorwiegend weiteres »Eigenes« geboten wird. Damit wird drittens, indirekt, gelehrt, dass man eine scharfe Trennung von Eigenem und Fremdem vornehmen müsse und die Zusammenhänge und Übergänge ruhig vernachlässigen könne. Dieses pädagogische Konzept ist jugend-fremd und welt-fremd. Jugend-fremd, weil die Jugend sich durch ein großes Interesse, eine unbezähmbare Neugier auf Anderes, Fremdes auszeichnet; und welt-fremd, weil spätestens durch die modernen Massenmedien, vor allem Film, Fernsehen, Pop-Musik, Internet usw., diese Neugier auch ohne Rückgriff auf Literatur gestillt werden kann; überdies, weil die Fremdheit nicht nur medial, sondern auch durch Reisen und Migration direkt in nie da gewesener Form in unser Leben Einzug gehalten hat. Das Ergebnis ist, dass wir Gefahr laufen, eine halbgebildete Generation heranziehen, die zwar das massenmediale Angebot an Exotismus annimmt, sich aber nicht wirklich für die Welt interessiert, nicht wirklich kompetent ist, keine Welt-Verantwortung entwickelt und die vor allem nicht merkt, dass ihr damit etwas fehlt: eine sich selbst genügende, autoreferentielle Generation, die es nicht gelernt hat, über den eigenen Tellerrand zu blicken, und die die ganze Welt auf dieses ihr Maß zu reduzieren sucht. Dieses Syndrom ist aber nichts anderes als eine Beschreibung von Provinzialismus, auch wenn er die moderne Form eines Euro-Autismus annehmen sollte. Es entspricht der immer unverhohleneren Tendenz, Bildung in Stärkung der Ich-AG umzudefinieren.

1.2 Zur Kritik traditioneller literaturdidaktischer Theorie und Praxis

In der Deutschdidaktik – diese als eine wissenschaftliche

Disziplin verstanden – ist es zu einer verlässlichen

Verständigung über die letzten Grundlagen

noch nicht gekommen.

Hubert Ivo

Mit Heidi Rösch (2001) können wir Deutschdidaktik im weiten Sinne als die Gesamtheit von Deutsch als Erstsprache, Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache definieren. Inhaltlich geht es um die Bereiche Sprache, Literatur, Medien sowie Kultur und Landeskunde. »Dadurch wird Deutschdidaktik zur Wissenschaft des sprachlichen, literarischen, zunehmend auch des medialen und landeskundlich-kulturellen Lehrens und Lernens.« (Rösch 2001, 107) Was diese Arbeit betrifft, so bezieht sie sich im Wesentlichen auf die Bereiche Deutsch als Erstsprache und Deutsch als Zweitsprache und inhaltlich auf die Bereiche Literatur und Medien.

Die Deutschdidaktik ist seit der Zeit ihrer großen Entwürfe – die übrigens genau zu jener Zeit formuliert wurden, als Lyotard das Ende der großen Entwürfe konstatierte, also in den 1970er Jahren – ziemlich pragmatisch und methodisch geworden. Es gibt nur wenige WissenschaftlerInnen, die sich um Begründungszusammenhänge bemühen, die über eine Theorie der Methoden hinausgehen, und die bildungspolitische Konzepte im Rahmen einer Gesellschaftstheorie entwickeln. Wenn dies geschieht, dann sind dies meist VertreterInnen einer transkulturellen und einer intermedialen Didaktik.6 Diese Abkehr vom Grundsätzlichen mag der Grund sein, warum besonders die Literaturdidaktik bisher so wenig Anteil an den Debatten über Postkolonialismus, Transkulturalität und Globalisierung genommen hat, und vor allem, warum ihr diese Diskurse nicht zum Anlass für eine Revision ihrer eigenen Grundlagen geworden sind. Interkulturalität wird in der Literaturdidaktik meist noch als Additivum verstanden, als ein Zusatz (der zur Not entbehrlich ist), nicht als Wesensbestandteil von Literatur. Wenn Deutschdidaktik praktisch wird, also im Deutschunterricht, entsteht deshalb die Double-Bind-Situation, dass Interkulturalität pädagogisch gefordert und vielleicht auch sprachdidaktisch vermittelt wird, dass aber der Literaturunterricht, als der »stoffliche« und damit in den Augen vieler der eigentliche Bereich des Unterrichts, monokulturell und einsprachig bleibt.

Es reicht nicht aus – und das ist eine weitere Ausgangsthese dieser Arbeit –, auf die Zunahme der Kinder mit anderer Muttersprache, also auf die Existenz von »transnationalen und diasporischen Öffentlichkeiten« (Morley 2001, 38f.), mit Maßnahmen im Bereich des Sprachunterrichts zu antworten (so wichtig diese Aufgabe auch ist und so unvollkommen ihr bis jetzt auch nachgekommen wurde). Es geht um mehr, nämlich auch um die Überprüfung der Ethnozentrik der Inhalte des Unterrichts über Literatur und Kultur und um ihre zeitgemäße Erneuerung. Heidi Rösch unterscheidet (in Anlehnung an die Terminologie von Helmut Glück) diesbezüglich zwischen einer M-Linie und einer A-Linie in Didaktik und Pädagogik (Rösch 2001, 197f.). Die M-Linie beschäftigt sich mit den Konsequenzen von Migrationsprozessen unter dem Leitbegriff des interkulturellen Lernens, während die A-Linie sich auf Dritte-Welt-Fragen und globales Lernen konzentriert. Zwischen diesen beiden Linien gibt es, wie Rösch beklagt, viel zu wenig Kommunikation. Mein Anliegen in dieser Arbeit ist, kurz gesagt, die Verbindung von M-Linie und A-Linie innerhalb der Literaturdidaktik zu einem gemeinsamen kohärenten Konzept.

Dazu müssen wir mit einer Bestandsaufnahme des jetzigen Zustands beginnen. Wir konstatieren eine doppelte Verspätung der Literaturdidaktik bzw. des Literaturunterrichts. Denn sie bleiben nicht nur hinter dem literaturwissenschaftlichen und allgemein kulturwissenschaftlichen Diskurs zurück, sie gehen teilweise auch am öffentlichen kulturellen Leben vorbei. Ein Blick auf Kulturzeitschriften wie Literatur und Kritik oder Lettre International genügt, um sich die Kluft bewusst zu machen, die zwischen der realen Vielfalt und Mehrsprachigkeit des kulturellen Lebens und dem einsprachigen und großteils monokulturellen Literaturunterricht herscht. Die »interkulturelle Topographie« (Böhler 1987, 362) der Gesellschaft steht im Gegensatz zur lehrplanmäßig verordneten monokulturellen Topographie der Schule.7 Dies wiegt umso mehr, als sich in fast allen österreichischen Lehrplänen Bestimmungen finden, die fordern, dass die SchülerInnen befähigt werden, am kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben teilzuhaben und es mitzugestalten (vgl. Kapitel 3.3).

Das kulturelle Leben und der Deutschunterricht

Kulturelles Leben

Deutschunterricht/LehrerInnen-Bildung

Abgrenzung des Kulturbegriffs

Kultur im weiten Sinne von Symbolsystemen: Mode, Sport, Spiel, Lifestyle, Architektur, Unterhaltungsindustrie, Soap, Werbung, Kunst

Weiter Kulturbegriff nur mit Bezug auf historische Epochen
Enger Kulturbegriff bezüglich der Gegenwart

Weiter Literaturbegriff:
neben Literatur auch Film und Fernsehen, Verbindungen zu klassischer und populärer Musik, zur bildenden Kunst, Multimedia, Cyberkunst

Enger Literaturbegriff:
vor allem Roman und Erzählung (Musik und bildende Kunst tw. in anderen Fächern thematisiert)

Dialog zwischen Künsten, zwischen gesellschaftspolitischen, kulturellen und künstlerischen Diskursen

Tendenz zur Wahrung der Grenzen zwischen den Disziplinen und Beschränkung auf literarischen Diskurs

Schwerpunkte der literarischen Aktivitäten

Internationale Debatten, Lesungen, Diskussion (»Welt-Literatur«)

Deutschsprachige und österreichische Literatur, »Ausflüge« in Weltliteratur

Gegenwartsliteratur und Klassiker

Literatur des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Verwischung der Grenzen zwischen fiktionalen und anderen (z.B. essayistischen) Formen

Fiktionale Literatur, autonomes Kunstwerk

Vielfältige Subkulturen, »Minderheiten-Kulturen«, Jugendkulturen

Schwerpunkt auf Hochkultur, keine programmatische Beachtung der Vielfalt, Kinder- und Jugendliteratur in der Unterstufe als »Vorstufe des Eigentlichen«

Mehrsprachigkeit

Einsprachigkeit

Große Bedeutung des Übersetzens

Keine Thematisierung des Übersetzens

Vorherrschen einer internationalen, massenmedial verbreiteten Trivialkultur

Vorherrschen einer nationalen, über das Medium Buch verbreiteten Hochkultur

Schaubild 1

Die folgende kurze Übersicht soll diese Diskrepanz zwischen allgemein verbreiteter und in der Schule gelesener Literatur bzw., krasser noch, der in der LehrerInnenbildung vermittelten Literatur, anhand einiger ausgewählter Paradigma sichtbar machen (Schaubild 1). Natürlich muss festgehalten werden, dass einige dieser Diskrepanzen notwendig sind und sich aus der Aufgabe des Unterrichtens ergeben: Eine Einführung in das kulturelle Leben wird immer historisch angelegt sein müssen und andere Schwerpunkte setzen, als es die Moden des kulturellen Lebens verlangen. Zudem ist es nicht sinnvoll, alle Entwicklungen auch zum Gegenstand von Unterricht zu machen: Kriterien wie exemplarisch oder jugendgerecht haben selbstverständlich nach wie vor ihre Berechtigung. Auch der Schwerpunkt auf Hochliteratur lässt sich bildungspolitisch verteidigen.

Andrerseits ist aber zu bedenken, dass Bildung in bestimmter Weise dem Alltag voraus sein sollte. Erziehung, systematisch und planmäßig betrieben, sollte in manchem den alltäglichen Diskurs und seine Zufälligkeiten konzeptionell überholen, weil sie gezielt an einer grundlegenden Orientierung arbeitet. Das ist aber in der Realität offensichtlich nicht der Fall. Bereits diese grobe Gegenüberstellung zeigt, dass in Schule und LehrerInnen-Bildung noch immer das überholte Verständnis vorherrscht, dem zufolge die Einführung in das kulturelle Leben Einführung in die idealtypisch als deutsch (oder deutschsprachig) verstandene Hochliteratur ist.

Damit soll aber nicht den Lehrkräften ein Vorwurf gemacht werden, die oft über die Vorgaben der Lehrpläne und die Angebote der Schulbücher hinausgehen. Es soll vielmehr ein strukturelles Problem sichtbar gemacht werden. Lehrpläne, ein Großteil des Unterrichtsmaterials und vor allem die Ausbildung der DeutschlehrerInnen sind am monokulturellen Paradigma orientiert. Außerdem öffnet sich zwar die Germanistik in der Forschung interkulturellen Fragen, in der LehrerInnenbildung jedoch kommen diese, und sei es nur wegen der Notwendigkeit des knappen Überblicks, nicht adäquat zur Geltung. Damit sind die Grundlagen für die Perpetuierung des »monokulturellen Habitus« (Gogolin) gelegt.

Dazu kommt noch ein weiteres Moment, das ich die Verengung durch »Modernisierung« seit den späten 1960er Jahren nennen möchte: Mit der Einschränkung des Kanons durch weitgehenden Verzicht auf mittelalterliche und historische Literatur wie auf die griechisch-lateinischen Klassiker zugunsten der Konzentration auf die Moderne ist nur scheinbar ein lebensnaher und aktueller Lehrplan entstanden. Die Kehrseite dieser Reform ist der Verzicht auf die Darstellung kultureller Ganzheitlichkeit und auf historische transkulturelle Zusammenhänge, wie sie nicht nur in ganz Europa, sondern auch im Mittelmeerraum und im Nahen Osten wirksam waren. Damit wird, gerade zum Zeitpunkt, wo Europa enger zusammenrückt, das gemeinsame kulturelle Erbe in den Hintergrund geschoben.

1.3 Zum Aufbau dieser Arbeit

Eine ausführliche Begründung, theoretische Fundierung und systematische Darstellung dieser Poetik der Verschiedenheit habe ich in einer gleichnamigen umfangreichen Studie darzulegen versucht.8 Die vorliegende Arbeit baut auf diesen Erkenntnissen auf und geht dabei in einigen Schritten auf die Erfordernisse der praktischen Umsetzung im pädagogisch-didaktischen Alltag ein.

Mein Anliegen ist es, das theoretische Konzept für eine zeitgemäße literarische Bildung – und das heißt eben für transkulturelle Bildung – in Grundzügen gemäß den schulpraktischen Notwendigkeiten hin zu konkretisieren. Kriterium für Literaturdidaktik ist allerdings nicht die Praxis, sondern die Kritik. Nicht die unmittelbare Brauchbarkeit für den schulischen Unterricht ist der Prüfstein der Qualität, sondern die kritische Distanz, die die Didaktik erst zu einer Reflexionsinstanz des praktischen Unterrichts macht. Erstes Ziel der Literaturdidaktik ist somit nicht, unmittelbare Handlungsanleitungen für Unterricht oder Bildungspolitik, ihre zwei wichtigsten Handlungsfelder, zu produzieren, sondern Kriterien, Voraussetzungen, Rahmenbedingungen zu befragen und zu hinterfragen, auf die sich alltägliches didaktisches Verhalten und der common sense deutschdidaktisch relevanter bildungspolitischer Maßnahmen stützt. Daher wurde diese Studie nicht ausschließlich zur Umsetzung in schulische Praxis geschrieben, auch wenn sie bemüht ist, dazu eine Reihe von sehr konkreten Anstößen zu bieten. Sondern sie will zunächst in den Diskurs über die Orientierung dieser Praxis eingreifen bzw. ihn erst einmal in Gang setzen. Sie wirbt für eine bestimmte Richtung, die literaturpädagogische Praxis und Bildungspolitik einschlagen sollten. Wenn selbstverständlich auch auf einer unterrichtspraktischen Ebene argumentiert wird, so hat dies demonstrativen Charakter, ist Teil des Gesamtarguments, nicht bereits alles, was zu dessen praktischer Anwendung zu sagen wäre.

In einer Zeit, in der Empirie nicht nur als wichtiges Arbeitsgebiet, sondern als eigentlicher Ausweis didaktischer Wissenschaft gilt, mag diese Beschränkung erstaunen. Indes sehe ich unter den gegebenen Umständen keine andere Möglichkeit, an dem von mir intendierten Paradigmenwechsel zu arbeiten, als die Problematik direkt und auf theoretischer Ebene anzusprechen. Jede rein unterrichtsmethodische Arbeit wird bei Vorherrschen eines monokulturellen Paradigmas als Bereicherung, als Zusatz, als interessantes Nebengebiet missverstanden werden. Und auf empirischem Wege lässt sich zwar die heutige literaturdidaktische Praxis nachzeichnen, nicht aber ein Programm zu ihrer Veränderung entwickeln.

Mir geht es darum, die bestehenden deutschdidaktischen Diskurse und Konzepte kritisch auf ihre Anschlussfähigkeit an eine transkulturelle Literaturpädagogik zu überprüfen. Darauf aufbauend, werden einige Argumente vertieft und konkretisiert. Insgesamt wird ein transkultureller Literaturunterricht skizziert, der sich als Bestandteil politischer Bildung versteht – und zwar einer politischen Bildung, die ihren Beitrag zu einer selbstkritischen und polyphonen europäischen Kultur und einem kritischen kosmopolitischen Bewusstsein leistet.

Daraus ergeben sich vier Arbeitsschritte: Zunächst leiste ich eine kritische Bestandsaufnahme der literaturdidaktischen Theorie und Praxis in Bezug auf die Berücksichtigung der Transkulturalität (»Transkulturalität im literaturdidaktischen Diskurs«), wobei ich mich besonders intensiv mit Hubert Ivos Positionen als dem avanciertesten Gegenmodell auseinandersetze.

Diese Argumentation wird vertieft in einem Exkurs über Schule und Alterität