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Für Daniel,
den Geduldigsten aller Geduldigen

A lion among ladies, is a most dreadful thing

Shakespeare

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Marktgeschrei

Ah, ei, eieieiei, trrreten Sie näher, meine Damenn und Herrrenn, trrreten Sie näher! Sie auch, mein Herr, und Sie, meine Damenn, herrreinspaziert, immer nur herrreinspaziert. Die Gebrüder Schwan zeigen Ihnen heute Abend Famillje Beljajew aus Kiew, Turner, Seiltänzer und Akrrrobatenn, mit dem kleinen Pjotr, erst fünf Jahre alt, eine unglaublich niedliche, anmutige Kind, das die kühnsten Salti vollführt; außerdem zeigen wir Ihnen die Elefanten Kerba und Bella, direkt aus Haiderabad, zusammen mit ihre Mahout Abdul, und Kunstreiterin Fräulein Schumann aus Salzburg mit ihre vier Araberhengste, alle so weiß wie Marmor und so schnell wie Blitz! Hier gibt es etwas für jede Geschmack, für ganze Famillje. Trrreten Sie näher! Wir präsentieren Zauberer Victor el Greno, wie letztes Jahr, mit ganz neue, verblüffende Zauberkunststücke, die er hat gezeigt vor schwedische Kehnigsfamillje in Schloss von Stockholm.

Das stimmt, das hatte er wirklich. Wie jedes Jahr, sie konnten gar nicht genug von ihm bekommen. So seltsam es ist, denn seine Tricks waren eigentlich sehr schlicht.

Eieiei, trrreten Sie näher, trrreten Sie nur näher! Zeigen wir auch in Pause zweiköpfigen Mann Antonius aus Genua und nicht zuletzt kleinstes Mensch von Welt, General Minusculo, was raucht Pfeife, reitet auf Pony und zeigt noch andere Kunststücke.

Eine sehr langweilige Nummer, wenn man aufrichtig ist. Aber klein war er wirklich.

Trrreten Sie näher! Eintrittsbilljetten in mehrere Preise und Klassen, ab 25 Öre. Stellen Sie sich auch neben größter Mann von Europa, Samson Grimson aus Norwegen, sehen Sie Hottentottenkehnig Gareeb und Frau, beide früher Kannibalen, jetzt zu christliches Glauben bekehrt, und zeigen sich mit Alltagsleben in ihrer Hütte –

Würde mich nicht wundern, wenn die beiden genauso aus der norwegischen Provinz gekommen wären …

– und nicht zuletzt Inghildur, weibliches Werwolf aus Island, ist von Wölfen großgezogen und spricht Wolfssprache fließend; meine Herrenn, ist sie am ganzen Leibe Wolf, ja tatsächlich, sehen Sie selber nach in Pause, am ganzen Leibe. Sehen Sie auch unser Wachstableau über Christi Geburt in Bethlehem und über Leben in Karawanserei, trrreten Sie näher!

Trrreten Sie näher. Sehen Sie den roten Vorhang, sehen Sie die brennende Bogenlampe in dramatischen Farben, hören Sie den langgezogenen Trommelwirbel. Jetzt. Jetzt gleitet das Rote zur Seite. Sehen Sie! Sehen Sie mich!

Tritt auch du näher, dem ich nie begegnet bin und den nur ich kenne. Kennst du mich auch?

Hier hinter der verschlossenen Tür.

Trrreten Sie näher, meine Damenn und Herrrenn, Jungen und Mädchen, wir zeigen Ihnen Weltsensation direkt aus isländische Wildnis, sehen Sie selber, mit eigene Augenn! Elf Sprachen kann sie sprechen!

Elf Sprachen kann ich sprechen.

Hat sie Singstimme wie menschliche Nachtigall, ist völlig gegen die Natur.

Völlig gegen die Natur.

»Trrreten Sie näher, hier hinter verschlossene Tür.« Jemand klopft hart, rüttelt an der Klinke der Garderobentür, es riecht nach Bühnenstaub und billiger Schminke, eine Stimme sagt:

Jetzt musst du kommen, meine Liebe. Dein Auftritt.

Und die Tür antwortet: Ich will nicht. Ich kann nicht.

Die Hand: Na, na. Du musst jetzt auftreten. Es ist jetzt zu spät, um sich anders zu entscheiden.

Aber die Tür weint: Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht.

Die Hand (ärgerlich): Du machst jetzt auf! Wir haben für so was keine Zeit. Du führst dich auf wie ein Kleinkind!

Aber ich kann nicht. Schauen Sie nur, wie ich aussehe.

Ich kann nicht durch die Tür sehen, sagt die Stimme etwas milder. Mach schon auf und lass mich sehen. So, ja, so ist es gut. Da haben wir dich ja.

Hier! Ich kann nicht! Ich kann so etwas doch nicht anziehen! Schauen Sie, wie ich aussehe!

Das ist nur, weil es ungewohnt ist, Kleines. Du bist sehr hübsch so, finde ich.

Aber alle werden mich anstarren.

Ja.

Ja schauen Sie doch. Ich sehe ja ganz …

Es steht dir gut. Du siehst exotisch aus. Jetzt musst du aber kommen. Es ist zu spät zum Bereuen. Du hast das selbst gewählt.

Ich habe das selbst gewählt.

Trrreten Sie näher! Sehen Sie große Weltsensation, menschlichen Pekinesen, direkt aus Borneo, meine Damenn und Herrenn, direkt aus sibirische Wälder, aus Tundra von Alaska, aus die Sümpfe von Sumatra, trrreten Sie näher!

Treten Sie näher. Das ist die Wahrheit: So wahr mir Gott helfe, der Allmächtige und Allwissende. Hinsichtlich dessen, was mein Leben und meinen Leib geprägt hat, könnte ich gar nicht lügen. Meine Eltern waren Russen, sogar von feiner Familie; mein Vater war ein Graf von Oblowsk-Trimowsk. Reich waren wir nicht, dennoch genoss meine Familie ein großes Ansehen, und unser Leben war geprägt von tiefer Religiosität und Sparsamkeit. Doch die Gegend, in der wir lebten, war wild und wurde von Untieren heimgesucht, und als meine Eltern eines Nachts in ihrer Troika über die Steppe heimwärts fuhren, wurden sie von Wölfen überfallen, die die Pferde in Stücke rissen. Mein Vater, ein tüchtiger Jäger, verteidigte meine Mutter, zuerst mit den Kugeln seines Gewehrs, dann mit Messer und Feuer, schließlich mit bloßen Fäusten. Als gegen Morgen Hilfe nahte, war er den Krallen und Reißzähnen der Untiere unterlegen und lag zerrissen im Schnee. Doch meine Mutter war gerettet. Drei Monate darauf kam ich zur Welt. Arm, aber ehrlich musste ich um meiner Mutter und meiner Geschwister willen hier, wo Sie mich heute sehen können, in Dienst treten.

Du bist ein kleines Kätzchen. Ich liebe es, dass dein kleiner Hintern voller Haare ist, dass dein Rücken aussieht wie der von einem Katzenjungen. Ich werde dir alles geben, was du haben willst.

Dies ist die Wahrheit: Ich schwöre beim Grundgesetz des Staates Arkansas, das für mich ein heiliges Dokument ist, verfasst von klugen und gottesfürchtigen Männern, dass ich von skandinavischer Herkunft bin, wie so viele in diesem Land, und dass mein Äußeres dem Umstand geschuldet ist, dass meine Mutter, als sie, mit mir schwanger, im Wald spazieren ging, einem Luchs begegnete, jenem merkwürdigen, seltenen skandinavischen Waldlöwen, Felis lynx, in genau dem Augenblick, in dem ich selbst einen Fußtritt vollführte und sie spürte, dass Leben in ihr war: Da begegnete ihr Blick dem des Luchses, an einem Kreuzweg im Wald, nahe bei einem Wasserfall. Und heute können meine Herren mit eigenen Augen sehen, dass ich am ganzen Leibe aussehe wie ein Luchs.

Das ist sehr interessant und selten. Ich möchte um Erlaubnis bitten, dass ich und meine Kollegen eine Untersuchung vornehmen, wann immer es Ihnen recht wäre, Fräulein, sodass die Wissenschaft ein für alle Mal –

Dies ist die Wahrheit: Und ich versichere auf Ehre und Gewissen, dass ich an einem Tag gezeugt wurde, als meine Eltern in der afrikanischen Savanne gemeinsam einen Löwen erlegten; mein Vater war ein deutscher Großwildjäger, meine Mutter eine englische Lady; ihre Liebe war eine verbotene, denn beide waren verheiratet, doch der Tod des Löwen von ihrer Hand gab ihnen eine unwiderstehliche Inspiration ein; bereits während dem Löwen das Fell abgezogen wurde, genossen sie einander; meine Damen und Herren, so und auf keine andere Weise wurde ich gezeugt.

Komm her, kleine Löwin, dass ich dich nehmen kann, wie Löwen einander nehmen.

Dies ist die Wahrheit: Meine Mutter glaubte so fest an Jesus Christus, dass sie im Augenblick des Todes Sein Bild auf mich übertrug, und ich wurde geboren mit den Haaren und dem Bart eines Mannes, nein, nicht eines Mannes, sondern eines Engels, und dazu mit Haaren am ganzen Körper, wie ein Glorienschein.

Jesus verfolgt einen Sinn mit allem, und ich vergebe dir deine Sünden.

Treten Sie näher. Direkt aus einer kleinen, uninteressanten Provinzstadt, einem ganz gewöhnlichen, sicheren nordischen Städtchen, in dem rein gar nichts passiert, das geprägt ist von gesunden Normen, kommt und schaut, kommt näher, sperrt die Augen auf, kommt näher. Bald gleitet der Vorhang zur Seite.

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Tritt näher auch du, du, den ich nicht kenne und dem ich sicher schon begegnet bin. Siehst du mich? Kannst du mich jetzt sehen? Tritt näher.

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Ruth Arctanders kurzes Leben

Es war das Jesusbild, aber auch noch etwas Anderes. Auch etwas Anderes, an das sie dachte, als sie die schnurgerade Straße nach Hause ging, so schnell sie konnte. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, im Blauschwarz über ihr zog das Nordlicht einen ebenmäßig strömenden Schleier aus Grün zwischen sie und die Sternenwirbel. Ab und zu flackerte es in überraschenden Farbwechseln. Dann blieb sie stehen und blickte hinauf, wobei sie sich mit dem Fausthandschuh die Nase wischte. Ein Gespinst von Licht umgab die Welt, und die Welt war eine Straße. Diese Straße erstreckte sich von der Anhöhe, wo Fredheim lag, etwas oberhalb der letzten Häuser, hinab zum Städtchen und zur Bahnstation unten am Fluss, wo sie wohnte.

Wie schön das ist, dachte sie. Die sanftgeschwungenen Wellen des Schnees am Boden, nur hier und da von senkrechten schwarzen Linien unterbrochen, Bäume, Weiden, Lattenzäune. Das Licht waberte über den Himmel wie sanfte Schauder. Dann wechselte es die Farbe – aber jäh, ohne die dazwischenliegenden Abstufungen des Farbenkreises zu durchlaufen. Sie stand still. Was für ein Malkasten, dachte sie. Sie lächelte gen Himmel. Jetzt sammelte sich das wundersame, milde Licht im Norden zu Türmen und Zinnen. Und in ihr, irgendwo zwischen Herz und Kehle, klangen die Lieder von der abendlichen Chorprobe nach, ebenso mild wie das Licht; Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Ein feste Burg ist unser Gott. Vielleicht, so dachte sie, ist diese Burg aus einem sehr schimmernden und flüchtigen Material gebaut. Und das Jesusbild dort in Fredheim war heute Abend so schön gewesen; sie wusste nicht recht, warum. Es war ja dasselbe Bild wie sonst, ein einfaches Gemälde, Jesus, der die Kindlein um sich sammelt. Jesus war sehr blauäugig, sein Haar und sein Bart glänzten frisch gewaschen über seinem Gewand. Sie legte sich die Hände auf den Bauch, sammelte ihre Gedanken; es war eigentlich ein ziemlich schlechtes Bild, aber heute Abend hatte es sie gerührt. Jesus, dachte sie, ist Licht und Erlöser der Welt. Er ist der Weg und die Wahrheit. Und Tür und Tor sind für ihn geöffnet. Sie summte leise:

Es kommt der Herr der Herrlichkeit.

Das Nordlicht winkte ihr zu. Als kleines Mädchen hatte sie ein altes Weib sagen hören, man dürfe nicht zu lange hineinschauen. Und unterm Nordlicht singen dürfe man schon gar nicht. Da könne es passieren, dass man geholt wird. Jetzt war dort oben alles rot geworden und strahlte von einem einzigen Punkt aus fast am Zenit. Dann ging sie weiter, zog gegen die stählerne Kälte den Schal enger um den Hals und sang nicht mehr, summte nur noch. Die Straße führte über weites, offenes Gelände, sie musste noch über einen niedrigen Hügelkamm, dann würde sie bis nach Hause schauen können.

Von weit dort hinten, direkt über ihrem Gesichtsfeld, war ihr, als könne sie den metallischen Klang des Nordlichts hören. Aber das war es natürlich nicht, das wusste sie wohl, es war der Halb-zehn-Uhr-Zug beim Abbremsen; wenn es so kalt war, sangen die Räder besonders laut. Er war pünktlich, Gustav würde sich freuen. Nein, freuen nicht. Vergnügt würde er sein, still vergnügt.

Sie lächelte bei dem Gedanken.

Bald würde der Wagenmeister sämtliche Waggons abschreiten, erst auf der Seite des Bahnsteigs, dann zum offenen Gelände hin, mit seiner Laterne und dem langstieligen Stahlhammer, und jedem Rad einen präzisen kleinen Schlag versetzen, einen Augenblick stehenbleiben und aufmerksam dem Klang lauschen, dann weiterwandern. Die Lokomotive würde ungeduldig fauchen, Lokführer und Heizer würden auf dem Stationsklo ihr Bedürfnis erledigen und hinterher in der Wirtsstube hastig einen Teller heiße Grütze oder Suppe schlürfen. Viele Passagiere dürfte es nicht geben, aber man würde die Maschine auffüllen, der Oberschaffner und die Schaffner würden an den Wagen entlanggehen und den Namen der Station ausrufen, und dort würde Gustav stehen in seiner Stationsmeisteruniform, direkt vor der Kontortür, und das Ganze in aller Ruhe überwachen. Heizer und Lokführer würden zurückkommen, nachsehen, ob der Wassertank auch ordentlich verschlossen wurde und der Dampfdruck in Ordnung ist, sich zum Stationsmeister umdrehen und freundlich salutieren. Ungefähr zur selben Zeit würden Wagenmeister und Oberschaffner sich melden und ebenfalls salutieren, Gustav würde dastehen, ruhig, zufrieden, und den Gruß erwidern. Ruhig und zufrieden. Sie lächelte. Dann nimmt er die silberblanke Pfeife zwischen die Zähne, tritt an den Zug, die Signallaterne in der Hand. Er bückt sich kurz, denkt sie, stellt die Laterne zwischen seine Stiefel und dreht das Lampenglas auf Grün, ebenso grün wie das Leuchten über mir, nein, sogar noch viel grüner, scharf und sternenklar. Dann hebt er die Laterne, dann bläst er in die Pfeife.

Immer noch hörte sie den singenden Laut. Den bremsenden Zug. Jetzt lag sie auf dem Rücken. Schwer zu sagen, wie lange sie schon so lag. Sie öffnete die Augen. Immer noch hörte sie den Zug bremsen. Oder pfiff er schon zur Abfahrt? Hoch oben überspannte das Licht immer noch die Welt, und die Welt war eine Straße. Da lag sie. Etwas schwankte ein wenig in ihr, wie eine Art Nachhall des Schlags, den es ihr im Rücken versetzt hatte, als sie fiel.

Es tat nicht besonders weh, es stach ein wenig, und sie wurde ziemlich ruhig. Aber sie spürte, dass es schwierig war aufzustehen, und sie hatte wohl doch ein wenig Angst. Rücken und Hüfte waren wie betäubt. Ihr Name war Ruth Arctander, sie war in dieser Nacht genau siebenundzwanzig Jahre alt, am 13. Dezember 1912, sie war Klavierlehrerin und die Frau des Stationsmeisters.

Lange kann ich noch nicht hier liegen. Ich bleibe noch ein bisschen so, dachte sie. Dann kann sich alles etwas beruhigen. Bevor ich aufstehe. Und ich friere nicht.

Im Grunde war es schön.

Dort oben zog das Nordlicht sein grünweiß wehendes Gespinst für einen Augenblick zum Horizont zurück, und Ruth Arctander sah den Großen Bären mitten in seinem Satz auf den nächtlichen Nordosten zu. Ganz unbeweglich, in seinem schweren Sprung erstarrt. Was hatte er damals erzählt, ihr alter Lehrer? Ja, jetzt wusste sie es wieder, kurz wurde sie innerlich ganz warm, und die arme Callisto, dachte sie, die für immer und ewig in ihrem Bärenpelz her­um­lau­fen und sich auf so eine merkwürdige und unmenschliche Weise verstecken muss. Dann dachte sie wieder an Jesus, der heute Abend so schön gewesen war, und an die Musik. Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Hilf uns. Hilf mir. Jesus, Licht und Erlöser der Welt, Weg und Wahrheit.

Da hörte sie hinter sich Schritte auf der Straße knirschen, und sie drehte den Kopf.

»Hallo?«, sagte sie in die Luft hinein, ihre Stimme klang merkwürdig klein und trug gar nicht, ganz anders als sonst. Jetzt war sie irgendwie nur in ihrem Kopf, lag wie eine Blase auf ihren Lippen. Ein feste Burg. Aber wer da ankam, hatte sie wohl doch gehört oder sie vielleicht auch da liegen sehen, denn die Schritte wurden rascher, bald waren sie ganz nah.

Sie stützte sich mit der Rechten vom Boden ab, auf der festgetretenen, harten Straße, richtete sich ein wenig auf und drehte sich halb um. Frau Apotheker Birgerson war es, die da auf sie zugehastet kam.

»Aber liebes Kind«, sagte sie.

»Ich bin wohl gestürzt«, sagte Ruth Arctander.

»Aber um alles in der Welt. In deinem Zustand.«

»Es ist glatt.«

Frau Birgerson half ihr auf in eine sitzende Stellung. Sie hockte sich neben sie, stützte ihr behutsam mit der Hand den unteren Rücken. Gleich fühlte sich alles schon viel vertrauter an.

»Da hast du aber Glück gehabt«, sagte Frau Birgerson mit ihrer heiseren, etwas kratzigen Stimme. »Dass ich hier entlangkomme. Sonst wärst du womöglich lange liegen geblieben. Es ist spät.«

»Dann haben wir denselben Weg.«

»Ich war bei Pedersen mit etwas Medizin. Und jetzt will ich noch ein Päckchen holen, vom Zug, dann geht es wieder nach Hause. Meinem Mann ist das Antitoxin ausgegangen.«

»Ist jemand krank?«

»Pedersens kleiner Jan hat Diphtherie, vielleicht wird er es nicht überstehen. Ja, und übrigens noch zwei weitere Kinder im Kirchspiel.«

»Der Arme.«

»Ja, der Arme. Das ist der furchtbare Würger der Kinder.«

»Da hoffe ich, die Arznei kann helfen.«

»Das tut sie sicher. Aber wir sollten jetzt nicht so viel reden. Erst müssen wir dich mal auf die Beine kriegen. Hast du Schmerzen?«

»Nein, nein, es geht schon. Nur ein bisschen.«

»Soso, ja. Noch ein bisschen. Erst das eine Bein. So. Da wären wir. Wann ist es so weit, Kindchen?«

»Nur noch zwei, drei Wochen.«

»Dann solltest du in deinem Zustand aber nicht mehr mitten in der Nacht alleine draußen herumlaufen.«

»Der Chor braucht mehr Altstimmen.«

»Sicher auch noch Tenöre, was, habe ich gehört. Aber ich habe mich noch nicht gemeldet«, sagte Frau Birgerson mit ihrer rauen Stimme.

Ruth musste kurz lachen. Frau Birgerson bürstete ihr den Schnee vom Schaffellmantel.

»Kannst du ohne Hilfe gehen?«

»Ich glaube schon.«

»Dann werden wir dich mal ins Haus schaffen«, sagte Frau Birgerson. »Immer schön langsam und vorsichtig, und dann rufen wir Doktor Levin.«

»Ich glaube, das wird nicht nötig sein«, sagte Ruth. »Es geht schon ganz gut. Es wird alles gut.«

Sie gingen langsam den sanften Hügel hinab. Erst jetzt spürte Ruth, dass etwas von dem milden Licht in ihr geblieben war, und jetzt floss es langsam ab. Es rann aus ihr hinaus, in den Schnee, erst vorsichtig, ein etwas kitzelndes Rieseln von der Brust hinab, dann in weichen Wellen.

»Aber mein Liebes«, sagte Frau Birgerson, weit entfernt. »Aber mein Liebes.«

»Vielleicht sollten wir doch Doktor Levin rufen«, sagte Ruth Arctander.

»Ich weiß, wo er ist«, sagte Frau Birgerson.

»Ich habe Jesus so lieb.«

»Psst, Kleines, nicht sprechen jetzt.«

»Ich habe den ganzen Abend lang an Ihn gedacht.«

»Psst, psst. Leg deinen Arm um meine Schultern, dann geht es ein bisschen leichter. Ja, so.«

»Glaubst du, Er wird mir helfen?«

»Still jetzt. Nicht weinen.«

»Aber Er muss mir helfen.«

»Psst. Wir rufen den Doktor an. Ich weiß, wo er ist.«

Jetzt sahen sie den Bahnhof.

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Es dauerte seine Zeit, bis Doktor Levin kam. Unterdessen lag Ruth in einem Nebel aus Farben und Schmerzen im Bett. Sie hatten sie die Treppe hinaufgetragen, sie erinnerte sich an Gustavs Gesicht, besorgt, ganz nah bei ihrem, mit dem weißen Backenbart unter der Uniformmütze; das geflügelte Rad am Mützenspiegel schimmerte golden. Sie erinnerte sich daran, wie Knudtzon sich entschuldigt hatte, als er ihr die Stiefel auszog, bevor sie sie hinauftrugen.

Frau Birgerson war irgendwo hier bei ihr im Zimmer, machte sich nützlich, kam mit einer Schüssel voll heißem Wasser, mit Handtuch und Lappen, wusch sie, bewegte sich vorsichtig um sie herum, tröstete sie. Ruth fühlte jetzt ein merkwürdig liebes Gefühl für Frau Birgerson; sonst hatte sie sie nie so besonders sympathisch gefunden. Erstens war da das mit ihrer Stimme, die war so merkwürdig hart und rau, sie hätte nie in einem Chor singen können, nicht einmal Tenor, und dann glaubte sie weder an Jesus noch an sonst etwas, genau wie der Apotheker selbst. Sie hatte eine etwas barsche und sachliche Wesensart, ganz ähnlich wie ihre Stimme. Ruth hatte sie nie so recht leiden mögen. Aber jetzt klammerte sie sich an diese Sachlichkeit, und Frau Birgersons etwas harte, trockene Hand war wie ein sicherer Fels. Sie segelte über Wellen aus Schmerz und vertäute sich an dieser Hand, hielt sie ganz fest.

Frau Birgerson strich ihr mit einem Waschlappen über die Stirn.

»Ein Mann«, murmelte Ruth, »ging von Jerusalem hinab nach Jericho, und er geriet unter die Räuber.« Dann kam sie nicht weiter, denn eine neue Welle von Schmerzen kam heran und riss sie mit sich. Frau Birgerson wischte ihr die Stirn.

Wenn sie nicht sich selbst hörte, hörte sie die Stille des Zimmers. Es war ganz und gar still. Irgendwo von draußen vor der Tür kam in regelmäßigen Abständen der dumpfe, dunkle Laut von rastlosen Uniformstiefeln, die schwer über Holzdielen und Flickenteppiche schlurften.

»Soll ich den Stationsmeister holen?«

»Gustav? Nein. Nein. Jetzt nicht.«

Es ist seine Schuld, dachte sie.

»Ich glaube, ich hole ihn trotzdem.«

»Nein, nicht weggehen. Nicht weggehen.«

»Gut, ich gehe nicht weg. Ich bleibe hier.«

»Werden nicht fünf Spatzen für zwei Heller verkauft? Aber vergisst Gott auch nur einen von ihnen?«

»Still jetzt. Du brauchst keine Angst zu haben. Alles wird gut.«

Es ließ etwas nach. Ruth hielt sich an Frau Apotheker Birgersons Hand fest. Rasche Schritte die Treppe hinab, eine Tür wurde geöffnet. Jetzt schrie Ruth. Jetzt hatte sie Angst. Ab und zu glitt sie in Halbschlaf. Und dieser Halbschlaf war wie warmes, schimmerndes Wasser. Aber in regelmäßigen Abständen rissen die Schmerzen sie wieder an die Oberfläche.

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Frau Birgerson war besorgt. Immer wieder ging sie zum Fenster und schaute nach dem zweispännigen Schlitten des Arztes. Einmal ging sie aus der Tür und bat Stationsmeister Arctander, noch einmal anzurufen. Der Doktor hatte einen weiten Weg, so war es, er war nordwärts zu einem Krankenbesuch gewesen, aber der Schnee glitt gut.

Wenn er nur bald hier ist, dachte Frau Birgerson. Das Gesicht des Stationsmeisters war grau und verzerrt. Seine sonst so freundlichen, rotwangigen Augen schauten auf einmal ganz anders aus dem bärtigen Gesicht hinaus, und er hatte sich den engen, hohen Uniformkragen aufgeknöpft. Er nickte ernst und ging noch einmal zum Telefon. Die Falten unter seinen Augen hatten sich gerötet, doch das restliche Gesicht, Wangen und Kinn, waren grau.

Bevor er zum Telefon hinunterging, drehte er sich noch einmal zu Frau Birgerson um.

»Sie glauben doch nicht, dass ich sie verlieren werde?«, fragte er.

»Na, na, es geht sicher gut.«

»Ja, denn ich darf sie nicht verlieren«, sagte er. »Sie müssen tun, was in Ihrer Macht steht.« Er sprach eindringlich.

»Telefonieren Sie jetzt dem Doktor hinterher und fragen Sie, wie weit er ist.«

»Ja«, sagt er. »Das werde ich tun.«. Er wandte sich zum Gehen, drehte sich noch einmal zu Frau Birgerson um, wollte etwas sagen, dann fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht und ging.

»Und wir brauchen noch Wasser«, sagte Frau Birgerson.

Sie ging wieder zu der Gebärenden hinein und bekam es mit der Angst. Viel Blut war gekommen. Das geht nicht gut, dachte sie. Frau Birgerson hatte einige Erfahrung als Hebamme und war nicht so leicht zu erschrecken, aber das hier wollte ihr überhaupt nicht gefallen. Wenn dieser Doktor sich nur beeilen würde. Sie griff nach der Hand der jungen Frau. Sie war feucht und kalt.

Als Stationsmeister Arctander anklopfte, war sie sofort an der Tür.

»Nichts Neues«, atmete er schwer, »aber er ist unterwegs. Zuletzt wurde er am Åremo-Kreuzweg gesehen, sagt die Zentrale.« Er schnaufte, denn er war kein junger Mann mehr.

»Am besten, Sie rufen auch meinen Mann an«, sagte Frau Birgerson. »Er ist entweder zu Hause oder in der Apotheke. Sagen Sie, er soll schnell kommen und Kalialaun mitbringen. Ich bin nicht sicher, dass der Doktor welchen in seiner Tasche hat.«

»Kalialaun?«

»Ja. Er soll sich beeilen. Jemand soll ihn herfahren. Es eilt.«

»Kalialaun«, sagte der Stationsmeister entschlossen und drehte sich auf dem Absatz um. Aber er schaute noch einmal zurück, wie vorhin, bittend, er versuchte, Frau Birgerson über die Schulter zu schauen, hinein, zum Bett:

»Ist es –«

Da blickte sie ihn an, fest:

»Es ist ernst. Beeilen Sie sich jetzt.«

Er ging. Bald darauf waren Schlittenglöckchen zu hören, und der Apotheker war da. Und bald darauf kam auch der Doktor.

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Ruth trieb unterdessen in ihrem Halbschlaf dahin, tauchte ein und kam wieder heraus, je nachdem, wie die Schmerzen sie hochhoben oder sinken ließen. Jedes Mal war es, als müsste der Schmerz sie etwas mehr hochhieven und an ihr zerren, um sie aus diesem behaglichen, warmen Zustand zu holen. In weiter Ferne hörte sie Stimmen, konnte aber nicht recht erkennen, was sie sagten; Dinge gingen um sie her vor, sie hörte ein schwaches, kaltes Klirren, einen Augenblick lang störte es sie, doch dann glitt sie erneut tief in die warme Benommenheit, als triebe sie jetzt wirklich hinaus auf See, in die große Tiefe, wo starke Strömungen herrschen, und jetzt endete auch der Schmerz, er ebbte ab, jetzt gab er nach, und hier draußen, hier draußen war mit einmal auch Jesus. Da war er wieder. Jesus, der heute Abend so schön gewesen war, an den sie den ganzen Abend gedacht, nach dem sie sich den ganzen Abend gesehnt hatte, seit sie gestürzt war, Jesus, den sie angebetet hatte, angerufen, herbeigesehnt, begehrt, hier draußen war er mit einmal, hier draußen in der Tiefe, sie konnte seine Nähe spüren – für einen kurzen Moment öffnete sie die Augen, es war zu hell im Zimmer um sie her, und sie hörte ein seltsames, unbehaglich knirschendes Geräusch, das sie nicht recht erkannte, aber dort, im Lampenschein, sah sie es, sie sah das Gesicht, und es war Jesu Antlitz, ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte, viel weicher und kleiner, aber doch so wunderschön und verklärt, das goldenhelle Haar, und der Bart feucht von Schmerz und Leiden. Sie lächelte. Dann starb sie.

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Aber der Doktor hatte sich hinsetzen müssen, als das Kind aus der Mutter geglitten war wie ein blutiger Haarball. Sein Gesicht war ganz weiß. Nur Frau Birgerson stand auf beiden Beinen und behielt einen kühlen Kopf.

»Abraham«, sagte sie zum Arzt, »reiß dich zusammen. Sie stirbt uns!«

Und Doktor Abraham Levin riss sich zusammen. Er stand auf.

»Es ist nur, ich habe so etwas noch nie gesehen«, sagte er halblaut. Frau Birgerson, die nicht nur Freidenkerin, sondern auch recht gut orientiert war, dank der vielen pharmazeutischen Bücher und Zeitschriften ihres Mannes, versuchte ihn zu beruhigen.

»So etwas ist selten, aber es kommt schon einmal vor«, sagte sie. »Es fällt wohl irgendwann aus. Nach ein paar Wochen. Halt hier fest, hier, ich trenne die Nabelschnur durch und binde ab.« Der Arzt hielt fest. Das Kind wimmerte.

»Und jetzt musst du versuchen, die Blutung zum Stillstand zu bringen«, sagte Frau Birgerson leise und hielt das Kind hoch, sodass Ruth es sehen konnte. Frau Birgerson hoffte, dass doch wenigstens etwas durch die halb offenen Augen der jungen Frau drang. In diesem Moment kam die Nachgeburt, und mit ihr ein Strom von Blut, der sich über den bloßen Arm des Arztes ergoss, der vornübergebeugt dastand und vergeblich mit der geballten Hand eine innere Kompression versuchte.

Ruth Arctander öffnete die Augen zwei Mal, murmelte etwas; dann war es vorbei.

Der Arzt musste sich erneut hinsetzen.

»Gott im Himmel«, sagte er. »Gott im Himmel.« Er beugte den Kopf vornüber und wippte vor und zurück. Sein Schnurrbart glänzte schweißnass. Seine Arme bis zu den Ellbogen und die Manschetten seiner hochgekrempelten Ärmel waren grellrot von Blut. Frau Birgerson stand etwas unschlüssig da, das Kind, das sie hastig in ein Leintuch gewickelt hatte, im Arm. Es wimmerte, schrie aber nicht.

Die Stiefel im Gang schlurften nicht mehr, sondern standen still. Der Arzt saß vornübergebeugt auf dem Stuhl, sie stand. Doktor Levins Uhr war aus der Westentasche gerutscht und pendelte langsam zwischen seinen Beinen; Frau Birgerson konnte das Ticken hören. Von dem Leib im Bett kam ein schwaches, keuchendes Geräusch. Frau Birgerson schrak zusammen, aber der Arzt hob das Gesicht und sah sie traurig an, langsam den Kopf schüttelnd. Dann gab er sich einen Ruck, stand auf und begann, die voll Blut gesogenen Handtücher und Laken aus dem Blick zu schaffen. Frau Birgerson sah sich nach einem frischen Handtuch um. Sie tunkte es in die Schüssel mit dem warmen Wasser und wusch Blut und Schmiere von dem Kind ab.

»Es ist ein kleines Mädchen«, sagte sie leise.

»Ach ja?«, fragte der Arzt.

Jetzt, als es mit dem Wasser in Berührung kam, fing das Kind an zu schreien.

»Sch, sch«, sagte Frau Birgerson etwas abwesend und versuchte mit unsicheren Händen, es zu waschen.

Der Arzt deckte die Tote mit einem reinen Laken zu, zog ihr das Betttuch bis zur Brust hoch, rollte die blutigen Tücher zu einer Kugel zusammen und schob sie mit dem Fuß unters Bett. Dann nahm er sein Stethoskop und hörte die Brust des weinenden Neugeborenen ab, das Frau Birgerson jetzt abzutrocknen versuchte. Nach ein paar Sekunden nickte er kurz.

»Glaubst du, es tut weh?«, fragte Frau Birgerson. »Ist es ihr unangenehm, was denkst du?«

Der Arzt stand da und betrachtete das Kind, in seinem Blick mischten sich jetzt Faszination und Ekel.

»Ich weiß nicht«, sagte er abwesend.

Frau Birgerson trocknete das Kind fertig ab, so gut sie konnte, dann wickelte sie es. Sie blickte zur Tür. Sie sah den Arzt an. Er schaute finster zurück. Dann seufzte er schwer.

»Ich mache das«, sagte er.

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Gemurmel draußen im Flur. Ein Laut, eine Art Ausbruch, ein Stöhnen, ein seltsam würgendes Geräusch dringt dumpf durch die geschlossene Tür, Wut oder Trauer oder beides. Dann ist es still. Die ganze Zeit steht Frau Birgerson da und blickt auf das Kind in ihren Armen, schaut, als könne sie nicht ganz glauben, was sie da sieht. Immer wieder vertieft sie sich in den Anblick, als sähe sie es immer wieder zum ersten Mal. Das Kind liegt da so ruhig und still, zwinkert mit den Augen, schließt die kleinen Finger fest und entschlossen um nichts, krächzt ein bisschen, gähnt, müde nach dem harten Kampf. Jetzt duftet es in ihren Armen nach Neugeborenem, und auch im ganzen Raum, süß und blumig, fast übertönt der Duft den scharfen Blutgeruch.

Milch, denkt Frau Birgerson, das habe ich ja ganz vergessen, wir müssen Milch warm machen. Und ein Fläschchen, wo kriegen wir ein Trinkfläschchen her; ach, Frau Arctander hat doch sicher, hatte sicher …

Frau Birgerson wendet sich zu der toten Frau Arctander, die dort liegt, so blass und friedlich. Dass sie dann einfach nicht mehr da sind, denkt Frau Birgerson, das ist so unmöglich zu begreifen.

Immer noch wirkte das Gesicht der jungen Frau ganz lebendig, als schlafe sie nur tief und atme lautlos durch halb geöffnete Lippen. Ihre Züge waren weich und entspannt, noch ohne das Strenge, Abweisende, das sie später bekommen würden. Als wäre sie immer noch hier im Zimmer, dachte Frau Birgerson. Oder nur kurz hin­ausgegangen.

Das seltsame kleine Mädchen wimmerte und blinzelte wieder mit den Augen. Frau Birgerson hob sie hoch, vor die Tote, als wollte sie, dass die Kleine sich das Bild der Mutter einprägte, in dieser ersten und letzten Stunde. Dann ließ sie die Arme sinken und schüttelte den Kopf über sich selbst.

Die Tür ging auf. Der Arzt trat als Erster ein, gefolgt von Stationsmeister Arctander, der sich schwer auf Knut Birgerson stützte, den Apotheker. Jetzt ließ Arctander, zusammengesunken, grau im Gesicht, den Arm des Apothekers los und bewegte sich apathisch, fast schwankend, auf das Bett zu. Kurz dachte Frau Birgerson, er würde zusammenbrechen, auf die Knie fallen, aber er blieb stehen, den Rücken zu den anderen, und weinte still, während er unverwandt auf seine tote Frau blickte. Das Weinen strömte fast lautlos aus ihm heraus, wie ein leiser Flötenton. Es war merkwürdig berührend, den großen, kräftigen Mann so zu sehen, und die drei anderen standen verlegen hinter ihm. Endlich waren ein paar schwere Atemzüge und ein kleines Schlucken von ihm zu hören, dann strich er sich die Hand ein paar Mal übers Gesicht und durchs Haar und drehte sich zu ihnen um.

»Ruhig, ruhig, Arctander«, sagte Apotheker Birgerson hilflos und drückte ihm die Hand.

»Danke«, sagte Arctander leise. »Danke.« Und, sehr leise, wieder kurz zu der Toten gewandt, mit tränenerstickter Stimme: »Und auch dir danke, mein Kleines.« Und wieder musste er sich mit der Hand ein paar Mal übers Gesicht fahren.

Der Arzt legte ihm die Hand auf die Schulter:

»Es tut mir so leid. Ich habe wirklich alles getan, was in meiner Macht stand«, sagte er. »Aber es war nichts zu machen. Es tut mir leid.«

»Danke«, sagte der Stationsmeister wieder und drückte ihm die Hand. »Danke.«

»Aber das Kind lebt, Arctander«, sagte der Arzt vorsichtig.

»Ja«, sagte der Stationsmeister.

»Wollen Sie es sich nicht ansehen?«

Gustav Arctander starrte ihn schwer an. Dann riss er sich zusammen und trat zu Frau Birgerson. Er warf einen kurzen Blick auf das Kind in ihren Armen.

»Um Himmels willen«, sagte er nur und schaute fort.

»Ich verstehe, dass Ihnen das schwerfällt«, beruhigte ihn der Arzt, »aber ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass …«

»Wird es …?«, fragte der Stationsmeister. »Ich meine, ist es lebensfähig?«

»Ja«, sagte der Arzt, »es ist etwas zu früh gekommen, zeigt aber alle Vitalitätszeichen.«

»Um Himmels willen«, sagte der Stationsmeister wieder. Er sah das Kind noch einmal kurz an.

»Sie werden sehen, in ein paar Tagen …«, setzte Frau Birgerson an.

»Schaffen Sie es weg«, sagte der Stationsmeister, laut jetzt. »Ich will es nicht sehen. Das ist ja kein Kind. Das ist – ein Wiesel, verdammt. Schaffen Sie es weg.«

»Aber lieber Gustav«, versuchte Frau Birgerson, eindringlich, »ich versichere Ihnen, schon in wenigen Tagen oder Wochen …«

»Elsa …«, sagte Apotheker Birgerson warnend.

»Ein Ungeheuer«, sagte Arctander sehr laut. »Schaffen Sie es weg, sage ich! Außerdem bin ich für Sie nicht Ihr lieber Gustav. Oder für sonst jemanden hier.« Er sah sich beleidigt um, als wären sie Eindringlinge in seinem Heim. Dann aber blickte er zu Boden. »Entschuldigung«, sagte er leise. »Entschuldigung.« Er drehte sich auf dem Absatz um und hastete zur Tür.

Die drei anderen standen da und sahen einander ratlos an. Doktor Levin machte Anstalten, dem Trauernden zu folgen, doch der Apotheker hielt ihn zurück.

»Du kannst jetzt nicht viel für ihn tun, Abraham«, sagte er.

»Aber er steht unter Schock«, sagte der Arzt.

»Ist das denn ein Wunder?«, fragte der Apotheker. »Lass ihm jetzt seine Ruhe.«

»Milch«, sagte Frau Birgerson. »Und ein Fläschchen.«

»Ja«, sagte ihr Mann abwesend. »Abraham, wir müssen uns wohl um das Praktische kümmern …« Er schaute zur Leiche hinüber.

»Kann denn jemand kommen und helfen?«, fragte der Arzt unsicher.

»Nein«, sagte Frau Birgerson. »Arctander hat keine lebenden Verwandten, soweit ich weiß. Und Ruth – die war ja aus dem Norden.«

»Das Bahnhofspersonal vielleicht?«, schlug der Apotheker versuchsweise vor.

»Ja«, sagte der Arzt. »Ich werde mit den Leuten reden. Ich muss erst noch die Papiere fertig machen. Und den Pfarrer anrufen.«

»Ja«, sagte der Apotheker.

»Vielleicht kommst du nachher mit und redest mit dem Personal, Elsa?«, fragte Doktor Levin.

Sie sahen einander an.

»Milch«, sagte Frau Birgerson. »Und ein Fläschchen. Das Kind muss versorgt werden.«

»Ja«, sagte Doktor Levin.

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Der Arzt fand den Stationsmeister in seinem dunklen Büro sitzend. Er hatte die Rollos vor den Fenstern zum Schalterraum heruntergezogen und nicht geantwortet, als Doktor Levin anklopfte.

»Hier sitzen Sie also«, sagte der Arzt etwas ratlos, als er die große Gestalt auf dem Stuhl erblickte.

Arctander antwortete nicht, nickte bloß.

Der Doktor machte die Lampe an, ohne zu fragen.

»Brauchen Sie etwas?«, fragte er. »Etwas zu essen? Oder zu trinken?«

Der Stationsmeister schüttelte den Kopf.

»Ein Bier vielleicht?«

»Nein danke«, sagte der Stationsmeister, »ich trinke nicht im Dienst.«

Es wurde still. Durch die Fenster war das Ticken vom Stellwerk und dem Telegraphen zu hören.

»Sie haben ein fabelhaftes Personal«, sagte der Arzt. »Sie helfen bei den praktischen Dingen.«

»Ja«, sagte Arctander. »Das ist gut. Ich – kann heute Abend nicht so viel tun.«

»Soll jemand herkommen? Soll ich jemanden anrufen? Einen Freund? Einen Verwandten?«

»Nein danke«, sagte Arctander. »Ich habe keine Verwandten. Keine lebenden.«

»Aha.«

»Sie sterben. Alle.«

Der Arzt räusperte sich.

»Was Ihre neugeborene Tochter anbelangt«, sagte er, »so hat Apotheker Birgerson sich bereit erklärt, sie für die nächsten Tage zu sich zu nehmen, falls Sie das wünschen.«

»Ja«, sagte der Stationsmeister.

»Bis Sie wieder so weit sind, dass Sie sich um das rein Praktische kümmern können.«

Wieder nickte der Stationsmeister.

»Sie müssen eine Amme finden. Oder wenigstens ein Kindermädchen. Aber vorerst brauchen Sie über so etwas nicht nachzudenken«, sagte der Arzt.

»Doktor Levin«, sagte der Stationsmeister, »was fehlt dem Kind?«

»Nichts fehlt ihm«, sagte der Arzt und schaute so überzeugend drein, wie er konnte. »Offenbar ist es so, dass selten, hin und wieder einmal, eines so zur Welt kommt. Später kommt das dann von selbst in Ordnung.«

»Aha«, sagte der Stationsmeister. »Aha, ja.«

»Sie sollten sich keine Sorgen machen«, sagte der Arzt. »Das wird schon werden. Sie sollten versuchen zu schlafen. Brauchen Sie etwas, um einzuschlafen?«

»Nein«, sagte Arctander. »Ich nehme keine Mittel.«

»Ich lasse Ihnen trotzdem eine Schachtel Brom da«, sagte der Arzt.

»Danke.«

»Wollen Sie sich wirklich nicht hinlegen? Knudtzons Frau hat das Gästezimmer bereitgemacht.«

»Nein«, sagte der andere schwer. »Noch nicht. Ich glaube, ich bleibe noch etwas hier sitzen.«

»Wie Sie möchten. Wie Sie möchten.«

»Löschen Sie die Lampe, wenn Sie gehen«, sagte Stationsmeister Arctander.

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So kam es, dass das Neugeborene seine erste Nacht nicht zu Hause verbrachte, sondern in einem fremden Heim. Birgersons nahmen sie mit zu sich, versorgten sie, Birgerson ging in die Apotheke und holte eine Schachtel Patentschnuller. In Ruth Arctanders Kommode hatten sie Babyzeug und Windeln gefunden, säuberlich aufgestapelt.

Sie kochten eine Flasche aus, wärmten Milch und gaben der Kleinen eine erste Mahlzeit. Sie selbst hatten keine Kinder und fanden es seltsam mit diesem kleinen Wesen im Wäschekorb. So einer Merkwürdigkeit. Das kleine Mädchen war hellblond und starrte aus dunkelblauen Augen zu Frau Birgerson hinauf. Das Haar bedeckte seinen gesamten Körper, langes, goldweißes, seidenweiches Haar, fast wie bei einer Langhaarkatze, nur noch weicher und feiner. Und es bedeckte den gesamten Leib, Arme und Beine, Bauch und Rücken. Sogar das Gesicht trug eine dichte Fellschicht. Nur die Augen sowie Handflächen und Fußsohlen waren unbehaart. Frau Birgerson kam es vor, als hielte sie ein kleines Tier im Arm. Sie streichelte die Kleine, ließ die Hände durch die weichen Haare gleiten, sah zu ihr hinunter. Das Gesicht war inmitten all der Haare schwer zu erkennen. Nur die Augen waren zu sehen, groß und klar.

»Tja, dir hätte heute eine andere Stimme ein Wiegenlied singen sollen, nicht meine«, sagte Elsa Birgerson bewegt. Trotzdem summte sie etwas, das einem Lied ähnelte, ein wenig dunkel und heiser, während sie die namenlose Kleine in den Schlaf wiegte.