Selma Lagerlöf

 

Erzählungen

 

Herrn Arnes Schatz

Im Pfarrhof von Solberga

1

 

Zur Zeit, als König Friedrich II. von Dänemark Bohuslän regierte (1559-1588), wohnte in Marstrand ein armer Fischkrämer, der Torarin hieß. Er war ein schwacher und geringer Mann, sein einer Arm war lahm, sodass er weder zur Fischerei noch zum Rudern taugte. Er konnte seinen Unterhalt nicht auf der See verdienen wie die anderen Inselbewohner, sondern er zog umher und verkaufte eingesalzene und getrocknete Fische an die Leute auf dem Festland. Er war nicht viele Tage des Jahres daheim, er zog immer von Dorf zu Dorf mit seinem Fischwagen.

 

An einem Februartag, als die Dämmerung hereinbrach, kam Torarin den Weg gefahren, der von Kunghäll zu dem Kirchspiel Solberga führte. Es war ganz einsam und menschenleer auf dem Weg, aber Torarin brauchte sich darum nicht Schweigen aufzuerlegen. Er hatte neben sich auf der Fuhre einen verlässlichen Freund, mit dem er Zwiesprache halten konnte. Das war ein kleiner schwarzer Hund mit buschigem Fell, den Torarin Grim nannte. Er lag meistenteils still da, den Kopf zwischen die Beine geklemmt, und blinzelte nur zu allem, was sein Herr sagte. Aber wenn er etwas zu hören bekam, was ihm nicht behagte, dann stellte er sich auf der Fuhre auf, streckte die Schnauze in die Luft und heulte ärger als ein Wolf.

 

»Nun will ich dir erzählen, Grim, mein Hund«, sagte Torarin, »dass ich heute große Neuigkeiten gehört habe. Sowohl in Kunghäll als in Kareby sagten sie mir, dass das Meer zugefroren sei. Es ist nun eine Zeit lang ruhiges schönes Wetter gewesen, das weißt du ja am besten, der du alle Tage draußen gewesen bist, und das Meer soll nicht nur in den Buchten und Sunden zugefroren sein, sondern weit hinaus ins Kattegat. Es gibt jetzt zwischen den Schären keinen Weg für Boote und Schiffe, da ist überall nur starkes hartes Eis und man kann nun mit Schlitten und Pferd bis hinaus nach Marstrand und zur Paternoster-Schäre fahren.«

 

All das hörte der Hund und es schien ihm nicht zu missfallen. Er lag still da und blinzelte Torarin an.

 

»Wir haben nicht mehr sonderlich viel Fische hier auf der Fuhre übrig«, sagte Torarin gleichsam überredend. »Was würdest du nun dazu sagen, wenn wir bei der nächsten Wegscheide einbögen und nach Westen zum Meer führen? Wir fahren an der Solberger Kirche vorbei und hinunter nach Ödmalsskil und dann glaube ich nicht, dass es viel mehr als fünfviertel Meilen Wegs nach Marstrand sind. Es wäre doch eine schöne Sache, einmal heimkommen zu können, ohne Boot oder Fähre zu benutzen.«

 

Sie fuhren über die lange Karebyer Heide, und obwohl den ganzen Tag ruhiges Wetter gewesen war, kam jetzt ein kalter Lufthauch über die Heide gestrichen und machte die Fahrt unbehaglich.

 

»Es mag weichlich aussehen, dass wir so mitten in der besten Arbeitszeit heimfahren«, sagte Torarin und schlug der Kälte wegen mit den Armen um sich. »Aber wir sind nun doch viele Wochen unterwegs gewesen, du und ich, und können es gut brauchen, ein paar Tage daheim zu sitzen und die Kälte aus dem Körper auszutreiben.«

 

Da der Hund noch immer still dalag, schien Torarin seiner Sache sicherer zu werden und er fuhr in zuversichtlicherem Ton fort: »Nun hat Mutter viele, viele Tage einsam daheim in der Hütte gesessen. Sie sehnt sich wohl danach, uns wiederzusehen. Und in Marstrand geht es nun im Winter hoch her. Straßen und Gässchen, Grim, sind voll von fremden Fischern und Kaufleuten. In den Seeschuppen gibt es jeden Abend Tanz. Und das viele Bier, das in den Schenken fließt! Das kannst du dir gar nicht denken.«

 

Als Torarin dies sagte, beugte er sich zu dem Hund hinab, um zu sehen, ob er auf das hörte, was er zu ihm sprach. Aber da der Hund ganz wach dalag und kein Zeichen des Missvergnügens gab, bog Torarin in den ersten Weg ein, der nach Westen zum Meer führte. Er knallte mit der Peitsche und ließ das Pferd rasch traben.

 

»Da wir am Solberger Pfarrhof vorbeikommen«, sagte Torarin, »werde ich wohl dort vorsprechen und fragen, ob es sicher ist, dass das Eis bis nach Marstrand trägt. Dort müssen sie wohl darüber Bescheid wissen.«

 

Torarin hatte dies mit leiser Stimme gesagt, ohne daran zu denken, ob der Hund ihn hörte oder nicht. Aber kaum waren die Worte gesprochen, als der Hund sich auf der Fuhre aufstellte und ein entsetzliches Geheul ausstieß. Das Pferd machte einen Sprung zur Seite und auch Torarin erschrak und drehte sich um, um zu sehen, ob ihm Wölfe nachjagten. Aber als er merkte, dass es Grim war, der so heulte, versuchte er ihn zu beruhigen.

 

»Lieber«, sagte er zu ihm, »wie viele Male sind wir, du und ich, im Pfarrhof von Solberga eingekehrt. Ich kann ja nicht sagen, ob Herr Arne weiß, wie es mit dem Eis steht, aber das weiß ich sicher, dass er uns ein gutes Abendbrot vorsetzt, ehe wir unsere Seereise antreten.«

 

Doch seine Worte vermochten den Hund nicht zu beschwichtigen. Er richtete die Schnauze empor und heulte immer furchtbarer. Da fehlte nicht viel, dass es Torarin unheimlich zumute geworden wäre. Es war nun beinahe dunkel geworden, aber Torarin konnte doch die Kirche von Solberga sehen und die weite Ebene ringsherum, die zur Landseite von breiten bewaldeten Höhen und von runden nackten Felsenklippen dem Meer zu geschützt dalag. Wie er da ganz mutterseelenallein über die weite weiße Ebene fuhr, kam er sich wie ein ganz geringes und kleines Gewürm vor, aber von den dunklen Wäldern und den öden Felsenklippen rückten große Ungeheuer und Trolle aller Art an, die sich nach Einbruch der Dunkelheit hinaus ins Land wagten. Und auf der ganzen Ebene gab es sonst niemand, auf den sie sich stürzen konnten, als den armen Torarin. Aber zu gleicher Zeit versuchte er, den Hund zu beruhigen.

 

»Lieber, was hast du gegen Herrn Arne? Er ist der reichste Mann im Land. Er ist aus hohem Geschlecht und wäre er nicht Geistlicher, dann wäre er ein mächtiger Anführer geworden.«

 

Aber damit konnte er den Hund nicht zum Schweigen bringen. Da riss Torarin die Geduld, sodass er den Hund beim Nackenfell packte und ihn vom Wagen hinunterwarf. Der Hund lief ihm nicht nach, als er weiter fuhr, sondern blieb auf dem Weg stehen und heulte, bis Torarin durch ein dunkles Tor einfuhr und in den Hof des Pfarrhauses kam, der von vier langen niedrigen Holzbauten eingeschlossen wurde.

 

 

2

 

Im Pfarrhof von Solberga saß der Pfarrer, Herr Arne, und aß sein Abendbrot im Kreise aller seiner Hausgenossen. Es war kein Fremder zugegen außer Torarin.

 

Der Pfarrer war ein alter, weißhaariger Mann, aber er war doch noch kräftig und hoch. Er hatte seine Gattin neben sich sitzen. Ihr hatten die Jahre übel mitgespielt. Ihr Kopf und ihre Hände zitterten und sie war beinahe taub. An Herrn Arnes anderer Seite saß der Hilfspfarrer. Er war jung und bleich und hatte ein bekümmertes Aussehen, so als ob er alle die Gelehrsamkeit nicht tragen könnte, die er während seines Studienjahres in Wittenberg eingesammelt hatte.

 

Diese Drei saßen zuoberst am Tisch, gleichsam ein wenig für sich. Nach ihnen kamen Torarin und dann die Diener. Diese waren auch alte Leute. Da waren drei Knechte, sie hatten Kahlköpfe, ihre Rücken waren gebeugt und die Augen zwinkerten und tränten. Der Mägde waren nicht mehr als zwei. Sie waren etwas jünger und rüstiger als die Knechte, aber sie schienen doch hinfällig und voller Altersgebresten. Am allerweitesten unten am Tisch saßen zwei Kinder. Das eine war Herrn Arnes Enkeltochter, sie zählte nicht mehr als vierzehn Jahre. Sie war blondhaarig und zartgliedrig, das Gesicht war noch nicht recht fertig, aber sie sah aus, als würde sie lieblich werden. Sie hatte ein anderes kleines Jüngferchen neben sich. Das war eine arme vater- und mutterlose Waise, die immer im Pfarrhof lebte. Die beiden saßen dicht aneinander geschmiegt auf der Bank und es hatte den Anschein, als ob große Freundschaft zwischen ihnen herrschte.

 

Alle diese Leute saßen da und aßen im tiefsten Schweigen. Torarin sah vom einen zum andern, aber keiner hatte Lust, während der Mahlzeit zu sprechen. Alle die Alten dachten bei sich: Es ist eine große Sache, sein Essen zu haben und nicht Not leiden oder hungern zu müssen, wie wir es in unserm Leben oftmals mussten. Während wir essen, dürfen wir an nichts anderes denken als daran, Gott für seine Güte zu danken.

 

Da Torarin niemand hatte, mit dem er reden konnte, wanderten seine Blicke das Zimmer hinauf und hinab. Er ließ die Augen von dem großen Ofen, der in vielen Geschossen unten von der Eingangstür hinaufgemauert war, zu dem großen Himmelbett schweifen, das in der entferntesten Ecke des Zimmers stand. Er blickte von den wandfesten Bänken, die rings um die Stube liefen, hinauf zum Windfang an der Decke, durch den der Rauch hinauszog und die Winterkälte hereinströmte.

 

Als Torarin, der Fischkrämer, der in der kleinsten und ärmlichsten Hütte der Schären hauste, dies alles sah, dachte er: Wenn ich ein großer Herr wäre, wie Herr Arne, dann würde ich mich nicht damit begnügen, in einer uralten Hütte mit einer einzigen Stube zu wohnen. Ich würde mir ein Haus bauen mit Giebeln und vielen Gemächern, so wie der Bürgermeister und die Ratsmänner in Marstrand es tun.

 

Aber am häufigsten heftete Torarin seine Blicke auf eine große Eichentruhe, die zu Füßen des Himmelbettes stand. Er sah sie so oft an, weil er wusste, dass Herr Arne darin all sein Silbergeld verwahrte, und er hatte gehört, es wäre so viel, dass es die Truhe bis hinauf zum Rand füllte.

 

Und Torarin, der so arm war, dass er fast nie einen Silberling in der Tasche hatte, sagte zu sich selber: Ich möchte dieses Geld dennoch nicht haben. Man sagt, Herr Arne hätte es aus den großen Klöstern genommen, die früher einmal hier im Land waren, und die alten Mönche hätten prophezeit, dass dieses Geld ihn ins Unglück stürzen würde.

 

Als Torarin eben in diesen Gedanken dasaß, sah er, wie die alte Hausmutter die Hand an das Ohr hielt, um besser zu hören. Hierauf wandte sie sich an Herrn Arne und fragte ihn: »Warum schleifen sie Messer auf Branehög?« Es war eine so tiefe Stille im Zimmer, dass alle zusammenzuckten und erschrocken aufblickten, als die alte Frau dies fragte. Als sie sahen, dass sie dasaß und auf etwas horchte, hielten sie ihre Milchlöffel still und strengten sich an, um zu hören.

 

Eine Weile war es ganz totenstill in der Stube, aber dabei wurde die alte Frau immer unruhiger und unruhiger. Sie legte die Hand auf Herrn Arnes Arm und fragte ihn: »Ich weiß nicht, warum sie heute Abend auf Branehög so lange Messer schleifen?«

 

Torarin sah, dass Herr Arne ihr über die Hand strich, um sie zu beruhigen. Aber er dachte nicht daran, zu antworten, sondern aß ruhig wie zuvor weiter.

 

Die alte Frau saß noch immer da und horchte. Vor Angst traten ihr Tränen in die Augen und ihre Hände und ihr Kopf zitterten immer heftiger.

 

Da begannen die beiden kleinen Jüngferchen, die am Tischende saßen, vor Angst zu weinen.

 

»Könnt ihr nicht hören, wie es scharrt und kratzt?«, fragte die Alte. »Könnt ihr nicht hören, wie es zischt und knirscht?«

 

Herr Arne saß still und streichelte seiner Frau die Hand. Solange er schwieg, wagte niemand sonst ein Wort zu äußern. Aber alle glaubten, dass die alte Hausmutter etwas höre, was entsetzlich und unheilbringend sei. Alle fühlten, wie das Blut in ihren Adern erstarrte. Es saß niemand am Tisch, der noch einen Bissen zum Mund führte, außer dem alten Herrn Arne selbst.

 

Sie dachten daran, dass die alte Hausmutter es war, die durch viele Jahre Sorge für das Haus getragen hatte. Sie war immer daheim auf dem Hof geblieben und hatte mit Klugheit und Fürsorglichkeit über Kinder und Gesinde, über Hab und Gut und Viehstand gewacht, sodass alles gedieh. Nun war sie abgearbeitet und steinalt, aber es war doch gewiss, dass sie es vor allen anderen merken würde, wenn dem Hof Gefahr drohte.

 

Die alte Frau wurde immer ängstlicher und ängstlicher. Sie faltete die Hände und in ihrer Hilflosigkeit begann sie so bitterlich zu weinen, dass große Tränen über die verschrumpften Wangen rollten.

 

»Fragst du gar nicht danach, Arne Arneson, dass mir so bange ist?«, klagte sie.

 

Herr Arne beugte sich nun zu ihr hinab und sagte: »Ich weiß nicht, wovor du dich fürchtest.«

 

»Ich fürchte mich vor den langen Messern, die sie auf Branehög schleifen«, sagte sie.

 

»Wie kannst du hören, dass sie auf Branehög Messer schleifen?«, sagte Herr Arne und lachte. »Der Hof liegt ja eine Viertelmeile weg von hier. Nimm nur wieder den Löffel zur Hand und lass uns unser Abendbrot beenden.«

 

Die Alte versuchte, ihr Entsetzen zu unterdrücken. Sie nahm den Löffel und steckte ihn in die Milchschale, aber dabei zitterte ihre Hand so, dass alle hörten, wie der Löffel an den Rand schlug. Sie legte ihn gleich zurück. »Wie kann ich essen?«, sagte sie. »Höre ich denn nicht, wie es knirscht? Höre ich denn nicht, wie es feilt?«

 

Im selben Augenblick schob Herr Arne den Milchnapf von sich und faltete die Hände. Alle anderen taten es ihm gleich und der Hilfsgeistliche begann, das Tischgebet zu sprechen.

 

Als dieses beendet war, sah Herr Arne zu denen hinunter, die unten am Tisch saßen, und als er merkte, dass sie bleich und erschrocken aussahen, wurde er zornig.

 

Er fing mit ihnen von den Zeiten zu sprechen an, als er eben nach Bohuslän gekommen war, um die lutherische Lehre zu predigen. Da hatten er und seine Diener vor den Päpstlichen fliehen müssen wie gehetzte wilde Tiere. »Haben wir nicht unsere Feinde im Hinterhalt auf uns lauern sehen, wenn wir in das Haus Gottes zogen? Waren wir nicht aus dem Pfarrhof vertrieben und haben wir nicht gleich Friedlosen in den Wald ziehen müssen? Steht es uns an, eines bösen Omens wegen den Mut zu verlieren und zu verzweifeln?«

 

Wie Herr Arne so sprach, sah er aus wie ein Recke, und die anderen fassten frischen Mut, als sie ihn hörten. Das ist ja wahr, dachten sie. Gott hat Herrn Arne in den größten Gefahren beschützt. Er hält seine Hand über ihm. Er lässt seinen Diener nicht untergehen.

 

 

3

 

Als Torarin auf die Straße hinausfuhr, kam ihm sein Hund Grim entgegen und sprang auf die Fuhre hinauf. Als Torarin sah, dass der Hund vor dem Pfarrhof gewartet hatte, wurde er aufs Neue unruhig. »Lieber, warum stehst du den ganzen Abend hier unterm Tor? Warum gehst du nicht in die Hütte und lässt dir einen Abend-Imbiss geben?«, sagte er zum Hund.

 

»Kann Herrn Arne etwas Böses bevorstehen? Vielleicht habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Aber auch ein solcher Recke wie er muss wohl einmal sterben. Er ist nun wohl an die neunzig Jahre alt.«

 

Er lenkte das Pferd auf einen Weg, der an dem Hof Branehög vorbei hinab nach Ödmalsskil führte.

 

Als er nach Branehög kam, sah er, dass Schlitten auf dem Hof standen und ein Lichtschein durch die verschlossenen Fensterladen drang.

 

Da sagte Torarin zu Grim. »Hier sind die Leute noch auf. Ich will hineinfahren und fragen, ob sie heute Abend hier im Haus Messer geschliffen haben.«

 

Er fuhr in den Hof, aber als er die Tür zur Stube öffnete, sah er, dass darinnen ein Gastmahl abgehalten wurde. Auf den Bänken, den Wänden entlang, saßen alte Männer und tranken Bier und auf der Diele gingen die Jungen umher und spielten und tanzten.

 

Torarin sah sogleich, dass hier niemand daran dachte, seine Waffen zu blutiger Tat zu bereiten. Er schlug die Tür wieder zu und wollte seiner Wege gehen, aber der Herr des Hauses kam ihm nach. Er bat Torarin, zu bleiben, da er nun einmal gekommen wäre, und zog ihn mit hinein in die Stube.

 

Torarin saß eine gute Weile in großem Behagen da und plauderte mit den Bauern. Sie waren sehr aufgeräumt und Torarin war es zufrieden, sich alle düsteren Gedanken aus dem Sinn zu schlagen.

 

Aber Torarin war nicht der Einzige, der an diesem Abend spät zum Gastmahl kam. Lange nachher traten ein Mann und eine Frau zur Tür herein. Sie waren dürftig gekleidet und sie blieben verzagt in der Ecke zwischen der Tür und dem Herd stehen.

 

Der Wirt ging sogleich zu den beiden Gästen hin. Er nahm sie beide bei der Hand und führte sie hinauf in die Stube. Dann sagte er zu den Übrigen. »Ist es nicht wahr, was man sagt: die, die den kürzesten Weg haben, kommen am spätesten ans Ziel? Dies sind meine nächsten Nachbarn. Es gibt keine anderen Ansiedler hier in Branehög, als sie und mich.«

 

»Sage lieber gleich, dass es keine gibt außer dir«, sagte der Mann. »Du kannst mich nicht einen Ansiedler nennen. Ich bin nur ein armer Köhler, den du auf deinem Boden bauen ließest.«

 

Der Mann setzte sich neben Torarin und sie begannen, miteinander zu sprechen. Der neue Ankömmling erzählte Torarin, warum er so spät zum Gastmahl kam. Das wäre, weil sie daheim in ihrer Hütte einen Besuch gehabt hätten, den sie nicht allein zu lassen wagten. Es wären drei Gerbergesellen, die den ganzen Tag bei ihnen verbracht hätten. Am Morgen, als sie gekommen wären, wären sie ermattet und krank gewesen. Sie hätten gesagt, sie seien eine ganze Woche im Wald umhergeirrt. Aber nachdem sie gegessen und geschlafen hätten, wären sie bald zu Kräften gekommen, und am Abend hätten sie gefragt, welches Gehöft das reichste und größte in der Gegend sei. Dorthin wollten sie gehen, um Arbeit zu suchen.

 

Die Frau hätte ihnen geantwortet, dass der Pfarrhof, wo Herr Arne wohnte, das ansehnlichste Anwesen wäre. Da hätten sie sogleich aus ihren Ränzeln lange Messer gezogen und angefangen, sie zu schleifen.

 

Dies hätten sie eine gute Weile fortgesetzt und dabei hätten sie so wild ausgesehen, dass der Köhler und sein Weib nicht gewagt hätten, das Haus zu verlassen. »Ich sehe sie noch vor mir, wie sie dasaßen und mit ihren Messern knirschten«, sagte der Mann.

 

»Sie sahen furchtbar aus, sie hatten große Bärte, die sie so manchen Tag nicht gestutzt oder gepflegt hatten, und sie waren in zottige Fellröcke gekleidet, die zerfetzt und schmutzig waren. Ich glaubte, es seien zwei Werwölfe in die Stube gekommen. Ich war froh, als sie sich endlich trollten.«

 

Als Torarin dies hörte, erzählte er dem Köhler, was er selbst im Pfarrhof mitgemacht hatte.

 

»Also war es doch wahr, dass sie heute Abend in Branehög Messer schliffen«, sagte Torarin und lachte. Er hatte viel getrunken, weil er so traurig und bedrückt auf den Hof gekommen war. Und so hatte er denn versuchen müssen, sich zu trösten, so gut er konnte. »Nun bin ich wieder froh«, sagte er, »da ich jetzt weiß, dass die Pfarrersfrau kein anderes Vorzeichen gehört hat als ein paar Gerber, die ihre Werkzeuge in Ordnung brachten.«

 

 

4

 

Lange nach Mitternacht traten ein paar Männer aus der Stube auf Branehög, um ihre Pferde anzuschirren und heimzufahren.

 

Als sie auf den Hof kamen, sahen sie im Norden eine Feuersbrunst zum Himmel flackern. Sie eilten sogleich in die Stube zurück und riefen: »Steht auf! Steht auf! Der Pfarrhof von Solberga steht in Flammen!«

 

Es waren viele Leute bei dem Gastmahl und wer ein Pferd hatte, schwang sich darauf und eilte zum Pfarrhof, aber beinahe ebenso rasch kamen die ans Ziel, die auf ihren eigenen flinken Füßen hinlaufen mussten. Als die Leute zum Pfarrhof kamen, schien da kein Mensch auf zu sein, sondern alle schienen zu schlafen, obwohl das Feuer hoch zum Himmel loderte.

 

Aber es war keines der Häuser, das brannte, sondern ein großer Haufen Reisig und Stroh und Holz, der an der Wand des alten Pfarrhauses aufgeschichtet war. Er konnte noch nicht lange gebrannt haben. Die Flammen hatten gerade nur das gute Zimmerholz der Wand geschwärzt und den Schnee auf dem Strohdach zum Schmelzen gebracht. Jetzt war jedoch das Stroh des Daches im Begriff anzubrennen. Alle begriffen sogleich, dass dies ein Mordbrand war. Sie fingen zu zweifeln an, ob Herr Arne und seine Hausgenossen wirklich schliefen oder ob ein Unglück sie getroffen hätte.

 

Aber bevor die Retter in das Haus drangen, wälzten sie mit langen Stangen den brennenden Scheiterhaufen von der Hauswand fort und kletterten auf das Dach und rissen das Stroh ab, das zu rauchen begonnen hatte und nahe daran war, Feuer zu fangen.

 

Dann gingen ein paar Männer auf die Haustür zu, um einzutreten und Herrn Arne zu wecken, aber als der, der voranging, zur Schwelle kam, wich er zur Seite und ließ einem den Vortritt, der nach ihm kam.

 

Dieser machte einen Schritt vorwärts, aber als er die Hand nach dem Türgriff ausstrecken wollte, ging er zurück und machte jenen Platz, die hinter ihm standen.

 

Es deuchte sie eine grausige Tür, die da zu öffnen war; denn es kam ein breiter Blutstrom unter der Schwelle hervorgerieselt und der Türgriff war mit Blut besudelt. Da ging die Tür vor ihnen auf und Herrn Arnes Hilfsgeistlicher kam heraus. Er taumelte auf die Männer zu, er hatte eine tiefe Wunde im Kopf und war blutüberströmt. Er stand einen Augenblick aufrecht und reckte seine Hand empor, um Schweigen zu gebieten. Dann sagte er mit röchelnder Stimme: »In dieser Nacht ist Herr Arne und sein ganzes Haus von drei Männern ermordet worden, die durch den Windfang des Daches hereingeklettert kamen und in zottige Felle gehüllt waren. Sie stürzten sich über uns her wie wilde Tiere und töteten uns.«

 

Mehr vermochte er nicht zu sagen. Er fiel vor den Füßen der Männer hin und war tot.

 

Nun traten die Leute in das Haus und fanden alles so, wie der Hilfspfarrer gesagt hatte.

 

Die große Eichentruhe, in der Herr Arne sein Geld verwahrte, war verschwunden und Herrn Arnes Pferd war aus dem Stall und sein Schlitten aus dem Schuppen genommen worden.

 

Es führten Schlittenspuren vom Hof über die Pfarrhofwiesen hinab zum Meer und ein Dutzend Männer eilten davon, um die Mörder zu greifen. Aber die Frauen bemühten sich um die Toten und trugen sie aus der bluttriefenden Stube hinaus in den reinen Schnee.

 

Da fand man nicht alle von Herrn Arnes Hausgenossen, sondern einer fehlte. Es war die arme Jungfrau, die Herr Arne in sein Haus aufgenommen hatte. Da herrschte große Verwunderung, ob es ihr vielleicht geglückt wäre zu entfliehen oder ob die Räuber sie mitgenommen hätten.

 

Aber als sie das ganze Haus genau durchsuchten, fanden sie sie zwischen dem großen Ofen und der Wand versteckt. Sie hatte sich während des Kampfes dort verborgen gehalten und war ganz unversehrt. Aber sie war vom Schrecken so mitgenommen, dass sie nicht Rede noch Antwort stehen konnte.

 

 

Auf den Brücken

 

Die arme Jungfrau, die von dem Blutbad verschont geblieben war, hatte Torarin mit nach Marstrand genommen. Er hatte ein so großes Mitleid für sie gefasst, dass er ihr angeboten hatte, in seiner engen Hütte zu wohnen und Speise und Trank mit ihm und seiner Mutter zu teilen.

 

Dies ist das Einzige, was ich für Herrn Arne tun kann, dachte Torarin, zum Lohn für alle die vielen Male, wo er mir meine Fische abgekauft hat und mich an seinem Tisch essen ließ.

 

So arm und gering ich auch bin, dachte Torarin, ist es doch besser für die Jungfrau, dass sie mit mir in die Stadt kommt, als wenn sie hier bei den Bauern bleibt. In Marstrand gibt es viele reiche Bürger und die Jungfrau wird vielleicht bei einem von ihnen einen Dienst finden und so ihr gutes Auskommen haben.

 

In den ersten Tagen, nachdem die Jungfrau zur Stadt gekommen war, saß sie da und weinte vom Morgen bis zum Abend. Sie jammerte über Herrn Arne und sein Haus und sie klagte, weil sie alle verloren hatte, die ihr nahe standen. Am meisten jedoch wehklagte sie über ihre Milchschwester [Anm. (veraltet): weibliche Person, die als Säugling zugleich mit einem von anderen Eltern stammenden Säugling gestillt wurde] und sagte, sie wünschte, sie hätte sich nicht an der Mauer versteckt, sodass sie ihr in den Tod hätte folgen können.

 

Torarins Mutter sagte nichts dazu, solange der Sohn daheim war. Aber als er wieder seine Fahrt angetreten hatte, sagte sie eines Morgens zu der Jungfrau: »Ich bin nicht so reich, Elsalill, dass ich dir Nahrung und Kleidung geben kann, damit du hier mit den Händen im Schoß sitzt und deinen Kummer hütest. Komm du mit mir hinunter auf die Brücken und lerne Fische reinigen!«

 

Da ging Elsalill mit ihr hinunter auf die Brücken und stand den ganzen Tag unter den anderen Fischerinnen und arbeitete.

 

Aber die meisten Frauen auf den Brücken waren jung und frohgemut. Sie begannen mit Elsalill zu sprechen und fragten sie, warum sie so traurig und stumm wäre.

 

Da begann Elsalill ihnen zu erzählen, was für ein Abenteuer ihr vor nicht mehr als drei Nächten widerfahren war. Sie erzählte von den drei Räubern, die durch den Windfang des Daches in die Stube gedrungen waren und alle gemordet hatten, die ihr im Leben nahe standen.

 

Als Elsalill dies erzählte, fiel ein schwarzer Schatten auf den Tisch, an dem sie stand und arbeitete. Und als sie aufsah, standen vor ihr drei vornehme Herren, die breite Hüte mit großen Federn trugen und Samtkleider mit großen Puffen, die mit Seide und Gold bestickt waren.

 

Einer von ihnen schien der Vornehmste zu sein. Er war sehr bleich, sein Bart war geschoren und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Es hatte den Anschein, als wäre er jüngst krank gewesen. Aber sonst sah er aus wie ein fröhlicher und kühner Kavalier, der auf den besonnten Brücken umherging, um die Leute seine schönen Kleider und sein schönes Gesicht sehen zu lassen.

 

Elsalill hielt mit der Arbeit und mit der Erzählung inne. Sie stand mit offenem Mund und aufgerissenen Augen da und betrachtete ihn. Und er lächelte ihr zu. »Wir sind nicht hergekommen, um dich zu erschrecken, Jungfrau«, sagte er, »und wir bitten dich, dass du auch uns gestattest, deiner Erzählung zu lauschen.«

 

Die arme Elsalill, niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie einen solchen Mann gesehen. Sie meinte, vor ihm nicht sprechen zu können. Sie schwieg nur und sah hinunter auf ihre Arbeit.

 

Da begann der Fremde noch einmal: »Sei doch nicht bange, Jungfrau. Wir sind Schotten, die wohl an die zehn Jahre in den Diensten des Königs Johann von Schweden gestanden haben, aber jetzt haben wir Urlaub und wollen heimreisen. Wir sind nach Marstrand gekommen, um eine Fahrgelegenheit nach Schottland hinüber zu finden, aber als wir herkamen, waren alle Sunde und Fjorde zugefroren, und hier müssen wir nun bleiben und warten. Wir haben keinerlei Beschäftigung und darum schlendern wir über die Brücken, um Leute zu treffen. Wir wären froh, Jungfrau, wenn du uns deine Geschichte hören ließest.«

 

Elsalill begriff, dass er so lange sprach, um ihr Zeit zu geben, ihre Fassung wiederzuerlangen. Endlich dachte sie bei sich selber: Du musst doch wohl zeigen, dass du nicht zu gering bist, um mit einem hohen Herrn zu sprechen, Elsalill! Du bist doch eine Jungfrau von guter Geburt und keine Fischerdirne!

 

»Ich sprach nur von dem großen Blutbad im Pfarrhof von Solberga«, sagte Elsalill. »Es sind ihrer so viele, die davon zu erzählen wissen.«

 

»Ja«, sagte der Fremde, »aber ich wusste bis jetzt nicht, dass jemand von Herrn Arnes Leuten mit dem Leben davongekommen ist.«

 

Da erzählte Elsalill noch einmal von dem Eindringen der wilden Räuber. Sie erzählte, wie die alten Knechte sich um Herrn Arne geschart hatten, um ihn zu schützen, und wie Herr Arne selbst sein Schwert von der Wand gerissen hatte und auf die Räuber eingedrungen war, die aber hatten sie alle besiegt. Und die alte Pfarrersfrau hatte das Schwert ihres Mannes aufgehoben und war auf die Räuber losgegangen, aber sie hatten sie nur ausgelacht und sie mit einem Holzscheit zu Boden geschlagen. Und alle die anderen Frauen hatten sich auf die Ofenmauer verkrochen, aber als die Männer tot waren, kamen die Mörder und rissen sie herunter und ermordeten sie. »Die Letzte, die sie töteten«, sagte Elsalill, »war meine liebe Pflegeschwester. Sie bat so flehentlich um ihr Leben und zwei von ihnen wollten es ihr schenken, aber der Dritte sagte, alle müssten sterben, und stach ihr sein Messer ins Herz.«

 

Solange Elsalill von Mord und Blut sprach, standen die drei Männer vor ihr still. Sie tauschten keinen Blick miteinander, aber ihre Ohren wurden gleichsam lang vom Horchen und ihre Augen funkelten und zuweilen öffneten sich ihre Lippen, sodass die Zahnreihen hervorleuchteten.

 

Elsalill stand da, die Augen voll Tränen, nicht ein einziges Mal sah sie auf, während sie sprach. Sie sah nicht, dass der Mann vor ihr Augen und Zähne hatte wie ein Wolf. Erst als sie zu Ende gesprochen hatte, trocknete sie ihre Tränen und sah zu ihm auf.

 

Doch als er Elsalills Augen begegnete, veränderte sich sein Gesicht sogleich.

 

»Da du die Mörder so gut gesehen hast, Jungfrau«, sagte er, »hättest du sie wohl sogleich wiedererkannt, wenn du ihnen begegnet wärest?«

 

»Hab’ ich sie doch nicht anders gesehen als beim Schein der Kienspäne, die sie aus dem Herd rissen, um sich beim Morden zu leuchten«, sagte Elsalill, »aber dennoch würde ich sie mit Gottes Hilfe wohl wiedererkennen. Und ich bete alle Tage zu Gott, dass ich ihnen begegnen möchte.«

 

»Was meinst du damit, Jungfrau?«, fragte der Fremde. »Ist es nicht wahr, dass die mörderischen Wanderer tot sind?«

 

»Ja, das weiß ich wohl«, sagte Elsalill. »Die Bauern, die ihnen nachjagten, verfolgten ihre Spuren vom Pfarrhof bis zu einer Wake im Eis. Bis dorthin sahen sie auf dem blanken Eisspiegel Spuren von Schlittenkufen, Spuren von Pferdehufen, Fußstapfen von Menschen, die harte, eisenbeschlagene Schuhe getragen hatten. Aber von der Wake führten keine Spuren weiter über das Eis und darum glaubten die Bauern, dass alle tot wären.«

 

»Glaubst du, Elsalill, denn nicht, dass sie tot sind?«, fragte der Fremde.

 

»Doch, ich glaube wohl, dass sie ertrunken sind«, sagte Elsalill, »und dennoch bete ich jeden Tag zu Gott, dass sie entronnen sein möchten. Ich spreche so zu Gott: Lass es so sein, dass sie nur mit Pferd und Schlitten in die Wacke gefahren haben, dass sie selbst aber davongekommen sein möchten.«

 

»Warum wolltest du das, Elsalill?«, fragte der Fremde.

 

Das zarte Mägdlein Elsalill, das warf den Kopf zurück, und ihre Augen leuchteten: »Ich wollte wohl, dass sie lebten, damit ich sie ausfindig machen und greifen könnte. Ich wollte, dass sie lebten, damit ich ihnen das Herz aus der Brust reißen könnte. Ich wollte, dass sie lebten, damit ich ihren Leib in vier Teile zerstückelt auf das Rad geflochten sähe.«

 

»Wie wolltest du dies alles bewerkstelligen?«, sagte der Fremde. »Du bist ja nur so ein schwaches, kleines Jungfräulein.«

 

»Wenn sie lebten«, sagte Elsalill, »dann würde ich sie schon der Strafe zuführen. Lieber wollte ich selbst in den Tod gehen, als sie entrinnen lassen. Sie mögen wohl stark und gewaltig sein, das weiß ich, aber mir würden sie nicht entrinnen können.«

 

Da lächelte der Fremde, aber Elsalill stampfte mit dem Fuß auf.

 

»Wenn sie lebten, dann würde ich dessen gedenken, dass sie mir mein Heim genommen haben, so dass ich jetzt eine arme Dirne bin, die auf der kalten Brücke stehen und Fische schuppen muss. Ich würde mich dessen erinnern, dass sie alle getötet haben, die mir nahe standen. Und besonders würde ich mich an den erinnern, der meine Milchschwester von der Mauer herunterzerrte und sie ermordete, die mir so hold gesonnen war.«

 

Aber als die kleine zarte Jungfrau so großen Zorn zeigte, da begannen die drei schottischen Kriegsleute zu lachen. Sie mussten so lachen, dass sie ihrer Wege gingen, damit Elsalill keinen Anstoß daran nähme. Sie gingen über den Hafen ein enges Gässchen hinauf, das zum Marktplatz führte. Aber noch lange, nachdem sie verschwunden waren, hörte Elsalill, wie sie aus vollem Halse lachten, höhnisch und gellend.

 

 

Die Ausgesandte

 

Acht Tage nach seinem Tod wurde Herr Arne in der Kirche von Solberga beigesetzt und an demselben Tag wurde auf dem Thing-Platz von Branehög Untersuchung über den Mord gehalten.

 

Aber Herr Arne war ein wohlbekannter Mann in Bohuslän gewesen und an seinem Begräbnistag kamen so viele Menschen, vom Festland wie von den Schären, zusammen, dass es war, wie wenn ein Kriegsheer sich um seinen Anführer sammelt. Und über die Felder zwischen der Kirche von Solberga und Branehög wanderten so viele Leute, dass es am Abend keinen Zollbreit Schnee gab, der nicht von Menschen niedergetreten worden war.

 

Doch spät nachts, als alle diese Leute ihrer Wege gezogen waren, kam Torarin, der Fischkrämer, den Weg von Branehög herauf nach Solberga gefahren.

 

Torarin hatte im Laufe des Tages mit vielen Menschen gesprochen. Wieder und wieder hatte er von Herrn Arnes Tod erzählt. Er war auch auf dem Thing-Platz wohl verpflegt worden und hatte so manchen Bierkrug leeren müssen, mit Wanderern, die von weither kamen.

 

Torarin fühlte sich schwer und träge, er hatte sich auf seiner Fuhre niedergelegt. Er war betrübt, dass Herr Arne dahingegangen war, und als er in die Nähe des Pfarrhofs kam, begannen ihn noch schwerere Gedanken zu quälen. »Grim, mein Hund«, sagte er, »wenn ich an dieses Vorzeichen mit den Messern geglaubt hätte, hätte ich das ganze Unheil abwehren können. Ich denke oft daran, Grim, mein Hund. Mir ist so ängstlich zumute, ganz, als hätte ich selbst mit dazu geholfen, Herrn Arne aus der Welt zu schaffen. Merke nun wohl, was ich sage: Wenn ich das nächste Mal so etwas höre, werde ich es glauben und mich danach richten.«

 

Aber während Torarin auf dem Wagen lag und mit halbgeschlossenen Augen vor sich hindämmerte, ging sein Pferd, wie es ihm gefiel; und als es zum Pfarrhof von Solberga kam, trabte es aus alter Gewohnheit in den Hof und ging bis zur Stalltür. Torarin wusste von nichts. Erst als das Pferd stehen blieb, richtete er sich auf und sah sich um. Er schauderte zusammen, als er sah, dass er sich auf dem Hof vor einem Haus befand, wo erst vor einer Woche so viele Menschen ermordet worden waren.

 

Er griff sogleich nach den Zügeln. Er wollte das Pferd umdrehen und wieder auf den Weg hinausfahren, aber in demselben Augenblick klopfte ihm jemand auf die Schulter und er sah sich um. Da stand neben ihm der alte Olof, der Pferdeknecht, der am Pfarrhof gedient hatte, solange Torarin überhaupt zurückdenken konnte.

 

»Hast du es so eilig, heute Nacht vom Hof wegzufahren, Torarin?«, sagte der Alte. »Komm doch lieber ins Haus hinein! Herr Arne sitzt da und wartet auf dich.«

 

Torarin gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Er wusste nicht, ob er träumte oder wachte. Olof, den Pferdeknecht, den er frisch und lebend vor sich stehen sah, hatte er vor einer Woche tot neben den anderen liegen sehen, mit einer großen Wunde am Hals.

 

Torarin fasste die Zügel fester. Es deuchte ihn das Beste, rasch fortzukommen. Aber die Hand Olofs, des Pferdeknechts, lag noch auf seiner Schulter und der Alte fuhr fort, in ihn zu dringen.

 

Torarin grübelte hin und her, um eine Ausflucht zu finden. »Es lag mir nicht im Sinn, Herrn Arne zu so später Stunde zu stören«, sagte er. »Das Pferd ist hierher getrabt, ohne dass ich davon wusste. Ich will jetzt weiterfahren und mir eine Herberge für die Nacht suchen. Wenn Herr Arne mich sprechen will, kann ich wohl morgen wiederkommen.«

 

Damit beugte Torarin sich vor und schlug mit der Peitsche nach dem Pferd, damit es sich in Bewegung setze. Aber im selben Augenblick stand der Pfarrhofknecht vorne beim Kopf des Pferdes, fasste es am Zaumzeug und zwang es, stillzustehen.

 

»Sei nicht halsstarrig, Torarin«, sagte der Knecht. »Herr Arne ist noch nicht zu Bett gegangen, er sitzt da und wartet auf dich. Und du musst doch wissen, dass du hier ein ebenso gutes Nachtquartier finden kannst wie auf irgendeinem anderen Hof im Kirchspiel.«

 

Da wollte Torarin antworten, dass er sich nicht damit begnügen könnte, in einem Haus ohne Dach zu wohnen. Aber bevor er etwas sagte, warf er einen Blick auf das Wohngebäude.

 

Da sah er das alte Dach ebenso wohlbehalten und ansehnlich wie vor dem Brand dastehen. Und doch hatte Torarin noch an demselben Morgen den nackten Dachstuhl in die Luft ragen sehen.

 

Er schaute und schaute und rieb sich die Augen, aber das Pfarrhaus stand ganz gewiss unversehrt da, mit Stroh und Schnee auf dem Dach. Durch den Windfang sah er Rauch und Funken aufflattern. Und durch die wohlverschlossenen Fensterladen sah er den Lichtschein hinaus auf den Schnee fallen.

 

Wer weit auf der kahlen Landstraße umherzieht, weiß sich keinen traulicheren Anblick als den Lichtschein, der aus einer warmen Stube dringt. Aber Torarin wurde nur noch erschrockener, als er vorher gewesen war. Er peitschte das Pferd, sodass es sich bäumte und ausschlug. Aber nicht um einen Schritt brachte er es von der Stalltür fort.

 

»Komm du nur mit herein, Torarin«, sagte der Stallknecht. »Ich dachte, du wolltest doch in dieser Sache nichts mehr zu bereuen haben.«

 

Nun kam es Torarin wieder in den Sinn, was er sich auf dem Weg gelobt hatte. Und während er eben noch mit hocherhobener Peitsche auf dem Wagen gestanden hatte, wurde er mit einem Mal so zahm wie ein Lamm.

 

»Sieh her, Olof, hier bin ich also!«, sagte er und sprang von der Fuhre hinunter. »Es ist wahr, dass ich in dieser Sache nichts zu bereuen haben will. Führe mich jetzt hinein zu Herrn Arne!«

 

Aber die schwersten Schritte, die Torarin noch gegangen war, waren die, die er über den Hof zum Haus hin machte.

 

Als die Tür aufging, schloss Torarin die Augen, um nicht in die Stube sehen zu müssen. Aber er suchte sich Mut zu machen, indem er an Herrn Arne dachte.

 

»Er hat dir so manche gute Mahlzeit gegeben. Er hat deine Fische gekauft, wenn auch seine eigene Vorratskammer voll war. Er ist dir immer im Leben wohlgesinnt gewesen und sicherlich will er dir auch nach seinem Tod nicht schaden. Vielleicht will er einen Dienst von dir verlangen. Du darfst nicht vergessen, Torarin, dass man Dankbarkeit zeigen muss, auch gegen die Toten.«

 

Torarin schlug die Augen auf und sah in die Stube. Da sah er den großen Raum, ganz wie er ihn immer gesehen hatte. Er erkannte den hohen gemauerten Ofen wieder und die gewebten Tücher, die die Wände bekleideten. Aber er schaute viele Male von Wand zu Wand und vom Boden zur Decke, bevor er sich ein Herz fasste und zu dem Tisch und der Bank hinsah, wo Herr Arne immer gesessen hatte.

 

Aber endlich blickte er auch dorthin und da sah er Herrn Arne selbst leibhaftig am Tisch sitzen mit seiner Gattin und dem Hilfspastor zur Rechten und zur Linken, so wie er ihn vor acht Tagen gesehen hatte. Er schien eben seine Mahlzeit beendigt zu haben, er hatte den Teller zurückgeschoben und der Löffel lag vor ihm auf dem Tisch. Alle die alten Diener und Dienerinnen saßen am Tisch, aber nur eine von den jungen Jungfrauen.

 

Torarin stand lange unten an der Tür und betrachtete die, die am Tisch saßen. Sie sahen alle ängstlich und betrübt aus und auch Herr Arne saß schwermütig da wie die anderen und stützte das Haupt in die Hand.

 

Endlich sah Torarin, dass Herr Arne den Kopf erhob.

 

»Bringst du jemand Fremdes mit in die Stube, Pferdeknecht Olof?«

 

»Ja«, antwortete der Knecht, »es ist Torarin, der Fischkrämer, der heute auf dem Thing in Branehög gewesen ist.«

 

Da schien Herr Arne fröhlicher auszusehen und Torarin hörte ihn sagen. »Tritt näher, Torarin, und lass uns die Neuigkeiten vom Thing hören! Hier habe ich jetzt die halbe Nacht gesessen und auf dich gewartet!«

 

Das alles klang so wirklich und natürlich, dass Torarin anfing, sich immer beherzter zu fühlen. Er ging ganz mutig durch die Stube auf Herrn Arne zu. Er fragte sich, ob es nicht ein böser Traum gewesen wäre, dass Herr Arne ermordet sei, und ob er nicht in Wahrheit lebte.

 

Aber während Torarin durch die Stube ging, warf er aus alter Gewohnheit einen Blick auf das Himmelbett, neben dem die große Geldtruhe zu stehen pflegte. Aber die eisenbeschlagene Truhe stand nicht mehr auf ihrem Platz, und als Torarin dies sah, durchlief ihn wieder ein Gruseln.

 

»Nun, Torarin, sage uns, wie es heute auf dem Thing abgelaufen ist«, begann Herr Arne.

 

Torarin suchte so zu tun, wie ihm geheißen war, und erzählte vom Thing und von der Untersuchung, aber er konnte weder seiner Lippen noch seiner Zunge Herr werden, sondern sprach schlecht und stammelnd.

 

Herr Arne unterbrach ihn auch sogleich: »Sag’ mir nur das Wichtigste, Torarin. Sind unsere Mörder gefunden und bestraft worden?«

 

»Nein, Herr Arne«, erkühnte sich da Torarin zu antworten. »Eure Mörder liegen auf dem Grund des Hakefjords. Wie wollt ihr, dass jemand Rache an ihnen nehme?«

 

Als Torarin diese Antwort gab, schien in Herrn Arne wieder seine alte Laune zu fahren und er schlug mit der Hand hart auf den Tisch. »Was sagst du da, Torarin? Der Amtmann auf Bohus wäre mit seinen Beiständen und Schreibern hier gewesen und hätte Thing gehalten, und da hätte ihm niemand sagen können, wo er meine Mörder finden soll?«

 

»Nein, Herr Arne«, antwortete Torarin, »das kann ihm niemand unter den Lebenden sagen.«

 

Herr Arne saß eine Weile mit gerunzelter Stirn und blickte düster vor sich hin. Dann wandte er sich noch einmal an Torarin.

 

»Ich weiß, dass du mir ergeben bist, Torarin. Kannst du mir sagen, wie ich Rache nehmen soll an meinen Mördern?«

 

»Ich kann es wohl verstehen, Herr Arne«, sagte Torarin, »dass Ihr wünscht, Euch an ihnen zu rächen, die Euch so unsanft des Lebens beraubt haben. Aber es gibt niemand unter uns, die wir auf Gottes grüner Erde wandeln, der Euch da behilflich sein könnte.«

 

Als Herr Arne diese Antwort erhalten hatte, versank er in tiefes Grübeln. Und es entstand ein langes Stillschweigen. Nach einer Weile wagte Torarin sich mit einer Bitte hervor.

 

»Ich habe nun Euren Wunsch erfüllt, Herr Arne, und Euch gesagt, wie es auf dem Thing abgelaufen ist. Habt Ihr mich noch etwas zu fragen oder wollt Ihr mich jetzt ziehen lassen?«

 

»Du sollst nicht gehen, Torarin«, sagte Herr Arne, »ehe du mir nicht noch einmal geantwortet hast, ob keiner der Lebenden uns rächen kann.«

 

»Nicht, wenn alle Männer aus Bohuslän und Norwegen zusammenkämen, um Rache an Euern Mördern zu nehmen, würden sie imstande sein, sie zu finden«, sagte Torarin.

 

Da sprach Herr Arne: »Wenn die Lebenden uns nicht helfen können, müssen wir uns selber helfen.«

 

Damit begann Herr Arne mit lauter Stimme ein Vaterunser zu beten, aber nicht auf Norwegisch, sondern auf Lateinisch, wie es vor seiner Zeit im Land der Brauch gewesen war. Und bei jedem Wort des Gebetes, das er aussprach, wies er mit dem Finger auf einen von denen, die mit ihm am Tisch saßen. Er ging sie auf diese Weise mehrere Male durch, bis er zum Amen kam. Aber als er dieses Wort sagte, streckte er den Finger gegen das junge Jüngferchen aus, das seine Enkeltochter war.

 

Die junge Jungfrau erhob sich sogleich von der Bank und Herr Arne sagte zu ihr: »Du weißt, was du zu tun hast.«

 

Da klagte die junge Jungfrau gar sehr und sagte: »Sende mich nicht mit diesem Auftrag aus. Das ist ein zu schweres Beginnen für eine so schwache Jungfrau wie ich.«

 

»Ganz gewiss sollst du gehen«, sagte Herr Arne. »Es ist nur billig, dass du gehst, denn du hast am meisten zu rächen. Niemandem von uns sind so viele Jahre des Lebens geraubt worden wie dir, die die Jüngste unter uns ist.«

 

»Ich begehre nicht nach Rache an irgendeinem Menschen«, sagte die Jungfrau.