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Stefan Schomann

Lesereise China

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für Wu Hui

Copyright © 2017 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

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Stefan Schomann, 1962 in München ge-boren, studierte Germanistik und ist seit 1988 freier Autor und Journalist. Er schreibt unter anderem für »Geo«, »Die Zeit«, den »stern« sowie verschiedene Rundfunkanstalten. Sein Buch »Letzte Zuflucht Schanghai« zählt zu den Standardwerken über die Emigration nach Fernost. Zuletzt erschien »Im Zeichen der Menschlich-keit« (2013). Stefan Schomann lebt in Berlin und Peking.

Stefan Schomann

Lesereise China

Streifzüge durch ein Weltreich

Picus Verlag Wien

Inhalt

Solch ein Gewimmel möcht ich sehn

Prolog in Peking

Vom Zauber des Erzählens

Das Festival der Geschichtenerzähler in Henan

Tai-Ski!

Wintersport in Chinesisch-Sibirien

Das Land am Strom

Eine epische Fahrt auf dem Jangtsekiang

Der Kampf der Könige

Akrobaten in Hunan

Die Seidenstraße auf Schienen

Zwischen Orient und Fernem Osten

Begegnung mit der dritten Art

Auf Naturwallfahrt in Yunnan

Heilige Pferde und singender Sand

Entdeckungen in der Inneren Mongolei

Die Reise nach Shanxi

Auf der Suche nach dem »wahren China«

Zurück in die Zukunft

Mythos Schanghai

Danksagung

Und doch muß man China als ein
unverstandenes, fast möchte man sagen
unbekanntes Land bezeichnen
.

FERDINAND FREIHERR von RICHTHOFEN

Solch ein Gewimmel möcht ich sehn

Prolog in Peking

Im Westbahnhof, dem Xi Ke Zhan, schlägt das Herz des ganzen Reiches. Ob die Züge in die Vorstädte fahren oder bis Hongkong, ob sie aus Xi’an kommen oder aus Sichuan, stets sind sie voll. Auch im Bahnhof selbst herrscht unaufhörliches Gedränge. Na ja, werden Sie sagen, am Hamburger Hauptbahnhof geht’s auch ganz schön zu. Doch verglichen mit dem Xi Ke Zhan ist der eine Idylle. Wenn alle Hamburger zur gleichen Zeit den Hauptbahnhof stürmen würden, dann bekämen Sie vielleicht eine Ahnung von den Zuständen im Xi Ke Zhan.

Am Eingang (ru kou) und am Ausgang (chu kou) verklumpen die Menschenströme zu einer zähen Masse. In aller Regel geht es dabei manierlich zu. Die Chinesen sind keine Rüpel, nur flink, energisch und eben ganz außerordentlich zahlreich. »Ladies first«, lassen Sie einer eingekeilten Dame den Vortritt – und schon haben Sie dreißig weitere Leute vor sich: Männer, Frauen, Kinder, Koffer und Kartons. Kavaliere kommen in Peking nicht weit. Warten Sie nicht, bis eine Lücke sich öffnet. Wenn Sie sie sehen, ist es zu spät. Der Lücke zuvorzukommen, darin besteht die Kunst.

Jeder Wartesaal hier besitzt die Ausmaße einer Basilika. Es gibt reichlich Sitzplätze, nur werden Sie nie einen bekommen. Falls doch, warten Sie vermutlich im falschen Saal, oder Ihr Zug ist bereits abgefahren. Dem Gedränge am Boden entspricht das Gedränge auf der Anzeigetafel. Schulter an Schulter reihen die Zeichen sich aneinander, Riegel aus roten Schriftsymbolen, undeutbar für die meisten Besucher aus dem Fernen Westen. Einzig die Ziffern bieten dem Auge Halt. 3871! Sie begrüßen sie wie alte Freunde. Vor allem dann, wenn sie mit den Zahlen auf Ihrem Fahrschein übereinstimmen. Doch Sie brauchen gar nicht wegzufahren, um hier Ihre erste Initiation zu erleben. Mischen Sie sich einfach nur unters Volk. Das Bad in der Menge wird Ihre Taufe sein.

Vom Bahnhof aus können Sie dann mit einem der vielen, vielen Taxis zu einer der vielen, vielen Sehenswürdigkeiten fahren. Deren größte und erstaunlichste der Pekinger Verkehr selbst darstellt. Hier erwartet Sie die zweite Initiation. Ihr Chauffeur, auf den ersten Blick ein unscheinbarer Typ mit Lederjacke und kariertem Hemd, entpuppt sich als Großmeister seiner Kunst. Wie alle chinesischen Autofahrer verfügt er über serienmäßigen Rundumblick und den gleichen Lückeninstinkt, der bereits die Fußgänger im Bahnhof auszeichnete.

Als echter Taxifahrer lauscht er gern Hörspielen und Geschichtenerzählern im Radio. Sie nehmen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch; am Verkehr nimmt er eher unbewusst teil. Wofür hat er seinen Wagen? Einen Akrobaten auf Rädern! Anders ist es nicht zu erklären, dass er der Zangenbewegung der heranbrausenden Konkurrenz ein ums andere Mal entwischt, dass er andere Fahrzeuge niemals rammt, auch wenn diese ihm noch so brüsk den Weg abschneiden, dass er sich sagenhaft dünn zu machen versteht, um seine Kontrahenten in unmöglichen Winkeln zu umkurven, und sich im nächsten Moment sagenhaft breit macht, um von möglichst wenig anderen selbst umkurvt zu werden. So kommen Sie ganz gut voran. Zumindest bis zur nächsten Kreuzung. Dort verkeilen sich alle, als spielten sie Rugby. Aber es dauert keine zehn Minuten – zehn kurzweilige Minuten, in denen Sie Ihrerseits den Geschichten im Radio lauschen oder die Taxifahrerzeitschrift durchblättern, die wie im Flugzeug in einem Futteral hinter dem Beifahrersitz steckt –, und dann spuckt dieser Mahlstrom Ihr Taxi wieder aus.

Manchmal kann es vorkommen, dass ein hochfrequentes Sirren im Wagen Sie irritiert. Sprechen Sie den Fahrer ruhig darauf an. Doch erschrecken Sie nicht, wenn er dann ein Marmeladenglas aus der Jackentasche zieht, aus dem eine fette Grille Sie anstarrt. Ein Vieh, so groß wie ein Spatz, mit Fühlern lang wie Angelruten. Auf Chinesisch heißt sie Qu-Qur. Sie zirpt so durchdringend, als wollte sie sich bis in die Gobi hinein Gehör verschaffen. Hundert Tage nur hat sie zu leben, die will sie nicht stumm verplempern. Jeden Morgen füttert ihr Besitzer sie mit Lammfleisch und Karotten. Bei dem sich nun entspinnenden Fachgespräch über die Grillen von Grillenhaltern verblüfft er Sie durch seinen musikalischen Sachverstand. Am schönsten sei der Mezzosopran, schwärmt er, zwar hoch, aber eben nicht zu hoch, lediglich hell und mit sattem Timbre. Bei jedem Flügelreiben müssten die Obertöne hörbar werden. Mit verschwörerischer Mine vertraut er Ihnen dann noch an, dass Grillen der Zeitvertreib der Pekinger Aristokratie gewesen seien. Womit er zugleich eine eigene Abstammung aus diesen Kreisen suggeriert. Die Qu-Qur in seiner Jackentasche habe fünfzig Yuan gekostet, etwa sieben Euro. Es gebe aber auch Primadonnen für zehntausend Yuan.

Während sie zirpt und zirpt und zirpt, fährt ihr stolzer, vom Zauber der hohen Frequenzen beflügelter Besitzer Sie in einen Hutong, eine jener von Wohnhöfen gesäumten Gassen, die zunehmend der Hochhausbebauung weichen müssen. Dort wird Ihnen die dritte Initiation zuteil: in Pekings meteorologische Mysterien. Schlendern Sie einfach durch die Gassen und halten Sie Ausschau nach einer Fahrradwerkstatt. Die liegen für gewöhnlich unter freiem Himmel, weshalb Fahrradmechaniker gute Wetterkundler sind. Die Werkstatt von Meister Liu besteht in erster Linie aus Meister Liu. Hinzu kommen ein Werkzeugkasten und eine rote, mit Ölflecken gesprenkelte Matte am Rand der Gasse. Autowerkstätten unterscheiden sich davon lediglich durch die größeren Werkzeuge. Nachbar Zhang hat ein lädiertes Fahrrad vorbeigebracht, Meister Liu repariert es und Nachbar Jiang schaut beiden zu. Wie immer im Sommer hat er sich sein Schemelchen gegriffen und nach draußen gesetzt, weil es drinnen zu heiß ist. Seit dreißig, vierzig Jahren leben diese drei Herren hier erstaunlich standorttreu. Sie gehen, typisch für das alte Peking, im Unterhemd und mit schlurfenden Schlappen aus, ganz wandelnde Gelassenheit. Und sind so tadellos schlank, wie man es wohl nur durch die Verbindung von richtiger Ernährung und regelmäßigem Rauchen wird.

»Habt ihr die Berge gesehen?«, fragt Herr Zhang staunend. Obwohl die Hügelkette im Westen noch innerhalb der Stadtgrenzen liegt, sah man sie früher, der dicken Luft wegen, nur selten. Seit den Olympischen Spielen aber, als zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Luft und der Lebensqualität getroffen wurden, zeichnen zumindest ihre Silhouetten sich öfter ab.

»Der Mond ist auch wieder da!«, freut sich Herr Liu, die Fluppe im Mundwinkel, ein kleines Handtuch als Schweißfänger um den Hals. »Den hat man lange nicht gesehen.« Tatsächlich war das womöglich der größte Spezialeffekt der Olympia-Regisseure: dass sie den Mond wieder zum Vorschein brachten. Drall und gelb wie ein Lampion prangt er nun wieder über der Stadt. »Fehlen nur noch die Sterne«, schaltet Herr Jiang sich ein. »Aber ob wir die noch mal erblicken werden?«

Früher habe es mehr geregnet und geschneit, gibt Meister Liu zu Protokoll, Peking sei heißer, wüstenhafter geworden. »Daran sind die Klimaanlagen schuld«, meint Jiang. Mit ihrer Abluft heizten sie die Stadt zusätzlich auf, von all den anderen elektrischen Geräten gar nicht zu reden. In seiner Jugend seien nur wenige Nächte so schwül gewesen, dass man nicht hätte schlafen können. Bis in die achtziger Jahre sorgten allein große Fächer aus Bananenblättern für Kühlung. In den Neunzigern erst kamen Ventilatoren auf und dann die heute allgegenwärtigen Klimaanlagen. Nur die Bewohner der spartanischen Hutongs müssen ohne sie zurechtkommen; sie verfügen auch lediglich über Gemeinschaftstoiletten für die ganze Gasse.

Oft hängt tagelang ein chinchillagrauer Wolkenpelz über der Stadt, als wäre eine Zwischendecke eingezogen worden. Dies hat jedoch weniger mit Umweltverschmutzung als mit Geografie zu tun, und die ist bekanntlich Schicksal. Peking liegt am Nordrand einer subtropischen Zone, die durch ein extremes Ostseitenklima geprägt ist. Im Sommer heizt sich die asiatische Landmasse stark auf, sodass über der Küste ein Hitzetief entsteht, in das Monsunwinde einströmen. Eine alles durchdringende, alles beherrschende Schwüle regiert dann die Stadt. In der Tat stellt der ewig verhangene Himmel einen der gravierendsten Gründe gegen ein Leben in China dar, neben der Tatsache, dass die Leute hier allen Ernstes warmes Wasser trinken, und dass es keinen Frühstücksquark gibt. Die Luftverschmutzung kommt erschwerend hinzu, und sie kann apokalyptische Ausmaße annehmen, aber man darf dabei nicht ohne Weiteres dem Augenschein vertrauen. Den amtlichen Messwerten freilich auch nur bedingt. Schließen wir uns Meister Lius unergründlicher asiatischer Weisheit an: »Es könnte besser sein; es könnte schlechter sein.«

Weiter geht die Fahrt zu den klassischen Attraktionen, zum Kaiserpalast und zum Himmelsaltar, zu den wuchtigen Stadttoren und den wimmelnden Einkaufsmeilen, in die rauchgeschwängerten Tempel und die rauchfreien olympischen Stätten. So viele Menschen Sie dort auch antreffen, aus Peking kommen die wenigsten. Die nämlich, so scheint es, besuchen fast alle eine andere Attraktion: den Tu Shu Da Sha, einen Buchladen im Zentrum. Doch was heißt Laden? Ein Buchpalast ist’s, ein Tempel des Weltwissens. In flauen Zeiten zählt er sechzigtausend Kunden, in bewegten bis zu hunderttausend. Nicht etwa im Monat, nein, Tag für Tag. Ein ganzes Olympiastadion voller Leser! Das wäre dann Ihre vierte Initiation: Chinesen sind Weltmeister der Wissbegier.

Dort, in dieser wahren Halle des Volkes, kaufen Sie sich eine Postkarte. Die mit dem Pandabären im Bambuswald. Wie ein pelziger Buddha sitzt er da, ruhig, gedankenverloren und – ganz allein. Er muss wohl auf einem anderen Planeten leben.

Vom Zauber des Erzählens

Das Festival der Geschichtenerzähler in Henan

Als Erster macht Yang Wan-shan sich auf den Weg. Die Busfahrt nach Ma Jie würde siebzig Yuan kosten, rund zehn Euro, doch so viel hat er nicht. Also verabschiedet er sich von seiner Mutter, mit der er seit sechsundfünfzig Jahren lebt, schwingt sich auf sein Fahrrad Marke »Fliegender Adler« – mit Abstand das älteste im Dorf, alle wundern sich, dass es noch fährt – und strampelt sieben Wintertage lang durch Henan. All seine Kleidung trägt er am Leib, die Trommel baumelt unter der Querstange. Er schläft bei Bauersfamilien, denen er, statt Quartiergeld zu zahlen, eine Privatvorstellung gibt.

Yang ist selbst Bauer, wenngleich sein schmales Feld kaum etwas abwirft. Außerdem zieht er als Geschichtenerzähler über die Dörfer, doch auch damit reüssiert er selten. Er versteht sich nicht recht auf die Pflichtforderungen des Lebens. Umso mehr versteht er von Begeisterung. Beim größten Fest seiner Zunft anzutreten, das lässt er sich nicht nehmen. Vielleicht heuert ihn ja hinterher jemand für einen Auftritt an, dann kann er doch noch was verdienen.

Als Nächster bricht Lin Feng-cheng auf. Zwei Tage braucht er mit der Bahn von Harbin in der Mandschurei. Gewissenhaft dreht er den Schlüssel im Schloss, seine Wohnung im zweiunddreißigsten Stock steht voller Antiquitäten. Auch er ist Geschichtenerzähler, einer der gefragtesten im Land. Er tritt regelmäßig im Radio auf, und jeden Samstag glänzt er als Zugnummer einer Theaterrevue. Lin entstammt einer alten Künstlerfamilie, schon die Großmutter war Akrobatin. Die Eltern führten ein Opernensemble, bis die Roten Garden während der Kulturrevolution alle Kostüme und Instrumente zerstörten und die Lebensgrundlage der Familie dazu. Woraufhin der damals zehnjährige Knirps sein Talent auf der Straße zur Schau stellte, um etwas Geld zu verdienen. Vielleicht ist er auch deshalb dermaßen erfolgreich, weil er so die Schmach der Eltern tilgen kann.

Am Vortag folgt dann auch Meister Li, Li Zhantu mit vollem Namen, ein Veteran des Festivals. Für drei Stunden Fahrt besteigt er in Luoyang den Schnellzug nach Schanghai. Die Strecke führt durch kleinkariertes Ackerland, beherrscht von Kraftwerken und Strommasten. Eine scheue Sonne glimmt durch den Dunst.

Die letzten Tage des Neujahrsfestes stehen an. Nur im Liegewagen hat Li noch einen Platz ergattert. Die Reisenden stapeln sich dort wie in Hochregalen; schnell kommt er mit ihnen ins Gespräch. Und beklagt das schwere Los seines Standes. Im Teehaus, wo er viele Jahre aufgetreten ist, da wollen sie ihn nicht mehr. Hübsche Mädchen sind beliebter, selbst wenn es bei ihnen nur zum Fächertanz reicht. Was hilft es da, dass die Kulturbehörde ihm den Titel eines Großmeisters verliehen hat. Davon, räsoniert Herr Li, kann er sich nichts kaufen. Dann nickt er ein.

Als eine der Letzten macht Zhao Tao sich auf den Weg. Auf ihrem Moped braust sie bei Tagesanbruch in anderthalb Stunden nach Ma Jie. Mit vierzig zählt sie noch zur jungen Garde. Der rote Schopf, die prallen Stiefel, die stramme Erscheinung – sie könnte selbst einer ihrer Geschichten entsprungen sein, die Anführerin einer verwegenen Truppe, leichte Kavallerie.

Am Busbahnhof von Baofeng gewahrt sie am Straßenrand einen Kollegen. Sie hat ihn noch nie gesehen, doch die Silhouette ist unverkennbar: die raumgreifenden Armbewegungen, wie sie vom Tai-Chi vertraut sind, die drastische Mimik, die hochgezogenen Brauen. Zwei halbmondförmige Messingscheiben tanzen in der erhobenen Hand, tikitikitik, immer klimpern, immer klappern, damit die Leute aufmerken. Shen Zhen-zhu ist am Vorabend aus Qingdao eingeflogen; sein Rollkoffer steht neben ihm. Auf dem Weg zum Festgelände vollführt er nun einen Probelauf, ob man ihn hier hinreichend versteht. Deshalb spricht er Hochchinesisch und nicht wie sonst die heimatliche Mundart der Provinz Shandong. Von dort stammt auch seine Geschichte: Wu Songs Kampf mit dem Tiger! Tikitikitik!

Resolut biegt Zhao Tao schließlich auf die Stichstraße ein. Das Festival findet auf einem riesigen Acker statt. Über Nacht ist etwas Schnee gefallen, das Weizenfeld wirkt wie mit Mehl bestäubt. Zwei tolle Tage wird es nun zu Chinas größter Bühne.

Töffelnde Lastendreiräder und Motorrikschas, schnaubende Zubringerbusse, Kolonnen von Radfahrern und Scharen herbeiströmender Schaulustiger verklumpen zu einem zähflüssigen Brei. Spillerige Pappeln säumen die Straße, dazu ein Spalier aus dampfenden Garküchen und improvisierten Verkaufsständen, an denen fliegende Händler Waschschüsseln, Wundertees und Heizstrahler feilbieten. Als Zhao vor fünfzehn Jahren das erste Mal teilnahm, standen neben den Tischen der Erzähler nur eine Handvoll Imbisswagen auf dem Feld. Inzwischen ist ein riesiger Jahrmarkt daraus geworden, mit Bühnen und Zirkuszelten, Fressmeilen und Fahrgeschäften. Doch allein dafür käme niemand nach Ma Jie. Nein, all diese Leute hungern nach Geschichten. Es ist ein Zug profaner Pilger, die nicht beten, sondern lauschen wollen.

Tatsächlich entstammt das Fest der spirituellen Sphäre. Der örtliche Tempel war dem daoistischen Feuergott geweiht. Wo ein Tempel steht, kommen Leute zusammen. Und wo Leute zusammenkommen, erzählen sie Geschichten. Nur dass diese uralte Passion sich hier zum Gipfeltreffen eines Berufsstands entwickelt hat. Erste Berichte über einen Sängerwettstreit reichen siebenhundert Jahre zurück. Und als 1863 jeder Künstler aufgefordert wurde, der Gottheit einen Groschen zu stiften, zählte man hinterher zweitausendsiebenhundert Münzen.

Mit sechs Armen schwingt der Feuergott Zepter und Schwerter; der knallrosa Kopf lässt Bluthochdruck befürchten. Seine derbe Erscheinung kontrastiert mit den eleganten blauschwarzen Roben des Priesters und seiner Helfer. Das Publikum dagegen hüllt sich prosaisch in wattierte Jacken und alte Militärmäntel.

Zwei muskulöse Männer dreschen auf Kriegstrommeln vom Kaliber eines Traktorreifens ein. In beschwingter Polonaise umrunden die Helfer den Vorplatz, scheppern und schallen mit Becken, Gongs und Zimbeln. Dazu feuern sie salvenweise Böller ab. Radau gilt in China als Ausweis von Geselligkeit. Und so legen die Musiker sich ins Zeug, als sollte man sie bis nach Peking hören.