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musikpädagogik im fokus
Band 2

 

herausgegeben von

Andreas Lehmann-Wermser und Anne Niessen

Inhalt

Vorwort

KAPITEL 1

Yasemin Karakaşoğlu/Anna Wojciechowicz

Entwicklungslinien und Perspektiven pädagogischer Diskurse interkultureller Bildung

KAPITEL 2

Jens Knigge

Interkulturelle Musikpädagogik: Hintergründe – Konzepte – Empirische Befunde

KAPITEL 3

Jens Knigge/Anne Niessen

Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik?

KAPITEL 4

Dorothee Barth

Was verbirgt sich im Trojanischen Pferd? Eine Analyse von Unterrichtsmaterialien zur Interkulturellen Musikpädagogik

KAPITEL 5

Interkulturelle Musikpädagogik aus der Sicht von Lehrkräften

KAPITEL 5.1

Angelika Hofner

Die Sicht einer Lehrerin: Zwischen Transkulturalität und Hyperkulturalität: die Kinder haben sich verändert – der Musikunterricht auch

KAPITEL 5.2

Klaus Riedel

Die Sicht eines Fachleiters: „Die jaulenden Afrikaner“ – Erörterung der Bemerkung eines Schülers im Musikunterricht

KAPITEL 6

Thomas Ott

Konzeptionelle Überlegungen zum interkulturellen Musikunterricht

Literaturverzeichnis

Autorinnen und Autoren dieses Bandes

Vorwort

Seit einigen Jahrzehnten wird in der Musikpädagogik über interkulturelle Fragen nachgedacht – mit durchaus unterschiedlichen Akzenten: Ab den 1970er Jahren wurden zunächst Grundzüge der „Ausländerpädagogik“ rezipiert und fachspezifisch weiterentwickelt. Zu diesem Zeitpunkt lag der Beginn der neueren Migrationsbewegungen in Deutschland1 zwar schon mehr als zwei Jahrzehnte zurück, jetzt aber setzte der Familiennachzug der so genannten „Gastarbeiter“ ein und deren Kinder tauchten vermehrt in den Schulen auf. Es stellte sich die Frage, ob und auf welche Weise es gelingen könnte, die u. a. von der jeweiligen Herkunft bestimmten unterschiedlichen kulturellen Anbindungen der Schülerinnen und Schüler2 aufzugreifen und für den Unterricht zu nutzen. In den darauf folgenden Jahrzehnten wechselten im wissenschaftlichen Diskurs verschiedene Begriffe und Benennungen einander ab; teilweise existieren sie auch nebeneinander weiter: Multikulturalität, Interkulturalität, Transkulturalität, Transdifferenz … Die mit den Konstrukten jeweils verbundenen theoretischen Hintergründe und Intentionen haben die (musik-)pädagogische Diskussion über die Jahre stark geprägt und verändert. Im vorliegenden Band werden Grundzüge des Diskurses der Interkulturellen Musikpädagogik nachgezeichnet; aus verschiedenen Perspektiven wird zudem der aktuelle Stand des Nachdenkens beleuchtet und kommentiert. Der Begriff der Interkulturellen Musikpädagogik fungiert dabei als übergeordneter Sammelbegriff. Auf die Problematik der terminologischen Vielfalt in diesem Bereich kann hier nur hingewiesen werden (s. hierzu z. B. Schmitt 2000).

Wie schon im ersten Band dieser Reihe haben wir auch dieses Mal Autorinnen und Autoren um ihre Mitarbeit gebeten, die nicht nur in ihrem jeweiligen Gebiet durch vielfältige Publikationen und Aktivitäten als Fachleute ausgewiesen sind, sondern die auch pointierte Positionen vertreten. Yasemin Karakaşoğlu und Anna Wojciechowicz haben sich als Erziehungswissenschaftlerinnen nicht nur analytisch mit dem Thema Interkulturalität auseinander gesetzt, sondern auch Reformmodelle im Bildungsbereich initiiert. Jens Knigge stellt wichtige Positionen Interkultureller Musikpädagogik dar und fasst (erstmals in einer deutschsprachigen Publikation) auch international verfügbare empirische Erkenntnisse Interkultureller Musikpädagogik pointiert zusammen. Gemeinsam mit Anne Niessen versucht er darauf aufbauend eine Annäherung an ein Modell interkultureller Kompetenz für das Fach Musik: Was in der Fremdsprachendidaktik bereits unternommen wurde, ist im musikpädagogischen Diskurs noch neu und durchaus umstritten. Dorothee Barth analysiert Materialien für den Unterricht kritisch und auf die zugrunde liegenden Überzeugungen hin; darauf aufbauend unterbreitet sie Vorschläge für die Initiierung interkultureller Begegnungen im Musikunterricht. Thomas Ott schließlich beschäftigt sich u. a. auf der Basis eigener Erfahrungen schon seit langer Zeit immer wieder mit Fragen einer Interkulturellen Musikpädagogik. In diesem Band stellt er eine Zusammenführung seiner bisherigen Überlegungen zu diesem Thema vor.

Eine Besonderheit, die es im ersten Band der Reihe noch nicht gab, sind die Kapitel der Lehrkräfte, genauer: einer Grundschullehrerin und eines Fachleiters für das Fach Musik an Gymnasien und Gesamtschulen. Der Umgang mit interkulturellen Fragen im Musikunterricht ist sehr stark von den Gegebenheiten vor Ort und den persönlichen Möglichkeiten und Sichtweisen der Beteiligten abhängig; mit diesen Beiträgen wird der Versuch unternommen, die theoretischen Ausführungen der anderen Kapitel mit der Skizzierung schulischer Situationen in Beziehung zu setzen. Gerade wegen des Einflusses der jeweiligen Rahmenbedingungen liegt in diesem Vorgehen unserer Einschätzung nach ein enormes Potential für die Weiterentwicklung der Interkulturellen Musikpädagogik.

Der musikpädagogische Diskurs und auch die vielfältigen Publikationen von Unterrichtsmaterialien befinden sich stets in einem konkreten gesellschaftlichen und historischen Raum. Es ist ein Anliegen des Buches, diesen Raum mit zu beschreiben, und die miteinander vernetzten und vielschichtigen Fragen, die in ihm entstehen, anzudeuten. Eine wichtige Perspektive fehlt, nämlich die der Musikethnologie. Als die Musikethnologie als Wissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts entstand, sollte die Musik fremder Völker erforscht, zum Teil auch bewahrt werden, weil die Gefährdung dieser Kulturen bereits absehbar war: Carl Stumpf und Erich von Hornbostel sammelten (sehr früh auch als „Phonographen-Aufnahmen“) die Musik möglichst weit entfernter Völker: aus Siam, aus den deutschen Kolonien, auch aus Brasilien. Seitdem hat sich die Musikethnologie weiterentwickelt und verändert. Zum einen beschäftigt sie sich weniger mit den innermusikalischen Eigenschaften der Musik wie Tonhöhen oder Skalen, sondern versteht sie als Ausdruck gesellschaftlicher Praxen, als soziale Interaktion, die in diesem Sinne zu beschreiben ist. Zum anderen sucht sie nicht mehr ausschließlich die interessanten Musikphänomene in der Ferne, sondern auch im eigenen Land: etwa die Musik der türkischen Community in Berlin (Greve 2003). In dieser Ausrichtung ist die Musikethnologie eine wichtige Bezugswissenschaft für die Interkulturelle Musikpädagogik; verschiedene implizite und explizite Verweise in den Texten dieses Bandes machen das deutlich. Systematisch wurden das Verhältnis und der mögliche gegenseitige Nutzen allerdings noch kaum durchdacht. Da mehrere mögliche Autoren eine Mitarbeit aus persönlichen Gründen absagen mussten, weist das vorliegende Buch in diesem Bereich eine Leerstelle auf.

Zur Konzeption dieses Bandes – wiederkehrende Elemente

Der Titel der Reihe, Musikpädagogik im Fokus, ist programmatisch gemeint: Es geht darum, musikpädagogische Phänomene von verschiedenen Seiten zu betrachten. Die Reihe wendet sich

 

Dieses Buch ist als Lehrbuch gedacht: Die einzelnen Kapitel geben den Stand der wissenschaftlichen Forschung wieder, sind aber gleichzeitig unter didaktischen Gesichtspunkten strukturiert und verfasst. Einige immer wiederkehrende Elemente sollen bei der Lektüre und bei der Verarbeitung der Texte helfen:

 

 

Reproduktion

 

 

Weiterführung

 

Bei der Herausgabe dieses Buches drängte sich die Frage auf, ob es sinnvoll und dem Lehrbuchcharakter angemessen wäre, wichtige und wiederkehren-Reproduktion de Begriffe in einem eigenen Kapitel zu klären. Wir haben uns schließlich dagegen entschieden, weil es für viele Begriffe keine allgemein geteilte Definition gibt und sie schon in diesem Band von den verschiedenen Autoren unterschiedlich verwendet werden. Damit soll ausdrücklich dazu aufgefordert werden, in der wissenschaftlichen Literatur nach Definitionen zu suchen – und dabei deren Unterschiedlichkeit aufzuspüren. Was auf der Ebene der Begriffe ins Auge springt, gilt auch den Band insgesamt: Wenn Texte so verschiedener Autorinnen und Autoren in einem Band zusammengeführt werden, bleibt es nicht aus, dass es unterschiedliche Sichtweisen, Interpretationen und Akzentsetzungen gibt. Dieses Phänomen ist hier freilich nicht lästige Begleiterscheinung, sondern gewollt. Solche Differenzen zählen für uns zum Wesen von Erkenntnis und Wissenschaft. Es ist Aufgabe der Lesenden, die „bits and bytes“ zu einem neuen, eigenen Bild zusammenzusetzen. Nur in Bezug auf den zentralen Begriff haben wir eine Vereinheitlichung vorgenommen: In allen Kapiteln wird die Interkulturelle Musikpädagogik groß geschrieben. Mit diesem Begriff seien also alle Facetten des Nachdenkens über interkulturelle musikpädagogische Situationen erfasst. Der große Anfangsbuchstabe macht aus dem Phänomen einen feststehenden Begriff, der seit Jahren in der musikpädagogischen Diskussion üblich ist und in den Kapiteln dieses Buches jeweils unterschiedlich entfaltet wird.

Wir sehen diesen Band auch als Beitrag zu einem Diskurs. Nur wenige Felder in der deutschsprachigen Musikpädagogik verändern sich so schnell wie das hier vorgestellte. Immer neue empirische Studien werden durchgeführt, in den Klassenzimmern verändern sich die Unterrichtsmethoden und -inhalte, auch in der Lehrerbildung gibt es vielfältige Versuche der Einbindung interkultureller Fragen. Weil so vieles im Fluss ist, freuen wir uns über Berichte von eigenen Studien, interessanten Projekten oder innovativen Seminarformen. Daraus könnten Anregungen für die Fortführung dieser Reihe oder Überarbeitungen unseres Konzeptes entstehen.

An dieser Stelle ist es uns ein Bedürfnis, den Autorinnen und Autoren dieses Bandes einen herzlichen Dank auszusprechen für ihre intensive Arbeit an den Texten, die das Projekt erst ermöglicht hat. Ein weiterer Dank gilt Eva Schurig und Michael Göllner für ihr sorgfältiges Korrekturlesen.

Köln & Bremen im März 2012
Anne Niessen & Andreas Lehmann-Wermser

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1    Mit dieser „neueren Bewegung“ sei die Migration aus dem Mittelmeerraum nach Deutschland am Ende der 1950er Jahre und alle nachfolgenden Wanderungsbewegungen bezeichnet. Wenigstens erwähnt werden muss, dass es frühere bedeutendere Wellen gegeben hat, etwa die polnischer Bergarbeiter ins Ruhrgebiet am Ende des 19. Jahrhunderts und die nach dem 2. Weltkrieg, die z. B. schlesische Kinder (und ihre Kultur) in großer Zahl in schleswig-holsteinische Schulen brachte und ebenfalls „fremde Welten“ aufeinanderstoßen ließ.

2    Im gesamten Buch gilt aus Gründen der besseren Lesbarkeit die männliche Form stets für beide Geschlechter.

KAPITEL 1

Yasemin Karakaşoğlu/Anna Wojciechowicz

Entwicklungslinien und Perspektiven pädagogischer Diskurse interkultureller Bildung

 

 

Deutschland ist eine durch Migration geprägte Gesellschaft. Diesen Tatbestand belegen die Daten des Statistischen Bundesamtes. Der Anteil der Bevölkerung mit einem so genannten Migrationshintergrund betrug im Jahre 2010 19,3 Prozent. Dabei haben knapp über ein Drittel aller Kinder unter fünf Jahren in Deutschland einen Migrationshintergrund.1 Diese Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge stehen im Zusammenhang mit der Pluralisierung der Lebensverhältnisse ihrer Mitglieder in ethnischer, kultureller, religiöser und sprachlicher Hinsicht.

Bedeutung gesellschaftlicher Migrationsprozesse für die Pädagogik

Hinzu kommen Faktoren wie unterschiedliche Migrationserfahrungen und -gründe (z. B. Familienzusammenführung, Flucht/Asyl, Berufstätigkeit), damit zusammenhängend auch der Rechtsstatus und die Verbleibeperspektiven bei den Zugewanderten und ihren Nachkommen sowie migrationsspezifische soziale Lagen und Bildungserfahrungen. Dies alles sind Faktoren, die zwar in unterschiedlichem Maße alte und neue Mitglieder der Gesellschaft prägen, die Rahmenbedingungen des Lebens aller jedoch maßgeblich beeinflussen und Konsequenzen für die Gestaltung von institutionellen Bildungsprozessen haben. Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive sind gesellschaftliche Migrationsprozesse von zentraler Bedeutung. Insbesondere für den schulischen Kontext, wenn ein gleichberechtigter Zugang zu Bildung und damit gleichberechtigte Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft sichergestellt werden sollen.

 

Ziel des vorliegenden Beitrags ist es daher der Frage nachzugehen, wie interkulturelle Bildung auf die Herausforderungen einer durch globale Migrationsprozesse veränderten gesellschaftlichen Situation in der Bundesrepublik reagiert und welche Leitlinien zum pädagogischen Umgang mit migrationsspezifischer Heterogenität als Antworten in der Schule und in außerschulischen pädagogischen Arbeitsfeldern nachgezeichnet werden können. Im Folgenden werden zentrale Entwicklungslinien, Konturen und Kontroversen aktueller Diskurse der interkulturellen Bildung aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive in groben Zügen abgebildet. Dabei steht im Zentrum des Interesses die Frage nach konzeptionellen Grundlagen, inhaltlichen Schwerpunkten und sich gegenwärtig abzeichnenden Neuorientierungen in der interkulturellen Bildung.

1.1 Grundrisse der Entwicklung interkultureller Bildung

 

die „Ausländerpädagogik“ und ihr Kulturbegriff

 

Dem hier skizzierten aktuellen Verständnis interkultureller Bildung liegt ein mehrdimensionaler Bildungsbegriff zugrunde, der zu unterschiedlichen Epochen seiner Verwendung verschiedene Ausprägungen angenommen hat. Seit den 1970er Jahren wurden zunächst ausländerpädagogische, dann klassische interkulturelle Bildungskonzepte entwickelt. Durch die Anwendung eines zielgruppen- und kompensationsorientierten Ansatzes der Ausländerpädagogik sollten zum einen die sprachlichen Defizite in der deutschen Sprache der so genannten „Ausländerkinder“ überwunden und zum anderen durch Angebote des muttersprachlichen Unterrichts sowie zur Geschichte und Kultur der Herkunftsländer die Rückkehrfähigkeit dieser Kinder erhalten bleiben. Damit richtete sich die „Ausländerpädagogik“ – gemäß ihrem Namen – ausschließlich an die Zielgruppe der ausländischen Kinder (vgl. Holzbrecher 2004, 51 f.). Seit den 1980er Jahren, in denen sich abzeichnete, dass ausländische Kinder ein dauerhafter Bestandteil der Schülerschaft bleiben würden, kam stärker das soziale Lernen durch interkulturelle Bildung in den Blick von Schule. In der Abgrenzung zu den durch eine paternalistische Haltung geprägten Bestrebungen der Ausländerpädagogik stellen die interkulturellen Bildungskonzepte den Begegnungs- und Konfrontationsaspekt von Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Herkunftskulturen in den Vordergrund, die ihre nationale bzw. ethnische Verschiedenheit als Bereicherung empfinden sollten. Interkulturelle Begegnungen fanden in Form von „Multi-Kulti-Straßenfesten“ oder „Internationalen Wochen“ statt, auf denen gegenseitige Wertschätzung und Toleranz eingeübt werden sollte (vgl. Holzbrecher 2004, 54; Nieke 2008, 34 f.). Kulturelle Differenzen wurden ebenso thematisiert wie kulturübergreifende Gemeinsamkeiten (anhand z. B. von sozialer Herkunft, Familienstrukturen, Geschlecht etc.). Insbesondere deutsche Kinder sollten mit der Lebenswelt ihrer ausländischen Schulkameradinnen und -kameraden vertraut gemacht werden. Diesem Konzept kann entgegen gehalten werden, dass es auf einem essentialistischen Kulturbegriff aufbaut, demnach Menschen Produkte ihrer Kultur und überwiegend durch sie geprägt seien. Indem Parameter der betreffenden Kultur gelernt werden, sollte das dieser Kultur angehörende Individuum besser in seinen Haltungen und Handlungen verstanden werden. Dieser Ansatz wurde später als „Fundamentalisierung kultureller, ethnischer, sprachlicher Verschiedenheit“ innerhalb der interkulturellen Pädagogik kritisch diskutiert (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2006, 134). Trotz der anders gesetzten inhaltlichen Akzente der beiden pädagogischen Konzepte zum Umgang mit kultureller Differenz ist beiden Ansätzen gemeinsam, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund erst durch die Markierung ihrer „andersartigen“ Kultur als „Migrationsandere“ (Mecheril 2004, 25) in Abgrenzung und Gegenüberstellung zu Nicht-Migrationsanderen hervorgebracht, positioniert und fixiert werden.

In aktuellen theoretischen Auseinandersetzungen um kulturelle Differenz zeigt sich eine Veränderung der Betrachtungsperspektive der interkulturellen Bildung auf „Kultur“ als Differenzdimension. Insbesondere die kulturkritischen Überlegungen der Cultural und Postcolonial Studies zur Hybridisierung von kulturellen Identitäten trugen dazu bei, das klassische Kulturverständnis zu überwinden und Kultur als einen dynamischen, in ständigem Wandel begriffenen Orientierungsprozess zu verstehen. Deutlich wird, dass jeder Mensch „seine Kultur“ in einer spezifischen Ausformung im Verlauf der Erziehung und des lebenslangen Sozialisationsprozesses kennenlernt und sich damit, „ein bestimmtes Verständnis von ‚Normalität‘ [aneignet], das er in Bezug auf seine eigenen Lebensvorstellungen und Sichtweisen in Auseinandersetzung mit anderen und unter dem Einfluss der politisch-gesellschaftlichen Veränderungen abwandelt. Somit verändern sich die Orientierungssysteme der Zugewanderten ebenso wie die der Einheimischen“ (Krüger-Potratz 2010, 141). Dieser Zugang öffnet den Blick der interkulturellen Bildung für ein breites Spektrum von Fragestellungen zur Kultur als identitätsbestimmender Größe unter Jugendlichen im Migrationskontext, die Identität nicht auf nationale Zugehörigkeit beschränkt.

 

„Hybridisierung“ kultureller Identität

 

1.2 Kulturelle Hybridität als Ausweg aus dem Kulturalismus-Dilemma?

 

„Kulturkonfliktthese“

 

Nach der in den 1980er und 1990er Jahren verbreiteten „Kulturkonfliktthese“ sahen sich Kinder und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien einem Druck zur eindeutigen Positionierung zwischen zwei sich ausschließenden kulturellen, nationalstaatlichen Zugehörigkeitskontexten konfrontiert. Die „fremde“ Herkunftskultur wurde als eine stabile und unveränderliche Größe konstruiert, die mit den kulturellen Wertvorstellungen und Orientierungen der Aufnahmegesellschaft in Widerspruch steht. Unter Bezugnahme auf die Identitätstheorien von Erik. H. Erikson weist die „Kulturkonfliktthese“ darauf hin, dass Heranwachsende aus Zuwandererfamilien das Gefühl hätten, zwischen „zwei Stühlen“ zu sitzen und heimatslos zu sein. Gelinge eine erfolgreiche Ausbalancierung der beiden erfahrenen Kultursysteme nicht, so würden Spannungen aktiviert und Loyalitätskonflikte generiert, die letztlich in depressiven oder aggressiven Identitätsstörungen enden. Vor diesem Hintergrund erscheint ein hoher Grad der Identifikation mit der Kultur des nationa-„Hybridisierung“ kultureller Identität len Herkunftskontextes als hinderliche Bedingung, sich in die Mehrheitsgesellschaft einzugliedern (vgl. Hämmig 2000, 74).

Erkenntnisse neuerer qualitativ ausgerichteter Arbeiten der interkulturellen Migrationsforschung, die sich mit der Frage der Identitätsbildungsprozesse von Heranwachsenden unter Bedingungen von Migration beschäftigen und dabei an den Umgang der Heranwachsenden mit Ambivalenzen und Ambiguitäten, die sich aus der gleichzeitigen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Ansprüchen ergeben, interessiert sind, können die Ideal-Vorstellung von einer stabilen kulturellen Identität als Voraussetzung für die gesellschaftliche Positionierung als Subjekt nicht halten. So untersucht beispielsweise Tarek Badawia kulturelle Selbstverortungsprozesse von „bildungserfolgreichen“ jungen Frauen und Männern mit unterschiedlichem Migrationshintergrund der zweiten und dritten Generation. Ein zentrales Ergebnis ist, dass es den jungen Migrantinnen und Migranten gelingt, einen reflexiven Umgang mit dem Spannungsfeld von Werten, Normen und sozialen Repräsentationen ihrer kulturellen Umwelt zu entwickeln. Damit stellt Badawia der „Kulturkonflikthypothese“ ein dreistufiges Phasenmodell des „Dritten Stuhls“ als einer Metapher für bikulturelle Identitätstransformationsprozesse bzw. kulturelle Vermischungen entgegen, mit dem einerseits die Möglichkeit einer Koexistenz und eine gegenseitige Durchdringung von zwei kulturellen Systemen und andererseits das Entziehen von einer eindeutigen Zuordnung in ein nationales Kulturverständnis, aufgezeigt wird. Die Identitätsentwürfe sind im dialektischen Prozess zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung begriffene Konstruktionen, die sich, wie die folgenden Zitate zeigen, durch eine Delokalisierung von Identität und Paradoxien auszeichnen: „Ich gehöre dazu und bin trotzdem anders“ oder „Weder noch und trotzdem beides“ (vgl. Badawia 2003, 145 f.) und gleichzeitig eine „natio-ethnokulturelle Mehrfachzugehörigkeit“ (Mecheril 2003) markieren. Die ersten kritischen Auseinandersetzungen mit der eigenen kulturellen Identität seien meist durch verletzende Diskriminierungserfahrungen und Erfahrungen von symbolischer Zugehörigkeitsverweigerung geprägt. Diese die Identität destabilisierenden Belastungen werden jedoch von den „bildungserfolgreichen“ Jugendlichen mit dem Ausbau eines bikulturellen Selbstentwurfs erfolgreich bewältigt (vgl. Badawia 2003, 142). Unter interkulturell pädagogischer Perspektive ist hier die Frage relevant, unter welchen Bedingungen eine flexible bikulturelle Identität von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ausgebildet und wie dieser Entwicklungsprozess in Bildungsprozessen sinnvoll gefördert werden kann.

 

die Metapher des „Dritten Stuhls“

 

Ein wichtiger Kritikpunkt am Konzept hybrider Identitäten betrifft die fehlende Anbindung von ungleichen Lebensverhältnissen und Teilhabemöglichkeiten an dominante gesellschaftliche Strukturen sowie die Vernachlässigung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse (z. B. Räthzel 1999). So könnte kritisch gefragt werden, ob Strategien der identitätsstiftenden Hybridisierung auch für „nicht (bildungs-)erfolgreiche“, benachteiligte oder marginalisierte Heranwachsende mit Migrationshintergrund wirksam werden. Mecheril verweist darauf, dass sich Migrantinnen und Migranten dann einem natio-ethnokulturellen Kontext zugehörig fühlen, „wenn sie sich selbst als symbolisches Mitglied des Kontextes erkennen und von bedeutsamen Anderen als Mitglied erkannt werden, wenn sie in dem Kontext in einer ihnen gemäßen Weise habituell wirksam sein können und schließlich an den Kontext lebensgeschichtlich gebunden sind“ (Mecheril 2003, 28).

Doch die natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit ist lediglich eine Facette der Identität, welche die Lebenswirklichkeit von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund prägt. In den vergangenen Jahren entstanden zahlreiche islamische Jugendszenen und Jugend-Communities (z. B. „Pop-Islam“), die deutlich machen, dass religiöse Orientierungen in Wechselwirkung mit ethnischen und/oder nationalen Zugehörigkeiten eine wichtige Ressource für Identitätsentwicklungsprozesse im Migrationskontext darstellen (vgl. Lauser & Weißköppel 2008, 10). Die im Vergleich zu Jugendlichen ohne und mit anderem Migrationshintergrund stärkere Religiosität unter muslimischen Jugendlichen steht dabei nicht im Widerspruch zur Integration. Vielmehr wird der Neo-Islam als ein „intersubjektives Kriterium verstanden, um sich in einer veränderten Gesellschaft neu zu positionieren, und zwar sowohl gegenüber den Eltern und dem traditionellen Umfeld, als auch gegenüber den westeuropäischen Mehrheitsgesellschaften“ (Foroutan & Schäfer 2009, 14). Damit wird eine hybride Identitätsstruktur unter Bedingungen einer religiösen Diasporasituation markiert. Bislang hat jedoch der Faktor Religiosität als ein die Identität generierendes, moderierendes oder konstituierendes Element bei einem nicht unerheblichen Teil (nicht nur der muslimischen) Jugendlichen unter Migrationsbedingungen kaum Beachtung in der interkulturellen Bildungsforschung gefunden.

 

die Bedeutung der Religion bei der Identitätsbildung

 

1.3 Von antirassistischen Ansätzen zur Erweiterung des Verständnisses von interkultureller Kompetenz

In den 1990er Jahren erfuhr interkulturelle Bildung eine Erweiterung durch antirassistische Ansätze und damit eine stärkere Konnotation als Teil politischer Bildung (vgl. Auernheimer 2004, 22). Als Reaktion auf wachsende rechtsradikale Tendenzen bei Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft und ausländerfeindliche Übergriffe im Zuge der Wiedervereinigung wurde diese Komponente interkultureller Bildung gestärkt, in der es zum einen um kognitive Aufklärung über Wanderungsmotive, entwicklungspolitische Zusammenhänge und Ursachen von Vorurteilen geht, die aber – u. a. in antirassistischen Trainingsprogrammen – auch selbstreflexive Prozesse über Selbst- und Fremdwahrnehmung anregen will (vgl. Leiprecht 2006, 331 f.).

 

interkulturelle als politische Bildung

 

Einen Teil des sozialen Lernens in antirassistischer Perspektive stellt auch eine interkulturelle Konfliktmediation dar, die mit dem Einüben von Empathie, Perspektivenübernahme, Ambiguitätstoleranz und Rollendistanz die Beteiligten unterschiedlicher kultureller, sozialer, generationaler oder gender-Hintergründe befähigen soll, den Konflikt aus der je individuellen Perspektive zu verstehen, seine auch jenseits kultureller Differenzen gelagerten Ursachen zu ergründen und zu einer friedlichen Konfliktlösung zu kommen (vgl. Nieke 2008, 240 ff.). Diese Formen interkultureller Bildung sind auf das Individuum konzentriert, bei dem sie kognitive, emotionale und handlungsorientierte Veränderungsprozesse anregen wollen, um interkulturelle Kompetenz als effiziente, personale Handlungsfähigkeit in kulturellen Überschneidungssituationen zu befördern (vgl. Straub 2007, 40). Allerdings gerät ein solcher Ansatz der Vermittlung interkultureller Kompetenz in den letzten Jahren unter Kritik. Die Vermittlung des Wissens über „fremde“ Kulturen und die Einübung von Kompetenzen für den „richtigen“ Umgang mit Trägerinnen und Trägern „fremder“ Kulturen laufe Gefahr der Essentialisierung. Insbesondere, da die kulturell-ethnisch Anderen als Adressatengruppe von interkulturellen Bildungsangeboten nicht vorkommen. Die Aufmerksamkeit verlagert sich von der Hervorbringung und Problematisierung von kulturellen Unterschieden auf die Frage, welchen Sinn macht es für wen, auf die Kulturkategorie im pädagogischen Handlungskontext zurückzugreifen? (vgl. Mecheril 2008, 18 f.). Betont wird die (Selbst-)Reflexivität der interkulturellen Kompetenz als Schlüsselkomponente. „In (selbst-)reflexiven Prozessen müssen gesellschaftlich und strukturell bedingte Machtasymmetrien, Kulturgebundenheit und Kulturrelativität, kulturelle und individuelle Zugehörigkeiten sowie individuelle und gruppenbezogene Ressourcen berücksichtigt werden“ (Herwartz-Emden u. a. 2010, 210).

 

interkulturelle Kompetenz

 

1.4 Bildungsbenachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund

Aktuellere Ansätze interkultureller Bildung setzen sich verstärkt mit den strukturellen und institutionellen Gegebenheiten auseinander, in denen das Lernen von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund stattfindet, und verweisen auf die Notwendigkeit, institutionelle Rahmenbedingungen so zu verändern, dass Kinder unterschiedlicher (sozialer, familiärer, sprachlicher, kultureller, geistiger) Lernvoraussetzungen gleiche Bildungschancen im Schulsystem erhalten (Gomolla & Radtke 2002).

Impuls für den verstärkten Blick der interkulturellen Bildungsforschung auf den Aspekt der Bildungsgerechtigkeit unter Migrationsbedingungen gaben seit Beginn der 2000er Jahre die wiederholt veröffentlichten Ergebnisse international vergleichender Schulleistungsstudien, mit denen nachgewiesen werden konnte, dass das Merkmal des Migrationshintergrundes in Deutschland besonders eng verbunden mit dem Merkmal der Zugehörigkeit zu benachteiligten sozialen Schichten ist und dass das deutsche Schulsystem mit seiner hohen sozialen Selektivität die schulische Integration der Kinder mit Migrationshintergrund eher behindert als befördert. Weil die Verwirklichung der Chancengerechtigkeit ein Auftrag des Bildungssystems ist, birgt dies eine besondere Brisanz. In anderen untersuchten Ländern sind die Leistungsunterschiede zwischen den beiden Gruppen der Kinder mit und ohne Migrationshintergrund deutlich geringer als in Deutschland, das gilt auch für Länder mit ähnlicher Sozialstruktur bei den Zugewanderten (vgl. Walter & Taskinen 2007, 348 f.). Der „Migrantensohn aus einer bildungsschwachen Familie“ (Geißler 2005, 71) spiegelt nun die neue statistische Figur der zweiten deutschen Bildungskatastrophe wieder und vereinigt die Mehrdimensionalität der sozialstrukturellen Faktoren: Geschlecht, soziale und ethnische Herkunft, die einen geringen Bildungserfolg erwarten lassen. Wird die Bildungssituation von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund zu solchen ohne dieses Merkmal statistisch vergleichend betrachtet, lässt sich ein charakteristisches Muster identifizieren: Je höher die schulische Bildungsstufe, desto geringer die Beteiligung von jungen Migranten. Das gilt auch für die beruflichen Bildungsabschlüsse. Häufig wird hier eine einseitige Zuschreibung der Ursachen für den Bildungsmisserfolg ausgemacht, indem den Kindern (insbesondere den Jungen) eine mangelnde Lernmotivation und ihren Eltern eine niedrige Bildungsaspiration unterstellt wird.

 

Migration und Bildungschancen

 

Untersuchungen der interkulturellen Bildungsforschung, die häufig wegen einer expliziten Subjektorientierung der Forschung eher mit qualitativen Designs arbeiten, geben hingegen deutliche Hinweise auf eine hohe Bildungsaspiration (Weber 2003; Hummrich 2002) und einen „mobilitätsspezifischen Habitus“ (Juhasz & Mey 2003, 330) bei Familien und Kindern mit Migrationshintergrund. Jüngste Studien stützen diese Befunde, wie am Beispiel einer quantitativen, längsschnittlich angelegten Untersuchung von Dollmann (2010) festgestellt werden kann. Diese belegt, dass der Bildungsanspruch in türkischstämmigen Einwandererfamilien sogar größer als der bei deutschen Familien ist, die unter ähnlichen sozio-ökonomischen Bedingungen leben. Weiter kann ein positiver Zusammenhang zwischen den hohen Bildungsaspirationen und -wünschen der Familien mit türkischem Migrationshintergrund und der Kompetenzentwicklung ihrer Kinder nachgewiesen werden (vgl. Dollmann 2010, 114 f.).

1.5 Sprachlich-kulturelle Pluralität als Normalfall von Schule und Unterricht

 

Migrationshintergrund als Normalfall

 

In den auf die Bekanntmachung der PISA-Ergebnisse folgenden bildungspolitischen Diskurs über notwendige und verstärkte additive schulische Fördermaßnahmen für diese Kinder bringt die interkulturelle Bildungsforschung ihre Perspektive der notwendigen Veränderung des Blicks auf Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund von der „Sondergruppe“ zum „Normalfall“ ein. Sie verweist darauf, dass Lernen und Lehren insgesamt sich an für alle Schüler veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu orientieren hat. In dieser Zielsetzung verbindet sich das interkulturelle Bildungskonzept mit dem Inklusionsansatz. Eine weitere enge Verbindung geht interkulturelle Bildung mit der Subdisziplin der Germanistik „Deutsch als Zweitsprache“ sowie mit der „Mehrsprachigkeitsforschung“ ein, „denn es ist eine pädagogische Aufgabe, angemessen und verantwortlich mit Sprachen der Migrantinnen und Migranten umzugehen“ (Herwartz-Emden u. a. 2010, 197). Vor diesem Hintergrund sind interkulturelle Bildungsforscherinnen und -forscher an der Untersuchung der Bedingungen und Ausprägungen von Zwei- und Mehrsprachigkeit in Migrationskontexten beteiligt (z. B. Dirim & Auer 2004) und engagieren sich auf Basis pädagogisch und (sozio-)linguistisch fundierter Argumentationen im Diskurs über den persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen der Förderung von Mehrsprachigkeit, wie etwa in der Bilingualismus-Kontroverse zwischen der interkulturellen Bildungsforscherin Ingrid Gogolin und dem Soziologen Hartmut Esser (vgl. Gogolin & Neumann 2009). Ein zentraler Ansatz dieses Bereiches interkultureller Bildungsforschung postuliert die Etablierung eines „Lernbereiches Zweisprachigkeit“ und einer „Sprachbildung unter den Bedingungen von Mehrsprachigkeit“, die nicht auf die spezifische Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund abstellt, sondern die Sprachsensibilität und Sprachbewusstheit aller Kinder in den Blick nimmt. Grundlegend ist hier die Kritik am „monolingualen Habitus der multilingualen Schule“ (Gogolin 1994).

1.6 Interkulturelle Bildung als Bestandteil von Allgemeinbildung

 

„institutionelle Diskriminierung“

 

Vor dem Hintergrund einer nachhaltig durch Migration und Globalisierung geprägten Gesellschaft gehört es heute zum Minimalkonsens der interkulturellen Bildungswissenschaft, dass interkulturelle Bildung Bestandteil allgemeiner Bildung und daher allen an pädagogischen Prozessen Beteiligten als Schlüsselkompetenz zu vermitteln ist (Gogolin & Krüger-Potratz 2006; Krüger-Potratz 2005). Konsequenterweise sollte sich dies auf allen Ebenen der zuständigen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen widerspiegeln. Unterstützung erhält diese Forderung durch empirische Belege für den theoretischen Ansatz der „Institutionellen Diskriminierung“ (Gomolla & Radtke 2002). Dieser sucht nach Ursachen für Bildungsungleichheit nicht in Eigenschaften der Schülerinnen und Schüler und ihres familiären Hintergrundes sowie ihrer Herkunftskultur, sondern im organisatorischen Handeln der schulischen Einrichtung. Anhand quantitativer Daten zu Übergängen und qualitativer Analyse von Übergangsempfehlungen durch Lehrerinnen und Lehrer an drei Schnittstellen im Bildungssystem (Einschulung, Sonderschulaufnahmeverfahren und Überweisungsempfehlungen auf die Sekundarstufe im Grundschulbereich) konnten verborgen wirkende Mechanismen der sozialen Selektivität identifiziert werden, die die Bildungsmöglichkeiten von Kindern mit einem Migrationshintergrund und/oder aus unteren sozialen Schichten behindern (vgl. Gomolla & Radtke 2002, 268 ff.). „Muster der Diskriminierung und Abweisung entlang von Normalitätserwartungen in Bezug auf die Schul- und Sprachfähigkeit, wie sie deutschsprachigen, im weitesten Sinne christlich sozialisierten Mittelschicht-Kindern entsprechen, prägen die gesamte Schullaufbahn. Unter dem vorrangigen Ziel, homogene Lerngruppen zu bilden, machen Schulorganisationen in den alltäglichen Prozessen der Differenzierung und Auslese im Hinblick auf verfügbare Fördermöglichkeiten und v. a. das gegliederte Sekundarschulsystem systematisch von Zuschreibungen hinsichtlich des sprachlichen und sozio-kulturellen Hintergrundes als Indikatoren für das Lern- und Leistungsvermögen Gebrauch.“ (Gomolla 2008) Die hier kurz skizzierten empirischen Befunde zeigen auf, inwieweit sich Bildungsinstitutionen an der Herstellung von Bildungsbenachteiligung entlang ethnischer Zugehörigkeiten beteiligen. Es wird deutlich, dass institutionelle und organisationsstrukturelle Rahmenbedingungen des Schulsystems und persönliche Kompetenzen von Professionellen im schulischen Kontext miteinbezogen werden müssen, wenn ein konstruktiv pädagogischer Umgang mit migrationsbedingter Vielfalt gefunden werden soll.

1.7 Parameter einer interkulturellen Öffnung von Schule in der Einwanderungsgesellschaft

Interkulturelle Öffnung als Rahmenbedingung für die Umsetzung interkultureller Bildung und interkulturellen Lernens in Schule macht vor diesem Hintergrund die „Reorganisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluierung von Entscheidungsprozessen in allen Politik- und Arbeitsbereichen“ (Handschuck & Schröer 2003, 15) von Schule notwendig. Dafür ist „die Idee der Querschnittspolitik grundlegend, dass Chancengleichheit sich nur herstellen lässt, wenn sie in allen Bereichen angestrebt wird“ (Handschuck & Schröer 2003, 15). Gefordert wird ein „radikaler Umbau der Institutionen“ mit dem Ziel der „radikalen interkulturellen Öffnung“, die eine umfassende Neuorientierung verlangt (vgl. Terkessidis 2010). Dabei ist der Kern der Institutionen zu befragen, ob die Räume, die Leitideen, die Regeln, die Routinen, die Führungsstile, die Ressourcenverteilung sowie die Kommunikation nach außen und die Einstellungen der Akteure im Hinblick auf die Vielfalt gerecht und effektiv sind (vgl. Terkessidis 2010, 141 f.). Additive Fördermaßnahmen sind einerseits wichtig, um die Voraussetzung für Bildungspartizipation zu schaffen, sie haben aber keine nachhaltige Wirkung auf die Regelabläufe in der Institution Schule sowie die Einstellungsmuster der Pädagoginnen und Pädagogen.

Mit interkultureller Öffnung von Schule ist ein veränderter Blick der Institution Schule sowie der in ihr verantwortlich Handelnden auf die durch Migrationsprozesse veränderte Schulrealität insgesamt sowie eine Anpassung der Institution in ihren Strukturen, Methoden, Curricula und Umgangsformen an eine in vielen Dimensionen heterogene Schülerschaft gemeint. Zentral ist die Wendung des Blickwinkels von den Schülerinnen und Schülern als Gruppe mit einem besonderen pädagogischen Förderbedarf zu ihrer Wahrnehmung als „Normalfall“ und eine Wendung von der notwendigen Veränderung der Kinder und Jugendlichen an die Anforderungen der Schule auf eine Veränderung von Schule mit Blick auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler, um eine adäquate Förderung ihrer Bildungschancen zu sichern.

Bei der interkulturellen Öffnung geht es daher vor allem um die Anerkennung von ethnischer, kultureller und sprachlicher Vielfalt als Ausdruck der gesellschaftlichen Realität. Hier ist, so ein Vorschlag von uns, zu unterscheiden zwischen zwei Dimensionen von Repräsentanz, der symbolischen und der funktionalen Dimension von Repräsentanz migrationsspezifischer Vielfalt im öffentlichen Raum. Mit symbolischer Repräsentanz meinen wir all jene Aspekte interkultureller Bildung, die darauf abzielen, kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum für alle Mitglieder der Gesellschaft sichtbar und wahrnehmbar zu machen und darüber Akzeptanz kultureller Vielfalt zu befördern. Mit funktionaler Repräsentanz meinen wir all jene Aspekte interkultureller Bildung, bei denen die Berücksichtigung von sprachlicher, religiöser, kultureller Vielfalt zur unmittelbaren Verbesserung der Partizipationschancen aller Mitglieder der Gesellschaft beiträgt, etwa durch die vielfältige Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit in Schule und Unterricht. In diesem Rahmen kann es von Bedeutung sein, kulturelle Interessen von Einzelnen bzw. Gruppen in besonderem Maße zu berücksichtigen, sofern diese im Einklang mit grundgesetzlichen Vorgaben und dem Auftrag von Schule stehen. In einer am Prinzip der Chancengerechtigkeit orientierten Schule wird dies nicht gleichgesetzt mit gleichen Angeboten für alle, sondern mit einer angemessen Balance zwischen der Berücksichtigung spezifischer Bedarfe unterhalb der Ebene, auf der alle Kinder und Jugendlichen die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu dem Bildungsangebot erhalten.

 

symbolische und funktionale Repräsentanz migrationsspezifischer Vielfalt in der Schule