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Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien und riechen an deren Parfumflaschen. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul – ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus macht sich Alissa auf die Suche.Sie führt sie in die eigene Familiengeschichte, und je länger sie nachforscht, desto weniger scheinen die Dinge Sinn zu ergeben – Muttersprache, Vaterland, Geschlecht. Alissa sammelt Bruchstücke von Erinnerungen, von denen sie nicht weiß, ob sie je ein Ganzes ergeben werden.

 

Wer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Außer sich.

 

 

Sasha Marianna Salzmann studierte Literatur/Theater/Medien an der Universität Hildesheim sowie Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Sie ist Theaterautorin, Essayistin und Dramaturgin und war Mitbegründerin des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext. Seit der Spielzeit 2013/2014 ist sie Hausautorin am Maxim Gorki Theater Berlin und war dort bis 2015 Künstlerische Leiterin des Studio Я. Ihre Theaterstücke werden international aufgeführt und wurden mehrfach ausgezeichnet. Außer sich ist ihr Debütroman.

 

 

Sasha Marianna Salzmann

AUSSER SICH

Roman

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der Ausgabe:

Erste Auflage 2017

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

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Umschlaggestaltung und -illustration: Nurten Zeren, Berlin

eISBN 978-3-518-73758-3

www.suhrkamp.de





Die Zeit vergeht schnell. Sie bewegt sich nach vorn und zurück und trägt dich weit fort, und keiner weiß mehr über sie als das: sie trägt dich durch ein Element, das du nicht verstehst, in ein anderes, an das du dich nicht erinnern wirst. Aber etwas erinnert sich – wenn man so will, kann man sagen, daß etwas sich rächt: die Falle des Jahrhunderts, der Gegenstand, der nun vor uns steht.

 

James Baldwin, Eine Straße und kein Name

Personen

 

Anton

Alissa, Ali – Schwester, Bruder, ich

Valentina, Valja – Mutter, Mama, Mam und alles

Konstantin, Kostja – Vater, so was wie

Daniil, Danja – Vater, Großvater

Emma, Emmotschka – Großmutter, manchmal Mutter

Schura, Sascha, Alexander – Urgroßvater, Großvater, Vater, Held der Roten Armee

Etja, Etina, Etinka – Mutter, Großmutter, Urgroßmutter, Superheldin

Katho, Katharina, Katüscha – ein Tänzer, ein Mehrfachraketenwerfer

Aglaja – Meerjungfrau

Cemal, Cemo, Cemal Bey – der Onkel

Elyas – der Freund

 

Und all die anderen Eltern und die Eltern der Eltern in Odessa, Czernowitz, Moskau, Istanbul, Berlin

 

 

 

Ingeborg Bachmann schreibt:

»Nur die Zeitangabe mußte ich mir lange überlegen, denn es ist mir fast unmöglich, ›heute‹ zu sagen, obwohl man jeden Tag ›heute‹ sagt …«

Die Zeit ist also ein Heute, von vor hundert Jahren bis jetzt.

EINS

 

»nach Hause«

 
 
Ich weiß nicht, wohin es geht, alle anderen wissen es, ich nicht. Ich umklammere dieses Marmeladenglas, das mir an die Brust gedrückt wurde, als wäre es meine letzte Puppe, und schaue, wie sie sich gegenseitig durch die Wohnung jagen. Papas Hände glänzen schweißig, sie sehen aus wie ungewaschene Teller, sie sind groß, wie sie an meinem Kopf vorbeibaumeln. Würde mein Kopf dazwischen kommen, klatsch, und platt ist er.

Mein Bruder wächst aus seiner Tasche wie ein Halm, steht mit beiden Beinen drin und legt Sachen raus, Mama schimpft, dann legt er sie wieder zurück in die Tasche. Als Mama gerade in der Küche ist, holt er den großen Karton mit dem Piratenschiff heraus und versteckt ihn weit unter seinem Bett. Mama kommt in den Flur, in dem ich stehe, beugt sich über mich, ihre Stirn hängt über mir wie eine Glocke, ein ganzer Himmel. Ich löse die eine Hand von der Marmeladenglaspuppe und fahre mit dem Finger über Mamas Gesicht. Der Himmel ist fettig, Mama schlägt mir die Hand runter und drückt mir noch mehr Marmeladengläser und Dosen auf, ich halte sie alle fest und kann nichts mehr sehen. Sie stellt eine Tasche auf meine Füße, sagt, »ihr sollt was Vernünftiges essen auf dem Weg, du hast die Provianttasche«, ich habe keine Ahnung, was das heißt, aber ich bin froh, dass es etwas Süßes ist und kein Hähnchen in Alufolie.

Wir gehen die Treppe runter, das dauert. Wir wohnen im obersten Stock mit vielen Balken und Schrägen in den Zimmern, unten ist ein Bestattungsunternehmen, da stinkt es immer, nicht nach Leichen, aber nach irgendwas, das ich nicht kenne und an das ich mich nicht gewöhnen kann. Die Gläser klirren in der Tasche, die ich hinter mir die Stufen runterschleife, Papa will sie mir abnehmen, da macht der Nachbar aus dem Stockwerk unter uns die Tür auf.

»Geht es nach Hause?«

»Mutter, Vater besuchen, lange nicht gesehen.«

»Das erste Mal zurück?«

Papa nickt.

»Das erste Mal vergisst du nicht.«

Papa antwortet dem Nachbarn, als würde er ihm eine Gutenachtgeschichte erzählen, er betont die Worte so, geht mit der Stimme hoch am Ende. Mein Bruder ist schon vorgelaufen, ich ziehe vorsichtig die Tasche an Papa vorbei und versuche, meinem Bruder hinterherzugehen, es stinkt, und es ist kalt. Unten hinter dem Schaufenster des Bestatters sind Leute. Ich habe Angst vor den Gesichtern, die dort hinter dem Glas im Büro sitzen, ich habe Angst, dass sie grün und tot sind, darum schaue ich nie hin, bis ich auf der Straße stehe, suche die Füße meines Bruders auf dem Boden. Papa kommt aus dem Haus und zieht mich, ich schaue erst hoch, als ich glaube, dass Mama zum Abschied winkt, und sie tut es, ihre Hand hängt kurz raus aus dem Fenster, und dann fliegt das Fenster wieder zu, und Papa fängt an zu singen.

Поpа, пора порадуемся на своём веку – Es ist an der Zeit, es ist an der Zeit, sich dieser Zeit zu erfreuen.