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Über das Buch

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich tatsächlich dort, wohin ich mich vor meiner Pensionierung geträumt habe: Vormittags am Tisch eines Straßencafés in der Fußgängerzone meiner Heimatstadt.

Das ausgedruckte Manuskript sonnt sich neben einer Tasse Yellow Bourbon und wartet darauf, dass mein Bleistift noch die leere Stelle hier auf Seite zwei füllt.

Alle Geschichten in diesem Buch sind erfunden – manche sogar frei erfunden. Einiges in ihnen meine ich so erlebt zu haben.

Die Schauplätze entstammen im weiteren Sinne dem Leben der Schule bzw. der Schule des Lebens – ganz wie es der Leser empfinden mag.

Auf jeden Fall freue ich mich über eine Rückmeldung auf meiner Facebook-Autorenseite: www.facebook.com/hanswernerluecker

Hans-Werner Lücker im August 2017

 

Über den Autor

Hans-Werner Lücker, geboren 1953, ist pensionierter Gymnasiallehrer mit den Fächern Mathematik, Physik und Informatik. Er widmet sich seit neun Jahren dem Schreiben und dabei vor allem der Lyrik. Sein Erstlingswerk „Gedanken stapeln, Worte pflegen, Sprüche klopfen“ erschien im Dezember 2016.

Zur Zeit plant er, weitere der in seinen Notizbüchern ruhenden Gedichte herauszugeben und – wie im vorliegenden Buch – neue Projekte aus der erzählenden Literatur in Angriff zu nehmen.

Hans-Werner Lücker

Das Klassenbuch

und neun weitere Geschichten

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Ich danke ganz herzlich den Schülerinnen und Schülern der Klasse 10e (Schuljahr 2016/17) am Rhein-Wied-Gymnasium in Neuwied für ihre engagierte Mitarbeit am Umschlagfoto und ihren Eltern für die Einwilligung in seine Veröffentlichung.

Die Klasse hatte Klasse und war eine Klasse für sich.

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© 2017 Hans-Werner Lücker

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-7439-4691-0 (Paperback)
978-3-7439-4692-7 (Hardcover)
978-3-7439-4693-4 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

INHALT

Das Klassenbuch

Der Klassenprimus

Der Klassenclown

Die Klassenfahrt

Der Klassenstreich

Die Klassenarbeit

Die Klassenjustiz

Das Klassentreffen

Die Klassenlehrerin

Keine Klasse

Das Klassenbuch

Albert Kohl inspiziert über die Gläser seiner Brille hinweg die im Klassenraum stehend versammelte Schülerschar, während er das auf seinem linken Unterarm ruhende Klassenbuch behäbig mit der rechten Hand Seite für Seite umblättert.

Es scheint wieder einmal keine Ruhe unter den dreißig Jungs aufkommen zu wollen. Wie er es hasst – dieses morgendliche Ritual!

Und wie es die Neuntklässler hassen! Jetzt stehen sie sich schon minutenlang die Beine in den Bauch und ihr Englischlehrer hat nichts Besseres zu tun, als sie anzuglotzen und sich dabei von der ersten Seite des Klassenbuchs in Richtung der aktuellen durchzublättern. Das kann heute – kurz vor dem Schuljahresende 1968 – noch ewig lange dauern.

Die Uraufführung dieses Schauspiels fand am ersten Schultag statt, als Herr Kohl die Klasse – ohne sich weiter als ihr neuer Englischlehrer vorzustellen – mit einem gegähnten „Get up!“ anwies, gefälligst aufzustehen.

Er hielt das geöffnete Klassenbuch in seinen sehnigen Händen und musterte mit einem langsam durch den Raum streifenden Blick jeden einzelnen seiner neuen Schüler.

Und diese musterten zurück. Zwar kannten sie ihn schon von der Pausenaufsicht, doch hatten sein viel zu langer Trenchcoat und die übergroße pechschwarze Baskenmütze ihnen die Details vorenthalten, die sie jetzt wahrnehmen konnten.

Die dunkelbraune Feincordhose hielt an der großen, aber dünnen Gestalt nur mit Hilfe eines breiten Kunstledergürtels, der – irgendwo hoch zwischen Bauchnabel und Brustwarzen – den schmächtigen Leib zusammenschnürte. Das spärliche, fettige Haar verlor sich – nach hinten gekämmt – auf dem für die Körpergröße zu klein geratenen Schädel und durch die randlose Brille schauten zwei zu Spalten verkniffene Augen. Oder waren es etwa Schlitzaugen?

„Who is absent today?“. Albert Kohl beendete sein stummes Durchmustern der Jungs, die sich verwundert ansahen. Wer fehlt denn schon am ersten Schultag nach den Sommerferien?

Weil niemand antwortete, verkündete ihr neuer Englischlehrer das Ende der Premiere seines Kontrollstückes: „Sit down!“.

Alle Englischstunden sollten nun auf die gleiche Weise beginnen. Der restliche Unterricht erschöpfte sich in einem Vorlesemonolog des Lehrers, einer kurzen auf Englisch geführten Frage-Antwort-Unterhaltung – Herr Kohl übernahm darin beide Parts – und einer endlosen Litanei über Gott und die Welt in akzentfreiem Deutsch.

„Ihr seid so schlecht! Meine Frau unterrichtet am Mädchengymnasium und hat dort ein um Welten besseres Publikum“, schimpfte er nicht nur einmal. Nein – es war kein Schimpfen – er jammerte und verzog dabei seinen Mund, als hätte er an einem Glas Essig genippt.

Die Folgen solcher Äußerungen für die Mitarbeit seiner Schüler waren das Gegenteil dessen, was er sich – wenn überhaupt – davon erhoffte.

Albert Kohl mochte seinen Beruf nicht. Er schien zu leiden – auch körperlich. Wenn er wieder mal über seine Magenschmerzen klagte, machte das ihn und seinen dürftigen Unterricht allerdings für die Neuntklässler nicht gerade interessanter.

Anfangs hätten sie noch Mitleid empfinden können, doch sie meinten bald Grund genug zu haben, ihn nur noch ihre Ablehnung spüren zu lassen.

„Sie werden uns überrollen, unsere Kultur zerstören und die Weltherrschaft übernehmen“, prophezeite Herr Kohl eines Tages seiner Klasse. Die Schüler schauten sich ungläubig an.

„Wer kriegt denn in Deutschland noch annähernd so viele Kinder wie die?“, schob ihr Englischlehrer nach.

Von wem sprach dieser Mann? Doch der fuhr fort: „Heute sind es schon fast eine Milliarde und bald wird es auf der Erde nur noch Chinesen geben. Dann spricht niemand mehr Englisch.“

Die jungen Männer – mitten in der Pubertät – grinsten. Sie konnten und wollten ihren Lehrer nicht mehr ernst nehmen.

Seit diesem Tag war die „Gelbe Gefahr“ allwöchentlich in Herrn Kohls Stundenpredigt präsent. Vielleicht litt er ja unter einer China-Phobie. Für die Jungs war er jedenfalls nur noch ein lächerlicher Kauz, dem sie den Spitznamen „Chinakohl“ gaben.

Die Stunden, in denen Englisch gelehrt und gelernt werden sollte, gerieten im Laufe des Schuljahres für Lehrer und Schüler zu einem Martyrium.

Neben dem auf beiden Seiten verhassten Anfangsritual erwies sich für die Neuntklässler ihr „Chinakohl“ einfach als ungenießbar.

Erst gestern hatte er wieder lamentiert: „Die Chinesen stehen schon vor der Tür.“

Endlich hat Albert Kohl für heute das Klassenbuch durchgeblättert. Die Unruhe unter den Schülern hält an.

Der Lehrer schlitzt mit seinen verkniffenen Augen die Jungengruppe förmlich auf und hebt an: „Who is absent ...?“.

Ein fürchterlicher Knall lässt ihn jäh verstummen und das Klassenbuch quer über die Schülerköpfe hinweg durch den Raum schleudern.

Christian – der stillste unter den Jungs – hat sich getraut, den König unter den Feuerwerkskrachern zu zünden: Die Reste eines Kanonenschlags schweigen betreten auf dem Fußboden.

Und „Chinakohl“ ringt nach Luft: „Jetzt sind sie da!“.

Der Klassenprimus

Die Kirche füllt sich langsam. Wir haben uns schon frühzeitig hier eingefunden, weil meine Frau unserem Auto noch ein Stelle freien Asphaltes auf dem alten, direkt vor dem Gotteshaus gelegenen Marktplatz gönnen wollte.

Dass wir jetzt – an einem kühlen Februarabend – auf harten Holzbänken hocken, könnte uns als eingefleischte Kirchgänger erscheinen lassen. Aber nein – ein Gottesdienst sieht uns allenfalls mal an Weihnachten.

Heute ist ein Orgel- und Chorkonzert angesagt, obwohl wir auch nicht wirklich Anhänger barocker Kirchenmusik sind. Trotzdem habe ich eben die zwei Eintrittskarten am Eingang vorgezeigt, die ich einige Tage zuvor mit einem Glas Champagner zu meiner Pensionierung geschenkt bekam.

Es liegt einzig und allein am Hauptdarsteller des Konzertes, dass wir jetzt hier sitzen und ihn erwarten – den weltweit renommierten Professor für Orgelmusik und ehemaligen Klassenkameraden aus meiner Schulzeit.

Während ich das Programm studiere, in dem neben einem Jugendkammerchor auch die Tochter des Professors als Klarinettistin angekündigt wird, strömen immer noch Besucher in das Gotteshaus.

Örtliche Prominenz vom Sparkassendirektor bis zum Oberbürgermeister und solche, die sich für mindestens genauso wichtig halten.

Letztere schreiten durch den Mittelgang der Kirche und nicken selbstgefällig nach rechts und links vermeintlichen Bekannten zu, um sich dann in den vorderen Bankreihen ihrer Mäntel so zeitlupenartig zu entledigen, dass sie auch ja von allen wahrgenommen werden. Warum sonst müssten sie – mit dem Rücken zum Altar – ewig lange zum Eingang blicken?

Punkt 18 Uhr räuspert sich der Veranstalter des Konzertes – der Vorsitzende eines örtlichen Wohlfahrtverbandes – ungeschickt laut ins Mikrofon und hebt zur Rede an.

Er müht sich, mit weitschweifenden Ausführungen über benachteiligte Jugendliche im Bildungssystem den Benefizcharakter des Abends herausstellen. Doch immer wieder fällt das Mikrofon aus. Ich verstehe ihn nicht – akustisch und inhaltlich.

Mein Blick schweift hoch zur Orgelempore. Dort steht – schlank und groß mit silberblondem, noch vollem und kurzgeschnittenem Haar – mein Schulkamerad. In kerzengerader Körperhaltung beobachtet er das Geschehen unter sich. Es will mir so scheinen, dass sich unsere Augen für einen Moment begegnet sind.

Der nächste Redner hüstelt vor sich hin. Ich schaue wieder nach vorne und in Gedanken fünfundvierzig Jahre zurück.

Er saß in der Oberstufe einen Schultisch von mir entfernt – schlank und groß mit strohblondem, kurzgeschnittenem Haar. Die Wahl des mathematischnaturwissenschaftlichen Zweiges hatte uns nach der gemeinsamen Unterstufe und vier – aufgrund der zweiten Fremdsprache – klassengetrennten Folgejahren wieder zusammengeführt.

Hatte ich als Sextaner noch keinen Sinn dafür entwickelt, so fiel mir jetzt auf, wie gewählt er sich auszudrücken verstand. Während wir Spätpubertäre der Lässigkeit der 68er nicht nur im Outfit sondern auch in sprachlicher Hinsicht nacheiferten, formulierte er im Unterricht und in den Unterhaltungen auf dem Pausenhof seine Wortbeiträge geradezu druckreif.

Dabei sprach er nicht sonderlich viel oder laut – ganz im Gegensatz zum selbsternannten Wortführer unserer Klasse, den ich schon damals nur den Lauten nannte und der bis heute ein Großmaul geblieben ist.

Der stille Blonde war ein guter – nein – ein sehr guter Schüler, der nie über seine Schulnoten sprach.

Als ich einmal mit zwölf Seiten Rechenaufwand stolz eine Zwei unter meiner Mathematikarbeit registrierte, konnte ich unter seiner nur vierseitigen Ausführung die Eins entdecken.

Eigentlich galt sein Interesse eher den sprachlichen und musischen Fächern, die ihm – wie ich einmal am Tag der Zeugnisausgabe aus den Augenwinkeln erspähen konnte – allesamt gute und sehr gute Noten bescherten.

Die Tatsache, dass er zusätzlich auch noch ein patenter Sportler war, kürte ihn für mich zum unangefochtenen Klassenprimus im positiven Sinne des Wortes.

Mit seiner für einen Achtzehnjährigen ungewöhnlich abgeklärten und erwachsenen Art war er der Reife seiner Mitschüler um Jahre voraus.

Eine Sturmbö aus der Orgel hinter mir reißt mich aus meinen Gedanken. Laut Programm wehen Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge G-Dur (BWV 541) über die Köpfe der Zuhörer hinweg. Das Klassikgreenhorn in mir empfindet die Töne als erfrischend und belebend.

„Wieso applaudiert denn niemand?“, fragt mich meine Partnerin am Ende des Orgelspiels und lässt die schon erhobenen Hände wieder auf ihren Schoß sinken.

Ich zucke mit den Schultern und schüttele verständnislos den Kopf. Diesem will das nächste Bach-Stück – Vater unser im Himmelreich (BWV 682) – nicht so recht gefallen.