Mama kommt!

Humoreske

Inhaltsverzeichnis

»Morgen Schatz!« sagt er und legt ein Paket Schülerschreibhefte auf den Tisch. »Vor allen Dingen…« Sie sitzt am Nähtische beim Fenster und stickt an einer Decke, altdeutsch auf Kaffeesack, im bequemen, zierlichen, bordeauxfarbenen Morgenschlafrock, und sie richtet lächelnd den Kopf hoch, auf dem noch das Morgenhäubchen mit roten Bändern sitzt, läßt die Stickerei in den Schoß fallen und wartet, bis er ihr Köpfchen zwischen beide Hände nimmt und sie herzhaft auf den Mund küßt.

»Weißt du was Neues, Ernst?«

»Nein; aber du vielleicht?«

»Ja. Rate einmal.«

»Ich bin doch kein Geheimrat.«

»Au! – Ich will dir auf die Sprünge helfen: Ein Telegramm.«

»Potztausend – etwas Schlimmes kann’s nicht sein, dazu siehst du mir zu vergnügt aus. In Nordhausen was Kleines angekommen etwa?«

»Nein – Besuch!«

»Besuch? Zu uns?«

»Ja, zu uns. Ich habe die Fremdenstube schon in Ordnung. Da hast du’s!«

Sie reicht ihm das Telegramm, und er liest:

Oberlehrer Walter, Eberswalde.
Zwölf Uhr Bahnhof abholen.
Gruß.
Eure Mutter.

»Ist das nicht reizend? Ich habe mich schon gefreut wie ein Schneesieder. Gerade daß Mutter die Erste ist, die zu uns zu Gast kommt!«

»Das ist ja eine Überraschung,« sagt er, legt das Papier hin und reibt sich die Hände.

»Ich dachte mir schon, daß sie sich einmal aufmachen würde, so ungern sie auch reist. In den letzten Briefen wurde die Sehnsucht nach mir immer größer, wenn du dich erinnerst.«

Der junge Ehemann lacht laut auf. »Na, mehr kann man doch nicht verlangen, als daß sie es für eine Grausamkeit und Ungerechtigkeit der Natur hält, daß ein wildfremder Mann kommt und ihr mir nichts dir nichts ihre Tochter wegnimmt! Darin ist deine gute Mama mehr als drollig.«

»Sei nicht ungerecht, Ernst,« sagt die junge Frau mitleidigen Tons. »Ich bin ihre Einzige, bin ihr achtzehn Jahre beinahe nicht von der Schürze gekommen, das Pensionsjahr abgerechnet …«

»Ich halte es immer für ein Wunder, daß sie dich so lange von sich gelassen hat.«

»Sie hat auch genug gejammert damals. Wir sind ja einig darüber, daß es eine Schwäche von ihr ist, meine Heirat als einen schweren Schicksalsschlag für sie anzusehen. Aber du mußt dich auch ein bißchen in ihre Lage versetzen: Papa so wenig zu Hause …«

»Meinethalb mag sie klagen wie sie will – dich bekommt sie damit doch nicht wieder – du bist mein …«

Das klingt wie Jubel und Triumph, und er faßt die junge Frau um den Leib und hebt sie aus dem Stuhl, daß die Stickerei unter den Tisch gleitet, preßt sie ans Herz, sieht ihr stolz wie ein Sieger dicht Aug’ in Auge und küßt sie wieder stürmisch.

»Du bist schrecklich,« schmollt sie. »Morgen habe ich wieder blaue Flecke.«

Er läßt sie lachend los. »Sei froh, daß ich dich nicht aufesse. Aber kehren wir zur Vernunft zurück! Sag mal: hast du denn etwas Ordentliches zu Mittag? Du weißt, daß sie arg verwöhnt mit dem Essen ist.«

»Hammelfleisch mit Teltower Rübchen,« sagt sie etwas gedrückt.

»Das ist ja ein großartiges Essen,« ruft er.

»Ja, weil’s dein Leibessen ist. Zu Hause haben wir’s eigentlich nie gegessen.«

»Das muß sie kennen lernen!« sagt er enthusiastisch. »Paß mal auf, wie sie Geschmack dran findet.«

»Ja – ändern kann ich’s nicht mehr.«

Er sieht plötzlich nach der Uhr. »Da haben wir aber nicht viel Zeit mehr, Schatz. Kommst du denn mit?«

»Freilich. Ist’s schon so spät?«

»Beinah halb, Kind; du hast höchstens zehn Minuten noch für dich …«


Sie sind erst ein Vierteljahr verheiratet und lieben einander, wie nur irgend ein junges Paar dies imstande ist. Er Oberlehrer am Gymnasium, sie die einzige Tochter eines Geheimen expedierenden Sekretärs in einem deutschen Duodezstaate, die er in Berlin bei einer befreundeten Familie kennen gelernt hat. Kämpfe genug hat’s gekostet, ehe Mama die Einwilligung gegeben. Erstlich war sie der Ansicht, daß diese Perle von Tochter zu etwas Besserem geboren sei, als um einen simplen Gymnasiallehrer zu heiraten; zweitens war es ihr schrecklich, sie aus ihrer Nähe fortzulassen.

Dieser Oberlehrer war nicht einmal Doktor! Das war doch eigentlich das Wenigste, was sie verlangen konnte. Als sie ihm bei einem Besuche nahegelegt, mindestens doch diese Auszeichnung noch zu erringen, hatte er sogar gelacht: er wolle nicht, daß man ihn aus Versehen nachts aus dem Bette klingle. Außer für Ärzte hätte dieser Titel höchstens für Barbiere und Schriftsteller Sinn, und die bekämen ihn vom Publikum so wie so.

Sie hatte das »frivol« gefunden und war empört gewesen.

Aber Fräulein Lottchen hatte am Ende ihren Willen mit Hilfe von Papa und ein paar Szenen durchgesetzt, in denen sie Mama überzeugte, daß diese andernfalls ihr Kind gänzlich von ihrem Herzen verlieren würde. Und da Mama im Grunde eine gutartige Frau war, die ihr Kind wirklich ungemein liebte, so war noch alles gut geworden, und sie hatte sogar dem Schwiegersohn bei der Hochzeit versichert, daß er ihr Herz gewonnen habe.

Es war klares, windiges Wetter, als das Paar sich zu Fuß auf dem gräßlichen, endlosen Weg vom Innern des Städtchens bis zum Bahnhofe befand, und sie schritten so eilfertig aus, als es möglich war, ohne befürchten zu müssen, daß ihnen ein Straßenjunge: ›Wo brennt’s denn?‹ zurief. Denn die Wahrheit zu sagen: die junge Frau hatte zu ihrer Toilette fast zehn Minuten mehr gebraucht, als der Gatte ihr zugestanden.

»Ach Gott, wir kommen zu spät – Mama wird uns das sehr übelnehmen …«

»Laß sie,« sagt er. »Ich will gern den Sündenbock machen …«

»Auf keinen Fall – erstlich bin ich wirklich schuld, zweitens verzeiht sie mir eher als dir.«

»Nun, vielleicht schaffen wir’s noch.«

Sie schafften’s aber nicht, denn sie hörten den Zug heranschnaufen, als sie noch einige Minuten vom Bahnhofe entfernt waren, und bald darauf fuhren bereits die ersten Droschken an ihnen vorüber. Eben wollten sie auf den freien Platz beim Bahnhofe einbiegen, da rollte eine Droschke auf sie zu, in der saß Mama.

»Da ist sie!« – die junge Frau winkte mit erheuchelter Arglosigkeit hoch erfreut: »Mama! Mama!«

Auf der Droschke vorn befand sich ein gewaltiger brauner Koffer, neben dem sich der Kutscher möglichst papierdünn machte, im Fond mit etwas Handgepäck eine kleine würdevolle Frau, die sehr verdrießlich vor sich hin sah, bis sie das Winken der Tochter bemerkte, worauf sie mit der Spitze ihres Sonnenschirms dem Kutscher im Rücken stocherte und sich abwechselnd hob und wieder setzte, bis der Wagen hielt.

»Verzeihung, Mama!« flehte die Tochter zerknirscht. »Ich bin schuld, daß wir so spät kommen, habe nicht zu rechter Zeit angefangen, Toilette zu machen …«

»Sei uns herzlich willkommen, Mama; du bereitest uns eine große Freude,« sagte der Schwiegersohn und hielt ihr die Hand hin …