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Über dieses Buch:

London, Ende des 19. Jahrhunderts. Als Tochter eines einflussreichen Politikers führt Lucie Lansdon ein unbeschwertes Leben – bis zu jenem Tag, an dem ihr Vater auf offener Straße ermordet wird. Zwar kann Lucie den Täter identifizieren und seiner gerechten Strafe zuführen, doch von diesem Moment an fühlt sich die junge Frau bedroht. Aber trachtet ihr wirklich jemand nach dem Leben? Selbst als Lucie heiratet und meint, ihr Glück gefunden zu haben, lassen sie die Schatten der Vergangenheit nicht los. Und immer mehr kommt sie zu der Gewissheit, dass sie tatsächlich verfolgt wird von jemandem, der seit langer Zeit einen skrupellosen Plan verfolgt …

Bestsellerautorin Philippa Carr verwebt in diesem Band ihrer Saga »Die Töchter Englands« die besten Elemente einer britischen Gesellschaftsgeschichte mit denen des klassischen Schauerromans – ein Lesevergnügen!

Über die Autorin:

Philippa Carr ist – wie auch Jean Plaidy und Victoria Holt – ein Pseudonym der britischen Autorin Eleanor Alice Burford (1906–1993). Schon in ihrer Jugend begann sie, sich für Geschichte zu begeistern: »Ich besuchte Hampton Court Palace mit seiner beeindruckenden Atmosphäre, ging durch dasselbe Tor wie Anne Boleyn und sah die Räume, durch die Katherine Howard gelaufen war. Das hat mich inspiriert, damit begann für mich alles.« 1941 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem in den nächsten 50 Jahren zahlreiche folgten, die sich schon zu ihren Lebzeiten über 90 Millionen Mal verkauften. 1989 wurde Eleanor Alice Burford mit dem »Golden Treasure Award« der Romance Writers of America ausgezeichnet.

Eine Übersicht über den Romanzyklus »Die Töchter Englands« finden Sie am Ende dieses eBooks.

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eBook-Neuausgabe September 2017

Copyright © 1990 by Philippa Carr

Die Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel »The Black Swan«.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1993 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Valery Sidelnykov und beboy

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95824-999-8

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Philippa Carr

Der schwarze Schwan

Roman

Aus dem Englischen von Christiana Haack

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Kapitel 1
Mord auf offener Straße

Meine Stiefmutter und ich saßen gerade beim Frühstück, als der Brief ankam. Briggs, der Butler, überreichte ihn mit der gewohnten Förmlichkeit auf dem glänzenden Silbertablett.

Meine Stiefmutter schaute beklommen auf den Brief. Sie war sehr schnell aus der Ruhe zu bringen. Das lag meines Erachtens am Zusammenleben mit meinem Vater, der manchen Leuten Angst einjagte. Ich konnte ihre Gefühle nachempfinden, obwohl sich seine Beziehung zu mir von denen zu allen anderen Personen deutlich unterschied.

Während ich gespannt wartete, blieb der Brief ein paar Sekunden lang ungeöffnet auf dem Tisch liegen.

Celeste, meine Stiefmutter, warf mir einen ängstlichen Blick zu. »Er kommt aus Australien.«

Das hatte ich schon bemerkt.

»Es sieht wie Leahs Schrift aus.«

Auch das war mir nicht entgangen.

»Ich frage mich, was …«

Ich mochte Celeste sehr gern. Sie war mir immer eine gute, liebevolle Stiefmutter gewesen, doch bisweilen brachte sie mich zur Verzweiflung.

»Warum machst du ihn nicht auf und schaust nach?« schlug ich vor.

Behutsam hob sie den Brief hoch. Celeste gehörte zu jenen Leuten, die sich ihr Lebtag lang vor allen möglichen schrecklichen Fährnissen fürchten. Gewiß ereignete sich manchmal etwas Schlimmes, aber das war doch kein Grund, in beständiger Angst zu leben. Sie begann zu lesen, und während ihrer Lektüre errötete sie.

»Tom Marner ist gestorben«, sagte sie.

Tom Marner! Dieser große, kräftige Australier, der vor Jahren die Goldmine meines Vaters übernommen hatte, der in ebendieses Haus gekommen war und Leah, unser Kindermädchen, mitgenommen hatte – und auch Belinda. Dadurch wurden lang verborgene Geheimnisse, die andernfalls für immer hätten gewahrt bleiben können, notwendigerweise aufgedeckt. Unser aller Leben änderte sich deshalb von Grund auf. Und jetzt war Tom Marner tot.

»Was schreibt sie sonst noch?« fragte ich.

»Sie selbst kränkelt auch. Ganz offensichtlich macht sie sich wegen Belinda Sorgen. Falls ihr etwas zustoßen sollte …«

»Du meinst, falls auch sie stirbt. Steht es denn auch um sie so schlimm?«

»Sie deutet es wenigstens an. Auf jeden Fall ist sie krank. Die Goldmine wirft seit ein paar Jahren keinen Gewinn mehr ab. Tom wollte sie aber nicht aufgeben und hat deshalb viel Geld verloren. Ich kann mir denken, warum sie mir schreibt. Sie möchte mich daran erinnern, daß ich Belindas Tante bin.«

»Also soll Belinda nach ihren Vorstellungen wieder hierher zurückkommen?«

»Ich muß das mit deinem Vater besprechen. Tom Marner ist ganz unerwartet an einem Herzschlag gestorben. Und jetzt ist sie plötzlich verwitwet. Ihrer Meinung nach waren Toms Sorgen an der Herzattacke schuld.«

»Wie traurig! Bei ihrer Hochzeit war sie so glücklich. Noch nie habe ich sie so glücklich erlebt. Und dabei machte sie sich zu der Zeit doch solche Sorgen um Belinda … und die ganze Geschichte. Aber als dies alles bereinigt war, änderte sie sich ziemlich, nicht wahr? Und jetzt ist er tot. Arme Leah!«

»Und obendrein ist sie leidend.«

Celeste nahm den Brief zur Hand und las ihn mir vor:

»Was wird mit Belinda geschehen? Ich wäre so erleichtert, wenn ich sie nach England zurückbringen könnte.

Schließlich haben wir hier keine Verwandten. Mrs. Lansdon, Sie sind meines Wissens ihre nächste Angehörige. Natürlich gibt es ihren Vater … aber ich weiß nichts von ihm. Sie aber … waren immer so gütig ihr gegenüber … beiden Kindern gegenüber … selbst als Sie noch nicht die Wahrheit wußten. Belinda läßt sich von ihren Gefühlen beherrschen …«

Celeste hörte auf zu lesen und schaute mich hilflos an.

»Sie wird zurückkommen müssen«, meinte ich.

Ich spürte eine gewisse Erregung in mir, war mir aber nicht sicher, ob ich mich freute oder ärgerte. Belinda war mit meiner Kindheit fest verwoben und hatte mein Leben entscheidend beeinflußt. Sie hatte mich unablässig gepiesackt, aber nach ihrem Weggehen hatte ich sie arg vermißt. Doch das war nun schon mehr als sechs Jahre her … fast sieben wohl. »Ich rede mit deinem Vater darüber, wenn er heimkommt«, sagte Celeste.

»Gestern abend dauerte die Sitzung lange«, erwiderte ich. »Er hat wohl bei den Greenhams übernachtet.«

Sie nickte. »Vielleicht könntest du die Sache ansprechen.« »Ja.«

Sie gab mir den Brief, und ich vertiefte mich in ihn. Welche Erinnerungen er in mir weckte! Ich sah die liebe, geduldige Leah deutlich vor mir, unser treusorgendes Kindermädchen, das mich freundlich und sanft behandelt hatte – mich, die Außenseiterin, für die mich damals jeder mit Ausnahme Leahs gehalten hatte. Dennoch hatte sie mir Belinda immer deutlich vorgezogen. Sie konnte ihre Gefühle für ihr eigenes Kind nicht verleugnen. Als die Wahrheit ans Tageslicht kam, wurde all dies verständlich.

Jetzt kehrte Belinda möglicherweise zurück. Wie sie jetzt wohl sein mochte? Ich wußte genau, wie alt sie war, weil wir am gleichen Tag geboren waren; beide waren wir jetzt knapp siebzehn Jahre alt. Seit unserer letzten Begegnung hatte ich mich ziemlich verändert. Wie mochte sich Belinda nach all den Jahren in einer australischen Minenstadt entwickelt haben? Doch irgend etwas sagte mir, daß nichts Belinda wirklich ändern konnte, ganz egal, wie ihr Leben verlaufen sein mochte.

Den ganzen Vormittag über dachte ich an die Geschehnisse der Vergangenheit.

Unser Leben war seltsam verlaufen – manches daran kaum zu glauben, sofern man nicht alle Beteiligten kannte.

Im Mittelpunkt unserer Geschichte stand die intrigante Hebamme aus Cornwall, die sowohl Belinda als auch mir ans Licht der Welt geholfen hatte. Die selbstgerechte und bigotte Mrs. Polhenny hatte eine Tochter namens Leah. Und eben diese Leah war, während sie für eine französische Emigrantenfamilie arbeitete, der auch Celeste und ihr Bruder Jean Pascale angehörten, geschwängert worden … von Jean Pascale, wie sich später herausstellte. Verständlicherweise war Mrs. Polhenny entsetzt, daß nach all ihren frommen Sprüchen in der Nachbarschaft ausgerechnet ihrer eigenen Tochter so etwas passieren mußte. Deshalb heckte sie einen verschlagenen Plan aus. In der Nachbarschaft lebte eine verwirrte Frau, Jenny Stubbs, deren Kind gestorben war. Seit dessen Tod lebte Jenny Stubbs in dem Wahn, sie erwarte ein zweites Baby. Mrs. Polhenny plante nun, Jenny um die Zeit der Niederkunft Leahs bei sich aufzunehmen und nach der Geburt Leahs Kind als das Jennys auszugeben.

Die äußeren Umstände erleichterten ihr die Ausführung ihres Planes beträchtlich. Er wäre ihr auch gar nicht eingefallen, wenn nicht die Gegebenheit sich als so günstig für sie dargestellt hätten.

In der Zwischenzeit stand meine Mutter kurz davor, auf Cador, dem nahegelegenen Herrenhaus, mit mir niederzukommen. Mrs. Polhenny sollte ihr als Hebamme beistehen.

Meine Mutter starb bei der Geburt. Da man mir keine Überlebenschance einräumte, kam Mrs. Polhenny auf die Idee, daß sie mich vernünftigerweise doch als Jennys Kind ausgeben und Leahs Kind meinen Platz auf Cador einnehmen könnte. Damit eröffnete sie Leahs Tochter Möglichkeiten, die ihr andernfalls verschlossen geblieben wären.

Mrs. Polhenny glückte die Ausführung des Plans; und Leah, die bei ihrem Kind bleiben wollte, wurde Belindas Kindermädchen, während ich meine ersten Lebensjahre in Jenny Stubbs’ Behausung verbrachte.

An diesem Punkt betritt meine Schwester Rebecca den Schauplatz des Geschehens. Rebecca empfand für mich von jeher tiefe Zuneigung. Später pflegte sie dies auf den Einfluß unserer verstorbenen Mutter zurückzuführen. Darüber erlaube ich mir kein Urteil, aber von Anfang an spürte ich starke Gefühlsbande zwischen uns. Es schien beinahe, als wache eine seltsame Macht über mich, denn nach Jennys Tod bestand Rebecca darauf, daß ich nach Cador kommen und dort aufwachsen sollte. Die Umstände von Jennys Tod und Rebeccas Beharrlichkeit sowie das Entgegenkommen ihrer Familie ermöglichten dies.

Wie viele Frauen unserer Familie schreibt Rebecca, gewissermaßen als Fortführung einer Tradition, Tagebuch. Sie hat mir versprochen, daß sie es mich in ein paar Jahren lesen läßt. Dann verstünde ich die damaligen Geschehnisse besser.

Allerdings wußte ich damals bereits, daß Tom Marner Leah heiraten und mit ihr nach Australien gehen wollte. Und da Leah sich nicht von ihrer Tochter, Belinda, trennen konnte, gestand sie alles.

In welchen Gefühlsaufruhr dies alle Beteiligten stürzte! Vor allem meinen Vater und mich. Damals änderte sich unsere Beziehung grundlegend; und ich hatte das Gefühl, daß er mich für all die Jahre, in denen er von seiner Vaterschaft zu mir nichts wußte, entschädigen wollte.

Es schien, als könnten wir einander nicht entbehren. Celeste zeigte mir gegenüber niemals Groll. Mit einer fast traurigen Schicksalsergebenheit akzeptierte sie seine innigen Empfindungen zu mir, die seine Gefühle für sie weit übertrafen. Er hatte meine Mutter auch lange nach ihrem Tod aufrichtig und abgöttisch geliebt und hatte ihren Verlust nie überwunden. Niemand konnte sie ersetzen. Im Verlauf der Jahre gelang mir das noch am ehesten von allen. Vermutlich weil ich ein Teil von ihr war – ihre Tochter und auch die seine.

Seine Gefühle für meine Halbschwester Rebecca hatten sich mit der Zeit abgeschwächt. Aber meinen innersten Überzeugungen zufolge vergaß er nie, daß sie zwar die Tochter meiner Mutter, jedoch nicht die seine war. Er konnte den Gedanken an die erste Ehe meiner Mutter einfach nicht ertragen. Deshalb wandte er sich mir zu.

Er war ein eindrucksvoller Mann, eine vornehme Erscheinung; sein ganzes Wesen strahlte Macht aus. Ehrgeiz war die treibende Kraft seines Lebens. Ihm waren Unnachsichtigkeit und Rücksichtslosigkeit zu eigen, was ihn schon manchmal in gefährliche Situationen gebracht hatte. Solche Männer gehen in den seltensten Fällen völlig ohne Skandale durchs Leben. Manchmal fragte ich mich, ob meine Mutter, würde sie noch leben, diesen Charakterzug hätte bezwingen können.

Für beide war es die zweite Ehe gewesen. Obwohl sie sich seit ihrer Kindheit gekannt hatten, hatte das Leben sie erst getrennt und dann wieder zusammengebracht, auf romantische Weise, aber nur kurz. Er bedauerte immer zutiefst jene Jahre, die sie fern voneinander vergeudet hatten, und daß ihnen, als sie einander fanden, nur mehr so wenig Zeit miteinander vergönnt war.

Seine erste Frau hatte er wegen einer Goldmine geheiratet, meine Mutter aus Liebe; und Celeste? Er hatte wohl vergeblich Trost zu finden versucht, eine Frau, die ihn gern hatte und die schmerzvolle Sehnsucht nach meiner Mutter linderte. Arme Celeste. Das war ihr nicht gelungen. Ich nehme an, das Wissen, daß dies niemand vermochte, wäre ihr ein schwacher Trost.

Doch weil er eine Tochter gefunden hatte, weil er sich immer zu ihr hingezogen gefühlt hatte – wie er mir später erzählte selbst als sie ein heimatloses Kind schien, das ihm aufgrund von Rebeccas Schrulle ins Haus geschneit war, hatte er beschlossen, daß ich den Platz meiner Mutter einnehmen könne. Und weil mich dieser mächtige Mann mit den unglücklichen Augen in seinen Bann zog und mir die Tatsache, daß er mein Vater war, immer wie ein Wunder erschien, wollte ich nur zu gern die mir zugedachte Rolle spielen. So wurde das starke Band zwischen uns geschmiedet.

Einmal gestand mir mein Vater: »Ich bin froh, daß du meine Tochter bist. Ich konnte Belinda nie als mein Fleisch und Blut betrachten. Ich redete mir ein, dies komme daher, weil ich sie am Anfang für den Tod ihrer Mutter verantwortlich machte. Aber das stimmte nicht, denn für dich hege ich ganz andere Gefühle. Mir scheint, daß deine Mutter dich mir … mir als Trost geschenkt hat.«

Ich vermißte Belinda, nachdem sie weggegangen war, sehr. Sie war ein Teil meines Lebens gewesen, und obwohl man mit ihr nicht immer leicht auskommen konnte, sehnte ich mich nach ihrer Gegenwart. Natürlich hatte ich meine geliebte Rebecca; aber bald nach all den überraschenden Enthüllungen heiratete sie Pedrek Cartwrigth und zog nach Cornwall. Ich besuchte sie häufig und genoß dann jedesmal das Zusammensein mit ihr. Obgleich nur elf Jahre älter als ich, war sie mir, seit sie mich ins Haus gebracht hatte, wie eine Mutter gewesen.

Auf Wunsch meines Vaters wurde ich nicht zum Schulbesuch fortgeschickt, sondern von einer Gouvernante unterwiesen. Als ich eines umfassenderen Unterrichts bedurfte, kam Miss Jarrett, eine sehr gebildete, ein wenig strenge Frau in mittleren Jahren. Wir arbeiteten gut miteinander, und ich bin fest davon überzeugt, daß sie mir eine so gute Ausbildung angedeihen ließ, wie ich sie in keiner Schule besser hätte bekommen können.

Ich verbrachte ziemlich viel Zeit mit meinem Vater in unserem Londoner Haus und auf Manorleigh, wo er seinen Wahlkreis hatte. Celeste begleitete uns dabei immer, ebenso Miss Jarrett.

Rebecca war sehr beglückt über den Lauf der Dinge, und sie hätte mich am liebsten in ihrem Haus in Cornwall aufwachsen sehen, hätten nicht die starken Bande zwischen meinem Vater und mir gestanden. Sie erzählte mir oft, wie sie unserer Mutter vor meiner Geburt versprochen hatte, immer für mich zu sorgen.

»Sie scheint die künftigen Geschehnisse fast vorhergesehen zu haben«, sagte sie. »Da bin ich mir ganz sicher. Manchmal passieren seltsame Dinge. Ich gelobte ihr, mich um die zu kümmern, und tat dies auch … sogar als wir deine wahre Identität noch gar nicht kannten. Wann immer du mich brauchst, mußt du nach Cornwall kommen. Besuch uns einfach … jederzeit. Aber ich glaube, dein Vater braucht dich. Ich freue mich, daß ihr einander so liebt. Bisweilen befällt ihn großer Kummer.«

Der Gedanke, daß Rebecca in Notsituationen immer für mich dasein würde, war sehr beruhigend.

Ich hatte neue Interessen entwickelt. Als Tochter des Hauses hatte ich an Selbstbewußtsein gewonnen, woran es mir bis dahin gemangelt hatte. Wahrscheinlich wegen Belinda, die mich als einzige so oft an meinen Platz in der Hierarchie des Hauses erinnert hatte. Belinda war eine bestimmende Kraft in meinem Leben gewesen. Ich dachte oft wehmütig an ihr unruhestiftendes Temperament. Vielleicht kam dies daher, weil wir zusammen aufgewachsen waren, weil wir durch das dunkle Geheimnis unserer Geburt miteinander verbunden und so ein Teil der anderen geworden waren, noch ehe wir selbst hätten bewußt Einfluß nehmen können.

Aber ich war schnell in der neuen Beziehung zu meinem Vater aufgegangen. Vorher war er in meinen Augen nahezu gottähnlich zu Hause aufgetreten. Ich hatte geglaubt, daß er uns Kinder kaum wahrnahm, obwohl ich zuweilen seinen Blick auf mir ruhen spürte. Und mir schien, daß seine Stimme, wenn er denn überhaupt zu mir sprach – was damals wirklich selten geschah, sanft und gütig klang.

Belinda behauptete immer, daß sie ihn nicht ausstehen könne. »Das kommt daher, weil er mich haßt«, erklärte sie. »Durch meine Geburt habe ich meine Mutter umgebracht. Er gibt mir die Schuld daran. Aber ich kann mich doch überhaupt nicht daran erinnern.«

Schon zu Beginn unserer neuen Beziehung unterhielt sich mein Vater gern mit mir über Politik. Anfangs hatte ich davon keinen blassen Schimmer, aber mit der Zeit begann ich mehr von der Sache zu verstehen. Namen wie William Ewart Gladstone, Lord Salisbury und Joseph Chamberlain wurden mir geläufig. Weil ich ihm gefallen wollte, fragte ich Miss Jarrett Löcher in den Bauch und lernte eine ganze Menge von ihr. Sie selbst begann sich durch das Leben in einem Politikerhaushalt und den dadurch bestehenden guten Draht zu den Ereignissen in Parlamentskreisen verstärkt für Politik zu interessieren.

Als ich älter wurde, besprach mein Vater seine Arbeit mit mir; er las mir sogar seine Reden vor und beobachtete ihre Wirkung auf mich. Manchmal klatschte ich ihm Beifall, und ich getraute mich sogar, ihm Vorschläge zu unterbreiten. Er förderte dies und hatte für meine Überlegungen immer ein offenes Ohr.

Als ich ins Backfischalter kam, verfügte ich bereits über ein solides politisches Wissen, was sein Wohlgefallen an meiner Gegenwart noch erhöhte. Mir gegenüber öffnete er sein Herz. William Ewart Gladstone war der Mann, zu dem er am meisten aufblickte, der seiner Meinung nach eigentlich die Macht in Händen hätte halten müssen.

Seit 1886 hatte die Liberale Partei nicht mehr die Regierung gestellt – dies war jetzt etwa vier Jahre her – und auch damals nur für kurze Zeit.

Mein Vater hatte mir dies damals mit folgenden Worten erklärt: Die fixe Idee des alten Herrn, die Autonomie Irlands, stellt das absolut größte Hindernis dar. Davon hält man hier wenig. Diese Frage spaltet die Partei. Joseph Chamberlain und Lord Hartingdon sagen sich gerade von ihr los. Ebenso John Bright. Etwas Schlimmeres kann einer Partei nicht passieren, als daß sich Teile der Parteiprominenz zum Austritt entschließen.

Begierig hörte ich zu. Ich hatte ein wenig Ahnung von den Vorgängen, und ich erinnere mich an jene Nacht vor einigen Jahren, als er entmutigt nach Hause kam.

»Die Gesetzesvorlage wurde abgelehnt«, sagte er. »Dreihundertdreizehn dafür, dreihundertdreiundvierzig dagegen; dreiundneunzig Liberale haben sich dagegen entschieden.«

»Was für Folgen hat das denn?« fragte ich ihn.

»Rücktritt! Das Parlament wird aufgelöst. Das bedeutet eine Niederlage für die Partei.«

Genau dies traf natürlich ein. Mr. Gladstone war nicht länger Premierminister. Lord Salisbury wurde sein Nachfolger. Das ereignete sich 1886, als ich gerade die Denkweise der Politiker zu verstehen begann.

Ich erkannte die Enttäuschung meines Vaters, weil er nie den Sprung ins Kabinett geschafft hatte. Man tuschelte über ihn, über irgendwelche heiklen Vorfälle in der Vergangenheit, aber niemand wollte mir Genaueres darüber erzählen. Eines Tages würde Rebecca mir sicher darüber berichten und ausführlich auf meine geheimnisumwitterte Kindheit eingehen.

Mein Vater gehörte nicht zu den Leuten, die leicht aufgeben. Obwohl er nicht mehr jung war, stellten sein Scharfsinn und seine Erfahrung im politischen Leben größere Aktivposten als Jugend dar.

Mrs. Emery, unsere Wirtschafterin auf Manorleigh, meinte einmal: »Sie sind sein Augapfel, Miss Lucie, ungelogen. Wie schön, daß er an Ihnen so eine Freude hat, Madam tut mir allerdings leid.«

Arme Celeste! Ich fürchte, damals dachte ich nicht viel über sie nach, und es kam mir nicht in den Sinn, daß ich womöglich die Stelle einnahm, die eigentlich sie ausfüllen sollte. Ihretwegen hätte er doch gerne nach Hause kommen sollen, mit ihr hätte er sich gerne unterhalten müssen.

Ich wußte nun, daß mein Vater ihrer Meinung nach über die Aussicht auf Belindas Rückkehr keineswegs erfreut wäre und daß ich bei ihm dieses Thema zur Sprache bringen sollte.

Das war das mindeste, was ich tun konnte.

Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, an jenen Abenden, wenn er vom Parlament spät nach Hause kam, auf ihn zu warten. Mit Einverständnis der Köchin hielt ich in seinem Arbeitszimmer eine kleine Abendmahlzeit für ihn bereit. Ich erhitzte beispielsweise eine Suppe auf einem kleinen Ofen, oder es gab ein Hühnerbein oder ähnliches. Ich hatte einmal gehört, daß Benjamin Disraelis Gattin ihren Ehemann mit solch einem Essen abends zu empfangen pflegte. Das hatte ich immer für eine liebevolle Geste gehalten.

Meinem Vater gefiel das sehr. Anfangs hatte er gescholten, daß ich nicht so lange aufbleiben dürfe. Aber mir entging sein Wohlgefallen darüber nicht. Zudem wußte ich, wie erwartungsvoll er unseren Gesprächen über die Ereignisse des Abends entgegensah, und wir plauderten, während er aß.

Zwischen uns bestand die Übereinkunft, daß er im Hause seines Kollegen Sir John Greenham, der in Westminster nahe beim House of Parliament wohnte, übernachtete, falls er nicht bis halb zwölf Uhr zu Hause eintraf.

An dem Tag, als Leahs Brief ankam, blieb er abends lange aus, so daß ich wie üblich das Essen vorbereitete, um in seinem Arbeitszimmer auf ihn zu warten. Gegen zehn Uhr kam er heim und traf mich mit seinem Abendimbiß an.

»Ich weiß, du bist derzeit arg beschäftigt«, sagte ich, »aber ich habe damit gerechnet, daß du schon noch kommst.»

»Zur Zeit ist wirklich viel los.«

»Die Vorbereitungen für die nächste Wahl. Glaubst du, ihr kommt diesmal an die Macht?«

»Wir haben wohl eine realistische Chance. Aber es dauert noch etwas, bis wir aufs Land gehen.«

»Wie schade! Lord Salisbury ist ganz offenbar ziemlich behebt.«

»Es ist schon in Ordnung. Die Leute rechnen ihm das Jubiläumsfest anscheinend noch immer hoch an. Brot und Spiele, das kennst du ja.«

»Ich dachte, sie würden alle die Königin verehren. Wegen der fünfzig Jahre auf dem Thron und so.«

»Ja, die Königin und ihren Premierminister. Oh, er hat schon was auf dem Kasten. Der kostenlose Schulbesuch ist auch ein Pluspunkt für ihn. Überdies schätzt ihn die Königin. Im Gegensatz zu Disraeli schmeichelt er ihr nicht, und sie ist gerissen genug, ihm dafür Respekt zu zollen. Obwohl sie Disraelis Schmeicheleien mit der Maurerkelle, wie er es selbst bezeichnete, genoß …«

»Für Mr. Gladstone hegt die Königin keine solche Bewunderung.«

»Um Himmels willen, nein. Sie empfindet richtiggehende Abneigung gegen ihn. Sehr eigenwillig von Ihrer Majestät. Aber so ist sie nun mal.«

»Aber du setzt große Hoffnungen auf die Wahl.«

»O ja. Die Leute sehnen sich immer nach einem Wechsel. Egal, ob er zum Besseren gereicht. Obwohl dies in unserem Fall natürlich zuträfe. Ein Regierungswechsel – danach schreien sie alle.«

Aufgrund seiner sanftmütigen Stimmung hielt ich es für den geeigneten Augenblick, Belindas Rückkehr anzuschneiden: »Übrigens kam heute ein Brief aus Australien. Tom Marner ist tot.«

»Tot!«

»Ja, am Herzschlag gestorben. Offenbar lief die Mine nicht mehr gut …«

»Sie ist erschöpft, würde ich meinen. Das war zu erwarten. Armer Kerl! Wer hätte das gedacht?«

»Offensichtlich war es ein schwerer Schlag, und Leah erfreut sich auch nicht bester Gesundheit.«

»Was fehlt ihr denn?«

»Das hat sie nicht geschrieben, aber sie hat angedeutet, daß es ziemlich schlimm um sie steht. Und sie hat Celeste wissen lassen, daß sie sich um Belinda Sorgen macht.«

»Aha.« Er schaute auf die Hühnerknochen auf seinem Teller. »Also … hat sie den Brief an Celeste gerichtet.«

»Nun ja, Celeste ist schließlich Belindas Tante. Der Brief kam heute früh.«

»Und was möchte sie nun eigentlich?«

»Daß Belinda wieder zu uns kommt.«

Er sagte eine Weile nichts.

Ich fuhr fort: »Celeste fühlt sich ihr gegenüber wohl verantwortlich.«

»Dieses Mädchen hat uns doch nur Scherereien gemacht«, entgegnete er.

»Sie war doch noch so jung damals.«

»Sie hätte um ein Haar Rebecca das Leben verpfuscht.«

Ich schwieg.

»Mir fiel wirklich ein Stein vom Herzen, als sie uns verließ«, gab er zu.

Wieder kurze Stille.

Schließlich fragte ich: »Was soll denn aus ihr werden? So weit weg in Australien … womöglich mittellos, und Tom Marner lebt nicht mehr. Leah liegt schwerkrank darnieder …«

»Du meinst wohl, wir sollten sie einladen, wieder hier zu leben?«

»An vielem, was geschah, trug sie keine Schuld.«

»Erkundige dich mal bei Rebecca, ob sie auch so darüber denkt. Ihr hinterhältiges Märchen, als sie vorgab, daß Pedrek sie überfallen habe. Wie sie alles zwischen ihm und Rebecca zu zerstören versuchte, nur weil sie die Hochzeit der beiden hintertreiben wollte.«

»Sie meinte, es sei so für Rebecca am besten.«

»Sie meinte, es sei so für Belinda am besten.«

Ich gab mich nicht geschlagen: »Aber sie war damals noch ein Kind. Sie ist doch in der Zwischenzeit älter geworden.«

»Und zu noch schlimmerer Niedertracht fähig.«

»Ich wage zu behaupten, daß sie jetzt vernünftiger geworden ist. Den Briefen nach zu schließen, scheinen sie alle recht glücklich da unten gewesen zu sein.«

»Willst du sie denn hier haben?«

Ich nickte.

»Nun ja, wenn sie käme, würden wir ihr aber nicht das Geringste durchgehen lassen.«

»Heißt das, daß sie kommen darf?«

»Ich nehme an, Celeste fühlt sich verantwortlich für sie. Und du willst es auch.« Er zuckte die Achseln.

»Ach, wie ich mich freue. Das muß ich morgen gleich Celeste erzählen. Sie befürchtete wohl, du könntest ablehnen.«

»Um Himmels willen! Das ist schließlich ihr Haus.«

»Ihr würde es nicht im Traum einfallen, gegen deinen Willen jemanden hierherzubitten.«

»Nein, wohl kaum. Tja, ihr beide habt also die Entscheidung getroffen, du und Celeste, nicht wahr? Also sollten sich Belinda und Leah auf die Reise machen.«

Ich war ganz aufgeregt: Belinda kam heim.

Mit spöttischem Blick meinte mein Vater: »Ich glaube, sie hat sich nicht eben reizend dir gegenüber betragen.«

»Ach … das war eben typisch Belinda.«

»Das trifft den Kern – typisch Belinda!« gab er retour. »Nun ja, wir werden ja sehen. Aber sie darf sich keine Mätzchen erlauben. Wenn sie sich nicht ordentlich aufführt, kann sie gleich ihre Koffer packen.«

»Sie verhält sich jetzt sicher anders. Schließlich ist sie erwachsen, so alt wie ich.«

»Ach. Das Alter der großen Weisheit. Übrigens, ich habe die Greenhams für morgen zum Abendessen eingeladen. Das paßt dir doch, oder?«

»Selbstverständlich. Ich nehme an, ihr werdet euch vor allem Gedanken über den Ausgang der nächsten Wahl machen.«

»Dessen kannst du dir sicher sein.«

Er sprach dann über die letzte Parlamentsdebatte, aber meines Erachtens dachte er noch immer über Belinda nach.

Ich freute mich immer, wenn die Greenhams uns besuchten oder wir sie–und der Hauptgrund dafür hieß Joel Greenham. Joel und ich waren seit jeher sehr gute Freunde. Er war jetzt ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt. Obschon ich seinen Vorsprung allmählich aufholte, mußte ich ihm zeitweise wie ein Kind vorgekommen sein. Doch selbst als ich noch nicht einmal im Backfischalter war, hatte er mir immer seine Aufmerksamkeit geschenkt.

In ihm verkörperten sich alle Eigenschaften, die ich an einem Mann am meisten bewunderte. Er sah nicht unbedingt gut aus – dafür war sein Gesicht zu unregelmäßig geschnitten –, aber mit seinem Lächeln vermochte er zu bezaubern. Ich lauschte gern seiner wohlklingenden Stimme. Er war hochgewachsen und wirkte wegen seiner schlanken Gestalt noch größer. Er gehörte dem Parlament an – wohl als einer der jüngsten Abgeordneten –, und man sagte, daß er dort eindrucksvolle und überzeugende Reden hielt. Dennoch umgab ihn eine gewisse, für einen Mann ungewöhnliche Sanftheit, die ich besonders anziehend fand. Er hatte mich immer als eine vernunftbegabte Person behandelt. Mein Vater schätzte ihn und sagte oft, er habe das Zeug zu einem guten Politiker. In seinem Wahlkreis, wo man ihn mit einer großen Mehrheit gewählt hatte, war er beliebt.

Joel hegte seinerseits große Bewunderung für meinen Vater. Vielleicht mochte ihn mein Vater aus diesem Grund. Man muß schon über ausgeprägte Selbstkritik verfügen, um seine Bewunderer nicht zu mögen – was auf meinen Vater gewiß nicht zutraf. Joel hatte mir immer Beachtung geschenkt; er freute sich über meine Beiträge zur Unterhaltung und griff meine Anregungen auf, als seien sie des Nachdenkens durchaus wert.

Bei den Tischgesprächen zwischen meinem Vater, Sir John und Joel lauschte ich immer aufmerksam. Lady Greenham versuchte gewöhnlich, mich und Celeste in ein Gespräch zu verwickeln. Aber ich unternahm größte Anstrengungen, dies zu vermeiden, damit ich den Männern zuhören konnte.

Mein Vater vertrat seine Ansichten immer hitzig und herrisch, Sir John die seinen heiter und eher halbherzig. Joel griff gewöhnlich die Argumente meines Vaters auf und brachte, wenn er damit nicht übereinstimmte, seine Anschauungen meines Erachtens prägnant und klug vor. Mir entging nicht, daß seine Art auch meinem Vater zusagte. Ich hörte ihnen voll Genuß zu und liebte beide von ganzem Herzen.

Bei den Greenhams mußte es aufgrund einer jahrhundertealten Tradition immer einen Politiker in der Familie geben. Sir John hatte das Mandat von Marchlands viele Jahre innegehabt und es aufgegeben, als Joel in seine Fußstapfen treten konnte. Seit seiner Übernahme des Wahlkreises hatte Joel die ohnehin beachtliche Mehrheit noch vergrößern können.

Den Greenhams gehörte ein alter Familienbesitz, Marchlands in Essex, nahe bei Epping Forest, was praktischerweise nicht sehr weit von London entfernt liegt. Sie besaßen aber zusätzlich das Haus in Westminster. Obwohl Sir John nicht mehr dem Parlament angehörte, war doch sein ganzes Leben von der Politik bestimmt, und er verbrachte viel Zeit in London. Laut eigenem Bekunden hielt er sich gern im Schatten von Big Ben auf.

Joel hatte noch einen Bruder, Gerald, der in der Armee diente. Gelegentlich sah ich auch ihn und fand ihn nett und charmant. Aber mein Herz hatte ich Joel geschenkt.

Lady Greenham gehörte zu jenen Frauen, die ihre Familie geschickt lenken und allen nichtfamiliären Belangen gern jede wirkliche Bedeutung absprechen. Meines Erachtens hielt sie jene männlichen Beschäftigungen, die derart heftige Anteilnahme bei ihrem Gatten und ihren Söhnen weckten, für eine Art Spielerei, vergleichbar jenen der Kindheit. Sie pflegte sie mit geschürzten Lippen und einer leicht verächtlichen Nachsicht zu beobachten, als gestehe sie ihnen ihr Steckenpferd gerne zu, solange sie nicht vergaßen, daß sie, Lady Greenham, die ehernen Familiengesetze hütete.

Ich freute mich auf ein Gespräch mit Joel. Celeste wies mir, mit Wohlwollen meines Vaters, bei Tisch immer den Platz neben ihm zu.

Tatsächlich glaube ich, daß mein Vater und Celeste es für eine gute Idee hielten – und womöglich teilten auch Sir John und Lady Greenham diese Ansicht –, wenn Joel und ich zu gegebener Zeit uns vermählten und so die beiden Familien vereinten.

Als Tochter Benedict Lansdons wäre ich den Greenhams als Schwiegerkind willkommen und Joel umgekehrt auch meiner Familie. Mir behagte dieser Gedanke, und so genoß ich in der Zwischenzeit meine Freundschaft mit Joel.

Die beiden Familien freuten sich wohl immer auf ihre Zusammenkünfte. Celeste genoß die Gesellschaft Lady Greenhams. Sie besprachen dann Themen, bei denen sich Celeste auskannte. Aus Lady Greenhams Zustimmung schien sie Selbstvertrauen zu gewinnen.

Joel sprach von der Möglichkeit, daß wir während der Parlamentsferien vielleicht eine Woche auf Marchlands verbringen sollten. Dem sah ich gespannt entgegen. Die Greenhams besuchten uns manchmal auf Manorleigh, so daß wir sowohl in London als auch auf dem Land ziemlich viel Zeit miteinander verbrachten.

Mein Vater sprach über ein Vorhaben in Afrika. Selbst Lady Greenham unterbrach ihr Gespräch mit Celeste, um zuzuhören.

»Es steht jetzt bald zur Debatte«, meinte mein Vater. »Das Aussenden einiger Abgeordneter scheint mir eine gute Idee. Sie werden aus beiden Parteien mit Bedacht ausgewählt, da die Regierung Wert auf eine neutrale Sichtweise legt. Schließlich handelt es sich nicht um eine parteipolitische Angelegenheit.«

»Um welches Gebiet in Afrika geht es denn?« erkundigte sich Sir John.

»Um Buganda. Seit Mwangas Machtübernahme häufen sich die Schwierigkeiten. Als Mutesa noch Kabaka war, lief alles viel glatter. Unter Mwanga hat sich alles ganz anders entwickelt. Ihr erinnert euch an die Märtyrer. Und jetzt erweitern wir natürlich unseren Einflußbereich.«

»Waren auch die Deutschen daran beteiligt?« fragte Sir John.

»Es gab ja die Übereinkunft zwischen England und Deutschland, die aber kürzlich widerrufen wurde. Das Gebiet um Buganda gehört unter unseren Einfluß. Daher richtet man so großes Augenmerk darauf.«

»Wird man also einige Abgeordnete dorthin schicken?« fragte ich.

»Das entspricht der üblichen Vorgehensweise. Damit sie das Land erkunden und schauen, wie man sie empfängt … welchen Eindruck sie bekommen. Buganda ist ein reiches Land. Wir wollen sichergehen, daß man das Beste daraus macht.«

»Und wer sind die Märtyrer von Buganda?« wollte ich wissen.

»Es handelt sich um dreiundzwanzig römisch-katholische Afrikaner«, erläuterte Joel. »Es geschah vor ein paar Jahren, etwa um siebenachtzig … und schon etwas früher. Die ersten Missionare wurden von Mutesa freundlich aufgenommen. Mit der Machtübernahme durch Mwanga aber begann der Ärger. Er ordnete ein Blutbad unter den Missionaren an, bei dem ein englischer Bischof, James Hannington, mit seiner Gruppe von Missionaren ermordet wurde. Wir müssen also einschreiten, weil allem Anschein nach Buganda über kurz oder lang britisches Protektorat wird.«

»Und wann soll der Ausflug stattfinden?« fragte Sir John meinen Vater.

»Meines Erachtens schon bald«, erwiderte er. »Es ist sehr wichtig, die richtigen Leute zu entsenden. Die Lage erfordert Fingerspitzengefühl.« Er schaute Joel an. »Die Teilnahme daran kann für das eigene Ansehen nur nützlich sein.«

»Wirst du denn nach Buganda fahren?« fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, mit Sicherheit nicht. Das überlasse ich Jüngeren. Ich habe hier zu viele Eisen im Feuer, und andere in meinem Alter ebenso. Für diese Aufgabe braucht man kräftige, gesunde junge Männer – allein schon wegen des Klimas. Sie müssen sich schon ein wenig Ansehen erworben haben, um ihrer Partei und dem Volk ihre Handlungsfähigkeit zu beweisen.«

»Sie schauen mich so an«, sagte Joel.

»Nun, das wäre keine schlechte Idee.«

»Klingt aufregend«, merkte ich an.

»Ja«, erwiderte Joel bedächtig.

»Tja, wer weiß«, fuhr mein Vater fort. »Bis jetzt ist die Wahl noch nicht getroffen, aber meines Erachtens liegst du sehr gut im Rennen, Joel.«

»Es wäre eine großartige Erfahrung.«

»Solange dich die Kannibalen nicht verschlingen», warf Lady Greenham ein. »In diesen entlegenen Gebieten gibt es sie ja wohl noch. Und obendrein Fieberkrankheiten und alle möglichen gräßlichen Tiere.«

Alle lachten.

»Das stimmt doch«, fügte Lady Greenham hinzu. »Meiner Meinung nach sollte man die Eingeborenen ruhig mit ihren Blutfehden weitermachen lassen. Sollen sie sich doch gegenseitig umbringen, dann können sie keine Schwierigkeiten mehr machen.«

»Sie haben schließlich einen englischen Bischof getötet, Lady Greenham«, wandte ich ein.

»Na ja, wäre er eben daheim in England geblieben.«

Immer hatte Lady Greenham das letzte Wort. Aber mir entging nicht, daß Joel die mögliche Teilnahme an der Delegation nach Afrika alles andere als kalt ließ.

Dann wechselte man das Thema und sprach über die brennende Frage der nächsten Wahl und die Spekulationen über ihren wahrscheinlichen Termin. Gladstones Rückkehr an die Regierung wurde nicht in Zweifel gezogen, vielmehr ging es darum, wie groß seine Mehrheit ausfallen würde.

Joel und ich spazierten um den Teich im Hyde Park. Während unserer Londonaufenthalte ritten wir manchmal in Rotten Row, allerdings nicht sehr häufig. Unserer Leidenschaft für Pferde frönten wir hauptsächlich auf Marchlands oder Manorleigh. Aber wir genossen die Spaziergänge in den Londoner Grünanlagen – in Green Park, St. James’s, Hyde Park und Kensington Gardens. Man konnte von einem Park zum anderen wandern und sich dabei fast wie auf dem Land fühlen. Denn man mußte sich dabei nur gelegentlich in den Großstadtverkehr hinauswagen. Beim Schlendern auf den bewaldeten Wegen erschien er sehr weit weg.

Wir saßen am Teich und beobachteten die Enten.

Ich fragte ihn: »Wirst du wirklich nach Afrika fahren?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Falls man mich dazu bestimmte, würde ich wohl gehen.«

»Nach Ansicht meines Vaters würde es deiner Laufbahn sehr nützen.«

»Damit hat er recht – wie immer.«

»Ich stelle mir vor, daß er deinen Namen an erster Stelle nennt.«

»Sein Wort könnte die Waagschale erheblich beeinflussen.«

»Ach, Joel, wie aufregend das für dich wäre.«

»Mhm. Dein Vater hat mit mir unter anderem darüber gesprochen. Ihm ist es sehr wichtig, daß ich mir im Abgeordnetenhaus einen Namen mache. Es ist mir unverständlich, daß er selber nie im Kabinett vertreten war.«

»In der Politik spielt das Glück eine entscheidende Rolle. Es kommt so sehr auf den richtigen Ort und den richtigen Zeitpunkt an. Wenn man nicht gleich seine Chance ergreift, bietet sich eine andere wahrscheinlich nie wieder … Und obendrein muß ein Politiker darauf warten, bis seine Partei am Ruder ist.«

»Wie recht du hast!«

»Ich kenne die Hintergründe nicht genau, aber ich weiß ganz sicher, daß er um ein Haar eine bedeutende Stelle im Kabinett bekleidet hätte. Gerüchteweise sollte er sogar Mr. Gladstone als Premierminister nachfolgen.«

»Das könnte er immer noch.«

»Wer weiß? Das Leben ist voller Überraschungen.«

»Er hat mir immer sehr geholfen.«

»Das freut mich, Joel. Ich weiß, wie gern er dich mag.«

»Und meine Familie mag ihn und Celeste … und dich sehr.«

»Unsere Familien verbindet eine wunderbare Freundschaft.«

»Lucie, du bist noch sehr jung.«

»Du bist auch nicht gerade alt.«

»Fünfundzwanzig Jahre, ein ganzes Stück älter als du.«

»Jetzt erscheint das viel, aber mit den Jahren wird es einem immer weniger Vorkommen.«

»Genau. Ich … ich glaube, sie hegen Pläne mit uns.«

»Unsere Familien?«

Er nickte. »Sie würden es gern sehen, wenn du und ich … eines Tages, wenn du älter bist … tja, wenn wir dann heirateten.«

»Und was meinst du dazu?«

»Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen. Und du?«

»Mir gefällt der Gedanke auch sehr. Aber weißt du, ich bin noch nicht einmal siebzehn.«

»Ich dachte, wenn du achtzehn …«

»Soll das ein Heiratsantrag sein? Den habe ich mir immer ganz anders vorgestellt.«

»Auf die Form kommt es doch nicht an … solange sich beide einig sind.«

»Da ist etwas, Joel. Ich habe noch gar nichts erlebt.« Das klang derart banal, daß ich lachen mußte. Trotzdem fuhr ich fort. »Es stimmt. Hast du denn Erfahrungen gesammelt, Joel?« Da er keine Antwort gab, sprach ich weiter: »Ich weiß nicht viel über Menschen … über Männer, meine ich. Mir scheint, als hätten uns unsere Familien füreinander bestimmt. Ist dies denn die beste Art, sich die Gemahlin oder den Gatten auszusuchen?«

»Wir kennen uns schon so lange. Wir würden keine bösen Überraschungen wie manch andere Leute erleben.«

»Keinerlei Überraschungen, weder angenehme noch unangenehme.«

»Nun gut, aber das gefällt mir.«

»Mir auch«, sagte ich.

Plötzlich drehte er sich zu mir her und küßte mich auf die Wange.

»Wollen wir uns als verlobt betrachten?«

»Inoffiziell … versuchsweise. Joel, wenn du dich in jemand anderes verliebst, dann darfst du nicht zögern, dies zu sagen.«

»Als ob ich das jemals täte!«

»Man kann nie wissen. Manchmal trifft einen die Leidenschaft wie ein Blitzschlag, zumindest sagt man so. Du weißt nie, woher sie plötzlich kommt.«

»Ich weiß, daß ich nie eine andere Frau so wie dich lieben werde.«

»Wie kannst du dir dessen so sicher sein? Bis jetzt hat dich der Blitzschlag der Liebe nicht ereilt. Irgendein aufregendes weibliches Wesen könnte auftauchen … eine Frau, der du noch nie begegnet bist … eine geheimnisvolle, unwiderstehliche Frau.«

»Du redest Unsinn, Lucie.«

»Weißt du was, das hoffe ich auch.«

Er hakte mich unter, und wir schmiegten uns eng aneinander.

Dann sagte er: »Wir sind verlobt.«

»Heimlich«, erinnerte ich ihn. »Unsere Familien sollen doch nicht schon jetzt mit dem Planen anfangen. Ich muß noch ein bißchen erwachsener werden, und du gehst erst nach Buganda oder wohin auch immer.«

»Falls ich weggehe, … wenn ich dann wiederkomme …«

»Das wäre dann der beste Zeitpunkt für die Bekanntgabe unserer Verlobung. Du … als der ruhmbedeckte Held.«

»Ach, Lucie! Es handelt sich doch lediglich um eine kleine Entsendung, bei der ein halbes Dutzend Abgeordnete die wahren Begebenheiten herauszufinden versucht. Daran ist doch gar nichts Glorreiches.«

»Bei deiner Rückkehr bist du dann auf dem besten Weg, irgendwann in den nächsten zwanzig oder dreißig Jahren Premierminister zu werden. Premierminister wird man doch für gewöhnlich erst in relativ fortgeschrittenem Alter, nicht wahr? Bei deiner Heimkehr geben wir also unsere Verlobung bekannt. Was für eine Überraschung das sein wird. Mein Vater wird sich ungeheuer freuen.«

»Das hoffe ich.«

»Das weißt du doch. Du bist sein Schützling, dessen Fortschritte er mit Wohlgefallen verfolgt. Meiner Meinung nach möchte er dich zum Premierminister aufbauen, wenn er es schon selbst nicht geworden ist. Vor allem aber wird er sich für den Ehemann seiner Tochter einsetzen. Schon deshalb solltest du mich heiraten.«

»Ich lebe in der beständigen Hoffnung, daß ich seine Erwartungen erfülle.«

»Künftig mußt du dir nur mehr um die Erwartungen einer Person Gedanken machen … und das werde ich sein. Gleichviel weiß ich, was du für meinen Vater empfindest. Er ist ein großartiger Mensch. Trotz unserer innigen Beziehung spüre ich oft, daß ich ihn nicht völlig verstehe. Das macht ihn aufregend.«

»Ich stimme ganz mir dir überein«, bekräftigte Joel.

Wir gingen ziemlich gemessenen Schrittes heim.

Wir waren verlobt, unsere Heirat vorherbestimmt. Unsere Familien würden unseren Plänen zweifellos zustimmen.

Mein Leben verlief in wohlgeordneten Bahnen und überaus beruhigend.

Es gab Post aus Australien, von Leah an Celeste und von Belinda an mich. Wie gewöhnlich trafen die Briefe zum Frühstück bei uns ein. Celeste zeigte mir Leahs Schreiben.

Es war eine sehr betrübliche Nachricht. Leah glaubte sterben zu müssen. Man könne ihr nicht mehr helfen. Sie sei jetzt sehr ausgezehrt und viel zu schwach für eine lange Reise.

Celestes Antwort habe sie sehr beruhigt, und sie treffe jetzt die nötigen Vorkehrungen. Sie fühle sich unendlich erleichtert in dem Wissen, daß nach ihrem Hinscheiden Belinda ein Zuhause in England finden würde. Sie danke Gott, daß er ihr die Zeit gewähre, die Dinge zu ordnen, und sie nicht zu plötzlich niedergestreckt habe.

Die letzten Jahre ihres Lebens seien ihre glücklichsten gewesen. Tom habe sie und Belinda gütig behandelt, und sie hatten ein wundervolles Leben miteinander geführt. Trotz des weitgehenden Verlustes seines Vermögens habe er ihnen doch ein wenig Geld hinterlassen können. Das würde Belinda erben und somit nicht völlig mittellos dastehen.

»Ich will ja nur, daß sie ein Zuhause hat«, schrieb sie. »Wie glücklich macht mich die Gewißheit, daß sie in das Heim ihrer Kindheit zurückkehren kann. Mein Leben ist schon in seltsamen Bahnen verlaufen. Das kommt vermutlich immer so, wenn man ungewöhnliche Dinge tut. Aber nun, da ich Belinda bei euch geborgen weiß, finde ich zu innerem Frieden.«

Celeste las diesen Brief mit Tränen in Augen.

»Wie froh macht mich Benedicts Zustimmung zu Belindas Rückkehr«, sagte sie. »Arme Leah. Sie war immer eine Seele von Mensch. Wie schade, daß ihr Glück nicht länger währen durfte.«

Belindas Brief weckte in mir Erinnerungen an sie.

Liebe Lucie!
Ich weiß, meine Mutter hat Euch von ihrer Krankheit geschrieben. Bald darf ich nach England kommen. Ich erinnere mich an so vieles von damals … und ganz besonders an Dich. Denkst Du auch manchmal an mich?

O ja, Belinda, dachte ich, ich werde dich niemals vergessen.

Was für schreckliche Dinge ich angestellt habe! Ich wundere mich, daß du mich nicht haßt. Sicher hast Du manchmal so etwas empfunden, aber nicht wirklichen Haß, Lucie. In gewisser Weise waren wir fast wie Schwestern, nicht wahr? Ich erinnere mich an so vieles. Als ich die Kleider Deiner Mutter anzog und vorgab, aus dem Grab gestiegen zu sein. Ich habe Dich und Celeste bis aufs Mark erschreckt. Aber trage es mir nicht nach. Ich mag mich zwar nicht völlig gebessert haben, aber zumindest bin ich jetzt alt genug, solch dumme Dinge nicht mehr zu tun.

Ich bin wegen meiner Mutter zutiefst betrübt. Toms Tod traf uns schrecklich. Es kam so unerwartet. Er erfreute sich guter Gesundheit, und plötzlich hatte er einen Herzschlag. Wir konnten es kaum glauben. Auf einmal weilte er nicht mehr unter uns.

Damals änderte sich unser ganzes Leben, und meine Mutter wurde ernsthaft krank, schwer krank. Ich habe ein wenig Angst. Ich lebe nun hier in diesem Land, und irgendwie fühle ich mich hier nicht zugehörig … jedenfalls nicht ohne Tom und meine Mutter. Ich spüre, daß ich auf Manorleigh und in London verwurzelt bin – bei Dir, Lucie. Ob wir uns wohl bald sehen? Ich weiß, daß ich mir das mehr als irgend etwas sonst wünsche … falls ich meine Mutter verliere.

Ich verbleibe mit den innigsten Grüßen und Erinnerungen
Deine Belinda

Ich erinnerte mich in der Tat. Vor meinem geistigen Auge sah ich sie in den Kleidern meiner Mutter, die sie aus dem verschlossenen Zimmer entwendet hatte, im Garten sitzen. Und zwar auf jener vom Spuk heimgesuchten Bank, die Gerüchten zufolge als Schauplatz von Gespensterzusammenkünften gedient hatte. Ich sah Belinda auch schwören, daß Pedrek sie zu belästigen versucht habe, als sie seine Heirat mit Rebecca hintertreiben wollte. Ich sah uns beide, ganz klein noch, vor mir, wie sie mit einer brennenden Kerze um mich herumtanzte und die Kerze plötzlich mein Kleid in hochlodernde Flammen setzte. Ich sah Jenny Stubbs vor mir, die mich mehr als ihr eigenes Leben geliebt hatte, sah, wie Jenny zu mir hinstürzte und die Flammen mit ihrem Körper erstickte und dabei ihr Leben ließ, um meines zu retten.

Ja, Belinda, dachte ich, du hast mir die Erinnerungen zurückgebracht.

Ich sprach mit Celeste und meinem Vater über Belinda. »Arme, bedauernswerte Leah«, meinte Celeste. »Ob für sie wohl noch irgendeine Hoffnung auf Genesung besteht? Sie schreibt nicht, woran sie leidet.«

»Nein, aber sie ist zu krank zum Reisen. Ich bin sicher, daß sie Belinda begleiten würde, wenn es ihr besser ginge.«

»Wir können lediglich abwarten,« sagte mein Vater. »Auf jeden Fall haben wir ihr hier ein Zuhause angeboten. Mehr zu tun steht nicht in unserer Macht.«

Und dabei blieb es.

Bald darauf kursierten Gerüchte über einen bald bevorstehenden Wahltermin, und wie gewöhnlich dominierte dieses Thema alles andere.

Die Delegation nach Buganda würde man natürlich bis nach den Wahlergebnissen verschieben müssen.