Instamatic



Im Nu geladen!


KODAK

CAMERA

INSTAMATIC 100


An Ihrer neuen KODAK Camera werden Sie Ihre helle Freude haben, denn mit der INSTAMATIC 100 photographieren Sie drin­nen so leicht wie draussen, farbig so gut wie schwarzweiss. Vom Film­einlegen bis zum Auslösen geht alles so spielend einfach, daß Sie nur überrascht sein werden.


Sie brauchen nur folgendes zu tun …


– Camera öffnen – KODAPAK Kassette einlegen – Camera-Rücken­­deckel schliessen.

– Filmtransporthebel durchschalten – fertig zur ersten Aufnahme.

– Motiv durch den hellen, klaren Sucher anvisieren und …

– Auslösen.


Verwenden Sie KODAK-Filme Nr. 126 in der KODAPAK Kas­sette (für blitzschnelles Laden und Entladen). Sie können Schwarz­weiss­bilder, Farbbilder und Farbdias machen, je nachdem welchen Film Sie verwenden.1


Im Nachlass meines Großvaters fanden sich zwei Kameras. Eine Kodak Instamatic 100 und eine Zeiss Ikon Nettar 515/2. Als ich mich auf den Weg machte, mehr über das Leben meines Großvaters zu erfahren, beschloss ich, die Orte, die ich besuchen würde, mit seiner Originalkamera zu dokumentieren. Eigentlich hätte ich mich aus einer Vielzahl von Gründen für die Zeiss Ikon entscheiden müssen: Dieser Apparat hatte Karl an die Fronten des Krieges begleitet. Seine mit dieser Kamera gemachten Aufnahmen würden eine wichtige Rolle bei meinen Recherchen und in diesem Buch spielen. Die Zeiss Ikon ist außerdem die eindeutig bessere Kamera, die Instamatic eher ein Spielzeug, gekauft irgendwann in den 1960er-Jahren. Trotzdem beließ ich die Rollfilmkamera, wo ich sie gefunden hatte. Aus zwei einfachen Gründen: Erstens bin ich ein mise­rabler Fotograf – die Zeiss hätte mich überfordert – und zwei­tens habe ich meinen Großvater nie mit der Zeiss-Kamera fotografieren sehen. An die Instamatic in seinen Händen kann ich mich aber gut erinnern.

Leider wurde die Produktion der für die Instamatic not­wen­digen Kassettenfilme 2007 eingestellt, sodass ich gezwun­gen war, schon abgelaufene Filme im Internet zu ersteigern, aber irgendwie passt das ja zum Projekt, dachte ich mir.


1 Aus einem Werbetext der Firma Kodak für die Instamatic-Kamera (1960er-Jahre).

Prolog oder „Jever Licht“



„Man besucht sich ja nur selber, wenn man zu den Toten geht.“

(Kurt Tucholsky: Schloß Gripsholm)



Mein Opa, Karl Krüger, starb am 17. Mai 1993. Kurz zuvor, es mag am Freitag, den 7. Mai, gewesen sein, bekam ich mein Abiturzeugnis ausgehändigt. Meine Eltern waren damals zur Kur irgendwo im Süden der Republik und wir nutzten, recht schamlos, die Abwesenheit der Erziehungsberechtigten aus, um in ihrem Haus Party zu machen.

Meine Großeltern lebten auf dem gleichen Grundstück wie wir. Sie bewohnten das alte Fach­werkvorderhaus, wohingegen wir im Neubau zum großen Garten hinaus residierten. Ich erinnere mich noch genau an die mal wohlwollenden, mal skeptischen Blicke und Kommentare meines Opas – ja, auch der Oma – bezüglich des sich vor ihren Augen abspielenden tagelangen Abitur-Party-Rausches. Meine Oma – Toni war ihr Name, stand auch so in ihrem Pass – kam dann mit grimmigem und leidendem Blick die kurze Treppe hinauf, die vom Alt- zum Neubau führt, und versuchte, uns die ausgelassene Stimmung zu vermiesen, indem sie sich über die Lautstärke beschwerte und nachfragte, ob denn die Freun­dinnen und Freunde, die da auf dem elterlichen Teppich und Sofa herumlungerten, nicht auch einmal nach Hause müssten. Es war mir peinlich, wenn sie das tat, mich vor meinen Freun­den zurechtwies.

Dies war auch das Wochenende, an dem ich mit meinem Mitschüler Jörg versuchte, so viele Hannen-Alt-Flaschen leer­zu­trinken und auf den Terrassenboden zu platzieren, bis dieser komplett mit Flaschen gefüllt wäre. Mein Opa ging, während wir uns oben der x-ten Altbierflasche widmeten, unten an der Terrasse vorbei in den Garten, schaute kurz herauf und meinte, ob es nicht Zeit wäre, ein paar leere Flaschen in den Alt­glas­­container zu bringen. Unser Anliegen blieb ihm unver­ständlich.

Zu erwähnen sind wohl auch die ausgedehnten, sich auf dem Wohnzimmerteppich abspielenden, nicht so recht erfolg­reichen Annäherungsversuche an Nicole, einer Frau, die nach­haltig mei­n­en Geschmack, vor allem in Bezug auf Musik, Kleidung und Kunst sowie natürlich in Bezug auf Frauen geprägt hat. Ich verehrte Nicole, die auch in meinem Abitur­jahrgang war, schon seit Jahren. „Verehrte“ ist zu schwach, ich himmelte sie an. Sie verkörperte, was ich mir unter dunkel, alternativ und unangepasst vorstellte. Sie trug immer schwarz, hatte seltsam andere Freunde und hörte Musik, die sonst nie­mand, den ich kannte, mochte, geschweige denn kannte. An einem dieser Abende, irgendwann zwischen der Zeugnis­ausgabe und dem Tod meines Großvaters, brachte sie einige ihrer Schallplatten mit, wir öffneten einen schweren roten Franzosen aus dem Keller meines Vaters, rauch­ten, lagen auf dem Wohnzimmerteppich und degustierten Nicoles Tonträger: Es war die 1989 erschiene LP Haus der Lüge von den Einstür­zenden Neubauten, die mich völlig aus dem Konzept brachte. Ich erinnere mich an eine stundenlange Diskus­sion mit Nicole über eine Zeile aus dem Mund des Sängers der Neubauten: „Gott hat sich erschossen, ein Dachgeschoss wird ausgebaut“. An dieser Stelle sollte vielleicht gesagt werden, dass weder Nicole noch ich aus einer aufgeklärten, urbanen Bildungs­bürger­familie kamen, sondern dass sich all dies in einem klei­nen Dorf in Niedersachsen abspielte.

‚Gott ist tot‘ und die Unverblümtheit, mit der diese These aus den Blaupunkt-Lautsprechern meiner Eltern hallte, war für uns noch verstörend. Hinzu kam, dass es genau diese Platte war – auf ihrem Cover ist ein pinkelndes stilisiertes Pferd abge­bildet –, vor der mich unser Gemeindepastor gewarnt hatte: Denn als sich im Jahr zuvor, ausgerechnet am Neujahrsmorgen 1992, unser Mitschüler S. das Leben nahm, machten dessen Eltern und Pastor den schlechten Einfluss eben dieser Lang­spielplatte hierfür verantwortlich. S. hatte außerdem ein Tour-Poster mit der Coverabbildung in seinem Zimmer aufgehängt und liebte die Neubauten, so berichtete es mir immerhin der Dorfpfarrer. Mich hat Haus der Lüge bisher nicht in den Selbst­mord getrieben, eher dazu, mir nach und nach alle Veröf­fentlichungen der Einstürzenden Neubauten zu kaufen.

Der 17. Mai 1993 war ein an sich schöner Tag, die Sonne schien und eine Vorahnung des bevorstehenden Sommers lag in der Luft. Das Wochenende war alkoholdurchsetzt gewesen, das Vorhaben, die Terrasse mit Altbierflaschen zu füllen, war letztendlich doch an Jörgs und meiner Müdigkeit gescheitert und auf später verschoben worden. Für den Montag war bis­her nichts Bestimmtes geplant, wobei man nie wissen konnte, was der Abend, die Nacht an spontanen Zusammen­künften und Besäufnissen noch bringen konnte. Ich erinnere mich nicht, wo sich mein fünf Jahre jüngerer Bruder an diesem Nachmittag aufhielt, vielleicht war er bei Freunden? Bei den Pfadfindern? Oder saß er mir gegenüber, als ich auf der Terrasse an einer Flasche von dem übrig gebliebenen Hannen-Alt nuckelte und viel zu lauter Musik durch die geöffneten Terrassentüren lauschte? Ich werde ihn später fragen und seine Erinnerungen nachtragen müssen. Karl oder besser Kalle – wir nannten ihn Opa Kalle, dass sein richtiger Name Karl war, habe ich erst viel später begriffen – kam in den Garten, holte sich einen Klappstuhl aus seiner Garage, setzte sich und be­gann, ein Kreuzworträtsel zu lösen. Irgendwann gesellte sich Toni dazu. Ebenfalls mit einem Kreuzworträtsel bewaffnet, füllten beide nun ihre Kästchen aus. Es war ungewöhnlich warm an diesem Sonntag (ich will dies hier betonen, weil es in meiner Erinnerung einen zentralen Platz einnimmt). Mein Groß­vater war Diabetiker und hatte außerdem nach einer schweren Magendarmoperation (war es Darmkrebs gewesen?) einen künstlichen Darmausgang, den er, vor sich geschnallt, mit sich herumtrug und ihn viel dicker aussehen ließ, als er in Wirklichkeit war. Aus diesen Gründen musste er sich beim Alkohol zurückhalten, was er auch tat: Er trank seit Jahren nur noch Light-Bier der friesischen Jever-Brauerei und meine Oma hatte sich ihm irgendwann solidarisch angeschlossen. Es war zu einem täglichen Ritual der beiden geworden, diese kleinen, schlanken Flaschen mit dem grün-weißen Etikett zu leeren. Mein Bruder und ich, und eigentlich auch meine Eltern, machten sich lustig über dieses Light-Bier-Getrinke – zumal beide Großeltern nicht in der Lage waren, das englische Wort light auszusprechen, weshalb bei ihnen das Getränk „Jever Licht“ hieß.

Karl hatte Diabetes, nahm Blutdruckpillen ein und war ein kriegsversehrter Mann, Ende 70, dem man nach seiner Darm­operation – bei guter Pflege! – allerhöchstens noch fünf Jahre versprochen hatte. Diese fünf Jahre hatten sich am 17. Mai nahezu verdoppelt. Karl Krüger ruft also seiner Frau Toni, mit der er zu diesem Zeitpunkt fast 50 Jahre verheiratet ist, hinter­her und bittet sie, ausnahmsweise ein Weizenbier aus den Vorräten meiner Eltern mitzubringen. Ich glaube, mich daran zu erinnern, dass sie sich noch einmal umdrehte und nach­fragte: „Bist Du sicher?“ Er nickt und sie geht. Eine Viertel­stunde später sitzen beide wieder da und Karl hält ein großes Glas Erdinger oder Franziskaner Hefeweizen in der Hand. Er trinkt, steht mit dem Glas in der Hand auf und fühlt sich irgendwie nicht gut.

Der Rest des Abends verläuft, soweit ich mich entsinne, unspektakulär. Ich gehe relativ früh ins Bett. Der Vorabend und die Abende davor haben ihre Spuren hinterlassen, wahr­scheinlich falle ich todmüde in mein Hochbett und schlum­mere innerhalb von Minuten ein. Eines der Fenster – es sind drei an der Zahl, die vom Erker meines Zimmers auf die Dorfstraße schauen – ist gekippt. (Ich halte das bis heute so und bilde mir ein, ansonsten zu ersticken.) Gegen halb drei wache ich auf. Die Sirene eines Rettungswagens reißt mich aus dem Schlaf. Sie ist so laut, so nah, dass ich aufstehe und aus dem Fenster sehe: Dort unten, auf der Straße, steht eine Ambu­lanz. Das Blaulicht spiegelt sich in der Scheibe meines Fensters. Das Martinshorn ist mittlerweile abgestellt, der Wa­gen hat sein Ziel erreicht.

Dass sich irgendetwas im Haus meiner Großeltern ereignet haben musste, war mir gleich klar. Dass es sich theoretisch ja auch um meinen Bruder, der im Nebenzimmer schlief, hätte handeln können, kam mir gar nicht erst in den Sinn. Hatte ich schon in diesem Augenblick eine Vorahnung? Dachte ich noch, der Krankenwagen sei wegen meiner Großmutter gekommen? Oder wusste ich schon, dass mein Großvater gerade gestorben war? In der Rückschau will es mir so erscheinen, aber ob hier die Verklärung gute Arbeit geleistet hat oder ob es wirklich so gewesen ist, vermag ich nicht mehr mit Sicherheit sagen.


Ich kletterte die Sprossenwand herunter, die die erste Etage meines Zimmers mit dem Erkerraum verband, und nahm die zwei weiteren Treppen, die hinüber zum Altbau meiner Großeltern führten. Hierzu musste ich den Flur überqueren, der den Alt- mit dem Neubau verbindet. Die Haustür steht sperrangelweit offen. Nothilfeausrüstungsgegenstände stehen im Flur herum, das Blaulicht des Krankenwagens erhellt flackernd blau den schlauchartigen Raum. In der Wohnung der Großeltern sitzt Toni, meine Großmutter, im Sessel. Sie wirkt aufgeregt und schläfrig zugleich. Der Sanitäter teilt mir die schon erahnte unfassbare Neuigkeit mit und sagt, dass er ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt habe. Mein Bruder ist aufge­wacht, herbeigelaufen und steht neben mir. Der Tote liegt oben im Schlafzimmer im Ehebett, es war ein Herzinfarkt. „Da war nichts mehr zu machen, als wir kamen, war er schon tot.“ Der Rettungssanitäter von eben zuckt mit den Schultern: „Mein Beileid.“ Sein Kollege räumt derweil die Gerätschaften wieder zusammen und trägt sie zum vor dem Haus stehenden Kran­kenwagen.

Außer den beiden Sanitätern war noch ein Hausarzt aus dem Nachbardorf anwesend, der mich fragt, ob denn die Eltern nicht zu Hause seien. „Nein, die sind auf Kur“, erwi­dere ich. Die Großmutter im Sessel kommt für einen Moment aus den Tiefen des Beruhigungsmittelrausches zurück in das Hier und Jetzt: „Wir müssen Frau Krick anrufen! Wo habe ich bloß die Nummer?“ Frau Krick und der Tod waren in unserem Dorf nicht voneinander zu trennen; sie leitete das örtliche Beerdigungsunternehmen, eine „Dorfinstitution“, wie der Fri­seur­salon des Toten eine war. Die Sanitäter verab­schieden sich, eine Schiebetür knallt metallen und der Kran­kenwagen fährt ab.

„So, mehr kann ich auch nicht für euch tun. Ich komme dann morgen nochmal vorbei, um ihr eine Spritze zu geben“, sagt der Arzt. „Am besten ihr ruft jetzt irgendwelche Ver­wandten an, dass jemand vorbeikommt ...“, fügt er hinzu und geht. Ich schaue meinen Bruder an. Wir beide sind einiger­maßen überfordert mit der Situation. Keiner von uns traut sich, hochzugehen und den Toten anzuschauen. Ohne den Toten selbst gesehen zu haben, ist die Situation aber reichlich surreal. Habe ich das vielleicht alles nur geträumt?

Meine Oma sackt wieder weg, nicht ohne vorher wiederholt zu haben, dass Frau Krick anzurufen sei. Ich suche im hand­geschriebenen Telefonregister meines Großvaters die Nummer des Beerdigungsunternehmens, finde sie dann aber schließlich im Örtlichen Telefonbuch. Die Wählscheibe des grünen Telekomapparates surrt. Frau Krick verspricht, am frühen Morgen vorbeizukommen. Ich versuche, meine Tante zu errei­chen, die ein paar Dörfer weiter wohnt. Es ist mitten in der Nacht. Irgendwann erreiche ich eine verschlafene Stimme; ihr Mann verspricht ebenfalls am Morgen da zu sein.

Was folgte, war eine der längsten Nächte meines Lebens: Die Großmutter zwischen wachen und apathischen Bewusst­seins­zuständen hin- und herschwankend: plötzlich ganz wach, rational und abgeklärt, dann wieder weit weg und vor sich hin­starrend. Eine zutiefst seltsame Atmosphäre: oben der tote Groß­vater und unten seine unzurechnungsfähige Frau mit ih­ren beiden Enkelkindern.

Für mich war diese Nacht eine Initiation. Ich bin in dieser Nacht erwachsen geworden.


In der Frühe – wir waren wohl kurz auf dem Sofa eingedöst – kommt die Beerdigungsunternehmerin mit ihrem Sargkatalog. Es handelt sich um ein damals noch geläufiges Fotoeinsteck­büchlein, auf einer Albumdoppelseite haben genau zwei Fotos Platz. Links sieht man Särge, rechts den dazugehörigen Blu­men­schmuck. Unter jedem Bild steht der Preis. Umso weiter man blättert, umso teurer werden die Erdmöbel und umso auf­wendiger die Dekoration. (Ob diese Profiteure des Todes wohl heute ein Tablet mitbringen und langsam von einem Sargmodell zum anderen wischen?) Frau Krick löst die angespannte Situation professionell mit einem „Herzliches Beileid“ und meint, jetzt müssten „wir“ ja dieses tun und jenes aussuchen. Die „Wir“-Form verfolgt pädagogische und kauf­männische Ziele. Mich widert das Ganze an. Wir wählen einen einfachen hellen Holzsarg. Ich glaube das billigste Modell. Die Abneigung, der guten Frau Krick Geld in den Rachen zu schmeißen, befördert diese Entscheidung. Außerdem hätte der Tote nicht gewollt, für seine Beerdigung mehr als das unbe­dingt Notwendigste auszugeben. Später bekomme ich dann kritische Bemerkungen von nahen Verwandten zu hören, denen der letzte Gang ihres Vaters zu schnöde war. Gestört hat mich das aber nicht.

Gegen neun kommt dann die ältere Tochter, meine Tante, mit ihrem Mann und eine künstliche Geschäftigkeit erfüllt das Haus. Der Onkel sitzt im Stubensessel liest und kommentiert lauthals die Tageszeitung. Wir beide, mein Bruder und ich, sind wieder die Enkelkinder, die man nicht allzu ernst nehmen muss. Mein Erwachsenensein hat nicht lange angehalten. Irgend­wann kommen dann auch unsere Eltern zurück. Der Tod des Großvaters wird Normalität, die Leiche eingesargt und schnell weggebracht.


Der Geruch des Desinfektionsmittels erfüllt den Flur noch tagelang und ist mir bis heute nicht aus der Nase gegangen. Die Person selbst, die sich da für immer entmaterialisiert hat, spielt bei all diesem schon kaum noch eine Rolle. Mit Es-muss-ja-weitergehen-Phrasen wird die Rückkehr in die Alltagsroutine eingeleitet.

Mein Bruder und ich gehen nach der Beerdigung nicht zum anschließenden Kaffeetrinken in die Dorfkneipe – ein sinn­loses, hohles Ritual, dem Ereignis und dem Toten unwürdig. Wir nehmen stattdessen unsere Räder und fahren zum nächst­gelegenen Baggersee.

Transgenerationales Schweigen



Was mache ich hier nur? Ich sitze seit Wochen, ja Monaten, am Schreibtisch, betrachte uralte Schwarz-Weiß-Fotografien, ana­lysiere Dokumente und Urkunden, treibe mich in tenden­ziösen Internetforen herum und schreibe Notizen in mein kleines rotes Moleskine. Der Zufall will, dass ich dies genau im hun­dertsten Geburtsjahr meines Großvaters tue, um den es bei den ganzen Recherchen ja geht. Das habe ich aber erst bemerkt, als ich im Werk des Nachkriegsschriftstellers Arno Schmidt nach parallelen Mustern, Einstellungen und Thema­tiken suchte und mir hierbei sein Geburtsjahr 1914 auffiel. Was – an anderer Stelle hierzu mehr – nicht die einzige Parallele bleiben sollte.

Wenn ich die Fragen stelle: Wo war mein Großvater Karl Krüger im Zweiten Weltkrieg? Was hat er dort getan? Was hat man ihm damals angetan? Dann frage ich mich zugleich, warum ich das wissen will, denn dies war ja im Grunde die Frage der ersten Nachkriegsgeneration, der ich gar nicht angehöre. Ich bin 1972 geboren. Als mögliche Antwort könnte aber herhalten, dass sich meine Eltern dieser Frage ja nie gestellt haben, mein Fragen also ein ‚nachholendes‘ Fragen ist. So ganz will mir das jedoch nicht einleuchten. Denn das würde ja heißen, dass ich heute hier nicht sitzen würde, wenn meine Eltern ihre Eltern gefragt und meine Großeltern zu einer Auseinandersetzung gezwungen hätten. Ist da vielleicht etwas dran? Vielleicht insofern, als dass meine heutige Beschäftigung mit dem Leben meines Großvaters definitiv eine andere wäre, wenn es in meiner Jugend einen Dialog, einen Austausch über seine Vergangenheit zwischen den drei Generationen gegeben hätte. Dieser Austausch hat aber nicht stattgefunden: Meine Eltern haben nicht gefragt, die ungestellte Frage wurde nicht beantwortet und das Gesamtthema beschwiegen.


Es geht im Kern um Schuld und Leid, aber auch um Erkenntnis. Um eine empathische, die nachfühlen und ver­stehen will. Es will mir erscheinen, als ob der Fluch der Großelterngeneration bis heute auf uns lastet und dies nicht nur in einem kollektiven Sinne einer viel beschworenen deutschen Verantwortung oder Kollektivschuld, sondern auch in einem individuellen und psychologischen. Es ist ein dunkler Schatten, der kaum sicht- oder wahrnehmbar – und oft nicht einmal mehr seinem Ursprung zuordenbar – auf uns lastet. So fühlt es sich für mich zumindest gerade an.

Solche über Generationen hinweg weitergegebenen Trau­ma­erfahrungen sind mir zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern begegnet. In den Jahren 2009 bis 2013 koordinierte ich ein türkisch-armenisches Versöhnungsprojekt, das versuchte, junge Erwachsene aus bei­den Ländern über die Arbeit mit Zeitzeugen einander näher­­zubringen. Die Teilnehmer des Projekts führten unter wis­sen­schaftlicher Anleitung Interviews mit älteren Armeniern und Türken durch. In Armenien konnten wir über 100 Zeit­zeugen-Interviews, teilweise bis zu zwei Stunden lang, trans­kri­bieren, sodass ein ganzes Archiv an Geschichten entstanden ist. Es war für mich sehr faszinierend zu hören, wie detailliert sich diese Menschen an etwas erinnerten, was sie selbst nicht erlebt hatten. Ja, an etwas, was sogar ihre Eltern nicht selbst erlebt hatten. Einige der Interviewten waren sogar so jung, dass es sich bei ihren Erinnerungen schon um Überlieferungen der Urgroßeltern handelte. Kein Wunder, waren doch die Verbrechen um das Jahr 1915 begangen worden. Das, an was sie sich erinnerten, war also über bis zu vier Generationen weitergegeben worden. Auf türkischer Seite, also der Täter­seite, herrschte eine ähnliche Situation wie bei uns vor: im Prinzip nicht viel mehr als Schweigen.

Die Armenier, mit denen unsere Projektteilnehmer spra­chen, vermittelten mit ihren überlieferten Geschichten über Mord, Vergewaltigung und Vertreibung vor allem eines: ein tiefsitzendes transgenerational überliefertes Trauma. Es gibt Studien hierzu, die besagen, dass diese traumatischen Erleb­nis­se mit zunehmender Distanz zu ihrer Entstehung nicht abneh­men, sondern sich sogar verstärken können. So war auch mein Eindruck bei diesen Interviews. Gut erkennbar war, dass das, was überliefert wurde, sich mehr und mehr aus dem kulturellen Gedächtnis der Nation speiste und dass der Anteil tatsächlich überlieferter Erinnerungen der Vorfahren abnahm.

Die Sozialpädagogin Kristina Tambke spricht davon, dass traumabezogene Gefühle und deren Aufarbeitung an die nach­folgenden Generationen delegiert werden. Dies trifft sowohl auf die Armenier als auch auf meinen Untersuchungs­­gegen­stand zu. Das nicht thematisierte angerichtete und ertragene Leid, die fehlende Aufarbeitung und Auseinander­setzung mit der eigenen Vergangenheit mündeten und münden in emo­tionales Schwei­gen. Eine Stille, die die erlittenen Traumata emotional ver­schweigt. Wer in dieser Atmosphäre auf­wächst, bleibt hier­von nicht unberührt. Emotional ver­schlos­sene Eltern und Groß­eltern erziehen Kinder, die ebenfalls ver­schlos­sen sind. In der Familie entsteht ein gene­rations­übergreifender Verdrän­gungs­me­chanismus. Die Kinder nehmen Teile dieses Leids unbewusst auf und machen es zum Teil ihrer eigenen Identität, ohne die eigentlichen trauma­tischen Erlebnisse zu kennen. Es ist dann ein fremder Teil des eigenen Ichs. Da das Trauma an sich gar nicht mehr bewusst ist, ist es umso schwerer, diese Delegation zu erkennen und sie aufzuarbeiten. In der Familie herrscht ein unausgesprochenes Gebot, dass über das Trauma selbst und auch über seine generationsübergreifende Präsenz nicht ge­sprochen wird. Die Weitervererbung des Traumas plus Schwei­ge­gebot werden zu einer belastenden Krankheit für die Familie. Das Problem wird aber gar nicht erkannt, die einge­schränkte emotionale Kom­munikationsfähigkeit, da nicht er­kannt, als normal angesehen. In einer solchen Umgebung bin ich aufge­wachsen, in einer ähnlichen scheinen meine Eltern aufge­wachsen zu sein.


Ich bin immer noch dabei, mir erklären zu wollen, warum ich hier sitze, warum ich das Leben meines Großvaters erforsche, warum ich wissen will, wo er zwischen Mai 1942 und Kriegs­ende war. Denn über diese Zeit gibt es keine Hinweise. Alles scheint wie ausgelöscht, vernichtet vielleicht. Vielleicht will ich verstehen, wieso es so war, wie es war in meiner Familie. Viel­leicht will ich mir erklären, warum ich selbst so bin, wie ich bin, und nicht anders kann.

#Reminder



Ich gehe auf und versinke im Schlamm meiner Erinnerungen

Überall an den Wänden meines Zimmers hängen Reminder

Ihre vermeintlich heimelige Nostalgie starrt mich an

Ihre bohrenden Blicke schnüren mir die Kehle zu

Ich will sie in einen großen Umzugskarton werfen und wegsperren im Keller

Aber sie wehren sich so heftig, sie schreien: „Fass uns nicht an! Lass uns da, wo wir sind!“

Sie drohen auszupacken und die ganze Wahrheit zu sagen

Ich lasse sie also, wo sie sind, und versuche, an ihnen vorbei, durch sie hindurch zu schauen

Manchmal setze ich mich in ein anderes Zimmer, um ihnen zu entkommen

Schon zieht es mich zurück hierher

Das Arbeitszimmer meines Großvaters



Das Arbeitszimmer meines Großvaters war vielleicht acht Quadratmeter groß. Rechter Hand stand ein massiver dunkel­brauner Holzschreibtisch im Art-Deco-Stil, schätzungs­weise aus den 1930er-Jahren. Links und rechts hatte er Türen, hinter ihnen ausziehbare Läden in hellem Holz mit englischem Zug. In der Mitte eine mächtige Schublade, deren Frontplatte sich stilbrechend in den Raum hineinwölbte. Rechts neben dem Schreibtisch stand ein Eckschrank aus den 1960er-Jahren, in dem Aktenordner und – wenn ich mich recht erinnere – Foto­alben lagerten. Über dem Schreibtisch, in die Wand gedübelt, aus derselben Zeit, ein Regal bestehend aus zwei Brettern, die auf einem schwarzen filigranen Metallgerüst auflagen. Auf den Regalbrettchen standen kleine Modelle von Kriegsflugzeugen (eine Hawker Hurricane der Royal Air Force war darunter) – ich erinnere mich daran, wie sie Karl an seinem Schreibtisch sitzend zusammenbaute. Ich fand das damals komisch, im Sinne von seltsam, ihn so dasitzen zu sehen, einen erwach­senen Mann, der Plastikflugzeuge zusammensteckt. Ich habe ihn damals gefragt, warum er das macht, und ich glaube, ein „Einfach nur so!“ als Antwort erhalten zu haben. An der gegenüberliegenden Wand zum Schreibtisch standen ein Tisch und ein kleines Sofa. (Oder war es ein Sessel? Hier ver­schwimmt meine Erinnerung.)

Die Großeltern wohnten in einem Fachwerkhaus mit angebautem Friseursalon, ihrem Friseursalon. Vom Flur aus ging es links in die Küche und rechts in das Wohnzimmer, die Stube. Vom Flur führte eine gedrehte Holztreppe in das zweite Geschoss, wo sich auch das Arbeitszimmer befand. Setzte man einen Fuß auf die Treppe, so knatschte sie wie die Sargdeckel in gruseligen Vampirfilmen – so zumindest die Wahrnehmung des damals 14- oder 15-Jährigen. Man trat also in die Wohnung ein, sah die Großmutter in der Küche werkeln, wollte aber zum Großvater, fragte, wo er denn sei, bekam die Antwort „Im Arbeitszimmer“, stieg die quietschende Treppe hinauf und sah ihn gedankenversunken an seinem Schreibtisch sitzen. Erfreut mit einem Lächeln schaute er dann auf. Halb weiter mit seinen Schreibarbeiten beschäftigt, halb sich schon auf die Anwesen­heit seines Enkels konzentrierend, fragte er schließ­lich: „Na, was ist los?“ oder nutzte eine andere belanglose Floskel, um in den Dialog einzusteigen. An einem dieser Tage, es muss Mitte der 1980er-Jahre gewesen sein, habe ich angefangen, ihn nach dem Krieg zu fragen.

Was hatte damals nur meine Neugier am Krieg geweckt? Sicherlich spielte da die Schule eine Rolle, die das „Dritte Reich“ jedes Jahr aufs Neue thematisierte (den Holocaust hin­gegen fast gar nicht!). Eine Rolle spielten bestimmt auch meine musikalischen Vorlieben, geprägt durch den Platten­schrank meines Vaters, der zwar selbst nie ein Hippie gewesen war, ihre Musik aber liebte. Ich hörte mit großem Interesse Eric Burdon & The Animals, versuchte, die Texte rauszuhören, zu verstehen, um was es ging – was mir dank des fortschreitenden Englischunterrichts auch immer besser gelang. Burdon sang über den Vietnamkrieg, über Protest, Da­gegensein und einen anderen, mir exotisch und spannend er­schei­nenden Lebensstil, weit weg von meinem Dorf. Irgendwie kam eins zum anderen und die Frage der 68er war meine Frage geworden, wohl auch, weil sie von meinen Eltern nie gestellt worden war.

Ich wollte aber nicht nur wissen, was mein Großvater womöglich im Krieg verbrochen hatte, sondern war insgesamt an der Schilderung des Krieges und des Erlebten interessiert. Diese eher grundsätzliche Neugier überwog ganz klar. Zorn verspürte ich jedenfalls keinen. Das unterschied mich von den Fragern der ersten Generation, die es ja in unserer Familie nicht gegeben hatte. Die Kriegserlebnisse der Großväter waren bis dato kein Thema gewesen, es war in unserer Familie, als wäre ein geheimes Schweigegelübde verabredet gewesen: We­der meine nach dem Krieg geborenen Eltern noch meine Großeltern redeten darüber. Wann immer man das Thema anschnitt, erntete man nichts als eine Stille, gefüllt mit Unbe­hagen, oder ein paar nichtssagend hingeworfene Sätze, deren Intonation eindeutig keine Lust auf ein Weiterfragen oder Nachhaken machte.

Nichtsdestotrotz nahm ich also eines Tages, vielleicht im Jahr 1986, all meinen Mut zusammen und begann, meinen Großvater zu fragen, am Anfang ganz allgemein und unver­fänglich, etwa so: „Sag mal Opa, wo warst du denn überall im Krieg? An welchen Orten, meine ich?“ Er war wahrscheinlich sehr verdutzt, als er zum ersten Mal eine solche Frage aus dem Mund seines halbwüchsigen Enkelsohnes hörte. Und ich bin mir sicher, dass er die Frage mit einer Handbewegung abgetan hätte, wenn sie jemand aus der Generation seiner eigenen Kinder gestellt hätte. Aber seinem Enkel konnte er eine Ant­wort schlecht abschlagen. Er war ja unverdächtig. Er zögerte, wog ab und entschied sich dann dafür, nicht einfach zu schwei­gen, sondern zumindest irgendetwas zu entgegnen. Viel­leicht dachte er: „Na gut, ich werde jetzt irgendeine lustige Anekdote erzählen und dann ist wieder Ruhe.“ Was er dann bei unserer ersten Interviewrunde in seinem Arbeitszimmer er­zählte, war dann auch mehr eine Anekdote. Ich glaube, es ging um eine Begebenheit zu Beginn des Krieges, bei der Besetzung Frankreichs. Er hatte einer Nachschubeinheit ange­hört und sie hatten in einem besetzten Dorf oder auf einem Landgut den Sektkeller geplündert. Für die Kameraden hatten sie anschlie­ßend eine feuchtfröhliche Party veranstaltet. Das ist das, woran ich mich so ungefähr erinnern kann. Schon früh fragte ich ihn, ob er denn auch im Osten an der Front gewesen sei, zum Beispiel in Stalingrad. Gelogen hat Karl mir gegenüber, so glau­be ich, nie. Er antwortete dann immer: „Ja, in Stalingrad war ich auch.“ Aber er sagte es so, dass mir klar war, dass es besser war, nicht weiterzufragen.

Im Laufe der nächsten Monate und Jahre habe ich ihn immer wieder gefragt und mit jeder kleinen Geschichte, die er mir erzählte, wuchs meine Neugier, mehr über diese mir fremde, ferne und abenteuerlich erscheinende Zeit zu hören. Es faszinierte mich, meinen Großvater noch einmal ganz an­ders und neu kennenzulernen. Er zeigte mir Fotografien, auf denen ein junger, gutaussehender Mann Mitte zwanzig zu se­hen war, er schilderte endlos Episoden aus seiner Zeit bei der Wehrmacht, erzählte von weiten Landschaften, fremden Städten und Völkern. Ich war begeistert. In meinen Kopf ent­standen Bilder und ganze Abenteuerfilme, wenn er erzählte. Ich sah mich selbst als Soldaten weit weg von zu Hause ... Es ging eine seltsame Anziehungskraft von diesem Krieg und seinem Teilnehmer, meinem Großvater, aus. Diese jugend­lichen Tagträume wurden aber immer von einem bitteren Beigeschmack getrübt, denn ich wusste ja, was alles an Leid und Unrecht von Deutschland und deutschen Soldaten ausge­gangen war. Ich spürte so etwas wie ein Schuldgefühl, gar nicht so sehr wegen der Taten meiner Vorfahren, sondern weil ich mich so bedenkenlos dem abenteuerlichen Schwelgen, der Fantasie, Soldat zu sein, hingegeben und somit Verrat an meinen eigenen Überzeugungen verübt hatte, sah ich mich doch selbst als überzeugten Pazifisten. Eine aus diesem Gefühl herauswachsende Verantwortung, gepaart mit einem unstill­baren Bedürfnis, mehr über die Schrecken dieses Zweiten Weltkrieges, von dem ich so viel gehört hatte, zu erfahren, trieb mich dazu, meinen Großvater mehr und mehr mit Fragen über Stalingrad, über das Töten, über den Tod per se zu quälen. Er beantwortete die Fragen zunächst einmal gar nicht. Dann – nachdem ich nicht locker ließ und ihm erklärte, dass es doch für meine Generation wichtig sei, darüber mehr zu erfahren, dazu noch aus erster Hand, von einem der dabei gewesen wäre – begann er, immer noch sehr widerwillig und zögerlich, jedes Wort minutenlang abwägend, erst bruchstückhaft, dann etwas zusammenhängender zu berichten. Seine Erzählungen blieben auch weiterhin auf einzelne Episoden beschränkt, er erzählte, woran er sich vierzig Jahre nach Kriegsende noch erinnern konnte; und ich bin mir sicher, dass er die trau­matischsten Erlebnisse weiterhin für sich behielt. Ich selbst erinnere mich heute – noch einmal fast dreißig Jahre später – nicht mehr an alles, was mir Karl damals erzählte. Zwei Episoden haben sich mir aber tief ins Gedächtnis eingebrannt. Ich erinnere mich genau an die Stimme meines Großvaters, die Atmosphäre und an meine Gefühle während des Zuhörens: Auf meine Frage, ob er denn auch jemanden erschossen hätte, damals im Krieg, antwortete er ausweichend und erzählte die Geschichte von einem Deserteur. (Jetzt, beim Niederschreiben dieser Erinnerungen, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob nicht meine Frage eine andere gewesen ist, ob ich nicht vielmehr fragte, warum er nicht einfach abgehauen sei, wenn im Krieg doch alles so schlimm gewesen sei.) Karl antwortete auf diese Frage mit einer Geschichte von einem Kameraden, der es nicht mehr aushielt an der Ostfront und sich selbst mit seiner Dienstwaffe in den Oberarm schoss. Um die Wunde authentisch aussehen zu lassen und um die Kugel abzu­bremsen, legte er einen Laib Brot auf den Arm, setzte die Pistole mit ihrer Mündung an, drückte ab und schoss sich eine Kugel durch den Arm. Ich glaube, mich zu erinnern, dass sich diese Begebenheit beim Vormarsch oder beim Sturm auf die Innenstadt von Stalingrad im September 1942 zugetragen hat. Jedenfalls fanden die Sanitäter Brotkrumen in der Wunde und überstellten den Verwundeten der Kriegsgerichtsbarkeit, die ihn als Deserteur zum Tode verurteilte. Die Soldaten der ei­gen­en Einheit mussten das Urteil vollstrecken und den Kame­raden standrechtlich erschießen. Ob mein Großvater selbst zu dieser Einheit gehört hatte, er also selbst Teil des Erschie­ßungskommandos gewesen war, ließ er offen, und ich wagte es nicht, weiter nachzuhaken. Eine bedrückende Stille beherrschte den Raum, nachdem Karl zu Ende erzählt hatte. Nach ein paar Minuten Schweigen lösten wir die Gesprächs­situation irgend­wie auf, und ich verließ das Arbeitszimmer.

Diese Geschichte reichte mir nicht aus. Ja, sie war scho­ckierend und erzählte von der Brutalität des Krieges, was mich ja auch brennend interessierte, aber sie spielte nicht direkt an der Front, im Schützengraben. Der Deserteur war schließlich durch die Kugeln der eigenen Soldaten gestorben, aber ohne Feindkontakt. Und war er nicht auch ein wenig selbst schuld? Da schlugen sie wieder, die beiden Herzen in meiner Brust.

Die nächste Gesprächssituation ergab sich vielleicht erst Wochen später. Ich wollte mehr hören, noch Schlimmeres, eine Art Sensationsgier machte sich in mir breit. Ich bohrte, er zögerte, wich aus, versuchte, das Thema auf etwas anderes zu lenken, ich blieb hartnäckig, und er begann, über etwas zu berichten, dass für ihn sehr schmerzvoll gewesen sein muss: Sie lagen eingegraben irgendwo im heutigen Russland oder der Ukraine, vielleicht war es auf der Krim. Plötzlich hörten sie das Zischen einer Granate, das Geschoss flog direkt auf sie zu und schlug direkt neben ihm ein. Karl hatte sich geduckt, den Kopf rechtzeitig eingezogen, das Gesicht verdeckt. Rauch, Stöhnen, Hilferufe der Verletzten, langsam verließ Karl seine Schutzhaltung und schaute sich um. Dort, wo neben ihm sein Kamerad – an den Namen erinnere ich mich nicht – im Graben gelegen hatte, war nur noch der Rumpf seines Körpers erkennbar. Dort, wo eben noch sein Kopf gesessen hatte: nichts. Im Arbeitszimmer lag ein Knistern in der Luft – Stille, mein Großvater unterdrückt mit Mühe die Tränen. Auch ich bin betroffen und meine Neugier ist fürs Erste gestillt. Es läuft mir kalt den Rücken herunter. Karl braucht einige Minuten, um seine Fassung wiederzuerlangen.

Kurze Zeit später zeigt Karl mir sein auseinanderfallendes Soldbuch, weil ich gefragt hatte, ob er denn bei der SS gewesen sei. Es hatte mich einige Überwindung gekostet, diese mir seit sehr langer Zeit auf den Lippen brennende Frage tatsächlich zu stellen. Sie zu beantworten, war mit Sicherheit nicht einfacher. Das Büchlein mit der Aufschrift „Soldbuch und Personalausweis“ ist in eine schwarze Lederhülle gekleidet. Auf der ersten Innenseite lächelt mich ein sehr junger Soldat Karl Krüger an und auf Seite drei sind seine Beförderungen eingetragen, zwei an der Zahl: am 3. Februar 1940 zum Ge­freiten einer Nachschubeinheit und am 1. Dezember 1941 zum Ober­gefreiten des 5. Infanterie-Regiments 194. Weitere Ein­tra­gungen sind nicht zu sehen. „Ich hatte großes Glück, dass die Beförderung zur SS nur mit Bleistift eingetragen worden war. Als uns klar wurde, dass wir demnächst in Gefangenschaft gehen würden, habe ich den Eintrag einfach herausradiert. Das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Denn die SS-Angehörigen sind gleich zu Anfang aussortiert worden, ich habe meine Kameraden nie wiedergesehen. Ich glaube, die Russen haben die sogleich alle erschossen.“

Ich nehme das Heft, führe es ganz dicht vor meine Augen und halte es gegen das Licht. Ich will sehen, ob es dort Anhalts­­punkte, Überreste gibt, die die Geschichte meines Großvaters stützen. Während ich das tue, frage ich mich insgeheim, ob ich wirklich entsprechende Hinweise finden möchte oder lieber doch nicht. Sollte ich mir nicht besser wünschen, dass er nicht Teil der SS war? Aber irgendwie geht trotzdem ein Nerven­kitzel von der Idee aus, dass er, der hier neben mir sitzt, Teil dieser Mördertruppe gewesen sein soll. Ich prüfe das vergilbte Blatt von beiden Seiten ganz genau; ich kann keinen ein­deutigen Hinweis darauf finden, dass hier etwas entfernt wurde. Ich bin erleichtert und enttäuscht zugleich.

„Und wie bist du da reingekommen, in die SS?“, fragte ich weiter. „Das war ganz am Ende des Krieges in Russland, als schon alles egal war, die hatten einfach nicht mehr genug Leute. Da haben die mich gefragt und ablehnen konnte man das nicht, und plötzlich war ich in der SS, in der Waffen-SS wohlgemerkt.“


Wenn ich heute hier an meinem Schreibtisch in Tiflis sitze und in meinen Garten schaue, frage ich mich, während ich dies tippe: Und was hat er da gemacht? Was waren seine Aufgaben bei der SS? In welche Gräueltaten war er verwickelt? Fragen, die höchst wahrscheinlich jeder von uns mit den zwei Runen assoziieren würde. Leider habe ich ihn all diese Fragen damals nicht gefragt, mich nicht getraut, zu fragen. Nicht getraut, weil ich ihn nicht verletzen wollte? Weil ich mein Bild von ihm nicht zerstören wollte? Weil ich mich selbst nicht mit einem solchen Erbe belasten wollte? Hinzu kam sicherlich, dass er auch keine Anstalten machte, weiterzureden; nonverbal gab er zu ver­stehen: bis hierher und nicht weiter. Wie auch in seinem Kriegs­bericht behielt er einen (entscheidenden?) Teil seines Lebens – die Zeit von Anfang Mai 1942 bis zur Entlassung aus der sowjetischen Gefangenschaft im Juli 1945 – für sich.

Manchmal holte Karl auch sein braunes Fotoalbum aus dem kleinen Eckschrank im Arbeitszimmer: Auf schwarzer Foto­pap­pe, geschützt durch milchige Transparentpapiere mit Spinn­­webmuster und mit Fotoecken fixiert sind dort an die drei­hundert Schwarz-Weiß-Fotos eingeklebt. Mit dem Album auf dem Schreibtisch saßen wir dann zusammen, gingen die Fotos durch und Karl erzählte: „Hier auf dem Vormarsch nach Frankreich ... Aha, das war an der Maginot-Linie. Und hier, das war mein Kamerad Willi in Luxemburg. Hier war ich ein­quartiert in Laußnitz. Das ist ein Truppenübungsplatz irgend­wo bei Berlin.“ Fotos, die ihn an die traumatischen Erlebnisse an der Ostfront – in Kiew, Charkow oder Stalingrad – erin­nerten, überblätterte er unkommentiert, wenn ich nicht um Erklärung bittend insistierte.

Seinen Kriegsbericht hat Karl in einen langen, schmalen Kalender eingetragen, den er, wenn wir über den Krieg re­deten, zu Hilfe nahm, um sich zurückzuerinnern. Im Kalen­der sind die Stationen des Krieges mit Datum und Ortsangabe verzeichnet. Nicht alle.

Kriegsbericht – Teil 1



Der Kriegsbericht von Karl Krüger umfasst nur zweieinhalb Schreibmaschinenseiten. Er beginnt mit der Auflistung: „Meine mir noch bekannten Feldpostnummern“. Danach folgen Na­men und Adressen von fünf Kriegskameraden und die „Ad­res­sen von Quartieren während des Krieges“, wie am Rand handschriftlich vermerkt ist. Es sind also nicht nur die Namen und Adressen der Kameraden, sondern auch die der Familien und Einzelpersonen, bei denen er während des Krieges unter­gekommen war. Danach folgen, Satz an Satz, Datum an Da­tum, kurz und knapp, die Stationen des Gefreiten, dann später Obergefreiten, Karl Krüger. Auf der Mitte der dritten Seite endet der Bericht mit den Sätzen: „Wir wurden dann auf einen Brückenkopf eingesetzt über eine Kettenbrücke kamen wir auf diesen Brückenkopf. Nach etwa 14 Tagen begann dann der weitere Vormarsch.“ Das letzte genannte Datum ist der 10.05.1942. An diesem Tag kam die 71. Infanterie-Division in Charkow, in der Ukraine an, schreibt Karl und vermerkt lapidar: „Die 71. Division kam bei der Kesselschlacht um Scharkow nicht mehr zum Einsatz.“ Übertitelt ist der Kriegs­bericht jedoch mit der Zeitangabe „Vom 27.08.1939– 29.07.1945“. Warum endet hier der Bericht nach nur zwei­einhalb Seiten im Mai 1942?

Im grauen Ordner, in dem dieser Kriegsbericht zu finden ist, ist auch ein einzelnes Kalenderblatt eingeheftet: Es stammt aus einem Wochenkalender der Firma Gieseke in Hannover, die bis heute mit Friseurbedarf handelt, und umfasst den Zeitraum zwischen den beiden Sonntagen 26. Januar und 1. Februar. Leider fehlt die Jahresangabe, die sich aber nach einigen Recherchen ermitteln lässt: Zwischen 1930 und 1993 fiel der 26. Januar genau zehnmal auf einen Sonntag. Schaut man sich nun das abgerissene Blatt noch einmal genauer an und bezieht die nicht beschriebene Rückseite in die Berech­nung mit ein, so ist für den 28. Januar und den 4. Februar der Stand des Mondes eingetragen, zunehmender Mond und Voll­mond. Legt man nun beides übereinander, so kann das Jahr eindeutig bestimmt werden: Das Kalenderblatt ist von 1958.


Hat er es noch im gleichen Jahr beschrieben oder war es ein alter Kalender, der erst später, in Ermangelung einer Alter­native oder in einem Anflug von protestantischer Sparsamkeit, für den Kriegsbericht herhalten musste? Unwahrscheinlich, dass er ihn noch im gleichen Jahr, als der Kalender noch gültig war, nutzte. Vielleicht ein oder zwei Jahre später, das erscheint mir realistischer. Also 1959 oder 1960? Diese Datierung wirft dann aber neue Rätsel auf, denn wie hat er sich an all die exakten Daten und Adressen des Kriegsberichtes erinnern können, es waren ja mindestens dreizehn Jahre seit Kriegsende vergangen (wenn wir vom frühestmöglichen Jahr 1958 ausge­hen). Irgendwo musste er das alles vorher schon einmal aufge­schrieben haben. Auf losen Zetteln? In einem Kriegs­tage­buch? Es findet sich in seinen Sachen leider kein Anhalts­punkt, der hier weiterführen würde. Hat er die ur­sprüng­lichen Auf­zeichnungen nach dem Übertragen in den Kalender ver­nichtet? Wenn ja, warum? Hat er bei der Auswahl dessen, was er über­tragen hat, aussortiert, gefiltert? Hatten die ursprüng­lichen Aufzeichnungen auch die Zeit von Mai 1942 bis zum Kriegs­ende 1945, so wie der getippte Bericht ja übertitelt ist, umfasst?

In einen solchen Spiralkalender, ein Werbegeschenk der Hannoveraner Firma, hatte Karl seinen Kriegsbericht (oder war das schon die zweite Version?) handschriftlich eingetragen, den eigentlichen Kalender einfach überschreibend. Das ein­zige schon erwähnte, noch erhaltene Blatt beginnt mit dem durchgestrichenen letzten Satz des getippten Berichtes: „[D]ann begann der weitere Vormarsch.“ Danach folgt: „In rus­sischer Gefangenschaft ... Gottswalden (oder Gottswaldern) ... bei Luckenwalde.“ Das Wort „Gottswalden“ ist mit einem krakeligen Strich umkreist, der Stadtname „Luckenwalde“ mit ebensolcher Strichführung unterstrichen. Die nächsten sechs Tages­felder enthalten keine Schrift; den ersten Februar ziert eine weitere Ortsangabe: „Jüterboch (oder Jüterbock)“ – ge­meint ist wohl das bei Luckenwalde liegende Jüterbog. Den Rand hat Karl (in Gedanken versunken?) mit gleichmäßigen Stri­chen markiert. Jeder kurze Strich ein weiteres Ereignis, das dem unvollendeten Kriegsbericht später hinzugefügt werden sollte. Oder markieren diese Striche die Begebenheiten, die Karl bewusst ausgespart hat?