Handreichung für die Lektüre von Die Sünde der Frau

Natürlich bin ich einem vorgefassten Gedanken gefolgt, als ich die Biographien von Marilyn Monroe, Marguerite Duras, Patricia Highsmith und Jane Bowles las. Diesen Gedanken offeriere ich Ihnen als Handreichung für die Lektüre meiner kleinen Essays über die vier talentierten Frauen. Ich versuche in der Beschreibung ihrer Leben eine Erklärung für ihr selbstzerstörerisches Verhalten zu finden. Hat es damit zu tun, dass ihr originärer Charakter, ihr origineller Kopf, ihr Talent sie für ein traditionelles Frauenleben ungeeignet machen und sie unter der Außenseiterrolle leiden? Hat es damit zu tun, dass sie die Freiheit der Selbstbestimmung suchen, auch die Freiheit, sich zugrunde zu richten? Eine Reihe von Übereinstimmungen im Leben der vier Frauen springen sofort ins Auge: der frühe Verlust des Vaters beziehungsweise dessen Fehlen, die komplexe Beziehung zur Mutter, die Entscheidung, für den Auf‌tritt auf der öffentlichen Bühne einen anderen Namen anzunehmen. Biographische Fakten, doch was bedeuten sie für das Innenleben der vier Frauen?

 

Wahrscheinlich beginnt alles beim Ursprung aller Ursprünge, beim berühmtesten abwesenden Vater der Literatur. Das erste Buch der Bibel, Genesis, handelt von der Entstehung der Welt und des Menschen. Die Geschichte ist bekannt, selbst dem, der die Bibel nie gelesen hat. Adam und Eva sind die ersten, von Gott geschaffenen, Menschen auf Erden, sie wohnen in einem paradiesischen Garten, sind göttlich und unsterblich, unwissend und somit unschuldig, und um das bleiben zu können, brauchen sie nur ein einziges Gebot zu befolgen: Sie dürfen nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen. Verführt vom Teufel in Gestalt einer Schlange, verstößt Eva gegen dieses Gebot Gottvaters, isst von den verbotenen Früchten und verleitet Adam dazu, es gleichfalls zu tun. Wegen der Sünde der Frau verbannt Gott den Menschen aus dem Paradies und nimmt ihm seine Unsterblichkeit. Die Erbsünde ist Fakt. Seit den Menschen die Augen aufgegangen sind, seit sie die Unschuld der Unwissenden verloren haben, sind sie sich darüber bewusst, dass sie nackt sind, und schämen sich. Dank des Sündenfalls werden Adam und Eva zu den menschlichen, allzu menschlichen Stammeltern von unsereins, von Männern und Frauen, die Gut und Böse auseinanderhalten können und die mit einem Bild vom Tod leben. Ob man sich für das Gute oder das Böse entscheidet, setzt voraus, dass man genügend Vorstellungskraft besitzt, sich beides auszumalen wie auch die Strafe, die ein Verstoß gegen Gebote nach sich zieht.

Ich betrachte die Erbsünde als Sünde der Imagination. Dass auch Gott selbst von der Imagination abhängig ist, um existent sein zu können, glauben die einen und andere nicht.

 

»Good girls go to heaven, and bad girls go everywhere«, wusste schon Mae West. Marilyn Monroe, Marguerite Duras, Patricia Highsmith und Jane Bowles verstoßen jede auf ihre Weise gegen Regeln. Sie durchbrechen die Schranken des Anstands, ihres Geschlechts, der herrschenden Moral. Sie tun das, um frei, souverän und autonom zu sein, um nach ihren eigenen Regeln leben zu können. Für alle vier gilt, was Marilyn Monroe in ihrem letzten Interview zu einem Journalisten des Magazins Life sagte: »Wenn ich mich an alle Regeln gehalten hätte, hätte ich es nie zu etwas gebracht.«

Alle Frauen in diesem Band erwarten freilich, ob bewusst oder unbewusst, dass sie für ihre Regelverstöße bestraft werden. Die Geißel Gottes verweigern sie dennoch: Sie unterwerfen sich nicht dem Mann. Die Tragödie der sündigen Frau ist, dass sie sich einem strengeren Richter als Gott unterwirft, nämlich sich selbst. Die Frauen entscheiden sich aus freien Stücken für die Verbannung aus einem vorgeschriebenen, häuslichen Leben und einem vertrauten Land und bestrafen sich selbst dafür mit der schleichenden Zerstörung ihres Lebens mittels Alkohol und Drogen oder indem sie Selbstmord begehen. Im Leben der sündigen Frauen gehen Maßlosigkeit und Vergeudung mit all ihren Risiken über die konservative Selbsterhaltung. Phantasiebegabte Frauen neigen zu Maßlosigkeit, Verschwendung, Genusssucht und fühlen sich von einem gefährlichen Leben und dem Tod magisch angezogen. Die Freude am Dasein lässt sich nur in der Unmäßigkeit ausleben.

 

Für Männer ist Einsamkeit von Heroik und Souveränität umgeben – the lone ranger, der Rebell, der Säulenheilige, Jesus Christus. Wenn aber eine Frau der Gemeinschaft den Rücken kehrt und die Einsamkeit sucht, ist von Heldentum, Aufstand oder Autonomie keine Rede. Eine Frau, die sich nicht an ihre natürliche Bestimmung hält, verrät die Gebote der Erhaltung des Lebens und der Sicherung des Fortbestands der Menschheit. Durch ihr Bündnis mit dem Tod stellt die originäre, souveräne Frau eine Bedrohung dar. Nur unter dem Deckmäntelchen der Heiligkeit wäre es ihr daher möglich, sich der Gemeinschaft, der Ehe und der Mutterschaft zu entziehen, wenn sie ins Kloster ginge oder Mystikerin werden würde. Die Ehe mit Gott erfordert zwar ein Höchstmaß an Einbildungskraft, doch die heilige Frau entzieht sich dem Spiel von Sein und Schein, an dem die Frauen in diesem Buch zugrunde zu gehen drohen. Für Monroe, Duras, Highsmith und Bowles ist ein Teil der Wirklichkeit zu schmerzlich. Die vaterlosen Kinder erfahren die Liebe der Mutter als erstickend und suchen schon früh in ihrem Leben nach Wegen, wie sie aus dem Kerker eines konventionellen Frauenlebens ausbrechen können. Sie legen sich ein Image zu, mit dem ein unerträglicher Teil ihrer Herkunft getilgt werden soll, und versuchen so, mit der Bürde der Originalität zu leben. Das Image schützt Norma Jean Baker, Marguerite Donnadieu, Mary Patricia Plangman und Jane Auer vor zu großem seelischen Schmerz, es ist eine eigene Schöpfung, sui generis, aus sich selbst heraus, so etwas wie eine Neugeburt. Mit dieser Seite ihres Selbst treten sie über die Schwelle in die Öffentlichkeit. Doch ein Tag hat vierundzwanzig Stunden, und zu Hause warten die Monster. In der Abgeschlossenheit des persönlichen Lebens kann der Star, das Image oder die Figur die reale, leidende und verlassene Person nicht ersetzen oder verschleiern. Alkohol und Tabletten können das schon, und sie sorgen für die täglichen »kleinen Selbstmorde«, wie Arthur Miller das selbstzerstörerische Verhalten Marilyn Monroes in seiner Autobiographie Timebends (dt. Zeitkurven) nennt. Die dargestellte Andere, das Image, hat in den beschriebenen Leben offensichtlich nicht das Vermögen, die Frauen von sich selbst zu befreien. Was im Deutschen so schön Erlösungssehnsucht genannt wird, ist auch die Sehnsucht nach Auf‌lösung, die Sehnsucht, nicht mehr da zu sein, das Selbst daranzugeben und so vom beschädigten Kind befreit zu werden.

Marilyn Monroe

19261962

New York City, 15. September 1954. An der Lexington Avenue in Höhe der 52nd Street stöckelt eine offenherzig gekleidete Blondine auf ein Entlüftungsgitter der U-Bahn, um sich Kühlung zufächeln zu lassen. Als ein Zug unter ihr hindurchfährt, weht ihr Rock hoch. Verzückt girrend presst sie den Stoff zwischen ihre Schenkel, um ihre nackten Beine und ihr Höschen zu verhüllen.

Wirklich passiert und doch nicht echt.

Nicht nur die laufende Kamera Billy Wilders verrät, dass die Frau eine Rolle spielt und hier der Trailer zu dem Film The Seven Year Itch (dt. Das verflixte siebente Jahr) aufgenommen wird. Komplett irreal wird das Ganze dadurch, dass es zwei Uhr nachts ist, etwa fünfzehnhundert johlende Zuschauer und Hunderte Fotografen hinter Absperrgittern Zeugen der Aufnahme sind, es keine unter der Frau hindurchrasende U-Bahn ist, die ihren Rock hochbläst, sondern ein Mann mit Windmaschine, und dass die Frau an die vierzig Mal auf das Gitter tritt und mit immer gleicher freudiger Begeisterung so tut, als überrasche und berausche sie die aufsteigende Luft. Nichts davon ist echt. Außer vielleicht die Verzückung der Frau. Sie tut so, als sei diese kühlende Brise von unten der reinste sinnliche Genuss, doch was sie wirklich genießt, das sind die Kameras, die auf sie gerichteten Blicke vieler Hunderter, die Männer, die pfeifen und Beifall klatschen, sowie ihr Höschen sichtbar wird, und die brüllen, der Rock solle noch höher fliegen, mehr, noch einmal.

Die Frau in dem weißen Neckholder-Kleid ist Marilyn Monroe. Und Marilyn Monroe existiert erst, wenn Menschen auf sie schauen.

 

Unter den fünfzehnhundert Zuschauern befindet sich einer, der anders auf sie schaut als alle anderen, dessen Blick nicht der anonyme Blick ist, der Marilyn Monroe erschafft und sie brillieren lässt, sondern im Gegenteil, es ist der eifersüchtige Blick des Mannes, der sie wirklich liebt: ihres zweiten Ehemanns Joe DiMaggio, des berühmtesten Exbaseballspielers der USAa one year itch