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Nördliche Hemisphäre

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Südliche Hemisphäre

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kapitel1

Vorwort

Von Gesa Neitzel

Wir gehören einer Generation an, die Selbstfindung (oder Selbstsuche – je nachdem, wen man fragt) zum erklärten Lebensziel gemacht hat. Das eigene Innenleben nach außen zu tragen, ist für uns »Millennials« eine so selbstverständliche Beschäftigung geworden wie das Atmen.

Wir klagen über unsere ständige Erreichbarkeit und die Schnelllebigkeit unserer schönen neuen Welt – und können doch gleichzeitig kein Abendessen mehr miteinander verbringen, ohne mindestens dreimal unser Smartphone auf Neuigkeiten zu überprüfen oder – noch schlimmer – den Teller aus jedem möglichen Winkel zu fotografieren. Das Paradox unseres eigenen Seins ist uns dabei gar nicht mehr bewusst. Wir leben es schließlich tagtäglich.

Aber nun mal ehrlich: Dieses Gemecker über den Ist-Zustand kann doch auch keiner mehr hören. Tatsächlich möchte ich heute nämlich ein ganz anderes Bild malen.

Ich sehe Hoffnung!

Hoffnung, dass wir diese Show am Ende gut über die Bühne bringen werden; dass unsere Generation aufgrund weltweiter Vernetzung herausragende Dinge erreichen wird; Grenzen, kulturelle Unterschiede und eingerostete Glaubenssätze überwinden und ein frisches Bewusstsein schaffen kann. Klar, dass wir zunächst mal mit all unseren neuen Möglichkeiten selbst zurechtkommen müssen, bevor wir über den Tellerrand hinausschauen können. Aber das sei uns doch bitte auch gestattet.

Reisen zu fremden Orten kann uns dabei helfen, Horizonte zu erweitern, Grenzen zu überschreiten, Fragen zu stellen, Antworten zu finden, Menschen zu begegnen, Vorurteile aus der Welt zu schaffen, Leidenschaften zu erforschen, Fehler zu machen, an sich selbst zu wachsen.

»I wish I had never gone traveling – said no one. Ever.«

Egal, wie schön oder scheußlich eine Reise ist; egal, wie lang oder wie kurz wir verschwinden; egal, wie nah wir bleiben oder wie weit wir gehen – irgendetwas nehmen wir von unterwegs immer mit. Dabei dient die Reise an sich oftmals nur als Mittel zum Zweck. Wir wollen raus aus dem Alltag, weg, was erleben! Erst später, wenn der Rucksack, zerfetzt und abgenutzt, im Keller verstaut wurde, stellen wir fest, dass die Nebenprodukte des Reisens – das Verstehen fremder Kulturen, neue Sprachkenntnisse, neue Leidenschaften und Freundschaften, der Sinn für die einfachen Dinge des Lebens – auf einmal wichtiger werden, als jede Selbstfindung es jemals hätte sein können.

Denn wenn ich eines in den Gesichtern dieser, unserer reisenden Generation sehe, dann ist es Durst. Hunger. Der Drang danach, etwas in dieser Welt zu bewegen.

Es wird uns oft vorgeworfen, wir seien nur noch auf unser eigenes Wohl bedacht und hätten jeden Sinn für Gemeinschaft verloren. Dass wir alle einpacken können, weil unsere Generation nichts weiter als Egoisten und Selbstdarsteller hervorgebracht hat? – Nee, komm jetzt.

Ich glaube, das Gegenteil bahnt sich gerade an.

In diesem Buch geht es nicht um Selbstdarstellung. Es geht um Begegnungen. Um Freundschaften. Es geht um die Autoren selbst, die sich in der Fremde zurecht- und vielleicht auch ein bisschen selbstfinden müssen. Vor allem aber um Menschen. Um uns Menschen, die wir – trotz unserer Unterschiede – doch alle ähnlich ticken.

Und ich glaube fest daran, dass wir, wenn unser Durst nach der Fremde erst mal gestillt ist, wenn uns die eigene Selbstfindung als Motivation für das Reisen schlichtweg ungenügend wird und alle Selfies geschossen sind, dass wir dann am anderen Ufer patschnass, vom Gegenwind gepeitscht und mit einem Seesack voller Erfahrungen ankommen und unseren Blick endlich auf das richten werden, was nicht nur uns selbst, sondern diesem unbeschreiblich großen Ganzen dient, das wir in den Jahren unterwegs mit all seinen Facetten kennenlernen durften.

Johannes Klaus sammelt in den Travel Episodes – und auch über die Kanten dieses Buches hinaus – Geschichten von jungen und von erfahrenen Autoren, die vor allem eines verbindet: der Glaube daran, dass man sich selbst nirgends näherkommt als auf Reisen. Er hat ein Gespür für besondere Geschichten und ist von einer Bescheidenheit, die so ganz im Gegensatz zu der selbstdarstellerischen Tendenz von uns »Millennials« steht … Ich erinnere mich noch genau an unseren ersten E-Mail-Kontakt. Ich saß irgendwo auf Bali bei einer Luftfeuchtigkeit von gefühlten 90 Prozent und mit einer verkrusteten Wunde am Hinterkopf, die ich mir beim Surfen zugezogen hatte, und ich war so verloren wie ich es als alleinreisende Backpackerin damals nur sein konnte. Ich wusste nicht wohin mit mir. An diesem Tag folgte ich spontan seinem Aufruf für neue Reise-Autoren.

Lieber Johannes, ich habe dir das so nie gesagt, aber dass du mich damals in deinen Schreibpool aufnahmst, hat mir die Welt bedeutet – warst du doch der erste Fremde, der meine Geschichten für gut befand. Und dank deiner E-Mail fand meine eigene Geschichte über die Jahre mehr und mehr Buchstaben, Wörter und Kapitel. Es braucht Menschen wie dich, die Menschen wie mir eine Plattform geben. Nicht zuletzt deshalb, um den Glauben an sich selbst ein klein wenig zu stärken. Ich bin sicher, dass es vielen der jungen Autoren in diesem Buch da ganz ähnlich geht. Und dafür möchte ich dir Danke sagen.

In 26 dieser Geschichten dürft ihr, liebe Leser, nun eintauchen. Mögen sie euch an ferne Orte entführen. Mögen sie euch Lebensweisen näherbringen, die ihr so nie für möglich gehalten hättet. Mögen sie euch inspirieren und zum Staunen bringen. Und Mut machen, euch selbst und die Welt kennenzulernen.

kapitel1

Vorwort

Von Johannes Klaus

Dieses Grün! Ein Leuchten, fast albern, als hätte sich Mutter Natur in einem übermütigen Moment ein Späßchen erlaubt. Grüner als grün sozusagen. Nichts ist vergleichbar mit der Farbe eines jungen Reisfelds.

Das kleine Örtchen Batad auf der philippinischen Insel Luzon ist umgeben von hohen Bergen und nur über einen schmalen Trampelpfad erreichbar. Im Gegensatz zu uns beiden sind es die Menschen hier gewohnt, Waren bergauf, bergab zu tragen, und als wir schweißtriefend das Dorf erreichen, hat uns so mancher Mann mit einem ausgewachsenen Baumstamm auf dem Rücken munter plaudernd überholt.

Es ist herrlich. Kein Motorenlärm unterbricht das Zirpen der Grillen, mal kräht ein Hahn. Ein Hund bellt, das ist sein Job. Wir sitzen, genießen den Blick über die majestätischen Reisterrassen und quatschen.

Krusty, Le Chiffre, der Schwede: mein Freund Alex hat viele Namen. Und doch ist er unverwechselbar. Sollte man denken!

Budva, Montenegro. Ich kaufe einen Wurstzipfel, ein anderer Mann Tomaten. Die Verkäuferin verwechselt uns, wir lachen – und werden beste Freunde. Noch oft werden wir gemeinsam reisen, viele Lieder singen, manchen Übernachtbus überleben und fantastische Abenteuer erleben. Das Grün philippinischer Reisfelder bewundern. Doch was das Schönste ist: das Lachen begleitet uns – egal, wo wir sind.

Als ich ein paar Monate zuvor meine große Reise begann, stieg ich in Mannheim in den Zug nach Wien, ich war allein. Es regnete, ich fühlte mich nicht gerade wohl: Den Job hatte ich gekündigt, und nun wollte ich so lange die Welt bereisen, wie meine Ersparnisse reichten, ohne genauen Plan – und trotz aller Vorfreude hatte ich vor diesem Abenteuer gehörigen Respekt.

Ein gutes Jahr später komme ich zurück in die Heimat, kein anderer Mensch, doch in vielen Punkten gewandelt. Ich habe ohne festen Reisepartner viele Länder erkunden dürfen und den Luxus genossen, mich dabei selbst besser zu verstehen. Ich habe mich gezwungen, meine Schüchternheit, mit der ich mich mein Leben lang plage, abzulegen, Kontakte zu knüpfen, mich zu öffnen. Ich merkte, dass ich Zeit allein brauchte, aber auch auf andere Menschen angewiesen war. In den Reise-Flow kommen, das dauert eine Weile. Dann ergeben sich – ganz natürlich – die unvoreingenommenen Begegnungen mit Fremden, die mich nicht in den Kontext meines alten Lebens daheim einordnen, sondern nur das sehen, was mich in diesem Augenblick ausmacht.

Je länger und öfter ich unterwegs bin, desto unwichtiger werden Sehenswürdigkeiten. Das Salz in der Suppe und das Sahnehäubchen auf der Erdbeertorte einer Reise sind die Menschen, denen ich begegne – manchmal sind es lose Bekanntschaften, manchmal werden es neue Freunde.

Menschen in der Fremde, in ihrer Heimat kennenzulernen, ist ein einmaliges Erlebnis und bietet Einblicke in ganz andere Lebenskonzepte, die mich das hinterfragen lassen, was ich in Deutschland als selbstverständlich hingenommen hatte. Selbstlose Herzlichkeit, fast unvernünftige Gastfreundschaft zu erleben, ist berührend – und manchmal fast beschämend.

Kontakte mit anderen Reisenden bringen, in seltsam schneller Vertrautheit, den nötigen Austausch (man hat so viel gemeinsam, ob man nun aus Kanada, Frankreich, Schweden oder Neuseeland kommt) und jede Menge gute Laune. Und hin und wieder ist eine Bekanntschaft der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, die eine Reise überdauert, wie mit Alex. Eine tolle Erfahrung.

In diesem Band erzählen die Autoren von ihren eigenen, besonderen Begegnungen – fröhlichen und furchterregenden, inspirierenden und irritierenden. Wortlose Gespräche mit zentralasiatischen Nomaden, die entwaffnende Ehrlichkeit eines deutschen Kreuzfahrt-Reisenden oder einige Wochen mit einem griechischen Aussteiger – alle guten Geschichten haben Menschen im Mittelpunkt. Und erzählen dabei mehr über ferne Länder, fremde Kulturen und das Reisen, als es bloße Fakten je vollbringen könnten.

Gute Reise!

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kapitel1

Südsee

AUF DER RÜCKSEITE DES GLOBUS

Ich befinde mich auf maximaler Distanz zu meiner Heimat und zu allem Bekannten, und damit müsste ich jetzt eigentlich verdammt nah am Gegenpol sein: dem Unbekannten. Dem Exotischen. Dem maximal Fremden. Aber was ist das überhaupt, das Fremde?

Von Daniel Rössler

Wenn du nach Fidschi fliegst, dann ahnst du, dass du dich nach und nach an den Rand der Welt bewegst. Dorthin, wo alles hinter dir liegt und vor dir nur noch ein paar Inseln und der nächste Sonnenaufgang. Dorthin, wo die Zeit aufhört. Oder wo sie beginnt. Je nachdem, wie du es sehen willst. Ich persönlich sehe das eher entspannt, meine Meinung zu Fragen der Datumsgrenze ist nicht sehr ausgeprägt. Ich weiß, dass man dort als Erster den Tagesanbruch erleben, Silvester feiern und den Countdown zu einem neuen Jahrtausend runterzählen kann, aber wie oft kommt so was schon vor? Nicht oft genug jedenfalls, um sich deshalb gleich eine eigene Meinung bilden zu müssen, und schon gar nicht, um sich deswegen zu streiten.

Mein Sitznachbar sieht das ein wenig anders. »Wir waren die Ersten!« sagt Salesi und schnaubt durch die Nase. »In Fidschi geht die Sonne weltweit als Erstes auf, und deshalb gab es bei uns auch den ersten Sonnenaufgang des Millenniums.« Ich erinnere mich vage an diesen seltsamen Streit. »War das nicht in Kiribati?« Schnauben. »Oder Tonga?« Lautes Schnauben. Ich entschließe mich, den Mund zu halten, mir fallen ohnehin keine weiteren pazifischen Zwergstaaten ein.

Der Kampf um den ersten Sonnenaufgang war jedenfalls schmutzig.

Zeitzonen wurden verschoben, neue Sommerzeiten eingeführt, Tourismusprospekte gedruckt. Ein Kampf mit allen Mitteln. Der Sonne war das aber ziemlich egal, die scherte sich nicht um Hochglanzbroschüren und geografische Gutachten und ging am 1. Januar auf wie immer. Salesi scheint es mittlerweile auch egal zu sein. Die Stewardess hat das Essen gebracht und ein Bier, beides lässt er sich hörbar schmecken und schnaubt nicht mehr.

Ich schaue aus dem Fenster und weiß nicht, worüber ich mich mehr wundern soll: Über Grenzen und den Ärger, den sie selbst dort verursachen, wo man sie nicht sehen kann? Über die Geschwindigkeit, mit der Salesi gerade sein zweites Bier austrinkt? Oder über die endlosen Wassermassen, die unter uns liegen wie eine flüssige Wüste? Seit Stunden blicke ich nach draußen und hoffe jedes Mal, etwas zu erblicken, das nicht blau ist und Pazifik heißt. Aber da ist nichts anderes, seit einem halben Tag nicht.

Alles blau, alles Pazifik, so weit das Auge reicht.

Ich weiß, ich weiß – wenn man in eine Gegend reist, die unmissverständliche und vor Feuchtigkeit triefende Namen wie »Ozeanien« oder »Südsee« trägt, sollte man ein bisschen Wasser schon aushalten können. Versuche ich ja auch. Aber 714 Millionen Kubikkilometer sind eben ziemlich viel. Ich komme aus einem alpinen Binnenstaat, die größte zusammenhängende Wassermasse in meiner näheren Umgebung ist ein öffentliches Schwimmbad mit 1,80 Meter Beckentiefe und Badeschluss um 17 Uhr. Und jetzt befinde ich mich über einem Ort, der flüssig ist und nichts als flüssig, in dem Wasser regiert und Land im besten Fall geduldet ist. Einem Ort, der auf den meisten Weltkarten ganz rechts oben und auf einigen gar nicht mehr eingezeichnet ist. Einem Ort, der auf so ziemlich jedem Globus in so ziemlich jedem Kinderzimmer dieser Erde auf seiner abgewandten Rückseite liegt. Dort, wo man nur durch Zufall hintippt und danach Staub am Finger hat.

Die Stewardessen tragen weiße Blumen im Haar und die Männer große Bäuche vor sich her, das sind die einzigen Exotika, die bisher auffallen. Aber der Innenraum eines Flugzeuges eignet sich auch nicht besonders für ethnologische Beobachtungen. Flugzeug-Innenräume sind kulturelle Vakuumkammern, sie sehen immer gleich aus, egal, ob man über die sibirische Steppe fliegt oder über den Südpazifik. Aber im Moment bin ich ganz froh darüber: über den Pazifischen Ozean zu fliegen und nicht über die russische Tundra, froh über die nette Stewardess mit der schönen weißen Blume im Haar und einem kalten Fiji Bitter in der Hand. Ich trinke mein Bier und lächle beseelt auf das Meer, das sich im abendlichen Licht langsam rosarot färbt.

Eine Woge der Zufriedenheit strömt durch meinen Körper, und ich ahne in diesem Moment nicht mal ansatzweise, dass ich in wenigen Wochen in einer russischen Propellermaschine über genau diesem Meer um mein Leben zittern werde. Es wird nicht rosarot sein, sondern schwarz wie der Schlund der Hölle, und es wird kein Bier geben und keine Stewardess mit Blume im Haar. Aber das weiß ich jetzt alles noch nicht, und deshalb bestelle ich ein zweites Bier und freue mich. Ich fliege nach Fidschi, an das Ende der Welt. Oder in ihre Mitte, je nachdem, wie man es sehen will.

Fidschi

Wieso im Paradies geputscht wird. Warum es dort nach Curry riecht. Und wie ich aus Höflichkeit Drogen nehme.

»Wir sind die Mitte, ganz klar« sagt Vishal und dreht die Musikanlage seines Taxis immer lauter. Indischer Pop dröhnt aus den Boxen, die wackeligen Seitenfenster vibrieren mit dem Bass. Es ist früher Abend in Suva, wir sind zuerst am Meer entlanggefahren und bewegen uns jetzt im Schritttempo durch die engen Straßen der Hauptstadt. Draußen leuchten Reklameschilder und die bunten Hemden der Passanten, drinnen die Ziffern des Taxameters. Eigentlich sollte ich zu Fuß gehen – das Zentrum von Suva ist klein, mein Hotel nur wenige Minuten vom Flughafen entfernt, der Rucksack leicht –, aber Vishals Musik ist einfach zu gut. Der Schmalz des Hindu-Pop trieft auch hier, inmitten des Pazifiks, und er liefert den passenden Soundtrack für dieses Land und diese Stadt. Suva ist ein Schmelztiegel, und es fühlt sich urban an, wie ein Zentrum. Vielleicht nicht unbedingt wie das Zentrum der Welt, dafür ist es mit seinen 160 000 Einwohnern dann doch etwas zu klein, aber zumindest wie das Zentrum des Südpazifiks, und definitiv wie das Zentrum des Landes. Hier ballt sich das politische und kulturelle Leben, hier werden die Geschicke der Nation geleitet und ihrer zwei großen Haupt- und unzähligen Nebeninseln. Und hier fährt Vishal mit dem Taxi. Seit zehn Jahren schon, aber einfach ist das nicht. »Ich fahre jede Nacht, außer am Sonntag, und am Ende des Monats hab ich trotzdem nie genug Geld.«

Im Taxi riecht es nach Curry, seine Frau kocht es jeden Tag für ihn, und er isst es, während er auf die nächsten Fahrgäste wartet.

In Fidschi wird viel Taxi gefahren, weil die Fidschianer nicht gerne zu Fuß gehen, und es wird viel Curry gegessen, weil fast die Hälfte von ihnen indische Wurzeln hat. »Mein Ururgroßvater ist damals von Indien nach Fidschi gezogen«, erzählt Vishal, irgendwann vor oder nach 1900, so genau weiß er das nicht mehr. Zigtausend andere Inder haben dasselbe gemacht, denn auf Fidschi brauchte man dringend Plantagenarbeiter, und die britische Kolonialregierung hat Vishals Urahnen und all die anderen einfach von einer Kolonie in die andere katapultiert. Die meisten sind geblieben, aber sie sind schon lange keine Plantagenarbeiter mehr – und auch keine Inder. »Wir sind Indo-Fidschianer. Und das hier ist unsere Heimat!« Er schnalzt mit der Zunge und knipst eine bunte Lichterkette an, die vorne auf dem Armaturenbrett ausgebreitet ist. Suva sieht bei Nacht ein bisschen aus wie Vishals Armaturenbrett: bunt und freundlich leuchtend.

Aber es kann auch genauso schnell dunkel werden, wenn jemand den falschen Schalter drückt.

Denkt man an Fidschi, dann denkt man zu allererst ans Paradies. An weiße Strände, türkises Wasser, an Palmen und Kokosnüsse mit Strohhalmen drin. Das ist auch alles da – mein Gott, und wie es da ist! –, aber zur gleichen Zeit gilt Fidschi offiziell immer noch als Entwicklungsland. Die Wirtschaft schwächelt, die sozialen Spannungen zwischen fidschianischen Ureinwohnern, den iTaukei, und den Indo-Fidschianern schwelen vor sich hin, und die politische Lage ist labil. Vier Mal wurde innerhalb von 20 Jahren geputscht, das macht eine gestürzte Regierung alle fünf Jahre. Kein schlechter Schnitt, aber eine denkbar schlechte Basis für eine funktionierende Demokratie. Beim vorletzten Coup wurden der Premierminister und seine Mitarbeiter sogar 55 Tage lang in Geiselhaft gehalten, im Parlamentsgebäude, mitten in der Stadt.

Ich hoffe, dass ihnen damals irgendwer Curry vorbeigebracht hat. Wäre es nämlich das Curry von Vishals Frau gewesen, dann hätte den Gefangenen die Geiselhaft wahrscheinlich gar nicht so viel ausgemacht, und der schmerzliche Machtverlust wäre ratzfatz vergessen gewesen. Anders kann ich es mir jedenfalls nicht vorstellen, als mir Vishal von seinem Murgh Makani zu kosten gibt. Ich nehme einen ersten Bissen, einen zweiten, und spätestens beim dritten danke ich dem Ururgroßvater dieses Taxifahrers dafür, dass er Indien verlassen und dieses wundervolle Essen nach Fidschi gebracht hat.

Am nächsten Morgen laufe ich durch die Stadt, und stelle fest: Fidschianer sind ausgesprochen freundliche Menschen. »Bula!«, ruft die Rezeptionistin, als ich mein Hotel verlasse. »Bula!«, ruft der Straßenkehrer, der den Gehweg sauber macht. »Bula!«, ruft der Schuhputzer im Park. »Bula!« der Polizist an der großen Straßenkreuzung. »Bula!«, ruft jeder zweite Passant, und spätestens gegen Mittag bin ich des fidschianischen Dauer-Hallos etwas überdrüssig. Ich glaube, ich muss essen, ich bin erschöpft und zu hungrig für diese Freundlichkeit. Ich schleppe mich durch Straßen und »Bula«-Salven, und als ich endlich am Markt ankomme, bessert sich meine Stimmung innerhalb von Minuten. Auch die Marktfrauen schleudern »Bulas« durch die Gegend wie Chinesen Tischtennisbälle, aber sie haben eben nicht nur Worte anzubieten, sondern auch volle Tische: Die biegen sich, unter Fischen und Hummern, unter Kochbananen und Yamswurzeln, unter Papayas und Wassermelonen, unter Dingen, die ich nicht kenne und die ich trotzdem esse und von denen ich jetzt weiß, dass es Seegurken waren. Am Abend ist mir ein bisschen schlecht. Aber ich habe Suva gekostet, und es hat geschmeckt. Außerdem habe ich auf dem Markt noch etwas gefunden, von dem ich schon viel gehört und das ich ausgesprochen dringend gebraucht habe: Eine Kava-Wurzel. Eine Droge, ohne die hier gar nichts geht. Und meine Eintrittskarte in das ländliche, traditionelle Fidschi.

Wer ein fidschianisches Dorf besucht, kommt nicht mit leeren Händen und geht nicht mit leerem Bauch.

Hände und Bauch müssen voll sein mit Kava, ansonsten hat man etwas falsch gemacht. Es ist weit nach Mitternacht, als ich zum zwölften Mal eine Schüssel mit brauner Flüssigkeit gereicht bekomme. Ich glaube, ich habe heute ausnahmsweise alles richtig gemacht. Ich kann aber nicht ganz ausschließen, dass die zwei Liter Drogen in meinem Körper vielleicht ein wenig auf mein Urteilsvermögen wirken. Denn mein Urteil ist im Moment ein ziemlich gutes, und zwar über so ziemlich alles: Ich finde, dass die morgendliche Busfahrt von Suva nach … ähh … an … diesen Ort, an dem ich zwei Stunden später ausgestiegen bin, ausgesprochen schön war. Ich finde, dass der Typ, der mir im Bus eine Wanderkarte gezeichnet hat, ein Geschenk des Himmels war und künstlerisch talentiert. Ich finde, dass der Trek durch das fidschianische Hinterland reizvoll, die Landschaft umwerfend und jedes einzelne Dorf entlang des Weges faszinierend war.

Und ich finde, dass es eine verdammt gute Idee war, den Rucksack zuvor mit ausreichend Kava-Wurzeln vollzustopfen. Denn sonst säße ich jetzt nicht hier, hätte nicht Einlass in dieses Dorf erhalten, würde nicht auf eine riesige Holzschüssel und zehn freundliche Gesichter blicken. Oder sind es nur fünf? Meine Zunge ist schwer und fühlt sich taub an. Ich befinde mich definitiv in berauschtem Zustand. Aber es war verdammt kompliziert, so weit zu kommen. Wer sich in einem fidschianischen Dorf einen Rausch antrinken will, der muss eine Menge Regeln einhalten:

Regel 1: Betritt das Dorf erst, nachdem du dem Häuptling ein Gastgeschenk gebracht und seine Erlaubnis erhalten hast.

Regel 2: Bring als Gastgeschenk Kava. Eine andere Offerte als die Pfefferwurzel – entweder im Ganzen oder zu Pulver zerrieben – wird nicht akzeptiert.

Regel 3: Bereite dich darauf vor, dieses Gastgeschenk, zu einer braunen Flüssigkeit verarbeitet, in großen Mengen und in großer Runde gemeinsam mit deinen Gastgebern zu konsumieren.

Regel 4: Übergib dich nicht, wenn du das Zeremonialgetränk zum ersten Mal riechst.

Regel 5: Folge strikt dem Protokoll. Der Zeremonienmeister schöpft das Getränk aus der Tanoa-Schüssel in der Mitte des Kreises, reicht die Schale dem Ranghöchsten in der Gruppe, danach dem Zweitranghöchsten und so weiter.

Regel 5b (nur für Soziologen oder Gruppentherapeuten oder andere Nerds): Erkenne an dieser ersten Runde, wer im Dorf das Sagen hat, und erkenne, wo du selbst in diesem Gefüge stehst. Wenn du die Schale als Allerletzter erhältst, akzeptiere, dass du als Nerd erkannt wurdest.

Regel 6: Übergib dich nicht, wenn du den ersten Schluck der braunen Flüssigkeit trinkst. Übergib dich auch nicht beim zweiten.

Regel 7: Klatsche dreimal in die Hände, wenn eine Schale geleert wurde.

Regel 8: Bereite dich auf eine lange Nacht vor.

Meine Nacht ist lang, aber ich habe mich bisher nicht übergeben, und ich habe geklatscht wie meine Oma beim Musikantenstadl. Zu Beginn nur aus Höflichkeit, nach der ersten Runde aber – nachdem das Ritual befolgt, die Hierarchie abgesteckt und der erste Brechreiz überwunden war – immer mehr aus purer Freude. Freude daran, eine neue, unverfängliche Droge kennengelernt zu haben. Freude, für das Trinken beklatscht zu werden. Und Freude an diesen liebenswerten Menschen, die mich in ihr Dorf und in diesen Kreis aufgenommen haben. Draußen wiegen sich die Silhouetten der Kokosnusspalmen im Wind, dahinter leuchten die Sterne, und hier drinnen leuchten und lachen wir. Ich bin weit weg von zu Hause, weiter weg als jemals zuvor, und wahrscheinlich so weit weg, dass es weiter weg gar nicht mehr geht. Aber ich sitze hier trotzdem nicht bei Fremden. Links sitzt Isaac, rechts sitzt Kosi, und in der Mitte sitzt Livai und reicht mir gerade mit einem Lachen meine dreizehnte Schale Kava. Ich fühle mich nicht fremd. Ich fühle mich geborgen.

Salomonen

Warum es auf den Salomon-Inseln keine Ampel gibt. Wie ich dort einen Tag mit John F. Kennedy verbrachte. Und wieso wir alle im selben Lastwagen sitzen.

Ich muss gestehen: Es gab eine Zeit, da wusste ich nicht, dass es die Salomonen gibt. Und diese Zeit ist noch gar nicht so lange her. Das ist natürlich peinlich, ich weiß, aber der Inselstaat ist ja auch wirklich ausgesprochen klein. Und abgelegen. Und still. Das soll keine Ausrede sein. Es ist eine Liebeserklärung.

Ich bin noch nicht mal aus dem Flugzeug gestiegen und bin diesem Ort schon verfallen. Diesem Flecken Erde, nein, diesen unendlich vielen Fleckchen Erde, die da inmitten des pazifischen Nirgendwos verloren aus dem Wasser ragen. Und die, wenn man genau hinschaut, manchmal sogar schon untergegangen sind. »Shortly we’ll be arriving at Honiara Airport«, krächzt es durch den Lautsprecher. Ich schnalle mich an und habe das Gefühl, gerade noch rechtzeitig gekommen zu sein.

So dringlich scheint die Lage dann aber doch nicht. Zumindest nicht am Flughafen, dort bewegt sich alles langsam und ohne Hast: der Ventilator an der hölzernen Decke der Ankunftshalle, das quietschende Gepäckband, der vor sich hin summende Zollbeamte. Ich spüre, dass dieses Land nicht unmittelbar gefährdet ist, denn mit solch zeitlupenartiger Geschwindigkeit bewegt sich nur, wer sich absolut sicher ist, dass es ein Morgen gibt. Dass am nächsten Tag die Welt noch steht und die Insel nicht im Meer versunken ist. Und dass man die Dinge deshalb nicht überstürzen muss, sondern mit aller Ruhe, mit Bedacht und Gemächlichkeit angehen kann.

»Sicherheit durch Gemächlichkeit« – der Gedanke gefällt mir.

Während ich mich sicher und gemächlich fühle und mit Ruhe und Bedacht auf meinen Rucksack warte, den das quietschende Gepäckband bisher noch nicht zutage gefördert hat, und dabei leicht schwitze, weil sich der Ventilator so langsam dreht, dass man seine Rotorblätter einzeln erkennen kann, schaue ich nach draußen. Tropische Mittagshitze flirrt vom Asphalt der Landebahn, es ist ruhig, nichts bewegt sich. Nicht die weißgrüne Boeing, die verrostet und ihrer Turbinen entledigt am Rand des Flugfeldes lehnt. Nicht das Feuerwehrauto, das ohne Reifen gegenüber im Gras liegt und aus dessen Inneren ein Busch wächst.

Mein Gefühl von Sicherheit schwindet. Zu viel Gemächlichkeit ist wahrscheinlich auch nicht gut, denke ich mir, während ich wieder auf das Gepäckband starre und schwitzend warte.

Irgendwann aber kommt mein Gepäck und irgendwann auch der Hotelbus, der mich und zwei australische Anzugträger in die Stadt bringt. Der jüngere der beiden hat einen sehr roten Kopf, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob es wegen der eng gebundenen Krawatte ist oder weil er so laut mit seinem Kollegen redet, dass jeder im Bus mithören kann. »Ich war schon mal hier, damals, wegen dem AN-Deal.«

»Ich weiß. Und, wie war es?«

»Ganz okay. Aber es gibt im ganzen Land keine Ampel, stell dir das mal vor.«

»Wahnsinn.«

»Und das Beste ist: Es gab mal eine, in den Neunzigerjahren. Bevor sie die aufgestellt haben, haben sie die Bevölkerung monatelang vorbereitet: Rot heißt stehen bleiben, Grün heißt fahren. Mit Plakaten und Radiospots und allem Drum und Dran.«

»Und dann?«

»Und dann, als das Ding endlich aufgestellt war und rot geleuchtet hat, sind alle stehen geblieben. Überall!«

»Wie, überall?«

»Überall, Mann! Sie sind einfach überall stehen geblieben. Fußgänger, Autofahrer, egal, wo sie gerade unterwegs waren, sie sind einfach stehen geblieben. Nicht nur vor der Ampel, sondern auch 200 Meter weiter weg oder am Gehsteig oder was weiß ich wo.«

»Haha, abgefahren!«

»Danach haben sie die Ampel wieder abmontiert.« Der Ältere lacht jetzt noch lauter, und der Jüngere rückt sich seine Krawatte zurecht und grinst. Ob die Geschichte wohl stimmt? Ich suche das Gesicht des Busfahrers im Rückspiegel, doch der konzentriert sich auf die Straße und lässt keine Reaktion erkennen. Während der ganzen Fahrt hoffe ich, doch irgendwo eine Ampel zu sehen oder vor einer stehen bleiben zu müssen, nur, um mich dann laut räuspern, gewichtig den Kopf schütteln oder irgendeinen Witz machen zu können, der mit Ampeln und roten Köpfen zu tun hat und den ich mir erst noch zu Ende überlegen muss. Aber so weit kommt es leider nicht, denn es gibt tatsächlich keine einzige Ampel in der Hauptstadt dieses Landes.

Und um ehrlich zu sein, auch sonst nicht besonders viel. Es gibt einen Markt, ein paar Straßen. Insgesamt verfügt Honiara über den Charme eines kosovarischen Umspannwerks. Ich weiß, das klingt gemein, und ich fühle bei diesem Satz einen Krawattenknoten an meinem Hals, aber schon zwei Tage nach meiner Ankunft bin ich wieder weg. Habe ich meine Liebeserklärung zu früh ausgesprochen?

Nein, aber wahrscheinlich ist es so wie in jeder Beziehung: Man muss den anderen akzeptieren, wie er ist. In seiner Gesamtheit. Mit all seinen Mängeln. Es mag keine Ampeln geben auf den Salomonen, und die Hauptstadt wird es niemals zum UNESCO-Weltkulturerbe schaffen. Es mag Handyempfang nur geben, wenn man viel Glück hat und noch dazu gutes Wetter. Es mag ein Ort sein, an dem Telefonnummern nur fünf Ziffern haben. Aber wen kümmert das?

Wer zur Hölle braucht eine Ampel, wenn es um einen herum 900 Inseln gibt?

Ich bin seit zwei Wochen in Ozeanien unterwegs, und ich schwöre: Ich habe in dieser Zeit nicht ein einziges Mal eine Ampel vermisst. Ich habe an das Meer gedacht; an sein glasklares Wasser, an seine Korallen und Fische, die jeden Tauchgang zu einer psychedelischen Grenzerfahrung machen, an die unendlichen Schattierungen von Blau. Ich habe an den Wald gedacht; an seine dichte Vegetation, an die Geräusche, die aus seinem Inneren tönen wie aus einem riesigen, verwachsenen Subwoofer, an mächtige Baumriesen und Lianen, an die unendlichen Schattierungen von Grün. Und ich habe an Menschen gedacht; an ehrliche Augen und warmes Lachen, an die unendlichen Schattierungen von Herzlichkeit. Ich habe an vieles gedacht, aber eine Ampel war nicht dabei.

Vielleicht liegt das daran, dass Fortbewegungsmittel mit Rädern hier eher ein Nischendasein führen. Wer von A nach B will, der macht das mit dem Flugzeug oder mit dem Boot, denn zwischen A und B liegt mit ziemlicher Sicherheit keine Straße. Zwischen A und B liegt Dschungel oder Wasser oder beides zugleich.

Es ist Freitagabend, und die letztwöchige Reise durch die Provinz Malaita steckt mir noch in allen Knochen. Stundenlange Bootsfahrten durch strömenden Regen, Fußmärsche durch dichten Wald, Flüge mit handgeschriebenen Tickets und handbekurbelten Tankfüllungen. Der östliche Teil des Landes ist rau und touristisch unerschlossen, seine Erkundung eine logistische Herausforderung. Wer sie annimmt, wird belohnt, aber hat sich danach auch ein paar Tage Entspannung verdient. Ein paar Tage am anderen Ende des Landes zum Beispiel, auf den postkarten-idyllischen Inseln der Western Province. Ein paar Tage am Strand, im Wasser, vorm Bier, weit weg von allen Fragen, die mit A und B und ihrer Überbrückung zu tun haben. Doch mir gegenüber sitzt Paul, und Paul sagt Sätze wie: »Da musst du unbedingt hin!« und »Transport ist kein Problem.« Ich traue Paul, denn Paul ist ein lustiger Salomoner, und er hat mir gerade ein Bier spendiert. Außerdem ist er gewissermaßen vom Fach: Transport, aber vertikal. Paul ist Lifttechniker. Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt habe, dass es auf den Salomonen insgesamt zwei Lifte gibt. Und dass sich beide im selben Gebäude befinden. Ich glaube, ich brauche nicht hinzuzufügen, dass Paul über relativ viel freie Zeit verfügt. Und über Ideen, wie ich die meine möglichst stress- und sinnvoll nutzen könnte. »Also, wenn du schon mal den ganzen Weg hierher gemacht hast, dann musst du die Kennedy-Insel sehen. Die ist ganz nah von hier. Und ich kenne jemanden, der dich morgen gratis dorthin mitnehmen kann.« Also doch wieder die Sache mit dem A und dem B. A ist diesmal Gizo, die zweitgrößte Stadt im Westen des Landes und der Ort, an dem ich und Paul gerade Bier trinken. B ist eine Insel, die nur 30 Minuten entfernt liegt und auf der angeblich mal ein amerikanischer Präsident gestrandet sein soll. Ich finde, dass sich das nach einem ziemlich interessanten B anhört und verwerfe meinen Plan, für ein paar Tage auf sämtliche Bs zu verzichten.

Also sitze ich am nächsten Morgen am nassen Deck eines kleinen Fischerbootes, spüre den salzigen Fahrtwind im Gesicht und rufe Pauls Freund Fragen zu seiner Familie, zur Fischerei und zur Politik zu. Als wir die Insel erreicht haben, weiß ich, dass sein ältester Sohn Probleme im Rechnen hat, dass derzeit Thunfisch-Saison ist und die gesamte Regierung ein korrupter Haufen. Aber wie ich jemals wieder von dieser Insel wegkommen soll, das weiß ich nicht. Und darüber denke ich im Moment auch nicht nach. Ich stehe knöcheltief im lauwarmen Wasser des Südpazifiks, vor mir liegt eine winzige korallenumsäumte Insel, und auf ihr stehen ein paar Palmen und ein Schild. John F. Kennedy war tatsächlich hier. Im Jahr 1943, als er noch nicht amerikanischer Präsident war, sondern Kommandant der US-Marine und mitten im Pazifikkrieg. Die Japaner hatten sein Schiff abgeschossen, und der 26-jährige Kennedy schwamm um sein Leben und auf diese Insel. Ich spüre so was wie Ehrfurcht, während ich am Strand entlang gehe und mir vorstelle, dass auf demselben Boden, unter denselben Palmen dieses winzigen Eilandes der Mann herumwandelte, der später das mächtigste Land der Erde regieren sollte.

Es ist kurz vor Mittag, und ich habe das Gefühl, mit einem amerikanischen Präsidenten allein auf einer Insel zu sein.

Ein erhabenes Gefühl. Gegen 13 Uhr habe ich mich an den Gedanken gewöhnt, gegen 14 Uhr beginne ich mich mit ihm zu langweilen. John und ich haben uns nicht mehr besonders viel zu sagen. Schade eigentlich. Um 15 Uhr frage ich mich zum ersten Mal, wie ich wieder zurück in mein Hotel komme, und um 16 Uhr mache ich mir ernstlich Sorgen.

Von den Fischerbooten, von denen Paul geredet hat, ist keine Spur zu sehen, und von Touristen sowieso nicht. Man könnte meinen, dass Kennedy hier so was wie eine Attraktion ist, aber um die Anziehungskraft amerikanischer Präsidenten ist es dieser Tage wohl nicht so gut bestellt, und um den salomonesischen Tourismus anscheinend auch nicht. Ich sitze im Sand, starre in die Ferne und hoffe: zuerst auf eine Mitfahrgelegenheit, später auf Hilfe, schließlich auf Rettung. Die Sonne wird langsam schwächer, aber sie macht sich auf meinem Kopf bemerkbar. Und zusehends auch darin: »John, wie bist du damals eigentlich zurückgekommen?«

»Ich saß verzweifelt am Strand und hatte die Hoffnung schon aufgegeben, da kamen plötzlich zwei Fischer vorbei. Der eine hieß Eroni und der andere Biuku, und sie haben mir das Leben gerettet.«

»Das nenne ich Glück, John. Ich wette, du warst den beiden ziemlich dankbar?«

»Das kannst du laut sagen, Dan. Ich darf doch Dan sagen?« Ich nicke, und ich merke, dass ich mich in den Schatten setzten sollte.

»Diese Jungs haben mir den Arsch gerettet. Ihnen war egal, dass ich eine andere Hautfarbe hatte als sie, dass ich eine Sprache sprach, die sie nicht verstanden. Sie haben mir einfach den Arsch gerettet.« Ich glaube, ich mag diesen Kerl. »Und, John, was ist dann passiert?«

»Na ja, ich wurde Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Und zur Angelobungsparty hab ich die beiden ins Weiße Haus eingeladen.« Sehr sympathisch, der Mann, aber muss man ihm denn jedes Wort aus der Nase ziehen? »Und dann, John?«.

»Sie durften nicht kommen, die Politiker der Salomonen ließen sie nicht. Weil sie kein Englisch konnten. Sie meinten, die beiden würden sich und ihr Land blamieren.«

Ich höre ein leises Motorengeräusch in der Ferne. Sollte das tatsächlich ein Boot sein? Ich laufe an den Strand und schwenke meine Arme, und wirklich: Ein Boot kommt auf mich zugefahren, und zehn Minuten später springe ich erleichtert hinein. Es sind zwei Fischer, und sie sprechen Englisch. Leider steht bei mir in naher Zukunft keine Angelobungsparty an, in ferner Zukunft wohl auch nicht. Als die beiden mich kurz nach Einbruch der Dunkelheit in Gizo absetzen, sehen sie aber, dass ich dankbar bin. Sie haben mir den Arsch gerettet. Nicht wegen einem Weltkrieg, sondern wegen selbst verschuldeter Dummheit. Ich fühle mich ein bisschen doof, als ich an diesem Abend im Hotelbett liege. Aber hey – ich habe einen Tag mit John F. Kennedy verbracht. Und ich glaube, wir haben uns ganz gut verstanden.

Man denkt ja gemeinhin gern, dass man aus Fehlern lernt und klüger wird. Bei mir ist das im Moment leider überhaupt nicht so. Meine Lernkurve ist flach wie eine Salomonen-Insel. Anstatt dem A-B-Dilemma fortan aus dem Weg zu gehen, sitze ich am nächsten Tag in einem Bus. Mangelnde Lernbereitschaft? Fehlender Intellekt? Sucht?

Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass das Ding, das hier als Bus bezeichnet wird, in Wirklichkeit die Ladefläche eines Lkws ist. Dass es hart und eng ist. Dass es keine Stoßdämpfer hat. Und dass es verdammt viel Spaß macht, damit unterwegs zu sein. Wir fahren durch den Nachmittag und durch kleine Dörfer, immer am Meer entlang von Gizo nach Saeraghi, und bei jedem Schlagloch hebt sich die gesamte Ladung: 20 Passagiere, zehn Säcke voller Reis und Kochbananen, zwei Kisten mit Fisch, ein Huhn. Das Huhn gackert, die Kinder lachen, die Frauen teilen Früchte und die Männer Zigaretten. Selbst gebrannter Kokosnussschnaps und Geschichten machen die Runde, und ich glaube, ich könnte ewig so weiterfahren.

Gegenüber von mir sitzen fünf Frauen, eine von ihnen hält ein Baby im Arm. Die Frauen rufen sich Dinge zu und schütteln sich vor Gelächter, aber bei jedem Schlagloch halten sie für einen erschrockenen Moment inne und schauen besorgt auf das Kind. Doch das ist hart im Nehmen und hält der Straße jedes Mal ein strahlendes Lachen entgegen, und die Mutter drückt ihm dann einen Kuss auf die Wange, und die anderen Frauen lachen erleichtert.

Ich schaue in diese Gesichter, in denen sich Freude spiegelt und Sorge und immer Freundlichkeit, und ich frage mich, wie man eigentlich Angst haben kann vor anderen Menschen. Vor den Fremden.

Und wer ist das überhaupt: der Fremde?

Ist das jemand, der eine andere Sprache spricht? Der eine andere Hautfarbe hat? Der ein anderes Rasiergel verwendet? Und warum fürchten wir uns davor?

Ich halte meinen Kopf in den Fahrtwind, eine der Frauen lacht mir zu und macht dann das Gleiche. Sie hat keine Angst vor dem Fremden, und das ist gut für mich, denn der Fremde bin ich. Ich bin weiß, ich trage komische Kleidung und spreche wie ein Idiot, aber das stört hier niemanden. An diesem Nachmittag, auf dieser Straße, dieser Insel irgendwo inmitten des Pazifiks sind wir alle gleich. Wir sind Menschen, die sich über den Fahrtwind freuen, über die geteilten Früchte und über ein kleines lachendes Kind. Wir sitzen alle im selben Boot. Oder auf derselben Lkw-Ladefläche.

Papua-Neuguinea

Wie man Haie mit bloßen Händen erlegt. Wie ich mit Muschelgeld zahle. Und wer hier eigentlich wild ist.

Ich hege mittlerweile ernstliche Zweifel an der Existenz des Fremden. Aber sollte es so was tatsächlich geben, dann müsste es in Papua-Neuguinea zu finden sein. In einem Land, das zu den letzten unerforschten Gebieten dieser Erde zählt, zu den letzten weißen Flecken einer ansonsten durchkartografierten, durchmessenen und durchkapitalisierten Welt. In einem Land, das so unzugänglich und zerklüftet ist, dass sich dort 800 verschiedene Ethnien mit ebenso vielen Sprachen in die Gegenwart gerettet haben. In einem Land, das kulturell divers ist wie kein zweites und das wahrscheinlich genau deshalb von Außenstehenden immer und immer wieder als »wild« bezeichnet wird. Zwischen seinen abgelegenen Außeninseln und unwegsamen Hochlandgebirgen werden Bräuche und Riten praktiziert, die es sonst nur noch in feuchten Träumen von Ethnologen gibt. Ich muss gestehen, dass ich davon auch schon geträumt habe. Zum ersten Mal als Kind: Im Fernseher waren Kannibalen mit Ringen in der Nase zu sehen und weiße Forscher mit Strümpfen bis zu den Knien, beides war verstörend und faszinierend zugleich. Dann als Student: Im Hörsaal sprach ein weißer Forscher über Kannibalen im Dschungel von Neuguinea, aber ich sah weder Kniestrümpfe noch Nasenringe und beendete mein Völkerkunde-Studium so schnell, wie ich es begonnen hatte. Und dann jetzt: Ich stehe mitten im Hochland von Papua-Neuguinea, um mich herum wird getanzt und gesungen, die Nasenringe sind da und die Kniestrümpfe auch, alles ist da, viel mehr, als ich fassen kann, und es ist laut und heiß, und ich bin verschwitzt und erschöpft und müde und unendlich dankbar, dass ich nicht in einem klimatisierten Hörsaal sitze oder auf einer Couch vor einem Fernseher, sondern hier bin, inmitten meines Traumes, im pochenden Herzen dieses verstörenden und faszinierenden Landes.

Es ist zehn Uhr morgens, ich bin in Goroka, und ich bin betrunken.

Normalerweise bin ich um zehn Uhr morgens nicht betrunken. Und normalerweise ist Goroka auch kein pochendes Herz, sondern eine verschlafene Kleinstadt. Aber einmal im Jahr findet hier das größte indigene Festival der Welt statt, und dann strömen über 100 Stämme aus dem ganzen Land hierher und verwandeln das Städtchen in einen Ort der Ekstase. Sie kommen auf rostigen Lastwagen oder zu Fuß, manche brauchen Tage und andere die Ersparnisse eines halben Jahres dazu, aber sie kommen trotzdem, und sie bringen ihre Tänze und Gesänge und Kostüme mit und eine Energie, die Goroka an diesem Morgen zum Pochen bringt. Meinen Kopf auch. Ich stehe am Rand einer Grasfläche, die umzäunt ist und nicht größer als ein Fußballfeld, und kann nicht glauben, wie viel Kultur auf ein Stückchen Rasen passt. Und wie wenig ich davon verstehe. Lehmbeschmierte Männer bewegen sich in Zeitlupe auf mich zu, mit schweren Tonmasken am Kopf und gespannten Bögen in der Hand. Jemand sagt mir, dass es die Mudmen aus dem Asaro-Tal sind, und ich bin froh, dass ich ihnen hier begegne und nicht in ihrem Tal. Links von ihnen wiegen 20 pechschwarz geschminkte nackte Burschen eine überdimensionale Schlange über ihren Köpfen, die South Simbu Wild Snake, und rechts tanzen und singen die weißrot bemalten Peanut Group Mamas. Ihr Gesang ist schön, aber er geht unter in Schreien, Rufen, Sprechchören. Hier brodelt es.

Und in meinem Becher brodelt es auch. Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte, aber ich stehe an einem der exotischsten Plätze dieser Erde und halte ein Glas Wein in der Hand. Genau genommen ist es mein drittes, und genau genommen ist die Flüssigkeit in meinem Glas wahrscheinlich gar kein Wein. Es schmeckt zumindest nicht danach, und es sieht auch nicht danach aus. »Doch, doch, das ist Wein« sagt der Typ, der mir gegenüber in einem hölzernen Verkaufsstand steht und anscheinend drei Dinge glaubt: Erstens, dass man einfach irgendetwas vergären lassen und dann als Wein bezeichnen kann; zweitens, dass die Goroka-Schau ein guter Ort ist, um diesen Saft zu vermarkten; und drittens, dass ein trinkender Weißer die beste Werbung dafür ist. Ich habe in allen drei Fällen meine Zweifel. »Ingwer, bitte schön« sagt er und schiebt einen weiteren Becher in meine Richtung. »Nein danke, der Wein schmeckt total scheiße«, sollte ich eigentlich sagen, aber ich will nicht unhöflich sein.

Vor mir schiebt sich eine Gruppe von Männern vorbei, die meterhohe Kopfbedeckungen aus Perlen und Blumen tragen, und hinter ihnen steht ein kleiner Junge mit einem Federkleid und Flügeln am Rücken. Ich trinke meinen Ingwer-Wein und habe keinen Schimmer, was hier vor sich geht. Ich weiß nicht, was das alles um mich herum bedeutet, aber ich weiß, dass ich verdammt froh bin, kein Ethnologe zu sein. Dann müsste ich diese kulturelle Explosion hier nämlich wissenschaftlich analysieren. Und all die anderen Dinge, die ich in diesem unglaublichen Land bisher erlebt habe, auch. Ich müsste sie zu elendslangen, staubtrockenen Abhandlungen verarbeiten und mich dann noch mit anderen darüber streiten, ob das auf Seite [YYY] ###37ff beschriebene Ritual tatsächlich strukturfunktionalistisch oder nicht doch eher syntaktisch-kulturrelativistisch oder weiß der Geier wie interpretiert werden muss. Nee danke, das sollen andere machen. Ich schreibe für Travel Episodes, und deshalb kann ich jetzt getrost mein Glas Wurzel-Wein trinken und einfach nur schauen. Und nebenbei über meine Erlebnisse der letzten Wochen nachdenken. Ohne Fußnoten. Ohne Zitation. Aber mit einer Gänsehaut am Unterarm.

Über die Tage mit dem letzten Haijäger von Messi zum Beispiel. Messi ist ein kleines Dorf auf der Außeninsel Neuirland, weit draußen in den Gewässern vor Papua-Neuguinea, und ich habe lange gebraucht, um dorthin zu kommen. Der Ort ist abgeschieden und schwer zu bereisen, und wahrscheinlich hat sich dort genau deshalb die jahrhundertealte Tradition des Shark Calling erhalten:

Männer paddeln mit Kanus auf das offene Meer, locken mit ihrem Gesang Haie an und erschlagen sie dann mit der bloßen Hand.

Das Handwerk ist gefährlich und wird nicht mehr von vielen beherrscht. Der alte Tarok ist einer von ihnen. »Den Kampf gegen den Hai besteht nur, wer die Regeln beachtet«, sagt er zu mir, während wir vor seinem Haus sitzen und Schildkrötensuppe essen. Kein Sex, kein Schweinefleisch, keine Berührung mit Exkrementen 24 Stunden vor dem Kampf, und die Nacht davor muss in einer rituellen Hütte direkt am Wasser zugebracht werden. Nach drei Tagen im Dorf habe ich verstanden, dass das Shark Calling keine barbarische Fangmethode ist, sondern ein kompliziertes Ritual. Nach drei Stunden auf dem offenen Meer habe ich verstanden, dass ich damit eigentlich nichts zu tun haben will.

Ich saß in einem kleinen Auslegerkanu, und ich fühlte mich wie ein Fisch an Land, nur eben umgekehrt, Mensch im Haifischbecken. Mein Boot schien mir zu klein, sein Bug viel zu niedrig, der Wellengang viel zu hoch. Ich hatte alle Regeln beachtet, hatte den Tag davor weder eine Schweinshaxe berührt noch eine Frau, und die Nacht im Hausboi