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Kurt Gallé

FREMDBESTIMMT

Die digitalen Taktgeber
des Alltags und ihre
Auswirkungen auf Mensch
und Gesellschaft

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2017
© 2017 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at

Coverfoto: © iStock; Mike_Kiev
ISBN 978-3-99100-221-5
eISBN 978-3-99100-222-2

Inhalt

Vorwort

Auf dem Weg zum Homo digitalis

Von der Existenz dritter Ordnung

Digi-Town – wir sind Metropolis

Von Naht- und Schnittstellen

Es appt an allen Orten

Die vielfältige Welt der digitalen Algorithmen

Meine Zahnbürste spricht mit mir

Von virtuellen Einflüssen, realen Folgewirkungen und entfesselten Algorithmen

Von Banalität und Alltäglichkeit

Technische Klärungen und empathische Konfusionen

Posting-Mania

Von Posting-Terroristen und ihren Anschlägen

Ich poste, also bin ich

Persönlich kritischer Exkurs

Vom Bassenatratscheffekt und anderen kommunikativen Unarten

Liebe in Zeiten des Digitalismus

Wisch und weg

Es werde Mensch – die humanoide Evolution

Im Netzwerk medienanthropologischer Herausforderungen

Und jedem Mausklick wohnt ein Anfang inne

Die unvermeidliche Dynamik der Rückkoppelung

Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat, Whats…?

Im Freestyle durch Grammatik, Orthografie und Bildersprache

Im Wendekreis der Belanglosigkeit

Von Dauerläufern, Null-Infos und dem Bemühen nach Anerkennung

Von Echokammern, Filterblasen und Social Bots

Migrant im eigenen Land.com

Über äußerst fragwürdige Zuordnungen

Über gesunde Respektlosigkeit und medienkompetenter Anwendung

Digitale Klüfte

Anthropologisch-philosophische Nachbetrachtung

Vom unmündigen Zeitgeist

Zur Mündigkeit berufen

Anmerkungen

Verwendete und weiterführende Literatur

Vorwort

Natürlich glaubt heute kaum noch jemand, dass das Internet am Sonntag geschlossen hat. Auch wird den meisten inzwischen bekannt sein, dass das Wort „digital“ in seiner Lautung keinen eingedeutschten Anglizismen unterliegt und so gesprochen wird, wie es geschrieben steht nämlich digital und nicht ditschital.

Die tägliche Auseinandersetzung mit den digitalen Medien bringt naturgemäß eine große Bandbreite an Herausforderungen mit sich, denen sich auch Herr „Otto Normalverbraucher“ kaum entziehen kann, um nicht (in Anlehnung an den binären Kontext) eine Null unter lauter Einsen zu bleiben.

Die digitalen Beeinflussungen haben längst in die alltäglichen Bereichsfelder, um nicht zu sagen Niederungen unseres Daseins Einzug gehalten und bestimmen einen wesentlichen Teil unserer bewussten und unbewussten Lebensführung und der damit verbundenen Entscheidungen.

Zu diesem Thema gibt es bereits eine Fülle an Literatur, die sich vom euphorischen „Hurra, ich kann Internet“ bis hin zu schwerer Sucht und damit verbundenen Krankheitsbildern, wie sie der Mediziner und Psychotherapeut Bert te Wildt in „Digital Junkies“ oder der Hirnforscher Manfred Spitzer in „Cyberkrank!“ beschreiben. Der Titel dieses Buches darf keineswegs in einer rein plakativen oder gar wertenden Funktionalität gesehen werden, sondern ist in seiner gesamten semantischen Breite zu interpretieren. „Fremd“ meint vorerst nichts anderes als: von außerhalb kommend, fernstehend, andersartig, ungewöhnlich und unvertraut. Unter „bestimmt“ finden wir im Duden1 folgende Auslegungen: unweigerlich, zweifelsfrei und präzise sowie: klar vorgegeben im Sinne von maßgebend.

Folglich sind die Überlegungen, die diesem Buch zugrunde liegen, weder ein Manifest gegen eine wie auch immer geartete digitale Bedrohung noch huldigen sie den sogenannten Segnungen des Cyberspace. Es geht vielmehr um eine grundsätzliche neutral gehaltene, jedoch kritische Analyse, was Realität im 21. Jahrhundert für unser Menschsein bedeutet. Auf welche Weise digitale Bindeglieder das, was wir als Wirklichkeit wahrzunehmen glauben, beeinflussen und welche Antworten wir als Spezies geben können respektive müssen, um die bis dato gültige, dem Humanismus verpflichtete Bestimmung unserer Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Das meint jenes Denken und Handeln, das sich an der Würde des Menschen orientiert und dem Ziel menschenwürdiger Daseinsverhältnisse dient.

Seit der Entdeckung des binären Zahlensystems und dessen Nutzung gibt es ein ganzes Netz wissenschaftlicher Disziplinen, wie zum Beispiel Informations-, Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie die Informatik generell, welche sich mit den Themen Cyberspace, digitale Medien und virtuelle Welten auseinandersetzt. Nicht zu vergessen sind deren „Verbündete“, die sogenannten Bindestrich-Informatiken (exemplarisch seien die Rechts- und Wirtschaftsinformatik genannt), die sich in ihrer spezifischen Art und Weise den neuen medialen Herausforderungen stellen.

Wo aber liegen die immer weniger zu begrenzenden Möglichkeiten? Wie können sie genutzt werden? Woran erkennt man Fehlentwicklungen, die das soziale Gefüge stören oder gar bedrohen? Und welche Interaktionen sind vonnöten, um einer etwaigen Gefährdung unseres empathischen Potenzials entgegenzusteuern? Mit einem Satz: Was macht das alles mit uns, und wie ist darauf adäquat in unserer Eigenschaft als Individuum und in unserer Verpflichtung dem Kollektiv gegenüber zu agieren?

All die damit zusammenhängenden Betrachtungen, daraus abgeleiteten Annahmen und Schlussfolgerungen sind daher im Folgenden dem Bereich der Humanwissenschaften zuzuordnen und somit dem breiten Feld der Geistes- und Kulturwissenschaften, die das „virtuelle Menschsein“ zum Inhalt haben. Die damit in Verbindung stehenden Technologien werden nur insofern berührt, als sie mit dem Kernthema untrennbar verbunden sind, zumal es darüber ohnehin ein breites Spektrum an Fachliteratur gibt. Aber ich bin weit davon entfernt, mich in wissenschaftlichen Sphären zu verlieren, zumal transdisziplinäre Forschung grundsätzlich (sehr geerdet) von gesellschaftlichen Problemstellungen ausgeht. Dabei verbindet das damit einhergehende methodische Vorgehen leicht verständlich und nachvollziehbar wissenschaftlich allgemeingültige Erkenntnis und praktisches Erfahrungswissen.

Denn zunehmend erfordern lebensweltliche Probleme die Form der transdisziplinären Forschung insbesondere dort, wo das vorhandene Wissen bezüglich der jeweiligen Problematik unsicher und vor allem umstritten ist.2 Zum Beispiel bei der Frage, ob eine mögliche Verminderung der Merkfähigkeit künftiger Generationen mit jenen Technologien zusammenhängt, die uns das tägliche Gedächtnistraining nicht mehr gestatten, weil jede Telefonnummer im Smartphone gespeichert, jede Verbindung im Navi vorgezeichnet und jede andere Information in Sekunden verfügbar ist. Die Schnelllebigkeit unseres Zeitgeistes, unser Bedürfnis nach Bequemlichkeit sowie ein uns allen grundgelegter Hang zum Hedonismus (je nach Charakter mehr oder minder ausgeprägt) leisten dazu kräftig Vorschub. Oder: Inwieweit beeinflusst die immer mehr um sich greifende Asozialität im Social-Media-Bereich (Facebook, Twitter, Blogs etc.) unsere empathischen Fähigkeiten und Fertigkeiten? Und wie sieht es mit der damit verbundenen Problematik bezüglich Datenschutz und Intimität im Bereich der ständig wachsenden sozialen Netzwerke und der schon fast unüberschaubaren Menge an damit einhergehenden Nebenprodukten aus? Und letztendlich die Gretchenfrage: In welcher Form und in welchem Ausmaß führen virtuelle Einflüsse zu realen Konstellationen? Oder anders formuliert: Wie und wann vollzieht sich die Metamorphose vom Schein zum Sein?

Georg Orwells „1984“ – Big brother is watching you – ist in dieser Form gottlob noch keine Realität. Wir sind noch nicht 24 Stunden täglich überwacht, umzingelt oder gar in unserer momentanen existenziellen Art zu leben bedroht. Jedoch sind wir um vieles „berechenbarer“ geworden. „Kluge“ Algorithmen werden unseren Tagesablauf vermehrt beeinflussen – und sie tun es bereits heute schon. Aber was wäre die Alternative? Eine einsame Insel? Ich traue mich fast zu wetten: Wenn Sie dort ein Navi bei sich hätten, es würde anstandslos funktionieren und Sie bei Bedarf zur nächstgelegenen Wasserstelle führen.

Auf dem Weg zum
Homo digitalis

Kein Lebewesen auf dieser Erde ist so schwatzhaft und mitteilungssüchtig wie jener Zweibeiner, der vor Millionen Jahren in Ostafrika von den Bäumen stieg und dessen Kommunikationsfähigkeit sich im Rahmen der Evolution so mannigfaltig entwickelte, dass sie einen enormen Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten mit sich brachte. Allein die Vielfalt der verbalen Verständigungsmuster vermag einen technischen Sachverhalt genauso verständlich zu beschreiben wie eine in Metaphern gefasste Bildersprache, um Emotionen zu transportieren, ja sogar nachvollziehbar zu machen.

Im Zentrum der klassischen Kommunikation zwischen Sender und Empfänger steht seit jeher das Medium als Vermittler von Information, Belehrung und Unterhaltung. Spätestens seit dem antiken griechischen Theater ist bekannt, dass der Mensch, oder konkreter noch: die Person* in ihrer Vermittlerfunktion als klassisches Medium fungiert. Die vornehmliche Funktion des Mediums war und ist es, Träger oder Übermittler von Botschaften zu sein.

Begonnen hat die Geschichte der medialen Übermittlung von Botschaften mit dem simplen Wunsch, mit Menschen zu kommunizieren, die einem nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. So haben unsere Vorfahren nach Möglichkeiten gesucht, die naturgegebene Distanz mithilfe von Lautverstärkern und Zeichensprache zu überbrücken, um ihre Botschaften an den Empfänger zu bringen. Bergvölker bedienten sich vorerst des Echos mit dem Nachteil, dass die Botschaft mehrfach oder je nach Wetterlage zerstückelt zu hören war. Und wer erinnert sich nicht an alte Westernfilme, wo zu sehen ist, wie Sioux und Apachen ihre Botschaften als Rauchzeichen von Stamm zu Stamm schickten (sofern sie sich nicht gerade in einer Stammesfehde befanden), bis dann dem Morsen ähnliche Signale mithilfe von Sonnenlicht und Glas oder anderen reflektierenden Materialien versendet wurden. Seit der frühen Antike wurden Nachrichten mit Boten auf Reisen geschickt, die den Weg vom Sender zum Empfänger per pedes oder zu Pferd zurückzulegen hatten. Mündliche Weitergabe, Signal, Brief und plakative Kundmachung sind sozusagen die Urform der Massenmedien.

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich nicht nur die technischen Ausdrucksformen verändert, sondern auch der damit verbundene Zeitgeist. Vor 500 Jahren nagelte Martin Luther der Legende nach seine gut durchdachten 95 Thesen eigenhändig an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg und riskierte dabei Kopf und Kragen. Die „Wutbürger“ der Gegenwart nageln ihren Zorn im Schutze der Anonymität und vielfach unbedacht an die Tore des Internets.

So verbringt der „moderne“ Mensch sinnvoll und/oder sinnlos (je nach Standpunkt) gegenwärtig den Großteil seines im Wachzustand befindlichen Daseins mit den Massenmedien – damit sind grundsätzlich jene Kommunikationsmittel gemeint, die sich zur Verbreitung diverser Inhalte technischer Hilfsmittel bedienen, um Schrift, Bild und/oder Ton unbegrenzt zu vervielfältigen. Dies sind zum einen jede Art von Printmedien, also Presse, Buch und jegliche Form von plakativen Darstellungen. Zum anderen audiovisuelle Medien wie Film, Hörfunk und Fernsehen. Eine neue Qualität im Sinne der Massenkommunikation eröffnete die Gruppe der Speichermedien, dazu gehören CD, DVD, USB-Sticks, Festplatten, Smartphone, Tablet und letztendlich jede Form von Webseiten.

Den restlichen Teil der Zeit nutzt der „moderne“ Mensch damit, die täglich anfallenden lebenserhaltenden Aktivitäten zu bewältigen, wobei er auch hier immer öfter medial beziehungsweise digital unterstützt wird.

Von der Existenz dritter Ordnung

„Seh ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt. Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Diese grundsätzliche Frage zum Dasein unserer Spezies stellte sich der Psalmist im achten Psalm vor über 2.500 Jahren, der wohl zu den bekanntesten und wichtigsten Texten alttestamentlicher und gesamtbiblischer Anthropologie gehört. Darin wird das menschliche Sein in seiner Verhältnismäßigkeit als Geschöpf, aber auch hinsichtlich seiner Stellung innerhalb der Schöpfung und damit auch in seiner Rolle oder konkreter: in seiner Verantwortung als Kreator beschrieben. Daher stellt sich hinsichtlich unserer gegenwärtigen und zukünftigen Lebensform, im Zusammenhang mit den (sogenannten) neuen Technologien nur eine Frage: Was ist der Mensch im Kontext virtueller Welten? Denn das Internet mit all seinen Ausprägungen ist schon lange nicht mehr „nur“ eine Technologie, sondern Lebensraum unserer Kultur.

Um zu erahnen, warum die Entwicklung unserer Spezies hinsichtlich ihrer Seins- und Lebensweise so und nicht anders verlaufen ist, ist es erforderlich, einige grundlegende Teilaspekte (vorwiegend anthropozentrischer Natur) des Menschseins und die daraus entstammten Entwicklungsschritte einer kurzen anthropologischen Rückschau zu unterziehen. Fragt man generell nach den Existenzbedingungen des Menschen, kommt man zum Schluss, dass der Mensch in biologischer Hinsicht ein Mängelwesen3 ist. Er ist (im Vergleich zum Tier) hinsichtlich seiner organischen Anpassung, einer gewissen Hilflosigkeit unterworfen. Dies zeigt sich zum einen durch vergleichbar fehlende Angriffs-, Schutz- und Fluchtorgane, zum anderen durch eine wesentlich reduzierte Instinktfähigkeit, was seine Selbst- und Arterhaltung betrifft.

Der Mensch ist infolge seines ihm grundgelegten strukturellen Mangels den Widrigkeiten der Umwelt wesentlich stärker ausgesetzt als jedes andere Lebewesen. Um diesen Nachteil auszugleichen, war und ist er angehalten, ja gleichsam gezwungen, auf seine Welt hin zu handeln. Wenn nun der Mensch das Tier überragt, dann deshalb, weil er Geist hat. Er kann von Natur aus nicht so schnell laufen wie ein Gepard**, baut jedoch Fortbewegungsmittel, die heute ein Vielfaches dieser Geschwindigkeit erreichen. Der Mensch plant, entwickelt und erzeugt Gerätschaften, welche die Kraft eines Elefanten vertausendfachen, er fliegt höher als jeder Vogel und erforscht die Tiefen des Meeres.

So öffnete der Homo sapiens*** die von der Evolution vorgegebenen existenziellen Bedingungen – also die Anpassung der Lebewesen an eine sich verändernde Umwelt – und begann als handelndes Wesen, seine Um- und Lebenswelt an sich anzupassen. Damit schuf er sich eine zweite Natur, sozusagen eine Existenz zweiter Ordnung, und nannte sie Kultur. Er erkannte seine Sonderstellung im Kosmos und setzte sich selbstbewusst die Krone der Schöpfung auf.

Doch dann zog Kopernikus die Erde, auf der er lebte, aus dem Zentrum der Welt, und im Zuge der Aufklärung zog Darwin die Gestalt, in der er lebte, aus dem Zentrum der Schöpfung, und Freud zog das Bewusstsein, in dem er lebte, aus dem Zentrum seines Handelns.4 Infolgedessen wird der Mensch im Brennpunkt dieser Denkmodelle vom Egozentrum der Schöpfung zum „Zufallsprodukt“ in einem zufälligen, der Evolution anheimgegebenen Zeitverlauf und an einem zufälligen Ort unseres Sonnensystems.

Der Entwicklungsfortgang unserer Spezies hätte demnach (unter den vorgegebenen evolutionären Bedingungen) kein Ziel. Diese Sichtweisen sind in der jeweils damit befassten wissenschaftlichen Disziplin unbestritten, greifen aber in Hinblick auf vergangene, gegenwärtige und vor allem zukünftige Entwicklungen unseres Daseins zu kurz.

Denn in dem Augenblick, in dem der Mensch gelernt hat, Dinge zu denken, die es vorher nicht gab, begann er Ideen zu haben und Zukünftiges zu planen, zu projizieren, und fing an, sich Ziele zu setzen, um sich von einem vorgegebenen Ist-Zustand in einen gewünschten Soll-Zustand zu bewegen. „Es hat ‚klick‘ gemacht und das Licht der (virtuellen) Zukunft ist angegangen.“5

Die Tatsache, dass wir die Fähigkeit haben, Dinge zu denken und Abläufe zu konstruieren, die es so noch nicht gibt, und somit Zukünftiges fiktiv zu erfassen vermögen, prädestiniert uns doch gleichsam in virtuelle Welten vorzustoßen beziehungsweise sich mit diesen symbiotisch zu verbinden. Und mehr noch: Als kreative Wesen können wir schöpferisch tätig werden und stellen uns als „Kreatoren“ in den Mittelpunkt einer im Cyberspace stattfindenden Genese.

Damit betreten wir ein vollkommen neues und uns teilweise noch unbekanntes Koordinatensystem, welches einerseits unsere real physisch erlebbare Welt beinhaltet, die wir seit unserer Geburt kennen, andererseits jene virtuellen Erlebnisräume für uns bereithält, die kaum mehr direkt körperlich erfahr- und erlebbar, sondern ausschließlich durch (vorwiegend visuelle) Sinneswahrnehmungen erfassbar sind. Der Transfer in die Existenz dritter Ordnung vollzieht sich zwangsläufig durch die Akzeptanz der damit einhergehenden Daseinsbedingungen und der Kompatibilität zu den Lebensformen zweiter und erster Ordnung. Wie aber lässt sich das faktische Dasein des Menschen in der virtuellen Welt definieren? – Oder auf den Punkt gebracht: Wer oder was ist eine virtuelle Person?

Gehen wir vorerst von zwei Sichtweisen aus: Zum einen legen wir den Fokus auf den Menschen in seiner materiellen, also leibhaftigen Form, in seiner Rolle als Nutzer des Internets beziehungsweise als Konsument im engeren Sinne, zum Beispiel bei Amazon, Zalando, eBay, Wikipedia oder YouTube. Zum anderen betrachten wir den Menschen in seiner virtuellen Form als Teil des Internets, hier begibt er sich ad personam zur Veröffentlichung preis. Dabei gilt es zu unterscheiden, ob es sich summarisch um digital veröffentlichte Eigenschaften einer Person handelt, also vorwiegend in selbstdarstellerischer Art wie etwa im Social-Media-Bereich, oder um die Summe ihrer digital beschriebenen Tätigkeiten, beispielsweise auf Informationsplattformen im Geschäfts- oder Wissensbereich. Es kann sich sowohl um Personen handeln, die physisch existieren oder existiert haben, als auch um „Personen“, die eine rein fiktive Identität aufweisen. Anzumerken ist, dass die Frage, wie wir mit jenen Verstorbenen umgehen, die das Internet digital am Leben erhält, ethisch noch lange nicht geklärt ist, und es sollte uns nachdenklich stimmen, dass die Thematik im „virtuellen Tagesgeschehen“ kaum Beachtung findet.