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Gerhard Loibelsberger

Schönbrunner Finale

Ein Roman aus dem alten Wien

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgartunter Verwendung der Bilder von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gustav_Klimt_020.jpg und © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kolo_Moser_-_Vogel_Bülow_-_1899.jpeg

ISBN 978-3-8392-5612-1

Widmung und Dank

Für Lisa. Danke!

Ein großes Dankeschön auch an Claudia Senghaas, die die Nechyba-Saga von Anfang an begleitet und lektoriert hat, sowie an Zdenka Becker, die alles, was in diesem Buch Tschechisch ist, übersetzte, bearbeitete und korrigierte.

Verzeichnis der
historischen Personen:

Friedrich Adler (1879–1960): Redakteur, Hochschullehrer, Politiker, Kriegsgegner

Viktor Adler (1852–1918): Politiker, Arzt, Journalist

Arthur Arz von Straußenburg (1857–1935): Generaloberst der k. u. k. Armee

Arnold Baral (?–?): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Stephan Graf Burián (1852–1922): k. u. k. Außenminister

Georges Clemenceau (1841–1929): französischer Ministerpräsident

Ottokar Graf Czernin (1872–1932): k. u. k. Außenminister

Julius Deutsch (1884–1968): Unterstaatssekretär der Republik Österreich

Marie Drda (1896–1918): Mordopfer

Wilhelm Eisner-Buba (1875–1926), Oberst, Leiter des k. u. k. Kriegspressequartier

Josef Fischer (1857–?): Mörder der Marie Drda

Edmund Ritter von Gayer (1860–1952): Innenminister

David Lloyd George (1863–1945): britischer Ministerpräsident

Dr. Albin Haberda (1868–1933): Gerichtsmediziner

Johann Haderer (?–?): Onkel von Josefine Selewosky

Regina Herzl (1875–1918): Mordopfer

Friedrich Hexmann (1900–1991): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Josef Graf Hunyadi (1873–1942): Obersthofmeister Kaiser Karls

Karl I. (1887–1922): Kaiser von Österreich, König von Ungarn.

Franziska »Fanny« Kerl (?–1916): Wilhelm Kerls Frau

Wilhelm Kerl (1855–1922): Cafétier des Café Landtmann

Egon Erwin Kisch (1885–1948): Journalist, Revolutionär

Gustav Klimt (1862–1918): österreichischer Maler

Michael Kohn-Eber (?–?): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Franz Koritschoner (1892–1941): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Adolf Kratochwilla (1860–1938): Cafétier des Café Sperl

Karl Anton Kraus (1864–1933): Cafétier des Café Landtmann

Leopold Kulcsar (1900–1938): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Heinrich Lammasch (1853–1920): österreichischer Ministerpräsident

Wladimir Graf Ledóchowski (?–?): Flügeladjutant Kaiser Karls

Tomas Masaryk (1850–1937): Philosoph, Schriftsteller, Politiker

Viktoria Moldaschl (1842–1874): Mordopfer

Vittorio Emanuele Orlando (1860–1952): Präsident des Ministerrats des Königreichs Italien

Leo Pjatigorski (?–?): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Leo Rothziegel (1892–1919): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Edith Schiele (1893–1918): Egon Schieles Frau

Egon Schiele (1890–1918): österreichischer Maler

Dr. Johann Schober (1874–1932): Leiter der Wiener Polizeidirektion, Polizeipräsident

Josefine Selewosky (1896–?): Mörderin der Veronika Wessely

Sidney Sonnino (1847–1922): italienischer Außenminister

Karl Graf Stürgkh (1859–1916): österreichischer Ministerpräsident

Stefan Graf Tisza (1861–1918): ungarischer Politiker

Sándor Wekerle (1848–1921): ungarischer Ministerpräsident

Karl Werkmann (1878–1951): Privatsekretär Kaiser Karls

Johannes Wertheim (1888–1942): Agitator während des Jänner-Streiks 1918

Veronika Wessely (1838–1918): Mordopfer

Friedrich von Wiesner (1871–1951): Diplomat, Gesandter

Wilhelm II. (1859–1941): deutscher Kaiser

Woodrow Wilson (1856–1924): Präsident der USA

Zita von Bourbon-Parma (1892–1989): Gemahlin Kaiser Karls

Prolog I

Oberleutnant Lukáš winkte verärgert mit der Hand. Auf dem Weg zum Lebensmittellager kam ihm der verwegene Gedanke, dass Österreich den Krieg schon allein deswegen nicht gewinnen kann, weil die Soldaten ihren Offizieren die Leberwurstdosen wegfressen.

Zitat aus: Jaroslav Hašek, Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk 2, aus dem Tschechischen übersetzt von Zdenka Becker.

14. September 1917

»Kompanie, raustreten!«

Karel Husak kroch aus dem Erdloch, das seiner Kompanie als Unterstand diente. Hinter ihm hörte er Ambrosius Zach fluchen. Mit wackeligen Beinen und knurrendem Magen traten die Soldaten dort an, wo der Schützengraben etwas breiter war. Husak sah sich um und registrierte mit Schrecken, wie wenige sie infolge des italienischen Dauerbeschusses geworden waren. Resigniert schüttelte er den Kopf.

Zach sah diese Geste und brummte:

»Ein Jammer …«

Hasserfüllt maß er Oberleutnant Weissenbacher, der nun ebenfalls aus dem Erdbunker gekrochen kam. Das Schwein hatte tatsächlich noch ordentliche Stiefel an. Zach verfluchte im Geiste seinen Kompaniekommandanten. Er selbst verrichtete seit Wochen nur mehr in notdürftig zusammengebundenen Lederfetzen seinen Dienst im Schützengraben. Ich sollte ihm in der Nacht die Stiefel fladern1. Aber was würde das helfen? Nichts, denn am Morgen würde der feine Herr Oberleutnant mich zur Verantwortung ziehen. Entweder, indem er mich während des ärgsten Feindbeschusses ins Feuer hetzen oder mir auf der Stelle eine Kugel in den Schädel jagen würde. Ich müsste ihn umbringen. Umbringen und mich dann päulisieren2 …

»Soldaten! Männer! Ihr werdet Zeugen eines historischen Ereignisses werden …« Oberleutnant Weissenbacher machte eine kunstvolle Pause, bevor er fortfuhr: »Der Kaiser höchstpersönlich wird an die Front kommen und unser Bataillon visitieren. Davon werdet ihr noch euren Kindern und Enkelkindern erzählen können.«

Wenn uns nicht vorher die Katzelmacher3 überrennen und abkrageln4, schoss es Karel Husak durch den Kopf. Wenig später hellte sich seine Stimmung auf, als er erfuhr, dass eigens für die Kaiservisite ihr Bataillon von der Front abgezogen und durch ein frisch zusammengestelltes Reservebataillon ersetzt werden würde. Endlich weg aus dem Totengraben, dachte Husak, als er plötzlich in der Ferne das Donnern der italienischen Geschütze hörte und der Feldwebel »Alarm!« brüllte. Augenblicke später pfiffen die ersten Granaten durch die Luft. Detonationen, Schrapnelle flogen, Erde stob. Ein Verwundeter brüllte vor Schmerz.

»Husak und Zach, holt’s Munition! Alle anderen auf ihre Gefechtsstellungen! Die Katzelmacher greifen an!«

Dem Befehl des Oberleutnants gehorchend, krochen Zach und Husak zum Munitionsbunker. Detonierende Granaten, Splitter, Dreck, Staub, bebende Erde. Schreie, Gewehrfeuer, Rauch, Inferno. Im Munitionsbunker angekommen, verschnauften beide für einige Augenblicke. Zach musterte Husak und brummte:

»Verkriech ma uns einfach, bis alles vorbei ist?«

»Wird nix helfen. Wenn unsere haben ka Munition, dann werden Katzelmacher uns überrennen. Dann sind ma tot.«

»Und wenn ma jetzt rauskriechen mit den Munitionskisten?«

»Dann sind ma vielleicht auch tot. Aber vielleicht a net. Meglicherweise überleb ma. Und können sehen den Kaiser.«

Zach schnappte eine Munitionskiste und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor:

»Scheiß auf den Kaiser!«

Das Reservebataillon traf in der Nacht ein. Und so setzten sich unter dem Kommando von Oberleutnant Weissenbacher und Major Novotny die Reste des Bataillons in Richtung Aldeno in Bewegung. Im Morgengrauen des 13. Septembers kamen sie in dem Winzerdorf an, wo sie bereits von einigen Stabsoffizieren nervös erwartet wurden. Hundemüde kampierten sie auf einer Wiese. Zach sah sich um und murmelte:

»Wenn ich mich so umschau, muss ich feststellen, dass wir ein trauriger Haufen sind. Unterernährt, in Lumpen gehüllt und stark dezimiert. Bin gespannt, was der hohe Herr dazu sagen wird.«

Husak nickte müde:

»Recht hast. Schaun wir sehr traurig aus. Vor allem man sieht, dass Bataillon große Verluste gehabt hat. Nur mehr 50 Mann oder weniger haben manche Kompanien.«

»Bestenfalls 50. Manche haben nur mehr 20 …«

Und während Zach und Husak im Gras liegend vor sich hin dösten, marschierten nach und nach kleine Gruppen von Soldaten an. Alles keine Frontsoldaten, sondern Offiziersdiener und Mannschaften aus den Versorgungs- und Nachschubkompanien: Schuster, Schneider, Tragtierführer, Pferdewärter und Köche. Letztere erkannte Zach an ihren Bäuchen. Plötzlich fuhr mit dröhnendem und qualmendem Motor ein Lastkraftwagen vor. Er hielt an, ein Oberst stieg aus, sah sich um und begann zu brüllen:

»Fix Laudon noch einmal! Was ist das hier für eine Sauwirtschaft? Kann keiner mehr grüßen?«

Die am Boden liegenden Soldaten erhoben sich mühsam, der Oberst füllte die Lunge mit Luft und tobte weiter:

»Bagasch5 übereinand. Was glaubt ihr eigentlich, wo ihr seid? Ihr seid im Krieg und nicht auf Sommerfrische! Ihr dreckigen Falotten, ihr! Seine Majestät kommt zur Besichtigung seiner glorreichen Truppen und ihr liegt faul auf der Erd’ umadum6? Unverschämtheit, so was!«

Alle standen stramm. Die Blicke gesenkt. Der Oberst schritt in frisch gebügelter Uniform und mit blank geputzten Stiefeln die Reihe der müden Soldaten ab. Vor der mittlerweile recht großen Gruppe der Neuangekommenen, die durch die Bank besser ernährt aussahen und vor allem nicht in Uniformlumpen gehüllt waren, blieb er stehen und befahl:

»Ihr bildet die ersten beiden Reihen. Ihr schaut einigermaßen respektabel aus.«

Dann machte er auf dem Absatz kehrt und gab den Frontsoldaten folgenden Befehl:

»Ausziehen! Alles ausziehen!«

Die Männer sahen einander verwundert an, gehorchten jedoch. Und während immer mehr von ihnen pudelnackt auf der Wiese standen, holten der Lastwagenfahrer und ein Feldwebel stapelweise neue Uniformwesten und Hosen, Stiefel sowie neue Tschakos aus dem Lastkraftwagen. Nach Größe sortiert, wurden sie in der Wiese aufgestapelt. Dann ertönte der Befehl an die Nackten, neue Uniformen auszufassen. Husak murmelte:

»Da schau her, Majestät schenkt uns neiche Kleider.«

Zachs Blick streifte über Husak und die anderen Nackten. Lauter jämmerliche Krispindln7, ein Krüppelg’spiel neben dem anderen. Von fahler, geschundener Haut überzogene Skelette. Haut, die von Wanzen- und Flohbissen, Schrunden und Krätze gepeinigt wurde. Nervös begann sich Zach zwischen den Arschbacken zu kratzen. Dort hatte er seit Wochen eine Entzündung, die der Bataillonsarzt als »Wolf« diagnostiziert hatte. Wortlos schlüpfte er in passende Uniformteile und schnallte sich den Leibriemen um. Mit vor Freude zitternden Fingern schnürte er die funkelnagelneuen, blitzblank geputzten Stiefel zu. Kaum war er adjustiert, war von Ferne das Geräusch herannahender Automobile zu vernehmen.

»Kompanien, antreten!«

Der Oberst hatte einen blutroten Schädel und brüllte, was das Zeug hielt.

»Marsch, marsch, ihr faules Pack! Bagasch! Gsindl miteinander!«

Just in dem Augenblick, als die Kompanien des Bataillons Aufstellung genommen hatten, erschien die Wagenkolonne des Kaisers. Die Automobile hielten, Generalstabsoffiziere, Adjutanten, Chauffeure wuselten diensteifrig umher. Kaiser Karl stieg aus seinem Wagen. Schlank und rank, in tadellos gebügelter Uniform, an den Händen elegante Lederhandschuhe, an den Füßen blitzblank gewienerte Stiefel. Seine Backen schimmerten rosig, der schmale Oberlippenbart war sorgfältig gestutzt. Der Oberst salutierte und meldete, dass das Bataillon vollständig angetreten sei. Des Kaisers Blick schweifte über die Mannschaft. Er nickte und bemerkte anerkennend:

»Sehr gut. Wie ich sehe, hat das Bataillon während der letzten Gefechte kaum Verluste erlitten. Sehr brav. Weiter so.«

In der kommenden Stunde schritt der Kaiser das Bataillon Zug um Zug ab, blieb vor jedem Mann einige Sekunden stehen und brabbelte in einem fort Floskeln wie:

»Sehr gut! Aha! Sehr brav! Nur weiter so!«

Als er vor Zach stehen blieb und ihn für einen Sekundenbruchteil ansah, hatte Zach das Bedürfnis, ihm ins Gesicht zu spucken. Aber es kam nicht dazu. Als er genügend Spucke in seinem ausgetrockneten Mund gesammelt hatte, war der Kaiser schon ein ganzes Stück weiter. Vor Zach stand gerade ein Generalleutnant mit schiefem Gesicht, geöltem Haar und neckisch auf dem Kopf sitzendem Tschako. Für den lohnt sich die Spucke nicht, dachte Zach und schluckte.

1 stehlen

2 verduften

3 Italiener

4 töten

5 Gesindel

6 herum

7 dünne Menschen

Prolog II

Je länger der Krieg dauerte, desto schwieriger wurde die Lage der Monarchie. Zur großen Sorge ob der wachsenden Feindseligkeit der slawischen Nationen gegen den Staat, kamen die kaum geringeren Besorgnisse über die Haltung der unterernährten, rechtlosen und deshalb immer unzufriedener werdenden Arbeiter in der Kriegsindustrie.

Zitat aus: Julius Deutsch, Ein weiter Weg – Lebenserinnerungen, Amalthea Verlag, Zürich-Leipzig-Wien, 1960.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Amalthea Verlages

10. Jänner 1918

Goldblatt war müde und fühlte sich gar nicht wohl. Im Kriegspressequartier hatte er den Tag damit zugebracht, Artikel zu redigieren, zu überarbeiten und umzuschreiben. Im Prinzip hatte er Schönfärberei des Kriegsverlaufs und der militärischen Erfolge der k. u. k. Armee und ihrer Verbündeten produziert. Eine Lüge nach der anderen, dachte Goldblatt, als er in den Ringwagen einstieg. In der Tramway herrschte ein unglaubliches Gedränge, die Scheiben waren angelaufen und es stank. Er fuhr den Ring vor bis zur Station Babenberger Straße, wo er ausstieg. Das letzte Stück zum Café Sperl legte er zu Fuß zurück. Als er eintrat, sah er sich nach dem Oberinspector um. Der saß nicht auf seinem Stammplatz, sondern einen Tisch weiter.

»Nechyba, ich begrüße Sie!«

Der Angesprochene sah kurz von der Zeitung auf und murmelte:

»Grüß Sie, Goldblatt! Nehmen S’ Platz!«

Goldblatt setzte sich und rief dem vorbeigehenden Ober zu:

»Das Übliche, Herr Franz!«

»Sehr wohl, Herr Leutnant!«

Goldblatt holte seine Tabatiere heraus und zündete sich eine Zigarette an. Seitdem er Soldat war, rauchte er wieder. Nicht manisch, aber ab und zu, wenn er Gusto hatte. So wie jetzt zum Beispiel, um sich zu entspannen und um seine Arbeit, die ihm zutiefst zuwider war, zu vergessen. Das gelang aber nicht, denn Nechyba ließ die Zeitung, es war die ›Neue Freie Presse‹, sinken und klopfte mit dem Zeigefinger auf einen Artikel.

»Ich hab’ mir gerade die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Wilson angesehen. Die Bedingungen, unter denen er Frieden schließen will. Hier ist genau definiert, wie er sich die Nachkriegsordnung vorstellt.«

»Nechyba, ich bitt’ Sie! Hören S’ mir auf mit der Politik und dem Krieg! Können wir nicht über etwas Privates plaudern?«

Der Ober kam und servierte dem Leutnant seinen Goldblatt8. Der nippte an dem heißen Gebräu, nahm einen Zug von seiner Zigarette und blies eine schlanke Rauchsäule in die Luft. Nechyba beobachtete ihn und dachte sich, jetzt hätte ich Lust auf eine Virginier. Da ihm aber das Rauchen ärztlicherseits streng verboten worden war, unterdrückte er den Impuls.

»Also gut, Goldblatt, erzählen S’ mir was Privates.«

Der Leutnant machte einen langen Zug von der Zigarette und begann dann zu erzählen:

»Wie Sie wissen, ist meine Lebensgefährtin, Judith von Zweytick, Malerin. Und da ich letztes Jahr eine Zeit lang mit dem Kunstmaler Egon Schiele in der Konsumanstalt für die Gagisten9 der Armee im Felde zusammengearbeitet habe, machte ich die beiden miteinander bekannt. Das führte dazu, dass sich eine Freundschaft entspann. Egon Schiele, der derzeit ungeheure Anerkennung von allen Seiten erfährt, entwarf nicht nur das Plakat für die 49. Ausstellung der Secession, die jetzt im Februar stattfindet, sondern stellt dort 29 Gemälde sowie 19 Zeichnungen aus.«

»Da kann man ihn ja nur beglückwünschen. Aber was hat das mit Ihrer Lebensgefährtin zu tun?«

»Nun, dank Egon Schiele wurde sie in die Gemeinschaft der Secessionisten aufgenommen und präsentiert bei dieser Ausstellung erstmals zwei ihrer Ölgemälde der Öffentlichkeit.«

»Na, da gratuliere ich, lieber Goldblatt! Das ist übrigens die erste erfreuliche Nachricht heute.«

»Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?«

»Lauter ungute Sachen im Bureau. Aber damit hab’ ich zu leben gelernt. Was mir allerdings wirklich an die Nieren geht, ist das da.«

Neuerlich tippte Nechyba mit dem Zeigefinger auf die Seite 2 der ›Neuen Freien Presse‹.

Goldblatt warf einen Blick auf den Artikel und sagte dann gelangweilt:

»Seit wann interessieren Sie sich für die Politik des amerikanischen Präsidenten?«

»Das kann ich Ihnen schon sagen: Seit Präsident Wilson uns den Krieg erklärt hat und sich massiv in unsere Angelegenheiten einzumischen beginnt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Da! Da lesen S’ den Punkt zehn! Bei dem wird mir angst und bang.«

Goldblatt nahm die Zeitung und las besagten Punkt langsam und laut vor:

»Den Völkern Oesterreich-Ungarns, deren Platz unter den Nationen wir geschützt und gesichert zu sehen wünschen, soll die erste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung gewährt werden.«

Er ließ die Zeitung sinken, nahm einen Schluck Kaffee und machte einen letzten Zug von seiner Zigarette. Dann murmelte er:

»Das wäre das Ende Österreich-Ungarns.«

Nechyba nickte:

»Das seh’ ich auch so.«

8 schwarzer, kurzer Kaffee mit Trebernschnaps

9 Offiziere

15. Jänner 1918

Was zum Kuckuck war das?

Aurelia war heute schon früher nach Hause gekommen und hatte Abendessen gekocht. Nechyba, der mit einem Bärenhunger an den heimischen Herd zurückgekehrt war, hatte seine Frau liebevoll umarmt und sich einfach nur gefreut: dass Aurelia schon da war, dass es in der Wohnküche wohlig warm war und dass das Abendessen auf dem Herd in einem Reindl10 leise vor sich hin blubberte. Er hatte die Gummigamaschen ausgezogen, war aus seinen knöchelhohen Schnürschuhen heraus- und in die Hauspatschen11 hineingeschlüpft. Sakko und Gilet12 waren auf einem Haken fein säuberlich aufgehängt worden. Danach hatte er sich von der Krawatte und dem steifen Hemdkragen befreit, das Hemd aus- und den bequemen Hausmantel angezogen. Von Aurelia waren inzwischen zwei Teller mit dampfendem Inhalt auf den Küchentisch gestellt worden. Mit einem zufriedenen Lächeln und einem wohligen »Ahhh …« war er auf den Küchensessel geglitten, hatte zum Löffel gegriffen − und dann das!

Was zum Kuckuck hatte Aurelia da gekocht? Skeptisch rührte er mit dem Löffel in der braunen Suppe. Weiße Bohnen schwammen drinnen. Aber wo war die Wurst? Oder vielleicht das eine oder andere Stückchen Fleisch? An dicke, weich gekochte Speckstücke, die sich im Mund so herrlich gallertartig anfühlten und die einen zarten Räuchergeschmack am Gaumen hinterließen, war in Zeiten wie diesen sowieso nicht zu denken. Aber eine Bohnensuppe ohne irgendein Fuzerl13 Fleisch war eine Zumutung.

»Nechyba, was hast denn? Was rührst denn in deinem Teller umadum?«

»Es ist noch sehr heiß …«, log Nechyba.

»Suchst vielleicht a Wurst- oder ein Fleischstückerl?«

Der Oberinspector sah seine Frau wie ein ertappter Lausbub an und grinste beschämt.

»Beides ist in diesem Rezept net vorgesehen.«

»Was is’ denn das für a Rezept?«

»Bohnen mit Paradeis14

»Bohnen mit Paradeis? Aha. Woher hast denn dieses Rezept?«

»Aus einem gerade erschienenen Büchl, das, was ›Zeitgemäße Kriegsküche‹ heißt.«

»Zeitgemäße Kriegsküche. So a Topfen15! Weißt, was zeitgemäß wär’?«

Aurelia sah ihren Mann fragend an und schüttelte den Kopf.

»Zeitgemäß oder besser gesagt höchste Zeit wäre es, wenn dieser vermaledeite Krieg aufhören würd’. Der macht alles kaputt. Weißt, was ich heut Abend vor dem Heimgehen erfahren hab’? In Niederösterreich sind Streiks ausgebrochen. Ausgehend von den Daimler-Werken in Wiener Neustadt. Und weißt, warum? Weil die Regierung den Hacklern16 die Mehlquote gekürzt hat. Und weil’s jetzt noch weniger zum Fressen kriegen, verweigern Tausende die Arbeit. Ich versteh’ die Leut’. Der Krieg is’ a Schas!«

»Wem sagst du das?«, seufzte Aurelia und begann, die Bohnen mit Paradeis zu essen. Nechyba saß wie ein trotziges kleines Kind da, sah sie vorwurfsvoll an und brummte:

»Was ist denn da drinnen?«

»Wie der Name schon sagt: Bohnen und Paradeiser. Dazu kommen noch zehn Deka17 gekochte und geriebene Erdäpfel18. Ich hab’ das Ganze mit einem bisserl Thymian, Bohnenkraut und einem Lorbeerblatt verfeinert.«

»Wo hast denn die Paradeiser her?«

»Die hat uns deine Cousine letzten Sommer mitgegeben, als wir sie draußen in ihrer Gärtnerei besucht haben. Daraus hab’ ich a Sauce gekocht und die hab’ i dann eingerext. Als eiserne Reserve. Zwei Gläser hamma noch.«

Nechybas Magen brummte. Er sah verzweifelt auf seinen immer kleiner werdenden Bauch, seufzte voll Resi­gnation, griff zum Löffel und begann mit Todesverachtung die Bohnen mit Paradeis in sich hineinzuschaufeln. Nach etwa der Hälfte hielt er inne und streichelte über Aurelias linke Hand, die schwer und müde auf dem Tisch lag.

»Schmeckt gar nicht so übel. Obwohl ka Fleisch drinnen is’.«

Nun seufzte auch Aurelia.

»Fleisch kriegt man im Moment wirklich kaum mehr. Es is’ a Jammer. Dabei bräuchte ich so dringend eines. Weil, der Herr Hofrat is’ schon ganz rappelig. Er will endlich wieder Fleisch essen. Wurscht19, was es kostet. Geld hat er ja.«

Nechyba aß auf. Und weil es ihm nun doch recht gut geschmeckt hatte, wischte er mit dem Zeigefinger den Teller aus und schleckte ihn anschließend genussvoll ab. Aurelia sah ihm irritiert zu, beschloss aber, ihn nicht zur Ordnung zu rufen. Stattdessen sagte sie mit verzagter Stimme:

»Ich bin verzweifelt. Ich weiß wirklich nicht, wie ich den Appetit meines Dienstgebers auf Fleisch stillen kann.«

Nechyba lehnte sich zurück und ließ einen fahren. Die Bohnen beginnen ihre Wirkung zu entfalten, dachte er. Und als er so entspannt mit leidlich gefülltem Magen dasaß, kam ihm eine Idee:

»Ich könnt’ mit dem Guadn reden …«

»Mit dem Karminsky?«

»Wie du weißt, hat der eine eigene Fleischerei20 und obendrein die besten Beziehungen überallhin.«

10 Kasserolle

11 Hausschuhe

12 Weste

13 kleines Stück

14 Tomaten

15 Blödsinn

16 Arbeiter

17 1 Deka = 10 Gramm

18 Kartoffel

19 egal

20 Metzgerei

19. Jänner 1918

Der Oberinspector genoss mit Bedacht sein Gabelfrühstücksbier, als das Telefon läutete.

»Himmelherrgott!«

Er wischte sich den Bierschaum aus dem mächtigen, aufgezwirbelten Schnurrbart, hob den Hörer ab und brummte:

»Ja?«

»Nechyba, guten Morgen! Schober spricht.«

»Guten Morgen, Herr Doktor.«

»Ich bräuchte Sie dringend bei mir in der Polizeidirektion. Könnten Sie herüberkommen?«

»Wann, Herr Doktor?«

»Sofort. Wenn es sich bei Ihnen einrichten lässt …«

»In zehn Minuten? Ist das in Ordnung?«

»Wunderbar. Bis gleich.«

Nechyba legte den Hörer auf und starrte das Telefon feindselig an. Wenn er irgendwas in dieser Welt ändern könnte, dann würde er zuallererst das Telefon abschaffen. Diese Telefonie war wie eine Krankheit, die sich immer mehr ausbreitete. Monat um Monat gab es mehr Apparate und damit mehr Möglichkeiten zu telefonieren. Diese neumodische Art zu kommunizieren wuchs sich zu einer Manie aus. Krethi und Plethi griffen zum Telefon und tratschten miteinander. Unablässig klingelte der Apparat. Niemals gab er Ruhe. »Abschaffen!«, brummte Nechyba. »Dieser Blödsinn gehört abgeschafft!« Mit zwei langen Zügen trank er das Bier aus und rülpste lautstark. Sofort wurde die Bureautür geöffnet und sein Assistent Pospischil trat ein.

»Darf ich abservieren?«

»Ich muss rüber in die Polizeidirektion. Wahrscheinlich komm ich erst wieder nach Mittag zurück.«

»Jawohl, Herr Oberinspector.«

Nechyba schlüpfte in den schwarzen Überzieher, setzte die Melone auf und verließ seine Arbeitsstätte, während Pospischil hinter ihm leise die Bureautür schloss. Nechybas Magen grummelte. Er hatte das Bier zu schnell getrunken. Noch dazu ohne Gabelfrühstück. Heute hatte die Landerl, die Greislerin, bei der er seit Jahren einkaufte, nicht einmal ein Stückerl Brot oder einen Zipfel Wurst für ihn gehabt. Keinen Käse, keine Russen21, einfach gar nichts. Das hatte er auch noch nie erlebt. Sein Magen knurrte, und Nechyba war grantig. Erstmals seit Jahrzehnten kein Gabelfrühstück. Selbst als junger Sicherheitswachmann hatte er immer ein Gabelfrühstück zu sich genommen. So viel Zeit musste sein. Allerdings: Zeit war ja nicht das Problem. Zeit hatte er im Dienst mehr als genug. Wie das aber mit der Lebensmittelversorgung weitergehen würde, stand in den Sternen. Ganz Wien hungerte. Es war ein Jammer. Mit grimmiger Miene betrat er die Polizeidirektion. Die zwei Uniformierten, die hier Wache hielten und normalerweise alle Eintretenden streng kontrollierten, zuckten zusammen. Einer der beiden zog es vor, schnell in die Gegenrichtung zu schauen und so zu tun, als ob er Nechyba nicht bemerkt hätte. Der andere schlug die Hacken zusammen und salutierte:

»Habe die Ehre, Herr Oberinspector!«

Nechyba nickte brummelnd und ging, ohne eine Erklärung abzugeben, schnurstracks zu der Stiege, die zu Schobers Bureau führte. Keiner der beiden Wachleute hatte sich zu fragen getraut, wohin er wolle. Wenn der Oberinspector diesen Gesichtsausdruck hatte, war es ratsam, auszuweichen oder am besten gar nicht da zu sein. Schließlich hatte er im Polizeikorps den Ruf, ein veritabler Grantscherm22 zu sein. Schnaufend marschierte Nechyba zu den Räumlichkeiten des Polizeipräsidenten. Wer immer ihm auf seinem Weg begegnete, wich ihm aus und war froh, dass er mit dem Oberinspector aus dem benachbarten Polizeiagenteninstitut nichts zu tun hatte. Nechyba trat, ohne anzuklopfen, in das Vorzimmer des Polizeipräsidenten ein. Er grüßte den Adjutanten des Präsidenten mit einem Kopfnicken und brummte:

»Der Herr Dr. Schober hat mich gerufen. Es pressiert.«

Der Adjutant nickte, sprang auf, eilte zur Tür von Schobers Bureau, öffnete diese und sagte:

»Oberinspector Nechyba ist da.«

»Er soll bitte reinkommen!«

Der Adjutant nickte und Nechyba betrat Schobers Bureau. Zu seiner Überraschung war er nicht alleine. Hofrat Dr. Roderich Schmerda war ebenfalls anwesend. Was zum Teufel machte Aurelias Dienstgeber hier?

»Darf ich die Herren einander vorstellen? Hofrat Dr. Schmerda vom Innenministerium. Oberinspector Nechyba vom Polizeiagenteninstitut.«

Schmerda war aufgestanden, winkte ab und raunzte:

»Mein lieber Schober, lassen Sie’s gut sein. Wir kennen einander bereits. Herr Oberinspector, ich begrüße Sie.«

»Meine Hochachtung, Herr Hofrat.«

»Nechyba, nehmen S’ bitte Platz. Ich hab’ Sie hergerufen, weil es um eine äußerst heikle Angelegenheit geht …«

»Heikel ist eine Untertreibung!«, unterbrach Schmerda den Leiter der Wiener Polizei. »Faktum ist, dass es um Wohl und Wehe unserer Armee, der Monarchie und auch unseres geliebten Kaiserhauses geht!«

»Um Gottes willen! Was ist passiert?«

Schmerda lehnte sich in seinem Sessel zurück, schlug die Beine übereinander, holte tief Luft und begann zu dozieren:

»Am Montag dieser Woche hat in Wiener Neustadt um halb acht in der Früh die Belegschaft der Daimler-Motorenwerke die Arbeit niedergelegt und ist geschlossen zum Wiener Neustädter Rathaus marschiert. Diesem Marsch haben sich die Arbeiter der Lokomotivfabrik, der Radiatorenwerke, der Flugzeugfabrik und der Munitionswerke Rath angeschlossen. Bis zum Nachmittag hatten sich 10.000 Demonstranten am Rathausplatz versammelt. Am Dienstag hat sich dieser lokale Streik zu einer politischen Massenbewegung gewandelt. An diesem Morgen legte in Ternitz die Belegschaft der Schoeller-Werke die Arbeit nieder und marschierte ins benachbarte Wimpassing, wo sich ihr die Beschäftigten der Gummifabrik und aller anderen dort ansässigen Unternehmen anschlossen. Der Marsch führte weiter nach Neunkirchen, wo sich ebenfalls sämtliche Betriebe an dem Ausstand beteiligten. Weiters schlossen sich alle Arbeiter in Enzesfeld-Hirtenberg, in Leobersdorf, in Wöllersdorf sowie im ziemlich weit weg liegenden Sankt Pölten dem Streik an. Am Mittwochmorgen erreichte die Streikbewegung Wien. Im Arsenal legten 15.000 Arbeiter die Arbeit nieder, in den Fiat-Werken in Floridsdorf waren es 2.000. Im Laufe des Tages wuchs dann die Zahl der Streikenden auf über 80.000 an. Bemerkenswert war, dass es den Streikenden nun in erster Linie nicht mehr nur um eine bessere Lebensmittelversorgung ging, sondern um ein politisches Ziel …«

Schober nickte und warf ein:

»Nun ging es den Streikkomitees um die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk23

Schmerda fügte hinzu:

»In der Brigittenau forderten Kundgebungsteilnehmer, dass die Regierung einer Arbeiterdelegation Zutritt zu den Friedensverhandlungen gewähren sollte.«

Nechybas Magen grummelte laut und vernehmbar. Um diese Geräusche zu übertönen, fragte er:

»Und was sagt Unsere Allerhöchste Majestät dazu?«

Schmerda zog ein Stück Papier aus der Innentasche seines Sakkos und antwortete flüsternd:

»Er ist in höchstem Ausmaß besorgt. Ich zitiere aus einem Telegramm, das Seine Majestät gestern an unseren Außenminister, den Grafen Czernin, in Brest-Litowsk gesandt hat:

Ich muß nochmals eindringlichst versichern, daß das ganze Schicksal der Monarchie und der Dynastie von dem möglichst baldigen Friedensschluß in Brest-Litowsk abhängt …

und ich zitiere weiter:

Kommt der Friede nicht zustande, so ist hier die Revolution, wenn auch noch so viel zu essen ist. Dies ist eine ernste Warnung in ernster Zeit …

Meine Herren, diese Information ist streng vertraulich und bleibt unter uns, gell?«

Nechyba und Schober nickten. Der Hofrat räusperte sich und fuhr mit dem Lagebericht fort:

»Im Laufe des Mittwochs konnte der Parteivorstand der Sozialdemokraten mit Müh und Not einen Streik der Eisenbahner verhindern. Trotzdem befanden sich in Wien und Niederösterreich am Ende des Tages gut und gerne 150.000 Arbeiter im Streik. Es gab unzählige Versammlungen in Arbeiterheimen und Gastwirtschaften, und es kam zu Demonstrationen auf den Straßen. Aus Favoriten sind einige Tausend Arbeiter in Richtung Stadtmitte marschiert und haben den Verkehr zum Stillstand gebracht. Diese Demonstration wurde von berittener Polizei aufgelöst.«

Nechyba bemühte sich, durch eine andere Sitzposition seinen unruhigen Magen zur Ruhe zu bringen. Gleichzeitig bemerkte er:

»Davon hab’ ich gehört. Mir ist auch zugetragen worden, dass sich in den Betrieben Arbeiterräte gebildet haben.«

Schmerda nickte und fuhr fort:

»Zum Glück haben die Funktionäre der Sozialdemokratischen Partei rasch reagiert und waren im Laufe des Donnerstags zu Hunderten von Versammlungen gegangen und haben dort die Situation so weit unter Kontrolle bekommen, dass Bezirksarbeiterräte gewählt wurden. In diesen Räten saßen als kooptierte Mitglieder wiederum gestandene Funktionäre der Sozialdemokraten. Damit wurde versucht, die linksradikale umstürzlerische Grundtendenz der Rätebewegung in den Griff zu bekommen. Am Donnerstagmorgen ist außerdem in der ›Arbeiter-Zeitung‹ eine Erklärung des Parteivorstandes veröffentlicht worden …«

Schober schaltete sich ein:

»… in der vier Forderungen formuliert wurden. Und zwar: Friede, Verbesserung der Ernährungssituation, Demokratisierung des Gemeindewahlrechts sowie Aufhebung der Militarisierung der Betriebe. Darüber will die Parteiführung der Sozialdemokraten mit der kaiserlichen Regierung verhandeln.«

Schmerda nickte und fuhr fort:

»Allerdings weitete sich am Donnerstag die Bewegung neuerlich aus, erstmals wurde auch in einem Kronland, nämlich in Krakau, gestreikt. Donnerstagabend befanden sich in Wien, Niederösterreich und der Steiermark über 200.000 Arbeiter im Ausstand. Gestern hat dann der österreichische Außenminister aus Brest-Litowsk eine Erklärung verlautbaren lassen …«

Schmerda kramte neuerlich in seinen Taschen und zog einen weiteren Zettel heraus, von dem er vorlas:

»Ich hafte und bürge … äh … dafür, daß der Friede unsererseits nicht an Eroberungsabsichten scheitern wird …

und weiter:

Wir wollen von Rußland weder Gebietsabtretungen noch Kriegsentschädigungen. Wir wollen nur ein freundnachbarliches, auf sicherer Grundlage beruhendes Verhältnis, das von Dauer ist und auf gegenseitigem Vertrauen ruht.«

Nach einer kurzen Pause fuhr Schmerda fort:

»Trotzdem hat sich die Bewegung im Laufe des gestrigen Tages weiter ausgebreitet. Das betraf sowohl Betriebe im Mur- und Mürztal, in Linz und Steyr als auch in Brünn, Mährisch Ostrau, Triest und Budapest.«

Schober runzelte die Stirn und blätterte in den Unterlagen.

»Wir haben leider keine konkreten Zahlen mehr, weil das Ganze nicht mehr überschaubar ist. Unserer Schätzung nach befinden sich allein in Cisleithanien24 derzeit zwischen 700.000 und einer Million Arbeiter im Ausstand.«

Schmerda schnaufte und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirnglatze:

»In Wien hat sich gestern Abend ein 14-köpfiger zentraler Arbeiterrat konstituiert, der die bereits erwähnten vier Forderungen mit der Regierung verhandeln soll. Diese Verhandlungen laufen derzeit. Hoffen wir, dass dabei was Vernünftiges herauskommt.«

Nechybas Magen revoltierte neuerlich und er versuchte, ihn mit lauter Stimme zu übertönen:

»Ich danke recht schön für diesen informativen Überblick. Aber was hat das mit uns, mit dem Polizeiagenteninstitut, zu tun? Faktum ist, dass wir bemüht sind, unsere Leute in die größeren Streikversammlungen einzuschleusen und die linksradikalen Aufwiegler zu identifizieren und vorzumerken. Mehr können wir im Moment nicht tun.«

Schmerda nickte:

»Genau um diese Kräfte geht es. Um die linksextremen Aufwiegler. Ich habe da eine Liste der besonders gefährlichen Agitatoren …«

Er holte einen weiteren Zettel hervor und begann vorzulesen:

»Also, das wären die Herren Baral, Beer, Hexmann, Hübl, Kodanich, Kohn-Eber, Koritschoner, Kulcsar, Pjatiorski, Rothziegel und Wertheim.«

Schober sah Nechyba an und sagte in sanftem Befehlston:

»Diese Herrschaften, Nechyba, werden Sie und Ihre Leute am Montag verhaften. Ausnahmslos. Das ist unser Beitrag zur Deeskalation dieser unerfreulichen Geschichte. Sehen Sie zu, dass Ihre Agenten bei diesen Einsätzen bewaffnet sind. Falls nötig, sorgen Sie für ausreichend Unterstützung durch die Sicherheitswache.«

Nechybas Magen brummte und grummelte. Abrupt stand er auf und sagte laut und deutlich:

»Jawohl, Herr Doktor. Am Montag werden wir die Subversiven aus dem Verkehr ziehen. Herr Hofrat, darf ich Sie um die Liste bitten?«

Schmerda stand ebenfalls auf und übergab den Zettel. Schober erhob sich, schüttelte beiden Männern die Hand und bedankte sich für ihr Kommen.

Auf der Stiege ergriff Hofrat Schmerda plötzlich Nechybas Arm, sodass dieser stehen bleiben musste. Schmerda beugte sich zu dem Inspector und flüsterte:

»Ich hab’ noch a Bitte an Sie: Ihre Frau Gemahlin hat erwähnt, dass Sie … dass Sie Verbindungen hätten … zum Schwarzmarkt. Ich bitt’ Sie, könnten Sie mir net a ordentliches Stück Rindfleisch verschaffen? Einen ganzen Rücken oder einen Haxen. Mit Knochen und allem. Ich hab’ solche Zähne25 auf a Rindfleisch. Ich bitt’ Sie inständig. Ich zahl jeden Preis.«

21 eingelegter, marinierter Hering

22 grantiger Mensch

23 Friedensverhandlungen zwischen der neuen Sowjetführung Russlands und Österreich-Ungarn

24 die österreichischen Kronländer (Transleithanien = die ungarischen Kronländer)

25 ich habe so ein großes Verlangen

22. Jänner 1918

»Ja da schau her! Der Herr Oberinspector. Wollen S’ nicht Platz nehmen?«

Nechyba setzte sich an den Kaffeehaustisch und brummte:

»Das hätt’ i sowieso g’macht. Da brauch’ ich ka Einladung.«

Zygmunt Karminsky sah Nechyba fragend an und fuhr dann etwas verunsichert fort:

»Es ist mir eine Freude, Herr Oberinspector. Wünsche einen guten Tag! Geh, Herr Ober, bringen S’ dem Herrn Oberpolizeirat einen Schwarzen mit einem ordentlichen Schuss Trebern drinnen. Was? Sie haben keinen Trebern? Na gut, dann nehmen S’ halt einen Cogn… äh … einen Weinbrand!«

Nechyba war irritiert. Karminsky kannte seine persönlichen Vorlieben recht gut. Dieser fuhr in leutseligem Tonfall fort:

»Also, wie geht’s denn so immer?«

»Dir bald nicht mehr so gut …«

»Um Himmels willen! Was liegt denn gegen mich vor? Hab’ ich was ang’stellt? Ich bin doch ganz brav.«

»Du bist ein Hurentreiber, ein Strizzi26 und ein Stoßspieler27

Karminskys Mund verzog sich zu einem verbindlichen Grinsen:

»Aber Herr Oberinspector, ich bitt’ Sie! Das muss ich doch entschieden in Abrede stellen. Ich bin der Guade, ein Wohltäter. Ich geb’ obdachlosen Mädeln ein Dach über dem Kopf und füttere sie durch. Was bei Gott keine leichte Aufgabe ist in diesen Zeiten. Und was das Spielen betrifft, so tu’ ich halt gern ein bisserl dippln28. Aber das mach’ ich ausschließlich aus Spaß an der Freud’.«

»Ein Schleichhändler bist obendrein.«

»Ich bin a kleiner Gewerbetreibender. Das hab’ ich amtlich mit Brief und Siegel. Wie Sie wissen, gehört mir die Fleischhauerei Trnka. Der Witwe des gefallenen Fleischers hab’ ich einen ordentlichen Batzen Geld gezahlt. Seitdem führt sie das Geschäft für mich und verdient ein anständiges Gehalt. Wenn ich ihr mit meinen Beziehungen und meinem Geld nicht geholfen hätt’, hätt’ sie zusperren müssen und wär’ verhungert. Da sehen Sie, was ich für ein sozialer Mensch bin und warum man mich den Guadn nennt.«

»Vorn im G’schäft verkaufst du das bisserl Fleisch, das dir zugeteilt wird. Und hinten im Hof verkaufst du die Schwarzmarktware, du Falott29, du!«

»Geh bitte! Wer hat jetzt im Krieg nix mit dem Schleichhandel zu tun? Das macht doch a jeder! Ohne Schleichhandel würd’ ma alle verhungern. Also sind S’ nicht so streng, Herr Oberinspector. Außerdem haben Sie ja auch schon öfters von meiner Schwarzmarkttätigkeit profitiert.«

Der Ober servierte Nechyba den Kaffee. Es handelte sich um grauslichen Ersatzkaffee aus Eicheln und Zichorien. Nur dem heißen Weinbrand war es zu verdanken, dass das Gebräu einigermaßen angenehm duftete. Nechyba nahm vorsichtig einen Schluck und achtete darauf, sich nicht die Lippen zu verbrennen.

»Werd net frech. Weil, sonst geht’s dir gleich wirklich nimmer guad. Wennst mich reizt, verhafte ich dich auf der Stelle. Du Pülcher30, du. Also horch zu: Ich brauch’ ein Knöpfel31, und wenn du es auftreiben kannst, auch ein Englisches32

Nechyba nahm neuerlich einen Schluck und fuhr ungerührt fort:

»Und zwar gestern. Das Fleisch will ich zerlegt und pariert haben. Die Knochen zerhackt als Zuwaag. Na? Jetzt geht dir der Schmäh aus, was? Jetzt schaust ganz kariert.«

Der Guade nahm einen Schluck Weinbrand und flüsterte:

»Aber das kostet a kleines Vermögen …«

»Hab’ i g’sagt, dass ich was gratis will?«

»Haben S’ Geld unterschlagen oder geerbt?«

»Noch so eine depperte Bemerkung und du verbringst die Nacht in der Liesl33

»’tschuldigung. War nicht so gemeint. Also wann ich a Knöpfel auftreiben kann, wird das Kilo beiläufig um die 20 Kronen kosten.«

»Und das Englische?«

»Marantjosef34! Ich weiß net, ob ich des krieg. Aber unter 25 Kronen das Kilo wird sich da nix abspielen.«

»In Ordnung. Wann lieferst?«

»Das Knöpfel können S’ in zwei bis drei Tagen in meiner Fleischerei abholen. Das Englische braucht länger.«

»Ich hol gar nix ab. Übermorgen treff’ ma uns wieder hier im Café. Dann bekommst von mir die Lieferadresse.«

Nechyba trank aus, stand auf und wollte grußlos gehen. Doch der Guade war ebenfalls aufgesprungen und hatte seine Hand gepackt. Er schüttelte sie und versicherte mit treuherzigem Blick:

»Herr Oberinspector, es war mir ein Vergnügen. Auf den Kaffee mit Cogn… äh … Weinbrand sind Sie selbstverständlich eingeladen.«

Nechyba schüttelte dem Ganoven, obwohl ihm das peinlich war, die Hand. Dabei grantelte er:

»Den Kaffee hätt’ i sowieso net zahlt.«

26 Zuhälter

27 Spieler eines illegalen Kartenspiels

28 Karten spielen

29 Lump

30 Verbrecher

31 Knöpfel ist der Name des hinteren Teils des Rindes gemäß der Wiener Teilungsmethode: Schale, Fledermaus, Zapfen, Hieferschwanzel, Hieferscherzel, Tafelspitz, Tafelstück, schwarzes und weißes Scherzel, Gschnatter, hinterer Wadschunken, Bratzel, Ochsenschlepp

32 Lungenbraten, Beiried, Rostbraten

33 Polizeigefangenenhaus an der Elisabethpromenade

34 Maria und Josef!