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Printed in Germany

Gekürzte und bearbeitete Taschenbuchausgabe
Lektorat: Volker Drüke, Münster; Dr. med. Annette Gesien, Stuttgart
Umschlagabbildung: Reinhold Henkel, Heidelberg
Umschlaggestaltung: Medienfabrik, Stuttgart
Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth
Druck und Einband: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978–3-7945–2930-8

Mit Beiträgen von

Josef B. Aldenhoff, Andreas Bartels, Wulf Bertram,
Rafaela von Bredow, Giovanni Buccino,
Anna Buchheim, Vince Ebert, Susanne Erk,
Vittorio Gallese, Axel Karenberg,
Giovanni Maio, Michael Pauen, Joram Ronel,
Johann Caspar Rüegg, Daniel Schäfer,
Günter Schiepek, Stephan Schleim, Manfred Spitzer,
Dieter Vaitl, Henrik Walter, Michael H. Wiegand

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Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Vom Anfang mit Neugier … zum Meta-Spaß!

Selbsterfahrungsgruppen haben so ihre eigenen Rituale. Eines davon ist mitunter die Aufforderung an die Gruppenmitglieder, ihre drei besten Eigenschaften zu benennen. In bereits fortgeschrittenem Alter ließ sich einst auch der Nestor der deutschen Psychosomatik, der Internist und Naturphilosoph Thure von Uexküll, auf die Teilnahme an einer solchen Runde ein. Diejenigen, die vor ihm an der Reihe waren, hatten vorteilhafte Attribute wie „Ausdauer, Zuverlässigkeit, Sorgfalt“, „Humor, Optimismus, Zuversichtlichkeit“, „Geduld, Gelassenheit, Toleranz“ oder Ähnliches genannt. Als die Reihe an ihm war, zögerte Uexküll nicht lange mit seiner Antwort. Sie lautete: „Erstens Neugier, zweitens Neugier, drittens Neugier.“ Die moderne Forschung bestätigt, dass Neugier tatsächlich ein Charakterzug (trait) ist, also eine Eigenschaft, die Menschen mehr oder weniger stark aufweisen, die eine biologische Grundlage hat und letztlich genetisch verankert ist.

     Thure von Uexküll wurde in bester geistiger Verfassung 96 Jahre alt, forschte, lehrte und publizierte nach der Emeritierung von seinem Lehrstuhl in Ulm noch über 30 weitere Jahre lang und blieb dabei für neue Denkanstöße und selbst für quer gedachte Ideen seiner Mitstreiter, Schülerinnen und Schüler stets aufgeschlossen. Neugierig eben.

     Neugier ist allerdings nicht immer und automatisch mit Freude und langem Leben verknüpft. Nach der griechischen Mythologie machte Pandora, die erste auf Geheiß von Zeus aus Lehm geschaffene Frau, aus Neugier ein Fass auf. Dummerweise bewahrte Zeus die Plagen der Menschheit darin, und so brachte Pandoras Neugier vielerlei Übel in die Welt. Odysseus wird für seine Unruhe und Neugier von den Göttern hart bestraft und Adam und Eva werden nach der biblischen Überlieferung aus dem Paradies vertrieben. Der Psychiater Heinrich Hoffmann hat in seinem Struwwelpeter dem Paulinchen, das aus purer Neugier einen Stubenbrand entfacht und darin umkommt, ein abschreckendes Denkmal gesetzt. Und so mancher Polar-, Dschungel- oder Höhlenforscher bezahlte für seine Neugier mit dem Leben. Nicht anders geht es dem heutigen Sensation-Seeker, der im Eis-Wasserfall klettert, am Lenkdrachen hängt oder auf dem 200-PS-Motorrad sitzt und Grenzbereiche neugierig auslotet. Und weil es immer einen noch schwierigeren Eisbruch, eine noch höhere Flugbahn und ein noch schnelleres Motorrad (bzw. eine noch engere Kurve) gibt, wird die potenziell tödliche Neugier nie gesättigt.

     Wenn Sie, liebe Leserin und lieber Leser, nun aber zu den Menschen mit einer Extra-Dosis des Neugier-Gens gehören und sich dieses Buch in Uexkülls Geisteshaltung vorgeknöpft haben, befinden Sie sich also nicht nur in bester Gesellschaft. Sie haben es darüber hinaus verstanden, aus Ihrem Neugier-Gen das Beste zu machen und vor allem, ihm den lebensverkürzenden Aspekt zu rauben. Und wenn für Sie nach der Lektüre mehr Fragen offen geblieben sind, als Sie vorher hatten, hätten Sie unser Buch mit Gewinn gelesen. Denn mit dem Gehirn ist es wie mit dem Motorrad: Sie können in ihm noch so lange mittels Elektroenzephalographie (EEG) oder funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) herumkurven, viel Neues entdecken und noch mehr publizieren, es gibt immer neue Weggabelungen und weitere Kurven: Und je mehr Straßen Sie befahren haben, desto mehr haben Sie zwangsläufig auch links oder rechts liegengelassen, es bleibt also manches im Dunkeln. Einige Wissenschaftler meinen, dass das in Hinblick auf unsere Kenntnisse vom Gehirn wohl auch so bleiben werde: Wenn dieses Organ so raffiniert und sublim sei, dass es sich gar selbst erforschen kann, sorge diese immense Komplexität dafür, dass ihm das nie vollkommen gelingen wird. Aber was heißt schon vollkommen? Wenn Achtklässler im Biologieunterricht ein Kuhauge untersuchen, tun sie das mit Lupe, Messer, Mikroskop und vor allem – mit ihren Augen. Augen untersuchen also Augen! Wenn es gut geht, erkennen sie dabei den Zusammenhang von Biologie und Physik: Sie lernen etwas über Lichtbrechung an optisch unterschiedlich dichten Medien im Auge und über die Umwandlung von Licht in Information im Auge. Ist das alles zirkulär oder gar paradox und damit unmöglich? – Durchaus nicht! Warum sollte das beim Gehirn anders sein? In beiden Fällen trifft eines jedoch auf alle Fälle zu: die Triebfeder, es wissen zu wollen, heißt Neugier, Neugier, und nochmal Neugier!

     Was ist Neugier? Der Philosoph könnte, mit Heidegger beispielsweise, sagen, dass die Antwort auf diese Frage nicht zuletzt darin liegt, die Frage besser zu verstehen. Denn die Frage nach der Neugier ist ja selbst eine neugierige Frage. Mit der Neugier ist es also wie mit dem Denken: Wenn man darüber nachdenkt, hat man schon damit angefangen. Denken und Neugier sind auf einen Inhalt gerichtet, haben also intentionale Struktur, sind nicht statisch, sondern in Bewegung – auf etwas hin, das man noch nicht kennt. Dieses Auf-etwas-gerichtet-Sein, das zugleich wesensmäßig noch nicht gekannt ist – ja, das gehört zur Neugier. Und die Freude daran, die uns treibt, das Erkenntnisinteresse, gehört zu ihr.

     Und genau dieses Erkenntnisinteresse kann mich dazu treiben, die Neugier ihrerseits zu untersuchen. Mit Messer und Mikroskop kommt man da nicht sehr weit. Aber mit EEG oder fMRT kommt man schon deutlich weiter. Diese Methoden untersuchen lebendige Prozesse bei lebendigen Systemen. Wie aber untersucht man Neugier? – „Ist doch klar: Man legt eine Versuchsperson in den Scanner und sagt: Nun sei doch mal neugierig!“ und dann macht man ein Bild vom Gehirn und – voilà – schon hat man ein buntes Bildchen der Neugier im Gehirn.

     Gemach! Dass es so nicht geht, zeigt nicht zuletzt ein Beitrag dieses Buches sehr deutlich (Kapitel 11 von Henrik Walter und Susanne Erk). Wie geht es aber dann? Wie die philosophische Analyse zeigte, geht es bei der Neugier darum, dass man etwas nicht weiß und es wissen will. Man ist also mehr oder weniger unsicher und will etwas mehr oder weniger stark wissen. (Oder anders: Wenn ich nicht unsicher bin, bin ich nicht neugierig; und wenn ich etwas nicht wissen will, auch nicht.) Unsicherheit und Wissen-Wollen sind damit zwei Aspekte der Neugier und beide lassen sich erfassen.

     Der Kontext, in dem Neugierde damit steht, ist nicht der Gleitschirm und auch nicht das Motorrad, sondern – und das wird manchen überraschen – die Schule. Geht es doch bei der Neugierde um nichts weniger als um die Triebfeder dessen, was der Mensch von allen Lebewesen auf der Erde am besten kann, womit er deswegen auch seine meiste Zeit verbringt und was er ohnehin am liebsten macht: Lernen!

     In der schönen Arbeit „Der Docht in der Kerze des Lernens“ (Kang et al. 2009; ja, so originell können wissenschaftliche Originalarbeiten zur fMRT betitelt sein!) zum Zusammenhang von Neugier und Lernen wird beschrieben, wie es geht: 19 Studenten liegen im MR-Tomographen und sehen jeweils eine von 40 mehr oder weniger interessanten Fragen zur Allgemeinbildung: „Welches Musikinstrument wurde entwickelt, um wie die menschliche Singstimme zu klingen?“ oder „Wie heißt die Galaxie, in der unsere Erde liegt?“ Dann sollen sie zunächst auf einer Skala von 1 bis 7 angeben, wie neugierig sie auf die Antwort sind. Danach werden sie gefragt, wie sicher sie die Antwort wissen – von 0 % (weiß gar nichts) bis 100 % (weiß es sicher). Anschließend wird ihnen die Frage noch einmal gezeigt und erst dann sehen sie die Antwort. Nach dem Scannen sollen sie noch ihre jeweils vorher vermuteten Antworten auf die Fragen aufschreiben.

     In einem zweiten Experiment mit 16 anderen Studenten wird das Ganze noch einmal gemacht, diesmal ohne Scanner aber mit einem Messgerät zur Pupillenweite zur Bestimmung der Aktivierung des vegetativen Nervensystems. Diese Studenten werden nach der ganzen Prozedur mit der Bitte überrascht, in ein bis zwei Wochen noch einmal ins Labor zu kommen. An diesem Termin werden ihnen dann alle Fragen noch einmal gestellt und sie erhalten 25 Cent für jede korrekte Antwort. Man misst also die Gedächtnisleistung.

     Ein drittes Experiment in der Arbeit von Kang und Mitarbeitern untersucht an insgesamt 30 (wiederum anderen) Studenten den Zusammenhang zwischen Neugierde und Belohnung. Wieder ist alles wie gehabt, aber zehn der Studenten bekommen vor Beginn des Experiments halb so viele Münzen wie sie anschließend Fragen gestellt bekommen. Damit können sie sich das Anzeigen der richtigen Antworten (nachdem sie zunächst raten mussten) „erkaufen“. Die anderen 20 Studenten bekommen keine Münzen, sondern müssen entweder auf die Anzeige der richtigen Antwort 5 bis 25 Sekunden warten oder sie können die Antwort überspringen und die nächste Frage abrufen. Die Idee dahinter: Wenn die Probanden neugierig sind, bezahlen die Münzbesitzer für die Anzeige der Antwort und die in der anderen Gruppe warten darauf. Wenn sie nicht neugierig sind, bezahlen oder warten sie nicht. In beiden Fällen wird also gemessen, wie neugierig die Probanden auf die Antwort wirklich sind.

     Was kommt heraus? Zunächst zu den funktionellen Gehirn-Bildern: Man gruppiert sie nach der Neugier (Bilder von Durchgängen mit überdurchschnittlich viel Neugier versus Bilder von Durchgängen mit unterdurchschnittlicher Neugier) und findet auf diese Weise Bereiche im Gehirn, die mit Neugier in Zusammenhang stehen: Beim Stellen der Frage sind der linke Nucleus caudatus, der inferiore präfrontale Kortex beidseits und der parahippocampale Kortex beidseits aktiver, wenn man auf die Antwort neugierig ist, als wenn man das nicht ist. Bei der Anzeige der Antwort sind Bereiche des Gehirns, die für Lernen und Gedächtnis zuständig sind, viel stärker aktiviert, wenn die Probanden zuvor falsch geraten hatten. Dieser Effekt wiederum war von der Neugierde moduliert: Die mit Lernen und Gedächtnis in Zusammenhang stehenden Bereiche des Gehirns (wer es genau wissen will: der inferiore frontale und der parahippocampale Kortex sowie der Hippocampus) waren umso aktiver, je neugieriger die Probanden auf die Antwort waren. Hatten sie zuvor die Antwort bereits richtig geraten, zeigte sich kein Zusammenhang der Aktivierung dieser Areale mit der Neugier. Fazit für Lernen und Unterricht: Eine falsche Antwort ist ein pädagogischer Glücksfall und beileibe kein Grund zu Tadel oder gar Strafe! Denn genau dann sind wir für die Aufnahme neuer und dann eben zutreffender Inhalte besonders prädestiniert!

     Es ist eine Sache zu zeigen, dass durch Neugier die „Lernzentralen“ des Gehirns aktiviert werden, und eine andere, ob Neugier tatsächlich zu besserem Lernen führt. Hierzu diente das zweite Experiment, bei dessen Auswertung nachgewiesen wurde, dass größere Neugier tatsächlich zu besserem Behalten führt: Man teilte die Fragen je nach Ausmaß der von den Probanden berichteten Neugier in drei Gruppen mit geringem, mittlerem und hohem „Neugierwert“ ein. Waren die Probanden nur wenig neugierig auf die Frage gewesen, wurde gerade mal etwas mehr als ein Drittel der Antworten korrekt behalten, bei mittlerer Neugier war es etwa die Hälfte und bei großer Neugier waren es gar zwei Drittel.

     Je neugieriger man also war, desto mehr blieb hängen. Zudem wurde gezeigt, dass Neugierde mit einer Vergrößerung der Pupille bereits vor der richtigen Antwort (und auch danach) einhergeht. Eine Pupillenvergrößerung zeigt neben erwarteter Belohnung auch vegetative Aktivierung, Aufmerksamkeit, Interesse und kognitiven Aufwand an – alles also Prozesse, die Lernen beschleunigen.

     Das dritte Experiment zeigte schließlich, dass Neugier einen direkten belohnenden Effekt hat: Je neugieriger die Probanden waren, desto eher bezahlten sie für die Antwort (bzw. desto länger warteten sie darauf).

     Insgesamt ergibt sich damit ein neurobiologisches Bild der Neugierde, das sie in einen klaren Zusammenhang mit Lernen, Erwartung und Belohnung stellt: Ereignisse der Umgebung (Fragen beispielsweise) triggern in unterschiedlichem Ausmaß die Neugier, d. h. die Suche nach Information. Diese Information hat belohnenden Charakter, und dieser Belohnungsaspekt ist in den Basalganglien repräsentiert. Diese wiederum versorgen das Arbeitsgedächtnis im Frontalhirn mit einem gehörigen Schuss Dopamin, so dass es die zu befragende Umgebung besser online halten kann. Ein stärkerer Input vom Belohnungssystem bewirkt eine bessere Einspeicherung der Antwort und sichert damit ihr besseres langfristiges Behalten. Das Ganze trifft vor allem dann zu, wenn die erwartete Antwort nicht eintritt, sondern eine neue, andere Antwort von der Umgebung als Input geliefert wird. Dann wird gelernt!

     Sofern Sie dieses Buch als relativer Neuro-Anfänger lesen, haben Sie also die größten Chancen auf Glück- und Lernerlebnisse. Sie werden in Ihren Erwartungen oft genug enttäuscht werden, um hoffentlich viel Neues zu lernen. Sind Sie kein Anfänger mehr oder gar ein Braintertainment-Wiederholungstäter, dann hoffen wir Herausgeber darauf, dass dieses Buch dennoch funktioniert, beinhaltet es doch genügend unerwarteten Stoff selbst für eingeweihte Spezialisten. Und wenn Sie, Gott-gleich, schon alles wissen, dann lesen Sie diese Zeilen gar nicht, denn dann hätten Sie das Buch gar nicht erst gekauft, ausgeliehen oder geschenkt bekommen. Was auch immer zutrifft, Sie sind entweder Gott selbst (das einzige Wesen ohne Neu-Gier) oder haben Spaß und lernen neu. Gehirnforschung macht also Spaß und zeigt auch noch, warum – und auch das macht Spaß! – Meta-Spaß!

     Spaß hat es offensichtlich auch den Autorinnen und Autoren gemacht, an diesem Buch mitzuschreiben, wie man ihren Beiträgen wohl anmerkt. Akademisches Publizieren ist meist kein Vergnügen, verlangt eine eigene, geradezu standardisierte, nüchterne Wissenschaftssprache und oft umständliche Begutachtungsprozeduren durch kritische Kollegen, die teilweise in Konkurrenz mit den Verfassern stehen. Aber es ist für eine Wissenschaftskarriere überlebensnotwendig (publish or perish!), weil man so genannte Impact Factor Scores sammeln muss. Sie messen, wie oft ein Beitrag von anderen Autoren zitiert wurde. Akademische Berufungen und Zuteilung von Forschungsbudgets hängen heute leider auch davon ab, ob man durch fleißiges Publizieren genügend solcher Punkte einheimsen konnte. Für Bücher und Beiträge wie die in diesem Band gibt es keine Punkte. Daher bleiben selbst die spannendsten und für unseren Alltag oft wichtigsten Forschungsergebnisse meist schön im akademischen Insiderzirkel. Umso mehr ist unseren viel beschäftigten und unter solchem Publikationsdruck stehenden Autorinnen und Autoren zu danken, dass sie sich gut gelaunt aus der trockenen akademischen Höhenluft auf einen Sprung zu der neurogierigen Leserschaft gesellen, die sich von diesem Buch angesprochen fühlt. Es war nicht immer leicht, sie trotz ihrer zahlreichen Verpflichtungen in unser Boot zu bekommen, aber dann haben eigentlich alle beim Abliefern ihrer Manuskripte kundgetan, dass es ihnen Spaß gemacht habe, anders und „freier“ schreiben zu dürfen als in den wissenschaftlichen Journals.

     Und da wir einmal beim Danken sind: Ohne ein kritisches, kreatives und kompetentes Lektorat wäre dieses Buch zwar wohl auch zustande gekommen, aber fragen Sie nicht wie …! Frau Dr. med. Annette Gesien, Herr Volker Drüke (Letzterer als bewährter Braintertainment-Wiederholungstäter) haben die Beiträge so bearbeitet, dass Originalität und Individualität unangetastet blieben, aber so weit wie möglich ein Buch aus einem Guss daraus geworden ist. Sie haben uns dabei mit manchen kritischen Fragen konfrontiert, um Sachverhalte noch klarer darzustellen, auf einige Widersprüche aufmerksam gemacht, die es aufzulösen galt und bei der Beschaffung fehlender Informationen geholfen. Dafür danken wir ihnen sehr. Frau Birgit Heyny hat ebenso gnadenlos wie mit freundlicher Engelsgeduld und großer Flexibilität erreicht, dass der von uns selbst gesetzte Zeit- und Umfangsrahmen eingehalten werden konnte und die redigierten Texte in eine ansprechende lesefreundliche Form gegossen wurden, dafür gebührt ihr ein Sonderdank, ebenso wie Frau Ruth Becker, die uns viele organisatorische Schritte und das Kollationieren des Umbruchs abgenommen hat und jetzt noch einmal diese Taschenbuchausgabe redigiert hat. Nach einer rudimentären Vorstellung unsererseits hat der Grafikdesigner Reinhold Henkel – wie auch bereits bei „Braintertainment“ – virtuos die Umschlagsabbildung gestaltet, viele eigene Ideen eingebracht und unsere wiederholten und manchmal wohl etwas sprunghaften Änderungswünsche mit Großmut, Engagement und Kreativität aufgegriffen. Dafür danken wir ihm herzlich.

     „Hirnforschung für Neu(ro)gierige“ ist die Fortsetzung von „Braintertainment“. Auf den Gedanken, jenes erste Buch herauszugeben, waren wir, wie wir in dessen Vorwort berichtet haben, seinerzeit nicht zuletzt gekommen, weil wir zusammen mit unserem Freund Joram Ronel gerade ein Jazz-Trio mit dem Namen „Braintertainers“ gegründet hatten. Von dieser Wortschöpfung waren wir selber so begeistert, dass wir – beim guten Rotwein nach dem Üben – beschlossen, unter einem ähnlichen Titel auch ein Buch in die Welt zu setzen. Dass im vorliegenden Nachfolgeband nun alle drei Braintertainers vertreten sind, war also überfällig, zumal wir bei unseren leider viel zu seltenen Übungsabenden immer auch über „… das Buch!“ gesprochen haben. Was bei diesen Treffen sonst noch herausgekommen ist, können Sie bei youtube unter dem Suchwort „Braintertainers“ ansehen, wenn Sie möchten. Zugegeben: die Klicks halten sich bislang in Grenzen, aber das erfreulich positive Echo auf unser Buch, für das wir uns an dieser Stelle bei einer Reihe von Rezensenten und Kritikern bedanken möchten, sowie dessen recht beachtlicher Verkaufserfolg haben uns und den Verlag ermutigt, „Hirnforschung für Neu(ro)gierige“ jetzt auch als preiswerte Taschenbuchausgabe herauszubringen. Also: viel Spaß damit – und nun halten wir Sie nicht weiter vom Lesen der vielen spannenden Beiträge ab, denn wir dürfen ja davon ausgehen, dass Sie schon neugierig sind, was in diesem Buch so alles auf Sie zukommt.

 

Ulm und Teolo, im Sommer 2012 Manfred Spitzer
Wulf Bertram    

Literatur

Kang MJ, Hsu M, Krajbich IM, Loewenstein G, McClure SM, Wang JT, Camerer CF (2009). The wick in the candle of learning. Epistemic curiosity activates reward circuitry and enhances memory. Psychological Science; 20: 963–973.

1    Hirnlandschaften

Eine funktionell-neuroanatomische Tour d'Horizon

Johann Caspar Rüegg und Wulf Bertram

„Wenn das menschliche Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, wären wir zu simpel, um es zu verstehen“, erklärte der amerikanische Physik-Professor Emerson M. Pugh (1896–1981) in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Sollte man es also vielleicht lieber gar nicht erst versuchen?

    Mehr als 30 Jahre später sieht es nicht so aus, als hätte sich die Scientific Community von diesem Verdikt entmutigen lassen. Und eine ständig wachsende „neurogierige“ Öffentlichkeit schon gar nicht: Hirnforschung hat Hochkonjunktur. Am 17. Juli 1990 hatte der damalige US-Präsident George Bush (der Vater!) das gerade angebrochene Jahrzehnt zur „Decade of the brain“ ausgerufen. Mit der üblichen zehnjährigen Verspätung wurde dann auch im April 2000 im Rahmen eines „Wissenschaftsfestivals“ auf dem Petersberg bei Bonn das „Jahrzehnt des Gehirns“ in Deutschland proklamiert. Die Anzahl der Publikationen über unser komplexestes, knapp drei Pfund schweres Organ ist exponentiell angewachsen, und Sie beschäftigen sich gerade mit einer derselben aus einem Meer von Tausenden. Seien Sie also erst einmal herzlich willkommen!

    Wir glauben, dass Sie von den nachfolgenden Beiträgen mehr profitieren und dass sie Ihnen mehr Freude machen werden, wenn wir Sie zunächst mitnehmen auf eine „Tour d'Horizon“ durch die Hirnlandschaft, die Ihnen einige Grundkenntnisse über Begriffe, Funktionen und den anatomischen Aufbau des Gehirns vermitteln soll. Wenn Sie damit schon weitgehend vertraut sind, werden Sie sich sicherlich zunächst einmal von uns verabschieden und direkt zu den nächsten Beiträgen springen, um vielleicht ja später hier und da mal etwas in unserem kurzen Überblick nachzulesen oder ein paar Details aufzufrischen.

    Begeben wir uns also auf die Tour.

Die Gliederung der Hirnhalbkugel

Das Gehirn gliedert sich in mehrere Hauptabschnitte (Abb. 1). Das Großhirn, auch Endhirn (Telencephalon) oder Cerebrum genannt, ist in seiner Komplexität die jüngste Errungenschaft der Evolution. Es besteht aus den beiden Hirnhälften (Hemisphären), die durch einen dichten Filz von Nervenfasern miteinander verbunden sind, den so genannten Balken (Corpus callosum). In ihrem Inneren enthalten die beiden Hirnhemisphären die mit einer klaren, farblosen Flüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) gefüllte linke und rechte Hirnkammer (Ventrikel). Der Balken legt sich über diese Ventrikel und das Stammhirn, also das Zwischenhirn (Diencephalon) mit dem darunter gelegenen Hirnstamm, der seinerseits durch „Stiele“ (Pedunculi) mit dem Groß- und Kleinhirn (Cerebellum) verbunden ist.

Der Hirnstamm (Truncus cerebri)

Der Hirnstamm umfasst das Mittelhirn (Mesencephalon), die Brücke (Pons; mit Verbindungen zum Groß- und Kleinhirn) sowie das verlängerte Rückenmark (Medulla oblongata), das viele unserer vegetativen Funktionen reguliert, etwa Atmung und Blutdruck. Es geht am hinteren (kaudalen) Ende in das – in der Wirbelsäule gelegene – Rückenmark (Medulla spinalis) über. Ist also, etwa infolge eines Schädeltraumas, die Medulla oblongata beschädigt, bedeutet das den sicheren Tod, da die Atmung versagt und der Blutdruck nicht mehr reguliert werden kann. Bei einer Verletzung des übrigen Hirnstamms fällt der Mensch in einen Zustand tiefster Bewusstlosigkeit, das Koma. Der Hirnstamm enthält nämlich eine netzartige Struktur, die Formatio reticularis, die von der Brücke bis zum Mittelhirn zieht und nicht nur an der Steuerung so wichtiger Körperfunktionen wie Schlafen und Wachen beteiligt ist, sondern auch an der Regulation von Aufmerksamkeit und Bewusstseinszuständen.

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Abb. 1 Darstellung der Gehirnabschnitte und des anterioren Gyrus cinguli (ACC) in der Großhirnrinde (12, schraffiert). 1 = Verlängertes Röckenmark (Medulla oblongata); 2 = Brücke (Pons); 3 = Mittelhirn; 4 = Kleinhirn; 5 = Hippocampus; 6 = Mandelkern (Amygdala); 7 = Hypothalamus; 8 = Hypophyse; 9 = Thalamus (Teil des Zwischenhirns); 10 = Balken (Corpus callosum); 11 = Großhirnrinde mit ACC

    Im Hirnstamm entspringen zehn der zwölf Hirnnerven, z. B.

images  der Nervus trigeminus, der u. a. für Wahrnehmungen der Hautsinne im Kopfbereich zuständig ist;

images  der Nervus facialis, der die mimische Gesichtsmuskulatur innerviert;

images  der Nervus vagus (der „Umherschweifende“), der die Herzschlagfrequenz kontrolliert, aber auch im Bauch „vagabundiert“, wo er fast alle Eingeweide mit Nervenfasern versorgt.

Der „Vagus“ enthält sowohl sensorische als auch motorische Fasern, die z. B. die Schlundmuskulatur innervieren, aber auch Fasern des autonomen (vegetativen) Nervensystems. Letztere gehören zum Parasympathikus, dessen Aktivität zu einer ruhigen Erholungslage im Organismus führt, indem sie die Leistung drosselt und Energieverbrauch, Blutdruck und Herzfrequenz senkt. Sein Gegenspieler ist der Sympathikus, dessen Ursprungsneurone im Brust- und Lendenbereich des Rückenmarks liegen und (wie der Parasympathikus) vom Hirnstamm kontrolliert werden.

Das Kleinhirn (Cerebellum)

Das Kleinhirn ist ein „Bewegungssupervisor“ (Bertram 2007). Es besteht zum einen aus einem phylogenetisch alten Teil, der hauptsächlich der Steuerung des Gleichgewichts und der Körperhaltung dient, und zum anderen aus einem jüngeren Teil, der über die Brücke (Pons) mit dem Großhirn verbunden ist. Das Großhirn ist über diese Verbindung an der Feinregulierung und Koordination der Muskelbewegungen beteiligt. Bei Erkrankungen des Kleinhirns können deshalb die Betroffenen unter Schwindel und Gangunsicherheit leiden, aber auch unter Störungen der Motorik. Sie können beispielsweise im Finger-Nase-Versuch nicht mehr bei geschlossenen Augen mit dem Zeigefinger die Nase treffen, und sie sprechen oftmals „verwaschen“.

Das Zwischenhirn (Diencephalon)

Das Zwischenhirn beherbergt den Thalamus, eine wichtige Umschaltstelle für Nachrichten von den Sinnesorganen, z. B. den Hautsinnen, die aus der Körperperipherie über das Rückenmark dem Großhirn zugeleitet werden. Dort erst können sie uns bewusst werden – wenn überhaupt: Denn von den unzähligen Eindrücken, denen wir in jedem Augenblick ausgesetzt sind, können wir nur einen ganz kleinen Teil bewusst verarbeiten. Am hinteren Ende des Thalamus liegt die Zirbeldrüse, die das „Schlafhormon“ Melatonin produziert. Unterhalb des Thalamus, in der untersten Etage des Zwischenhirns, befindet sich der Hypothalamus. Er kontrolliert automatisch eine Reihe von vegetativen Körperfunktionen, etwa die Körpertemperatur. Über den Hypophysenstiel ist er mit der Hirnanhangsdrüse, der Hypophyse, verbunden, die unter dem Hypothalamus in einer sattelförmigen Knochengrube („Türkensattel“) der Schädelbasis liegt und sich dem Boden des Zwischenhirns anschmiegt. Durch CRH (Corticotropin-releasing-Hormon oder Kortikoliberin), ein im Hypothalamus gebildetes Neurohormon, wird in der Hypophyse die Sekretion von ACTH (Adrenokortikotropes Hormon) angestoßen. Das schwer auszusprechende Wort „adrenokortikotrop“ bedeutet „auf die Nebennierenrinde einwirkend“, und tatsächlich geht es uns dann „an die Nieren“: In der Nebennierenrinde werden die Synthese und die Ausschüttung des Stresshormons Kortisol angekurbelt, während die Sekretion des Stresshormons Adrenalin nach der Aktivierung des Sympathikus durch das Nebennierenmark erfolgt.

Das Großhirn (Cerebrum)

Das Großhirn lässt sich in vier Lappen (Lobi) unterteilen: Stirn-, Scheitel-, Schläfen- und Hinterhauptlappen (Frontal-, Parietal-, Temporal- und Okzipitallappen). Seine Oberfläche wird durch zahlreiche Furchen vergrößert (s. Abb. 2), welche die nur wenige millimeterdicke dicke Hirnrinde in Windungen (Gyri) unterteilen. Dazu zählen z. B. der vor der Zentralfurche im Frontallappen gelegene Gyrus praecentralis. In dieser Hirnwindung befindet sich der motorische Kortex, der unseren Bewegungsapparat beherrscht. Gegenüber, hinter der Zentralfurche im Parietallappen, liegt der Gyrus postcentralis, der eine Repräsentation – quasi eine (verzerrte) „Landkarte“ – unserer sensiblen Körperoberfläche enthält. Man spricht vom sensorischen „Homunculus“. Auf der Innenseite jeder Hemisphäre liegt, direkt über dem Balken, ein phylogenetisch alter Teil der Großhirnrinde, der Gyrus cinguli, den man zum „limbischen System“ zählt, über das in diesem Buch noch so manches Mal die Rede sein wird.

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Abb. 2 Querschnitt durch Groß- und Zwischenhirn. 1 = Großhirnrinde; 2 = Großhirnmark; 3 = Balken; 4 = Schweifkern (Nucleus caudatus); 5 = Schale (Putamen), 6 = Pallidum (→ 4 bis 6 entsprechen den Basalganglien); 7 = Mandelkern; 8 = Zwischenhirn

    Die Großhirnrinde (Cortex cerebri) besteht aus Milliarden „kleiner grauer Zellen“, anatomisch korrekter als „graue Substanz“ bezeichnet. Darunter (subkortikal) befindet sich das Marklager. Es enthält die „weiße Substanz“ des Gehirns, also die unzähligen markhaltigen Nervenfasern. Diese Fasern sind mit dem „Isoliermaterial“ Myelin ummantelt, d. h. myelinisiert. Sie verkabeln u. a. die in der Hirnrinde gelegenen Nervenzellen (Neurone) mit anderen Teilen des Zentralnervensystems, etwa mit den Neuronen anderer Hirnlappen oder – als so genannte Projektionsfasern – mit dem Kleinhirn, dem Hirnstamm und dem Rückenmark. Gleichsam eingebettet in die weiße Substanz des Marklagers sind Areale aus grauer Substanz, so genannte Hirnkerne (Nuclei), die aus den Ansammlungen von Zellkörpern (Perikaryen) zahlreicher Nervenzellen bestehen – beispielsweise der Mandelkernkomplex (Amygdala) und die Basalganglien (z. B. Putamen, Nucleus caudatus und Nucleus accumbens).

Die Nervenzellen des Gehirns

In der grauen Substanz des Gehirns befinden sich Milliarden von Nervenzellen, so genannte Neurone, die in bis zu sechs Schichten übereinanderliegen. Weitere Hirnzellen sind die von Rudolf Virchow entdeckten Zellen mit einer Stütz- und Schutzfunktion, denen er – abgeleitet vom griechischen Wort für „Leim“ – den Namen „Gliazellen“ gab. Dazu gehören die Oligodendrozyten, welche die Myelinscheiden um die Nervenfasern bilden, sowie die zwischen den Nervenzellen und Blutgefäßen gelegenen Astrozyten. Diese regulieren die Weite der zerebralen Blutgefäße und somit die Hirndurchblutung.

    Jedes Neuron besteht aus dem Zellkörper (Perikaryon), aus dem zweierlei Fortsätze sprießen: das Axon (auch Neurit genannt) mit seinen zahlreichen Endverzweigungen und die vielfach verästelten Dendriten (Abb. 3). Letztere knüpfen unzählige Kontakte mit den Endigungen der Axone anderer Neurone. Zu den größten Neuronen zählen die so genannten Pyramidenzellen im motorischen Kortex. Ihre Axone ziehen sich entlang der Pyramidenbahn (im Tractus corticospinalis) durch das Marklager und den Hirnstamm bis ins Rückenmark. Dort kontaktieren sie die Dendriten von Motoneuronen, welche die Muskulatur des Bewegungsapparates innervieren. Damit können die Muskelkontraktionen ausgelöst werden, die uns zu beweglichen Wesen machen.

    Die Verknüpfungspunkte eines Axons mit Dendriten heißen Synapsen. Da jedes Neuron bis zu 10 000 solcher Kontaktstellen hat, kommt es zu der gigantischen Zahl von einer Billiarde Synapsen in unseren Gehirnen (eine Milliarde Millionen oder eine 1 mit 15 Nullen). An den Synapsen berühren sich die Fortsätze der Neuronen nicht unmittelbar; sie bleiben durch eine submikroskopisch enge Kluft, den synaptischen Spalt, voneinander getrennt. Über diesen Spalt hinweg tauschen die Nervenzellen mithilfe von Botenstoffen (Neurotransmittern) Informationen aus. Sie „sprechen“ miteinander, indem jede Nervenzelle mittels ihrer verzweigten Axone über unzählige Synapsen an andere Nervenzellen Nachrichten sendet und umgekehrt mit ihren „Antennen“, den Dendriten, wieder solche Signale empfängt. Von diesen Impulsen wird die Nervenzelle entweder erregt oder in ihrer Aktivität gehemmt.

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Abb. 3 Neuron. 1 = Zellkörper; 2 = Zellkern (Nucleus); 3 = Dendrit; 4 = Axon; 5 = Myelinscheide; 6 = Axonterminale

    Letztlich entscheidet dann die algebraische Summe aller empfangenen hemmenden bzw. erregenden Signale darüber, ob ein Neuron zum „Schweigen“ gebracht wird oder nicht. Auf diese Weise wird die Aktivität des Gehirns von den zahllosen Neurotransmittern (Überträgerstoffen) bestimmt, welche die Billionen von erregenden oder hemmenden Synapsen der grauen Substanz durchfließen. Der Neurotransmitter hemmender Synapsen heißt GABA (Gamma-Aminobuttersäure), der wichtigste erregende Transmitter ist die Aminosäure Glutamat. Außerdem gibt es noch drei Überträgerstoffe aus der Gruppe der so genannten Monoamine (Dopamin, Serotonin und Noradrenalin) sowie gewisse Neuropeptide, etwa die schmerzlindernden Endorphine. Ein Übermaß, aber auch ein Mangel an einem ganz bestimmten Überträgerstoff kann zu mehr oder weniger schweren Störungen der Gehirnfunktion und des Verhaltens führen. Man denke z. B. an die Symptome der Parkinson-Krankheit, die durch einen dramatischen Abfall des Gehalts an Dopamin in den Basalganglien bedingt sind.

    Die Wirkungsweise der Neurotransmitter ist etwas kompliziert. Sie reagieren auf der Oberfläche der Neuronen mit Rezeptoren, die jeweils für einen bestimmten Transmitter spezifisch sind – Proteinmoleküle, die in der Zellmembran verankert sind und zum Teil auch als ionendurchlässige Membranporen (Ionenkanäle) fungieren. Ihre Aktivierung durch Neurotransmitter bringt im Inneren der Nervenzellen biochemische Programme zum Laufen, beispielsweise solche, die den Stoffwechsel oder die Ionendurchlässigkeit der Zellmembran und damit die bioelektrischen Eigenschaften der Neuronen verändern und auf diese Weise das Neuron erregen oder hemmen. Für die Gedächtnisbildung besonders wichtig ist der so genannte NMDA-Rezeptor (N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor), der für Kalzium-Teilchen durchlässig ist. Wird er durch den Neurotransmitter Glutamat gleichzeitig mit einem anderen Glutamat-Rezeptor aktiviert, der die Durchlässigkeit für Natrium erhöht, so verfestigt sich die Synapse. Sie wird nachhaltig, ja sogar dauerhaft verstärkt (potenziert), was den Informationsfluss von Neuron zu Neuron verbessert. Man spricht von „long term potentiation“ (LTP). Das ist die zelluläre Grundlage des Gedächtnisses, auch im Hippocampus, einem Teil des limbischen Systems (Kandel 2006).

Das limbisch-emotionale System

Zum limbischen System zählt man außer dem im Schläfenlappen gelegenen Hippocampus u. a. auch den Gyrus cinguli (auch „Gürtelwindung“ genannt), den Gyrus parahippocampalis, den in den subkortikalen Kerngebieten (Basalganglien) gelegenen Nucleus accumbens und den Mandelkern (Amygdala) (Abb. 2, S. 6). Letzterer ist reziprok mit dem über der Augenhöhle (Orbita) gelegenen orbitofrontalen Kortex im Stirnhirn verschaltet, seiner wichtigsten Kontrollinstanz. Dieser Teil des präfrontalen Kortex wird daher meist ebenfalls zum limbischen System gerechnet (Nieuwenhuys et al. 1988).

Der Hippocampus

Der Hippocampus ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Abschnitt der Hirnrinde, der während der Entwicklungsphase durch die „moderneren“ Rindenabschnitte (Neokortex) ganz an den medialen Rand des Schläfenlappens gedrängt wurde und sich dort quasi wie ein Tuch faltete und nach innen aufrollte. Dadurch erhält er seine charakteristische S-förmig geschweifte Form, die ein wenig an ein Seepferdchen (lat. hippocampus) erinnert. Der Hippocampus hat eine zentrale Bedeutung für das explizite Gedächtnis, in dem Tatsachen und Ereignisse gespeichert werden, die bewusst wiedergegeben werden können. Das so genannte implizite, prozedurale Gedächtnis hingegen, das dem Bewusstsein nicht zugänglich ist bzw. ohne Einschaltung des Bewusstseins das Verhalten beeinflussen kann (z. B. Gehen, Rad fahren, Spielen eines Musikinstruments), ist an die Basalganglien, an Amygdala und Kleinhirn gebunden.

    Bewusst abrufbare (explizite) Gedächtnisinhalte können nur über den „Prozessor“ Hippocampus auf der „Festplatte“ des Langzeitgedächtnisses im Assoziationskortex des Temporal- und Parietallappens abgespeichert und von da wieder abgerufen werden. Wird also der Hippocampus beschädigt, z. B. infolge degenerativer Hirnerkrankungen wie der Alzheimer-Krankheit, leidet das explizite Gedächtnis. Beispielsweise können dann neue Namen nicht mehr im Langzeitgedächtnis gespeichert und erinnert werden. Auch bei lang andauerndem (chronischem) Stress und klinischen Depressionen schrumpft oftmals der Hippocampus, weil seine Neurone vermehrt zugrunde gehen. Sie können aber, selbst bei Erwachsenen, aus neuronalen Stammzellen wieder neu gebildet werden. Man spricht von Neurogenese bzw. von Neuroplastizität, wenn man generell die strukturellen Veränderungen in den Verschaltungen des Gehirns meint (Kandel 2006).

Die Amygdala

Der Mandelkern (Amygdala) liegt an der (medial gelegenen) Innenseite jeder Hirnhemisphäre, und zwar unter der Hirnrinde in der Tiefe des Temporallappens, etwas rostral (vorne), vor dem Hippocampus. Mit diesem Hirnteil, aber auch mit vielen anderen Hirnarealen, ist er durch Nervenstränge (Bahnen) verbunden – vor allem mit dem Hypothalamus und, wie bereits erwähnt, auch mit den medialen Arealen des präfrontalen Kortex. Eine besondere Verbindung besteht mit dem orbitofrontalen Kortex, der die Aktivität der Amygdala überwacht und bei Bedarf dämpft (Spitzer 2005).

    Die Amygdala beurteilt beim Auftreten einer Gefahr blitzschnell, wie gefährlich diese ist, oft Sekunden bevor die eigentliche Angst bewusst wird. Sie löst dann gegebenenfalls eine Angst- und Fluchtreaktion oder eine Erstarrung aus (falls die Flucht nicht mehr möglich ist). Auch Muskelzittern sowie vegetative Reaktionen wie ein Adrenalinstoß oder Herzklopfen und beschleunigte Atmung (Hyperventilation) gehören zum Notfallprogramm, das blitzschnell über die Amygdala angeworfen wird. Die Erregung des Vegetativums kommt über eine Aktivierung des Hypothalamus und des autonomen Nervensystems zustande, gefolgt von der Ausschüttung von Stresshormonen – alles unbewusste subkortikale Reaktionen. Das bewusste Gefühl „Angst“ entsteht erst etwas verzögert – durch die Aktivierung der Großhirnrinde.

    Die Amygdala mit ihren Projektionen zur Großhirnrinde spielt übrigens auch eine entscheidende Rolle bei der Speicherung erschütternder traumatischer Ereignisse im (impliziten) emotionalen Gedächtnis bzw. im „Traumagedächtnis“ (Rüegg 2009). Dafür gibt es viele Hinweise, vor allem dank der funktionellen Magnetresonanztomographie, mit welcher bei erlernter Furcht (Furchtkonditionierung) eine lokale Aktivitätssteigerung in der Amygdala geortet werden kann (Büchel u. Dolan 2000).

Der Nucleus accumbens

Gewissermaßen der Gegenspieler des Mandelkerns ist der Nucleus accumbens – übersetzt der „anlagernde Kern“, weil er dem vorderen Ende zweier Kerne der Basalganglien anliegt, nämlich dem Schalenkörper (Putamen) und dem Kopf des Schwanzkerns (Nucleus caudatus). Er dient sozusagen als Sensor für positive, lustvermittelnde und motivierende Schlüsselreize – etwa, wenn wir Schokolade essen oder einen reizvollen Anblick genießen. (Was jemand als reizvoll empfindet, ist dabei natürlich sehr individuell – bei Männern können es beispielsweise schnittige Autos sein, wie eine fMRT-Studie von Erk et al. [2002] nachwies: Der Vergleich der Hirnscans zeigte, dass die Belohnungssysteme der Probanden – zwölf Männer mittleren Alters, die sich für Autos interessierten und schon mindestens einmal zuvor an einem Autokauf beteiligt gewesen waren – beim Betrachten von rassigen Sportwagen deutlich stärker aktiviert wurden als beim Anblick von ganz gewöhnlichen Kleinwagen [s. auch Kap. 12, S. 355]). Der Nucleus accumbens vermittelt dann Glücksgefühle, indem er im Frontalhirn körpereigene Opioide (Endorphine) freisetzt, wenn seine Neurone mit Dopamin berieselt werden (dieser Mechanismus ist Teil des „Belohnungssystems“). Dopamin wird bei entsprechender Stimulierung – aber auch nach Einwirkung süchtig machender Drogen wie z. B. Kokain – von Projektionsneuronen abgegeben, die ihren Ursprung (d. h. ihren Zellkörper) im Mittelhirn haben. Wird im Nucleus accumbens zu wenig Dopamin freigesetzt, so verliert ein Mensch jegliche Motivation. Er wird lustlos (anhedonisch), möglicherweise depressiv und nicht selten auch sehr empfindlich für Schmerzreize, die eine Aktivierung des vorderen (anterioren) Gyrus cinguli bewirken (Leknes u. Tracey 2008). Wird zu viel Dopamin freigesetzt, ertrinkt das Gehirn gleichsam in einem Meer von Reizen.

    Bereits in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts vermutete der schwedische Psychopharmakologe und Nobelpreisträger Arvid Carlsson, eine überschießende Verfügbarkeit von Dopamin könne Symptome der Schizophrenie auslösen. Denn Substanzen wie L-Dopa, welche die Bildung und Ausschüttung von Dopamin erhöhen (und daher zur Bekämpfung der Parkinson-Erkrankung eingesetzt wurden), hatten nicht selten beängstigende Nebenwirkungen: Sie begünstigten die Entwicklung von Wahnvorstellungen, Halluzinationen und anderen Symptomen, wie wir sie bei schizophrenen Patienten finden. Andererseits verschwanden bei Schizophrenen eben diese Symptome, wenn sie mit so genannten Neuroleptika behandelt wurden – mit Psychopharmaka also, die Dopamin von seinen zellulären Rezeptoren verdrängen.

Die zinguläre Hirnrinde (Gyrus cinguli)

Unser „emotionales Hirn“, der Gyrus cinguli, liegt direkt über dem Balken und windet sich wie ein Gürtel um dessen vorderes (d. h. der Stirn zugewandtes) Ende, das „Knie“ des Balkens (Abb. 1, S. 3). Der direkt unter dem Knie (subgenual) gelegene Teil der Windung entspricht in der heute allgemein gebräuchlichen Nomenklatur (nach Korbenian Brodmann) dem Brodmann-Areal BA 25. Der subgenuale Gyrus cinguli wird nach Ausbruch einer schweren (klinischen) Depression hyperaktiv, wie mit funktioneller Magnetresonanztomographie gezeigt wurde. Unlängst gelang es, bei scheinbar unheilbar depressiven Patienten die Übererregbarkeit dieses winzigen Teils der Hirnrinde durch eine tiefe Hirnstimulation mittels elektrischer Impulse gezielt zu „zähmen“. Die Hyperaktivität des Areals BA 25 verschwindet dann, und zwar nachhaltig, vielleicht sogar dauerhaft. Dadurch werden die für die Depression typischen seelischen Schmerzen gelindert, die Stimmung hellt sich auf.

    Eine deutliche Besserung der Symptomatik und eine Besänftigung des anterioren Gyrus cinguli (ACC, s. Abb. 1) traten jedoch nicht nur nach einer tiefen Hirnstimulation auf, sondern oft auch nach einer vom Patienten als erfolgreich erlebten Psychotherapie oder einer Pharmakotherapie mit so genannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) (Ressler u. Mayberg 2007). Letztere erhöhen im synaptischen Spalt die Konzentration von Serotonin. Dank solcher Erkenntnisse wissen wir, wo genau in der „Hirnlandschaft“ sich das menschliche Zentralorgan bei einer Depression und nach deren Therapie verändert – ein großer Fortschritt in der Neurobiologie der Psychotherapie (Rüegg 2007).

    Kommen wir aber noch einmal zurück auf den Satz jenes amerikanischen Physikers Plugh, der es als aussichtslos bezeichnete, das Gehirn verstehen zu wollen. Es hat sich viel getan in den letzten „Jahrzehnten des Gehirns“. Insbesondere die funktionelle Magnetresonanztomographie hat eindrucksvolle Fortschritte bei unseren Kenntnissen über Aufbau und Funktion des Gehirns ermöglicht. Dass der viel zitierte Satz, man könne „dem Gehirn bei der Arbeit zusehen“, allerdings stark übertrieben ist, machen Henrik Walter und Susanne Erk in diesem Buch deutlich (s. Kap. 11, S. 308)!

    Es gibt noch viele weiße Flecken auf der Karte der Hirnlandschaften, die unser Wissen über jenes Organ darstellt, mit dem wir dieses Wissen erwerben. Vielleicht hat Plugh ja letztlich Recht und für Hirnforscher gilt sinngemäß das, wovon Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht träumt:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Literatur

Bertram W (2007). Wo geht es hier zum Hippocampus? Ein Rundgang durch die Hirnlandschaft. In: Spitzer M, Bertram W (Hrsg). Braintertainment. Expeditionen in die Welt von Geist & Gehirn. Stuttgart, New York: Schattauer.

Büchel C, Dolan RJ (2000). Classical fear conditioning in functional neuroimaging. Curr Opin Neurobiol; 10: 219–23.

Erk S, Spitzer M, Wunderlich AP, Galley L, Walter H (2002). Cultural objects modulate reward circuitry. Neuroreport; 13: 2499–503.

Kandel ER (2006). Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. München: Siedler.

Leknes S, Tracey I (2008). A common neurobiology for pain and pleasure. Nature Rev Neurosc; 9: 314–20.

Nieuwenhuys R, Voogd J, van Huijzen C (1988). The Human Central Nervous System: Synopsis and Atlas. 3rd ed. Berlin, Heidelberg, New York: Springer.

Ressler KJ, Mayberg HS (2007). Targeting abnormal neural circuits in mood and anxiety disorders: from the laboratory to the clinic. Nature Neurosc; 10: 1116–24.

Rilke RM (2005). Das dichterische Werk. Frankfurt a. M.: Gerd Haffmans bei Zweitausendeins.

Rohen JW (2001). Funktionelle Neuroanatomie. 6. Aufl. Stuttgart, New York: Schattauer.

Rüegg JC (2007). Gehirn, Psyche und Körper. Neurobiologie von Psychosomatik und Psychotherapie. 4. Aufl. Stuttgart, New York: Schattauer.

Rüegg JC (2009). Traumagedächtnis und Neurobiologie. Konsolidierung, Rekonsolidierung, Extinktion. Trauma & Gewalt; 1: 6–17.

Spitzer M (2005). Frontalhirn an Mandelkern. Letzte Meldungen aus der Nervenheilkunde. Stuttgart, New York: Schattauer.