Manfred Spitzer

Musik im Kopf

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Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk

2. Auflage

Mit 148 Abbildungen und 17 Tabellen

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Universität Ulm

Psychiatrische Klinik

Leimgrubenweg 12–14

89075 Ulm

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Schattauer

www.schattauer.de

© 2002, 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagabbildung: Kokopelli. © Viktoriia Protsak, www.fotolia.de

Lektorat: Danielle Flemming, Dr. Beatrix Spitzer, Susanne Spitzer

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-42940-4

E-Book: ISBN 978-3-608-16902-7

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-26770-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für meine Mutter Maria

Vorwort zur zweiten Auflage

Der Erfolg dieser Einführung in die spannenden Zusammenhänge zwischen Musik, Psychologie und Neurobiologie hat mich überrascht und sehr gefreut. Zwei Preise für das Buch – 2010 Preis der Dr. Margrit Egnér-Stiftung und 2012 die Leo-Kerstenberg-Medaille des Verbandes der Deutschen Schulmusiker e.V. – machen deutlich, dass es bei den Interessierten „angekommen“ ist und gern aufgenommen wurde. Von allen meinen Büchern ist Musik im Kopf dasjenige, das mir beim Schreiben am meisten Spaß gemacht hat und bei dessen Abfassung ich selbst am meisten gelernt habe. Meine Begeisterung für die Musik und die Wissenschaft, so schrieben mir viele Leser in unzähligen Briefen und E-Mails, sei auf jeder Seite zu spüren – was mich ganz besonders freut.

Bemängelt wurde von Anfang an das etwas antiquierte formale Layout, die Typographie, die „Bleiwüsten“, wie sich mancher Kenner ausdrückte. Dies alles ist allein mein Verschulden, denn damals machte ich bei meinen Büchern noch alles selbst: das Cover, die Abbildungen und eben nicht nur die Sätze, sondern auch den Satz. Typographie war seit mehr als 10 Jahren schon zu meinem Hobby geworden, und bis heute ärgere ich mich darüber, dass ich noch nicht die Zeit gefunden habe, einmal darüber ein Buch zu schreiben. Denn es gibt neben der langen Tradition der Typographie (einer Kunstform) auch die empirische Psychologie des Lesens und die Neurobiologie des Sehens – und wieder liegt vieles unverbunden und damit auch letztlich unverstanden vor. – Ein traumhafter Ausgangspunkt für ein Buch!

Das anhaltende Interesse am Buch einerseits und die Unzufriedenheit (nicht zuletzt des Verlags selbst) mit dessen Form andererseits hat nun zur zweiten Auflage geführt, mit der Musik im Kopf nun endlich erwachsen geworden ist und hoffentlich für den Leser (noch) leichter zugänglich. Bücher zum Thema gibt es mittlerweile ja sehr viele, meist jedoch behandeln sie Spezialgebiete in vertiefter Form, wie etwa die ebenfalls bei Schattauer erschienene MusikerMedizin1 oder die englischsprachigen Bücher zu Takt und Rhythmus2 oder zu den Emotionen in der Musik3.

Selbstverständlich ist heutzutage „alles“ im Netz. Was aber gerne übersehen wird: Googeln kann nur derjenige, der schon etwas weiß, denn wer gar nichts weiß hat auch keine Frage, und wer sehr wenig weiß, kann die Spreu nicht vom Weizen trennen. Ihm fehlt der „Filter“, das Vorwissen, um die „10.000 Hits in 0,1 Sekunden“ zu bewerten, die eine Suchmaschine liefern mag. Eigentlich ist dies seit mehr als 150 Jahren klar, denn wie Verstehen funktioniert, wurde von einer Reihe von Denkern unter dem Fachbegriff der Hermeneutik schon im 19. Jahrhundert herausgearbeitet. Wissen wird durch das Internet nicht überflüssig, sondern stellt überhaupt erst die Voraussetzung dar, es zu benutzen. Daher braucht man nach wie vor – und im Grunde jetzt erst recht (!) – Einführungen in ein Thema, in denen ein Autor einen Leser gleichsam an der Hand nimmt und ihn zu Neuem führt, mit dem Ziel, ihm Lust auf (noch viel) mehr zu machen. Eine solche Einführung ist dieses Buch, jetzt in neuem und schönerem Kleid. Ich danke dem Verlag – den Herren Dieter Bergemann und meinem Freund Wulf Bertram – für den Einsatz um diese Neuauflage herum und insbesondere Frau Ruth Becker für ihr unermüdliches Arbeiten an deren Realisierung!

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Anlässlich des Erscheinens von Musik im Kopf vor gefühlten hundert Jahren hatte Wulf die Idee, bei den Lindauer Psychotherapiewochen nicht nur über Musik zu reden, sondern auch Musik zu machen. Und so spielten wir zu zweit (Klarinette und Gitarre) ein Paar (groß geschrieben, denn es waren nur zwei) Stückchen. Daraus wurde dann eine kleine Band4, zusammen mit Joram Ronel (dem Dritten im Bunde), die bis heute existiert (siehe Abbildung). So hat ein Buch über Musik ursächlich zu noch mehr Musik geführt! Hoffentlich war und ist dies kein Einzelfall, sondern die Regel, denn noch schöner als über Musik zu lesen ist, sie zu machen! Nach wie vor gilt daher: A one, a two, a-one-two-three-four …

Ulm, am Schwörmontag 2014
Manfred Spitzer

Vorwort zur ersten Auflage

Warum machen Menschen Musik? Was ist überhaupt Musik? Wie wirkt Musik auf uns und warum wirkt sie so? Was geschieht, wenn wir Musik hören, machen oder verstehen? Was ist Talent und was geschieht beim Üben? – In diesem Buch geht es um Fragen wie diese. Die Antworten werden im Kopf gesucht, das heißt da, wo Musik „eigentlich“ stattfindet. Gewiss, auch ein Gemälde wird letztlich im Kopf gesehen, nachdem es mit dem Kopf (der den Pinsel lenkte) gemalt wurde; aber es hängt an der Wand, auch wenn keiner hinsieht. Musik hingegen ist nur da, wenn sie erlebt wird. Die Schwingungen in der Luft, die Rillen in der Schallplatte oder die Nullen und Einsen auf einer CD sind ebenso wenig schon Musik wie die im Schrank liegenden Noten. Musik ist zeitliche Gestalt und bedarf des Erlebens und des aktiven Hervorbringens solcher Gestalt. Selbst eine so einfache Melodie wie Hänschen klein entsteht erst dadurch, dass Töne gehört und als Musik erlebt werden.

Wie aber macht unser Gehirn, das Organ des Wahrnehmens, Erlebens, Handelns und Verstehens, in unserem Kopf Musik? – Von allen höheren geistigen Leistungen scheint sich Musik am wenigsten für neurowissenschaftliche Untersuchungen zu eignen. Das Musikhören stellt eine sehr persönliche Erfahrung dar, die oft nur schwer zu beschreiben ist. Der Hörer reagiert emotional auf die vom Komponisten erdachten und den Musikern ausgeführten Bewegungen der Luft. Diese Reaktionen sind stark abhängig von den jeweiligen Vorerfahrungen des Hörers, seinem Interesse, seiner (musikalischen) Erziehung, seiner Kultur und seiner Persönlichkeit. Das gleiche Musikstück kann den einen tief bewegen und den anderen völlig kalt lassen. Wie soll man in Anbetracht dieser Individualität und problematischen Kommunizierbarkeit von Musik zu wissenschaftlichen, d.h. allgemein gültigen Aussagen über Musik gelangen? Da Neurobiologie zu den Wissenschaften gehört, muss man also die Frage stellen, ob die hier angestrebte Naturwissenschaft der Musik überhaupt sinnvoll und durchführbar ist.

Musik kommt einerseits in allen Kulturen vor, ist jedoch andererseits nicht wie die Sprache praktisch lebensnotwendig, weswegen es auch eine deutlich größere Variationsbreite musikalischer Fähigkeiten im Vergleich zu sprachlichen Fähigkeiten gibt. Fast jeder hört Musik, das aktive Musizieren ist jedoch hierzulande eine hoch spezialisierte Aktivität, die von einer kleinen Minderheit aller Menschen mit großer Perfektion ausgeübt wird. Die Frage danach, wie unser Gehirn Musik hervorbringt oder wahrnimmt, scheint also zunächst wissenschaftlich recht hoffnungs- bzw. aussichtslos. Dieser Frage nachzugehen ist jedoch seit einigen Jahren möglich. Die Erforschung des Gehirns hat in den vergangenen etwa zehn Jahren einen beispiellosen Aufschwung genommen. Gerade weil Musik eine so besondere Fähigkeit ist, lassen sich durch das neurowissenschaftliche Studium dieser Fähigkeit wichtige Einsichten in die Funktionsweise unseres Gehirns gewinnen, die keineswegs nur für den Bereich der Musik gelten. Man kann also den Spieß gleichsam herumdrehen: Nicht nur die perzeptuellen oder sprachlichen Aspekte von Musik, sondern auch und gerade deren Individualität und Emotionalität machen neurobiologische Untersuchungen zur Musik überhaupt erst so richtig spannend!

Als Psychiater, Psychologe und Neurowissenschaftler habe ich die Entwicklung der Gehirnforschung beruflich mitverfolgt bzw. mitvertreten und habe – zu einem winzigen Teil – auch daran mitgewirkt. Als musikbegeisterter Nicht-Musikwissenschaftler habe ich zugleich die Ignoranz, die es mir erlaubt, über Musik zu schreiben ohne in – mir gar nicht bekannten – Detailproblemen zu versinken. So erklärt sich die Entstehung dieses Buchs aus einer zunehmend spannungsgeladenen Mischung von beruflichem Erkenntnisgewinn und privatem Enthusiasmus, und es bedurfte lediglich eines Zündfunkens, um diese Mischung zur Entladung (d.h. das Buch zur Entstehung) zu bringen. Dieser bestand in der Einladung meines Ulmer Kollegen Horst Kächele, einen Vortrag über Musik und das Gehirn anlässlich des 13. Workshops zur musiktherapeutischen Forschung im Februar 2001 zu halten. Die Vor- und vor allem Nachbereitungen hierzu uferten gleichsam aus und das Ergebnis liegt vor Ihnen.

Die Verbindung von Neurobiologie und Medizin einerseits sowie Musik andererseits ist ungewöhnlich, jedoch keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Die Seele und die Nerven werden seit Jahrhunderten mit der Metaphorik der Schwingung beschrieben, und Ärzte haben – den Gründen sei hier nicht weiter nachgegangen – einen Hang zur Musik, was nicht zuletzt die vielen Ärzteorchester bezeugen. (Kennt jemand ein Juristen-, Wirtschaftswissenschaftler- oder Informatikerorchester?) Die Schnittmenge aus der Gruppe von Menschen, die sich für das Gehirn interessieren, und der Gruppe von Menschen, die sich für Musik interessieren, ist also gar nicht so klein, wie man bei der Verschiedenheit der Sachgebiete zunächst annehmen könnte.

Es ist wohl auch kein Zufall, dass sehr viele Ergebnisse zur Neurobiologie des Lernens beim Menschen sich auf Musik und Musiker beziehen, denn wo sonst wird mit so viel Hingabe an Zeit und Aufwand geübt wie in der Musik? Wer ein Instrument erlernt, verbringt tausende von Stunden mit immer wieder den gleichen oder ähnlichen Bewegungsabläufen und hat entsprechende klangliche Wahrnehmungen, so dass sich die Effekte des Lernens auf das Gehirn des Menschen kaum irgendwo besser studieren lassen als im Bereich der Musik.

Im Hinblick auf das Hören und Machen von Musik ist die Kenntnis der dies ermöglichenden neuronalen Maschinerie zwar nicht notwendig, der Musiker wird aber dennoch vieles besser verstehen, wenn die physikalischen und physiologischen Grundlagen klar sind. So folgt beispielsweise das Design vieler Instrumente ebenso aus der Physik und der Physiologie wie die Tonleiter oder die Architektur von Konzertsälen. In diesem Buch geht es somit um Musik als einem Spezialfall von Wahrnehmen, Denken, Lernen und Handeln, an dem sich viele Einsichten besonders klar verdeutlichen lassen. Musik wird hier zu einer Art Brennpunkt, in dem sich erhellende Strahlen der Erkenntnisse aus verschiedensten Disziplinen (von Psychologie und Philosophie über die Physik zur Neurobiologie und wieder zurück) schneiden, in dem sich Einsichten aus den entferntesten Sachgebieten gegenseitig befruchten und Erfahrungen aus den entlegensten Winkeln unseres Seins überschneiden oder miteinander verschmelzen. Wir gehen ja immer schon, meist ohne viel darüber nachzudenken, mit Musik um, und dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, diesen Umgang besser zu verstehen.

Was das konkrete Lehren und Lernen von Musik anbelangt, kann die Bedeutung der Forschungsergebnisse aus der jüngeren Zeit in Neurobiologie und Psychologie wahrscheinlich gar nicht überschätzt werden. Das Gehirn ist das Organ des Lernens und das Verständnis seiner Funktionsprinzipien sollte daher für Lehrer und Schüler etwa die Bedeutung haben wie das Verständnis der Funktion eines Motors für den Automechaniker. Im Hinblick auf den Musikunterricht an den Schulen wurde dies erst kürzlich von Ortwin Nimczik (2001, S. 3), Professor an der Hochschule für Musik in Detmold und Mitherausgeber der Zeitschrift Musik und Bildung, formuliert: „Für eine notwendige Neukonzeption [des Unterrichts] bedarf es unabdingbar der verstärkten Berücksichtigung von Erkenntnissen der Musikpsychologie und der neurobiologischen Forschung.“

Die Bedeutung der Physik schwingender Körper für Musik ist seit Pythagoras und Helmholtz jedem geläufig, der sich mit der Materie befasst. Sie ist Gegenstand sehr vieler guter Bücher zu den Grundlagen von Musik. Die Bedeutung der Physiologie, also der Wissenschaft vom lebendigen Körper, und insbesondere der Psychologie und Neurobiologie, der Wissenschaften vom Gehirn, für Musik ist ebenfalls heute sehr deutlich, findet sich jedoch bislang kaum zusammengefasst und für Jedermann zugänglich dargestellt. Diese Lücke soll das vorliegende Buch schließen. Es soll klar werden, was man weiß, wie man es weiß und was man nicht weiß, in einer möglichst einfachen und klaren Sprache.

Das Buch sollte sowohl für den musikalischen Laien als auch für den neurowissenschaftlichen Laien lesbar sein, weswegen ich vereinfachen musste, allerdings immer in dem Bestreben, die Dinge nicht bis zur Unkenntlichkeit oder gar Falschheit zu vereinfachen. Bei Experten auf dem Gebiet der Musik oder Neurobiologie möchte ich mich jedoch an dieser Stelle für die zuweilen für deren Geschmack vielleicht zu starken Vereinfachungen entschuldigen. Ich hoffe dennoch, dass auch ihnen die Lektüre gewinnbringend ist, zumal ich kein entsprechendes Buch auf dem deutschen bzw. internationalen (sprich: englischsprachigen) Markt finden konnte.

Ich habe viele Abbildungen gezeichnet, am Computer generiert oder fotografiert, weil auch im Bereich der Akustik und Musik manchmal ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Es soll Spaß machen, dieses Buch zu lesen! Wer bei der Lektüre abstürzt, z.B. bei den Details in den Kapiteln 2 oder 3, sollte es einfach an einer anderen Stelle des Buchs wieder versuchen, vielleicht bei den Babys in Kapitel 6, dem Tanz in Kapitel 8, dem Singen in Kapitel 10, den singenden Buckelwalen und Neandertalern in Kapitel 14, den Wiegenliedern in Kapitel 15 oder der Filmmusik in Kapitel 16. Es ist meine Hoffnung, dass beim Lesen vor lauter Bäumen (sprich: interessanten Details) auch der Wald (der Grundgedanke) nicht untergeht, sondern im Gegenteil immer deutlicher hervortritt: Es geht immer wieder um die Musik im Kopf, also um das an uns und in uns, was Musik überhaupt erst entstehen lässt. Die zum Teil persönlichen Details mögen zum Ausdruck bringen, dass Musik nicht ohne die musizierenden Menschen denkbar ist und daher immer auch eine persönliche und private Seite hat. Es soll damit – wenigstens in diesem Buch – so oft wie möglich gleichsam die Gegenposition zu der heute großen Anonymität der allermeisten Musikerlebnisse der allermeisten Menschen zu Worte kommen.

Um die Verständlichkeit des Buchs zu verbessern, habe ich Verwandte, Freunde und Mitarbeiter gebeten, eine Vorabversionen von Kapiteln kritisch durchzugehen. Für diese Mühe möchte ich mich sehr herzlich bei Renate Campos, Bernhard Connemann, Karl Enders, Susanne Erk, Ulrike Gässler, Georg Groen, Markus Kiefer, Thomas Kammer, Holger Ohl, Anne Pfoh, Martin Schuster, Ulla Spitzer, Friedrich Uehlein, Matthias Weisbrod, Anne Wietasch, Matthias Wittfoth und Tatjana Zimmermann bedanken. Julia Ferreau und Gerlinde Troegele halfen manchmal beim Schreiben des Manuskripts. Birgit Sommer besorgte Literatur und Bärbel Herrnberger hat bei den Einzelheiten der Physiologie ebenso geholfen wie beim Layout. Thomas Merz hat mich bei typographischen und drucktechnischen Fragen beraten. Wulf Bertram vom Schattauer Verlag hat das Buchvorhaben von Anfang an unterstützt und mit begleitet, Birgit Fiebiger, Danielle Flemming und Bernd Burkart hatten die Materialisierung des Projekts unter ihren Fittichen. Allen sei an dieser Stelle für ihre Mühe mit einem manchmal etwas eigenwilligen Autor sehr herzlich gedankt. Für das Endlektorat bedanke ich mich bei meiner Frau und meiner Schwester Susanne sehr herzlich. Für alle verbliebenen Fehler und unausgemerzten Verständnishürden bin allein ich selbst verantwortlich.

Zum Schluss noch eine Bitte an den Leser: Auf den folgenden 440 Seiten warten einerseits sehr viele Details, die ohne den großen Zusammenhang vielleicht schwer verständlich oder zumindest in ihrer Interpretation nicht ganz klar sein könnten. Das Gesamtbild erschließt sich jedoch erst demjenigen, der das Buch ganz gelesen hat, und dieser Zusammenhang wiederum sollte das Verstehen der vielen Details erleichtern und zudem auch verdeutlichen, warum diese oder jene Kleinigkeit gerade an dieser oder jener Stelle angeführt ist. Der Ausweg aus dieser unter dem Namen hermeneutischer Zirkel bekannten Paradoxie, dass man ein Buch zwar lesen, aber eigentlich gar nicht verstehen kann (zum Verständnis des Ganzen braucht man die Einzelheiten, die man wiederum nur versteht, wenn man das Ganze schon kennt) besteht darin, dass man irgendwo anfängt und sich dann immer weiter und tiefer mit den Dingen beschäftigt. Daraus leitet sich meine Bitte ab, das Buch zweimal zu lesen. Ich hoffe, es ist dann wie bei einem guten Film, den man zum zweiten Mal sieht: Man befindet sich nicht mehr ohne Distanz mittendrin, denn man weiß ja schon, wie die Geschichte ausgeht und kann sich genüsslich zurücklehnend den Details widmen.

Das Buch ist meiner Mutter gewidmet. Sie hatte schon als kleines Mädchen auf dem Akkordeon ihres älteren Bruders herumprobiert, bekam irgendwann von meinem Vater eines geschenkt und spielte darauf Volkslieder – immer lächelnd, aber zugleich mit senkrechten Falten auf der Stirn, denn das Auswendigspielen ohne jegliche Übung (die fünf Kinder zu verhindern wussten) bedurfte der Konzentration. Auch die Wiegenlieder, die mir meine Mutter vorsang und an die ich mich nur in Form der in meinem Kopf fest verankerten Struktur der Dur-Tonleiter erinnern kann, sind Grund genug, ihr dieses Buch zu widmen, das sicherlich mein persönlichstes ist und zugleich dasjenige, an dem ich am liebsten geschrieben habe.

Ulm, im November 2001
Manfred Spitzer

Inhalt

1 Götter und Gefühle, Wirtschaft und Wissenschaft

China, Babylon, Ägypten und das Abendland

Mythos, Zauber und staatliche Kontrolle

Musik im Abendland: Zahlen, Sterne und Sphärenmusik

Hohe, schöne und niedere Kunst

Engelsharfen und Teufelsgeigen

Musik – überall und eigenartig

Was ist Musik?

Vom Hören und Machen zum Verstehen: der Plan

Teil I Musik hören

2 Luftbewegungen

Schall

Geräusch und Ton

Klangfarbe

Hüllkurven

Resonanz: vom Kürbis zur Stradivari

Fazit: Schall erzeugen, hören und sichtbar machen

Postscript: Chaos und Kartoffelchips

3 Vom Ohr zum Gehirn

Die akustische Landschaft

Das Ohr, von außen nach innen

Räumlich hören

Die Hörbahn ist keine Bahn

Zwei Kodes im Kortex

Fazit: Aus Schall wird Information

Postscript für Fortgeschrittene: Schallerkennung im Netz

4 Melodie und Harmonie

Intervalle

Melodie und Tonleiter

Das Komma und Kopfweh des Pythagoras

Harmonie hat Seltenheitswert

Schwebung und kritische Bandbreite

Die Töne unserer Tonleiter: Bausteine für Melodien

Harmonie

Harmonie in der Spannung von Zahl und Ohr

Jenseits unserer zwölf Töne

Fazit: Musik – Kultur gewordene Natur

5 Zeitstruktur und Gedächtnis

Gedächtnisprozesse: ein Crash-Kurs

Echogedächtnis und Ereignisbildung

Gruppierung

Kurzzeitgedächtnis: Motiv und Phrase

Langzeitgedächtnis: Erfahrung und Kultur

Fazit: Das Gedächtnis macht Musik

Postscript: der Mozart-Effekt

Teil II Musik erleben

6 Musik vor und nach der Geburt

Vorgeburtliches Erleben

Lärm im Mutterleib

Opa soll singen

Die Entwicklung des Gehörs

Neuigkeit und Gewohnheit

Musik in der Gebärmutter

Musik und Gehör nach der Geburt

Fazit: der musikalische Säugling

7 Platz für Töne

Repräsentationen

Neuroplastizität

Methoden: Hineinschauen mit und ohne Öffnen

Karten im Kortex

Musiker: mehr Platz für Töne im Kopf

Amusie: wenn die Musik nicht mehr spielt

Musikmodule: doppelte Dissoziationen

Zu viel Musik: Ohrwürmer, Halluzinationen und Anfälle

Module in funktionellen Bildern

Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk

Strukturbildung

Fazit: Repräsentation und Neuroplastizität

8 Rhythmus und Tanz

Eigenfrequenz und Kindermaskenbälle

Subjektive Rhythmisierung

In Kopf und Körper

Tanz: Der Körper wird Musik

Gruppenarbeit

Applaus für Physiker

Fazit: Der Körper schwingt

Postscript: Tanzmusik, Siliziumchips und genetische Algorithmen

9 Absolutes und relatives Gehör

Absolutes Gehör bei Mozart, einem Papagei und im Test

Informative Oktaven und andere Probleme

Kritische Periode oder warum nicht jeder ein Absoluthörer ist

Gelernt oder vererbt?

Wo sitzt das absolute Gehör?

Farben hören: Synästhesie

Vom relativen Gehör bis zur Tontaubheit

Fazit: Das absolute Gehör ist relativ, das relative recht perfekt

Teil III Musik machen

10 Singen

Die Stimme

Sprechen

Die Atmung: Stütze beim Singen

Phonation: den Schall erzeugen

Artikulation: den Schall formen

Die Tricks der OpernsängerInnen

Das Gehirn singt mit

Die eigene Stimme

Vibrato

Stimmbruch

Wenn die Stimme ihren Dienst aufgibt

Fazit: ein kompliziertes Instrument

11 Mit Instrumenten spielen

Technik und Ausdruck

Konflikt mit dem Durchschnitt

Hände

Was Fehler verraten

Vom Blatt spielen

Von innen zuschauen

Das Gehirn macht Musik: funktionelles Neuroimaging

Frauen musizieren in der Regel anders

Fazit: Handspiel, das Wissen schafft

12 Musizieren lernen

Lernen, üben und üben lernen

Wechselwirkungen: Talent und Übung

Ist jeder musikalisch?

Das Lernen von Bewegungsabfolgen

Motivation: unverzichtbar schon im Tierversuch

Lehrer und Schüler

Eltern: Was können oder sollen sie tun oder lassen?

Aus dem Netz in die Schule

Fazit: Übung macht den Meister

13 Gemeinsam musizieren

Orchesterphysik

Orchesterpsychologie und -soziologie

Singen im Chor

Improvisieren

Angst und Lampenfieber

Authentizität und Aufführungspraxis

Hausmusik

Fazit: Musik ist gelebte Gemeinsamkeit

Teil IV Musik verstehen

14 Evolution

Musik nur beim Menschen?

Archäologie: fossile Musik

Musik und Sex

Fazit: uralte Musik

15 Emotion

Zur Wissenschaftsfähigkeit von Emotionen und Musik

Musik in Auschwitz

Herrscher und Beherrschte, Musik und Macht

Liebeslieder

Wiegenlieder

Darling, they’re playing our tune

Gänsehaut – wissenschaftlich betrachtet

Emotionen im Experiment

Bilder vom emotionalen Gehirn

Fazit: Wer fühlen will, muss hören

16 Funktion

Wirtschaft, Werbung und Supermärkte

Ware Musik

Musikalische Architektur

Räume klingen

Filmmusik

Gesteigerte, verarmte Realität

Fazit: Am besten funktioniert es unbemerkt

17 Gesundheit, Medizin und Therapie

Wenn die Seele lacht

Was ist Musiktherapie?

Einsatzbereiche der Musiktherapie

Musiktherapie in der Psychiatrie

Musik kann Musiker krank machen

Fazit: Musik und Medizin

Postscript: Musik bringt Leben

Literatur

Sachverzeichnis

1 Götter und Gefühle, Wirtschaft und Wissenschaft

Musik bewegt die meisten Menschen tief. Sie ist so schön, dass weder die Töne noch die Instrumente von Menschen erfunden oder gemacht sein können. Der Ursprung der Musik muss daher bei den Göttern liegen – so oder so ähnlich wird in vielen Kulturen das Verhältnis des Menschen zur Musik bestimmt.

Vieles spricht dafür, dass Musik in früherer Zeit ganzheitlich erlebt wurde und mit Tanz und anderen Aktivitäten eng verbunden war. Ihre Wirkung auf den Menschen wurde von Priestern und Politikern früherer Hochkulturen klar gesehen. So erklärt sich die mitunter starke Reglementierung all dessen, was mit Musik zu tun hatte, durch den Staat. Auch im Christentum spielt Musik eine wichtige Rolle: Die heilige Messe ist unter anderem ein Liederreigen; die Engel spielen in der christlichen Bildkunst Harfe, der Teufel spielt in der Volkskultur Geige.

Die breite Einbettung der Musik in die Gedanken und den Lebensvollzug der Menschen muss jedoch verwundern, denn Musik erscheint auf den ersten Blick völlig überflüssig und dem sich damit beschäftigenden Menschen sogar abträglich, denn schließlich „vertut“ er seine Zeit. Dies wirft letztlich die Frage auf, was Musik überhaupt ist, warum es sie gibt und worin die Bedeutung von Musik für den Menschen besteht.

China, Babylon, Ägypten und das Abendland

Bereits die Frage nach Entstehung und Geschichte der Musik hat mehrere Antworten. Die ältesten archäologisch identifizierten Musikinstrumente sind etwa 50.000 Jahre alt, und es gibt eine Reihe solcher Funde über den Erdball verstreut. Dies legt nahe, dass es überall lokale Musiktraditionen gab, dass Musik also nicht an Hochkulturen gebunden ist, sondern zum „einfachen Menschen“ von Anfang an dazugehörte (vgl. Kapitel 14).

Die Geschichte der Musik im Sinne der Geschichte eines wesentlichen Bestandteils unserer Kultur beginnt irgendwo zwischen China und Babylon (geographisch etwa im heutigen Iran und Irak) vor mehr als 5000 Jahren. Man kann dies aus Gemeinsamkeiten schließen wie beispielsweise der, dass Abbildungen alter Saiteninstrumente aus China solche mit fünf und solche mit sieben Saiten zeigen. Auf einem babylonischen Vasenfragment aus dem vierten Jahrtausend v. Chr. sind entsprechend zwei Instrumente mit fünf und sieben Saiten zu sehen. Auch die Intervalle Oktave, Quinte und Quarte und sogar die Einteilung der Oktave in zwei Abschnitte, entsprechend etwa C–F und G–C, wurden in beiden Kulturen beschrieben (Sachs 1928). Bei den Griechen spielten diese Abschnitte – Tetrachorde genannt – später ebenfalls eine wichtige Rolle. Selbst die Überzeugung von nicht zufälligen Zusammenhängen zwischen Musik und Himmelsmechanik war den Chinesen und Babyloniern (von den Griechen gar nicht zu reden) gemeinsam: Fünf war die Zahl der alten Planeten, sieben die der Wochentage.

Vor etwa viertausend Jahren wurde in Ägypten mit den unterschiedlichsten Instrumenten ganz offensichtlich sehr differenziert musiziert, wie Statuen und Abbildungen vor allem aus Grabfunden nahelegen (vgl. Abb. 1-1). Von Ägypten kam diese Musikkultur nach Griechenland und von dort ins gesamte Abendland.

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Abb. 1-1 Ägyptische Malerei aus einem Grab in Theben, die links eine Doppeloboe, in der Mitte eine Laute und rechts eine Harfe zeigt. E. M. von Hornbostel hat durch genaue Betrachtung der Grifflöcher der Oboe und der Bünde der Laute sogar Rückschlüsse auf die gespielten Tonstufen gezogen (zitiert nach Sachs 1928, Tafel 1 und S. 5; vgl. auch Dullat 1990).

Mythos, Zauber und staatliche Kontrolle

Die Ursprünge der Musik liegen so weit zurück, dass sie nicht in der Geschichte, sondern in der Mythologie vieler Völker ihren Ausdruck gefunden haben. Betrachten wir einige Beispiele. Der Gott Apollo und die Musen gaben den Menschen die Musik – so die griechische Mythologie, der zufolge auch die Musikinstrumente göttlicher Herkunft waren: Der Götterbote Hermes brachte die Lyra, die Kriegsgöttin Athene erfand Trompete und Schalmei, und auf den Hirtengott Pan geht die Flöte zurück. Die indische Göttin Sarasvati erfand der dortigen Mythologie zufolge die Tonleiter, deren einzelne Töne wiederum auf andere Götter zurückgeführt wurden. Den Chinesen wurde die Tonleiter von einem Wundervogel gebracht, und in Japan wurde das Koto, ein Saiteninstrument (vgl. Abb. 1-2), von einem Gott erfunden, um die Sonnenkönigin aus ihrem Versteck zu locken (Engel 1876/1977, S. 75).

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Abb. 1-2 Das Koto (deutsch: Wölbbrettzither) ist ein japanisches Saiteninstrument, das zunächst nur sechs Saiten hatte und dessen hier abgebildete zeitgenössische Version mit 13 Saiten bespannt ist. Mit seiner Länge von 180 cm klingt das nicht gerade handliche Instrument weniger wie eine Zither, sondern eher wie eine Harfe. Man spielt es mit drei Fingern der rechten Hand, über die Plektren aus Papier und Elfenbein gestülpt werden. Die Stimmung ist durch die für jede Saite einzeln frei zwischen Korpus und Saite geklemmten beweglichen Stege variabel, wird jedoch in Japan wie folgt vorgenommen (nach Yoshizaki 1994):

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Aufgrund der für japanische Musik charakteristischen unterschiedlichen Schrittweiten der Tonstufen klingt es „japanisch“, was auch immer man auf einem derart gestimmten Koto spielt. Die linke Hand kann durch Hinunterdrücken der Saite links vom Steg deren Ton erhöhen sowie Vibrato erzeugen.

Die Menschen verbanden Musik seit alters her mit besonderen Kräften, wahrscheinlich, weil sie selbst von Musik auf ganz besondere Weise bewegt wurden. Dieses Bewegtwerden war dabei in aller Regel emotional positiv (vgl. Kapitel 15), wie am Beispiel eines Gottes aus der Neuen Welt illustriert sei.

Kokopelli: Synthese von Fruchtbarkeit und Musik

Im Südwesten der USA, vor allem im Staat New Mexico, finden sich an sehr vielen Orten, zumeist Klippen oder Höhlen, in Felsen geschlagene oder geritzte Bilder eines Flöte spielenden, leicht buckligen Männchens, das bei den Hopi- und Zuni-Indianern unter dem Namen Kokopelli bekannt ist (Abb. 1-3). Sein Name leitet sich möglicherweise aus der Sprache der in Arizona lebenden Hopi-Indianer ab, wo „Kookopölö“ so viel wie „Holzbuckel“ heißt. Eine andere Quelle besagt, dass Koko ein in der Wüste namens „pelli“ lebender Gott der Zuni-Indianer sei, es sich also um einen Wüstengott handelt. Heute findet sich das Motiv auf vielen touristisch vermarkteten Gegenständen wie Töpferwaren, Decken (Bildmitte), Teppichen oder Fußmatten. Seit eineinhalb Jahrtausenden ist Kokopelli das Sinnbild für Musik, Tanz, gute Laune und auch Fruchtbarkeit, und das Zeichen wurde schriftähnlich auf so genannten Newspaper-Rocks, also Zeitungsfelsen, verwendet.

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Abb. 1-3 Der „Party-Gott“ Kokopelli taucht in sehr vielen Variationen auf Felsen auf – stehend, sitzend oder mit übereinandergeschlagenen Beinen (nach Slifer u. Duffield 1994 sowie Walker 1998; vgl. auch Malotki 2001), erstmals bereits etwa um 200 n. Chr.

Im Unterschied zu den politisch korrekten zeitgenössischen Darstellungen Kokopellis ist dieser auf den Originalen oft mit langem Schwanz und Penis als Fruchtbarkeitssymbol abgebildet. Wie in anderen Kulturen auch wird damit die Musik mit der Reproduktion und Fruchtbarkeit in enge Verbindung gebracht.

Von Zauberei und totalitären Staaten

Musik war keineswegs immer die nette Freizeitbeschäftigung, jedem selbst überlassen, beliebig in Rhythmik, Tonalität und Form, die sie heute zu sein scheint. Gewiss, Musik hat auch, gerade heute, gesellschaftlich bedeutsame emotionale Auswirkungen und sogar ökonomische Funktionen (siehe die Kapitel 15 und 16). Dies alles geschieht jedoch mehr oder weniger zufällig und unterliegt beispielsweise nicht unbedingt wissenschaftlicher Logik oder gar staatlicher Kontrolle. Das war nicht immer so.

In China galt es für den Staat als unbedingt erforderlich, dass der Grundton der Musik richtig festgelegt war und bestimmten kosmischen Maßen entsprach. Auch hielt man den Einfluss der Musik auf den Charakter und die moralische Haltung der Menschen für groß und achtete entsprechend von Staats wegen auf die richtige Musik (Lachmann 1929).

Die Zumessung bestimmter Kräfte der Musik ging so weit, dass man bestimmten Melodien eine Zauberwirkung zuschrieb, ähnlich wie primitive Stämme die Ausübung von Musik mit der Einflussnahme auf andere Menschen und auch die Natur verbanden. So erzählt die griechische Mythologie von Orpheus, der nicht nur wilde Tiere, sondern auch Felsen, Wälder, Flüsse, Hagel und Schnee durch seinen Gesang besänftigte. Die Sage vom Rattenfänger von Hameln stößt ins gleiche Horn, und auch indische Erzählungen berichten von der Macht bestimmter Melodien über die Elemente und Naturkräfte. Die Râgas, bestimmte Tonleitern und daraus improvisierte Melodien der indischen Musik, wurden und werden zum Teil noch heute bestimmten Tages- und Jahreszeiten zugeordnet, vor allem aber bestimmten Emotionen und Göttern. Nicht anders steht es um die Mâquâmat der Araber, bei denen es sich um ursprünglich der Volksmusik entstammende Melodiegestalten handelt, die wegen der ihnen zugeschriebenen Wirkungen ebenfalls nur zu bestimmten Zeiten und für bestimmte Menschen gesungen oder gespielt werden durften.

Bender (2000) bringt das Beispiel der traditionellen Musik in Guinea, Afrika, aus der Zeit vor der Kolonialisierung, die unter anderem als Initiationsmusik Bestandteil der Erziehung und Ausbildung eines jeden jungen Mannes war.

Am weitesten trieb es wohl der griechische Philosoph Platon (427 bis 347 v. Chr.), was die Ausarbeitung eines Systems der Wirkungen von Musik auf den Menschen und der daraus abgeleiteten gesellschaftspolitischen Konsequenzen anbelangt. Mit Musik war nicht zu spaßen! Dafür war sie für die harmonische Ausbildung der Seele und für die Modulation der Emotionen, wie wir heute sagen würden, von viel zu großer Bedeutung.

Die Griechen unterschieden in ihrer ausgefeilten Musiktheorie (systema teleion genannt) sieben verschiedene Tonleitern mit entsprechend unterschiedlich verteilten Ganz- und Halbtonschritten (vgl. Tabelle 1-1) und ordneten jeder eine bestimmte Wirkung auf den Menschen zu. Analog wie wir heute etwa eine Moll-Tonleiter als traurig und eine Dur-Tonleiter als fröhlich erleben können, galt für Platon die eine Tonleiter als verweichlichend (und sollte daher der Jugend nicht vorgespielt werden) und die andere als stählend.

Tab. 1-1 Griechische Tonleitern, zur einfacheren Darstellung und besseren Vergleichbarkeit ausgehend vom Grundton C aufwärts dargestellt (modifiziert nach Dahlhaus und Eggebrecht 1998, S. 220), und deren vermeintliche Wirkung auf den Menschen (nach drei mittelalterlichen Quellen, zusammengefasst im New Groves, Bd. 12, S. 398, vom Autor übersetzt und vereinfacht). Das griechische System bildete später die Grundlage der mittelalterlichen Kirchentonarten, aus denen sich wiederum ab dem 17. Jahrhundert (Barock) das (vergleichsweise einfache) Dur-Moll-System herausbildete, in dem nur noch die hypolydische (ionische, Dur) und die hypodorische (äolische, Moll) Tonleiter übrig blieben. Bei den „hypo“-Tonarten werden die drei höchsten Töne der Skala unten aufgereiht, der Grundton ist somit F, was die traurige, weinerliche Wirkung des heutigen Dur erklärt.

Tonart

Wirkung

dorisch: c-d-es-f-g-a-b-c

ernst, ehrenvoll, offen

phrygisch: c-des-es-f-g-as-b-c

aufregend

lydisch: c-d-e-fis-g-a-h-c

fröhlich

mixolydisch: c-d-e-f-g-a-b-c

theatralisch

hypodorisch (äolisch): c-d-es-f-g-as-b-c

traurig, ernst

hypophrygisch (lokrisch): c-des-es-f-ges-as-b-c

mäßig, schmeichelnd

hypolydisch (ionisch): c-d-e-f-g-a-h-c

traurig, weinerlich

Neben den Tonleitern waren für Platon auch unterschiedliche Rhythmen mit verschiedenen Effekten verbunden, so dass sich insgesamt ein sehr komplexes Lehrgebäude ergab. Dieses hatte seine Wurzeln im vorderen Orient und Ägypten, also dort, wo man auch Astronomie betrieb und die Sterne mit der Musik verband. Diese Verbindung war bereits vor Platon von Pythagoras in ausgefeilter Weise ausgearbeitet worden.

Musik im Abendland: Zahlen, Sterne und Sphärenmusik

Der Grieche Pythagoras (570–497 v. Chr.) ist hierzulande vor allem durch sein Theorem bekannt, demzufolge bei jedem rechtwinkligen Dreieck die Flächen der Quadrate über den kürzeren Seiten mit dem Quadrat über der langen Seite identisch sind. Wer kann sich nicht an a2 + b2 =c2 erinnern? Wer würde jedoch denselben Herrn mit der Gründung einer Art Orden in Verbindung bringen, dessen Anhänger die Seelenwanderung (und daher Respekt vor allen Lebewesen) predigten, ihren Körper und Geist durch Diät günstig zu beeinflussen suchten (Bohnen waren streng verboten) und die erstmals Musik und Mathematik miteinander verbanden?

Obwohl man heute nicht mehr daran zweifelt, dass Pythagoras tatsächlich gelebt hat, ist nicht immer klar zwischen Legende und Tatsachen zu unterscheiden, zumal von Pythagoras selbst keinerlei Schriftzeugnisse erhalten sind. Dennoch ist nicht unwahrscheinlich, dass Pythagoras selbst die Experimente gemacht hat, die ihm wichtige Erkenntnisse zum Zusammenhang von musikalischer Wahrnehmung einerseits und Zahlenverhältnissen andererseits brachten. Er verwendete hierzu ein Monochord, also einen Resonanzkörper mit einer einzigen Saite und einem verschiebbaren Steg (vgl. Abb. 1-4).

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Abb. 1-4 Monochord. Gegenwärtig wird dieses Instrument nur noch selten z. B. im musiktherapeutischen Kontext eingesetzt (vgl. auch van der Maas 1985). In diesem Kontext machen Monochorde ihrem Namen wenig Ehre, denn sie haben für gewöhnlich mehr als nur eine Saite. Die Abbildung verdanke ich meinem Freund Helmut Seibert von der „Werkstatt für Musik und Klang“ im hessischen Oberhof. Unten ist schematisch dargestellt, welche Intervalle bei welcher Teilung einer Saite entstehen.

Seine Entdeckung bestand darin, dass den grundlegenden Intervallen der Musik – Oktave, Quinte und Quarte – einfache Zahlenverhältnisse der Längen einer schwingenden Saite entsprechen. Bei der Oktave verhalten sich die Längen der Saite wie 1 zu 2, bei der Quinte wie 2 zu 3, und bei der Quarte wie 3 zu 4. Diese Einsicht mag manchem heute nicht sehr wichtig erscheinen, sie stellte in der damaligen Zeit jedoch einen Durchbruch dar. Konnte doch erstmals sehr klar gezeigt werden, wie Musik (und damit Phänomene der Wahrnehmung von Natur) auf einfachen mathematischen Strukturen beruht (siehe auch Kapitel 4). Diese Einsicht hatte Folgen, denn was den Tönen recht war, das sollte anderen Naturgegenständen billig sein. Auch sie sollten sich mathematisch beschreiben lassen. Damit war zum ersten Mal – anhand der Entdeckung aus dem Bereich der Musik – das Programm naturwissenschaftlicher Forschung formuliert. Nahezu zwei Jahrtausende später wird von Galileo Galilei prägnant ausgedrückt: „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.“

Ob die astronomischen Spekulationen zu den Zahlenverhältnissen der Planetenbahnen ebenso auf Pythagoras zurückgehen, ist nicht geklärt. Seine Anhänger waren jedoch davon überzeugt, dass auch die himmlische Natur einfachen Zahlenverhältnissen folgt. Man dachte sich damals den Nachthimmel als ein die Erde umgebendes System von Kugeln (Sphären), die zur Erklärung der Bewegungen der Planeten und der Fixsterne herangezogen wurden (vgl. Aristoteles, Vom Himmel II 9. 290b 12ff, in Capelle 1968, S. 491f). Viel später erst kam die Phantasie hinzu, dass durch die Bewegung der Kugeln gegeneinander Töne entstehen, die Sphärenmusik. Diese sei jedoch für den Menschen unhörbar, weil sie permanent vorhanden sei und wir uns daher an ihre immerwährende Existenz (heute würde man hinzufügen: durch Adaptation) gewöhnt hätten.

Pythagoras war sowohl genialer Wissenschaftler als auch spirituelle Leitfigur und begründete eine ganze Bewegung, die Pythagoräer. Diese Bewegung spaltete sich bald nach seinem Tod in ein Lager der Mathematiker und eines der Akousmatiker. Dies waren Spiritualisten, die Riten und mystische Inhalte pflegten und tradierten. Pythagoras war „Guru eines Ashram und zugleich Direktor eines Forschungsinstituts“, wie ein philosophisches Wörterbuch treffend zusammenfasst (Flew 1979, S. 294, Übersetzung durch den Autor).

Hohe, schöne und niedere Kunst

Wie oben bereits ausgeführt, war Musik für die Griechen des Altertums ein wesentlicher Teil der Welt und des gesellschaftlichen Lebens. Im Erziehungs- bzw. Bildungssystem stand Musik, wie Platon in seinem Werk Der Staat näher ausführt, neben der Gymnastik: Das eine sei gut für den Körper, das andere für den Geist; für die richtige Erziehung brauche es beides wohldosiert.

Platon lässt beispielsweise Sokrates seinen Gesprächspartner Glaukon fragen: „Bemerkst du nicht, in welchen Geisteszustand diejenigen geraten, die ihr Leben lang sich mit der Gymnastik beschäftigen, ohne sich irgendwie musisch zu bilden? Oder diejenigen, mit welchen das Gegenteil der Fall ist?“ Und als Glaukon nicht recht weiß, worauf die Frage hinausläuft, gibt Sokrates selbst die Antwort: „Auf Rauheit und Härte einerseits, auf Weichheit und Milde andererseits“ (vgl. Platon, Staat III, 410cd). Musik und Gymnastik haben mithin unterschiedliche Effekte auf den heranwachsenden Menschen, die sich gegenseitig zum Teil aufheben, aber in ihrer Verbindung für die richtige Erziehung sorgen.

Nach den Ausführungen zu Pythagoras verwundert es nicht, wenn im Griechenland der Antike die Musik zusammen mit der Arithmetik, der Geometrie und der Astronomie zu einem Lehrprogramm zusammengefasst war. Im späten Griechenland und im antiken Rom wurden hieraus, zusammen mit Grammatik, Rhetorik und Logik, die sieben freien Künste, die artes liberales. Bis weit ins Mittelalter hinein hielt sich die Einteilung dessen, was man heute Bildung nennen würde, in das Quadrivium der höheren Künste, das dem Trivium aus Grammatik, Rhetorik und Logik, den niederen Künsten, entgegengestellt war. Diese Künste waren deshalb nieder, weil sie ja nur mit Worten zu tun hatten (daher bis heute der Ausdruck trivial für etwas Einfaches, Niederes) und nicht wie die Musik und die anderen höheren Künste mit Zahlen (genau genommen mit Zahlenverhältnissen).

Mittelalter: Systematik, Notenschrift, Liebeslieder und Mehrstimmigkeit

Das oft als finster bezeichnete Mittelalter brachte in musikalischer Hinsicht eine Reihe ganz wesentlicher Fortschritte. Am Ende des sechsten Jahrhunderts sammelte Papst Gregor die einstimmigen Kirchengesänge. Aus der Notwendigkeit, diesen Gregorianischen Kirchengesang aufzuschreiben, entstand um die Jahrtausendwende die erste Notenschrift, zunächst mit vier und später mit fünf Linien (man experimentierte mit bis zu 20 Linien).

Ab dem elften Jahrhundert kam in Frankreich (durch die Troubadoure) und später in Deutschland der Minnesang auf, eine Form der weltlichen Musik, die von Adligen und Rittern zur Verherrlichung des anderen Geschlechts gesungen wurde. Aus der Tradition des Minnesangs entwickelten sich in der zunehmend wohlhabenden Gesellschaft des ausgehenden Mittelalters die bürgerlichen Singschulen und Meistersänger. Neben kirchlicher und höfischer Musik gab es im Mittelalter auch die Musik für die einfachen Leute, oft auf der Drehleier gespielt (Abb. 1-5). Sie wurde von Menschen am Rande der Gesellschaft gemacht, die dafür oft abgetragene Kleider als Lohn erhielten. Ab dem zwölften Jahrhundert war daher sehr bunte Kleidung ein Kennzeichen dieser nicht sesshaften Spielleute, denen später in einer der frühesten deutschen Reichspolizeiordnungen ausgefallene Kleider sogar vorgeschrieben wurden (Bergmann 2000).

Die wichtigste musikalische Entwicklung im Mittelalter war die Mehrstimmigkeit. Zwar gab es an anderen Orten und zu anderen Zeiten auch gelegentlich zusammenklingende (beispielsweise überlappende) Gesänge; aber dass in einem Chor verschiedene Sänger ganz unterschiedliche Melodien gleichzeitig sangen, war neu. Harmonie (das gleichzeitige Erklingen verschiedener Töne) ist viel anfälliger gegen Fehler, fragiler, störbarer als Melodie (Töne erklingen nacheinander). Entsprechend war das Singen in Harmonie eine größere Kunst. Sie provozierte auch die Entwicklung einer Notenschrift, in der Gleichzeitigkeit durch untereinander stehende Noten ausgedrückt wurde.

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Abb. 1-5 Links: Darstellung aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift, die irrtümlich dem Ritter Rüdiger Manesse zugeschrieben wurde und daher auch Manesse-Handschrift genannt wird. Man sieht ein Paar in liebender Pose vor einer Blumenranke. Rechts: Drehleier, gebaut von Helmut Seibert. Dieses heute nahezu ausgestorbene Instrument hatte im Mittelalter gerade bei den Spielleuten weite Verbreitung. Durch das Rad werden alle Saiten wie durch einen „unendlichen Bogen“ kontinuierlich angestrichen. Die Melodiesaite wird mit Tasten verkürzt, drei oder mehr zusätzliche Saiten schwingen mit immer gleichem Ton mit. Man nennt diese Töne, die heute fast nur noch vom Dudelsack her bekannt sind, Borduntöne (vgl. Bröcker 1977, Delfino u. Loibner 1997 sowie Abb. 1-6).

Neuzeit: der wirtschaftlich unabhängige Musiker

Auf die immer komplizierter werdende Mehrstimmigkeit des ausgehenden Mittelalters folgte die klare Musik der Renaissance, an deren Ende die Oper (im Rückgriff auf die antike Tragödie) erfunden wurde. Aus der Begleitmusik des Operngesangs wurde im Laufe der Zeit eigenständige Instrumentalmusik, gespielt von einem großen Orchester. Die Sinfonie entstand, ihre vorklassische Form – schnell, langsam, schnell – war noch immer dem Tanz entlehnt.

Vom Bau immer besserer Instrumente profitierten Johann Sebastian Bach (1685–1750), Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) und Ludwig van Beethoven (1770–1827). In dieser Zeit etablierte sich nicht nur die Musik als eigenständige Kunstform unabhängig von jeglicher Sprache, sondern auch die Profession des Berufsmusikers. Wirtschaftlich eigenständige Musiker gab es zu Beginn der Neuzeit nicht. Noch Bach soll sich über die Sterbeunwilligkeit der Bevölkerung von Leipzig beklagt haben, denn er bestritt seinen Unterhalt unter anderem von dem, was heute unter Musikern als Gruftmucke bezeichnet wird: der musikalischen Begleitung von Leichenfeiern. Mozart war schon eher Künstler und Berufsmusiker, starb jedoch bekanntermaßen in Armut, wohingegen Beethoven als Pianist und Komponist ein gutes Auskommen hatte.

Mit den Berufsmusikern kam ökonomische Betriebsamkeit, die in den vergangenen knapp dreihundert Jahren zu gigantischen Ausmaßen herangereift ist: Man brauchte Verleger für die immer neuen Kompositionen, man musste Opernhäuser und Konzerthallen errichten, baute immer neue, immer bessere Musikinstrumente, gründete Musikschulen und Gesangvereine, den Studiengang der Musikwissenschaft ebenso wie später die Institutionen der Hitparaden, Musikwettbewerbe und Musiktourneen großer Künstler. Es kam die Spaltung der Musik in solche, die man ernst nannte und nahm, und solche, die nur unterhält; aber es kam auch die Überwindung dieser Spaltung bei all denen, die mit Unterhaltungsmusik ernsthaft Geld verdienen, und denjenigen, denen nur wirklich ernsthaft produzierte Musik Spaß macht.

Von der Kognition zur Emotion

Über die Jahrhunderte verschob sich der Akzent der Einschätzung von Musik vom Kognitiven zum Affektiven hin. Man kann zwar davon ausgehen, dass bereits Platon sich nicht so sehr um die richtige Musik für die Jugend gesorgt hätte, wenn er Musik für ein rein kognitives Geschehen gehalten hätte. Dennoch kann man behaupten, dass im Zeitraum der Romantik, in welchem Komponisten, Künstler und Philosophen den Menschen neu bestimmten, der emotionale Aspekt der Musik stärker in den Vordergrund rückte.

Parallel zu dieser Entwicklung kam es in der deutschen Sprache zu einer phonetischen Veränderung der Betonung des Wortes Musik durch französischen Einfluss, so dass nicht mehr von muschönen Künste