Manfred Spitzer

Gelegenheit macht Liebe, Kleider machen Leute und der Teufel macht krank


Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Universität Ulm, Psychiatrische Klinik

Leimgrubenweg 12–14

89075 Ulm

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Umschlagabbildung: Kungfu Painting Co.; Original im Besitz des Autors

ISBN 978-3-7945-6998-4

Meinen Enkeln Camillo und Leopold


Vorwort

Der Titel dieses siebzehnten Buchs meiner Serie kleiner „Miniaturen“ – wie sie mein Freund Wulf Bertram einmal genannt hat – aus der Wissenschaft ist wie immer völlig gleichgültig. Unter den vielen Möglichkeiten machte diesmal einfach die Zusammensetzung dreier Miniaturen-Titel das Rennen. Und so geht es inhaltlich mit einer elektronischen Variante des Speed-Dating los, gefolgt von Daten, welche die Grundthese von Gottfried Kellers Novelle aus dem Jahr 1874 endlich empirisch bestätigen und weiteren empirischen Daten zum Teufel, den ich im Herbst 2014 in Chile sogar Gelegenheit hatte, zu fotografieren!

Zwei Arbeiten mit „forte“ im Titel, in denen es nicht um Pharmakologie geht, und eine mit „Helikopter“ im Titel, in der es nicht um Hubschrauber geht, setzen den bunten Reigen fort, gefolgt von neuen überraschenden Daten dazu, wie ungern die Menschen denken. Dieses Kapitel hätte – ebenso wie das darauf folgende zu Verschwörungstheorien – auch gut in das letzte kleine Büchlein dieser Art und des gleichen Titels („Denken“) gepasst, aber weder das Erscheinen wissenschaftlicher Arbeiten noch (und schon gar nicht) der Zeitpunkt meiner Rezeption derselben folgen irgendeiner Systematik: Interessante Gedanken werden einfach irgendwann gedruckt und irgendwann gelesen – da kann man nichts machen.

Zwei Miniaturen handeln von Tieren: Die eine geht der Frage nach, warum Pandabären so faul und die andere, warum Hunde so treu erscheinen. In zwei weiteren erhält man medizinischen Rat und erfährt, warum sowohl Fluchen als auch Blaulicht am Abend ungesund sind. Zwei entwicklungspsychologische Miniaturen – eine zur Sprachentwicklung und eine zur Entwicklung des kindlichen Weltverständnisses – schließen sich an. In beiden geht es u. a. bereits um den negativen Einfluss digitaler Medien auf Körper und Geist. Weitere Arbeiten hierzu erschienen in verschiedenen Ausgaben der Nervenheilkunde des Jahres 2015 und sind hier in den Kapiteln 15 bis 19 wieder abgedruckt. Hier geht es unter anderem darum, was geschieht, wenn man nicht mehr berücksichtigt, dass Menschen verstehende Wesen sind und keine Computer, die Daten aus anderen Computern herunterladen. Diese Inhalte habe ich im Laufe des Jahres weiter verfolgt, vielfach erweitert und den immer größer werdenden Teig x-fach geknetet und durchgewirkt, und schließlich das Ganze in einem Buch zusammenfassend dargestellt, das unter dem Titel „Cyberkrank!“ etwa zeitgleich mit diesem Buch erscheint.

Hierzu noch eine Anmerkung: Schon Karl Jaspers publizierte seine „Allgemeine Psychopathologie“ im Jahr 1913, nachdem er die Grundideen Jahre vorher in einzelnen kleinen Publikationen entwickelt hatte. Der Text der „Allgemeinen Psychopathologie“ ist über weite Strecken diesen kleineren Arbeiten sehr ähnlich, manche Sätze sind identisch. Ist das, wie manche behaupten, illegales „Selbst-Plagiat“? Wer das denkt, hat nicht begriffen, dass Denken immer auf dem Weg ist, dass neue Ideen nicht aus heiterem Himmel fallen, sondern gären, reifen, verschärft oder abgeschliffen und immer wieder neu gewendet werden. Dafür braucht es Zeit, und wie bei Jaspers in Heidelberg auch (er schreibt darüber in seiner Autobiografie) müssen in dieser Zeit viele Diskussionen stattfinden, in einer Atmosphäre, die dem intellektuellen Austausch förderlich ist.

Dass dies in der Psychiatrie in Ulm in ganz besonderem Maß der Fall ist, dafür bin ich sehr froh und allen Mitarbeitern sehr dankbar! Wie heißt es doch so schön: Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern das Weitertragen der Fackel! Angefacht wird diese in meinem Fachgebiet täglich durch neue Erkenntnisse aus den Natur- und Geisteswissenschaften, die es zu verstehen und zu verarbeiten gilt, um sie letztlich anzuwenden. Daher runden auch zwei Kapitel über solche Anwendungen (wie man Vorurteile los wird und wie Ehrfurcht den Menschen menschlicher macht) dieses Büchlein ab.

Es ist schade, dass Frau Dr. Dagmar Brummer die Klinik verlassen und sich niedergelassen hat. So hatte sie in diesem Jahr nur noch wenig Anteil an den Texten dieses Buchs, und wir vermissen ihre Mitarbeit bei der Nervenheilkunde. Aber so ist das an der Uni immer: die besten Leute gehen irgendwann, weil man für die Karriere der meisten Mitarbeiter keine Endstation – das ginge auch gar nicht –, sondern eine Art Durchlauferhitzer darstellt. Und so ist eine Abteilung einer Uni-Klinik wie ein Fluss: heißt immer gleich, obwohl doch der Inhalt dauernd ein anderer ist. Aus der Sicht des Chefs noch treffender ist vielleicht die Metapher vom Floß, das im Wasser dauernd neu zusammengezimmert wird, weil immer wieder Stämme verlorengehen und neue hinzukommen. Ein solches Floß zusammen- und zudem noch auf Kurs zu halten, ist nicht immer leicht. Aber wenn alle Beteiligten dabei mitdenken und mithelfen, kann es sogar Freude machen. Dafür bedanke ich mich bei allen meinen Mitarbeitern aufs Herzlichste!

Ebenfalls danken möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beim Schattauer Verlag, die meine Bücher nun größtenteils schon mehrere Jahre betreuen. Zunächst wären da die beiden Verleger Dieter Bergemann und Dr. Wulf Bertram zu nennen, außerdem Dr. Anja Borchers als zuständige Redakteurin der Nervenheilkunde, die Herstellerin Birgit Heyny und die Lektorin Ruth Becker.

Literatur

Jaspers K. Philosophische Autobiographie. In: Schilpp PA (Hrsg). Philosophen des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Kohlhammer; 1–79.

Jaspers K. Allgemeine Psychopathologie. Heidelberg: Springer 2013.

Spitzer M. Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. München: Droemer 2015.

Inhalt

1 Sex on demand
Satellitennavigation und Geschlechtskrankheiten

2 Kleider machen Leute

3 Der Teufel und die Hölle – pro und kontra

4 Placebo-forte

5 Mozart-forte, Folk-retard, Rap-mite
Anxiolytische, analgetische und antiphlogistische Effekte von Musik

6 Helicopter-Eltern

7 Denken

8 Verschwörungstheorien – ganz normal und doch ein Problem

9 Warum sind Panda-Bären so faul?

10 Hunde sind auch nur Menschen

11 Fluchen ist ungesund

12 Schlaflos mit Blaulicht

13 Am Anfang war das Wort

14 Babys sind auch nur Wissenschaftler

15 Smartphones, Angst und Stress

16 Cyberchondrie oder Morbus Google
Eine Krankheit, die man nur hermeneutisch versteht

17 Digital genial?
Mit dem „Ende der Kreidezeit“ bleibt das Denken auf der Strecke

18 Buch oder E-Book?

19 Zivilisationskrankheiten und Kontrolle

20 Vorurteile loswerden? – Im Schlaf!

21 Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir

Sachverzeichnis

1  Sex on demand

Satellitennavigation und Geschlechtskrankheiten

„Wenn man weiß, wo man ist, kann man sein, wo man will“, sagte vor gut 15 Jahren gelegentlich mein Fluglehrer im Hinblick auf das in der Luft sehr wichtige Navigieren. Dies lernte man mit Karten, Linealen, speziellen Rechenschiebern etc. und obgleich die Mathematik dahinter – im Prinzip Pythagoras und andere Geometrie aus der Unter- und Mittelstufe – einfach war, erlebte ich das viele Rechnen über den Wolken als lästig und die grenzenlose Freiheit erheblich beeinträchtigend.

Mein Pilotenschein ist aus Zeitmangel längst wieder verfallen, aber die Erlebnisse bleiben in meinem Kopf. So auch das wunderbare Gefühl, als ich ein kleines Kästchen erworben hatte, mit dem man sich das Hantieren mit Karten und Linealen und das viele Rechnen ersparen konnte: ein Globales Positionsbestimmungssystem (GPS) für Hobbypiloten ( Abb. 1-1). Sehr teure Autos hatten das damals auch schon, Otto Normalverbraucher jedoch nicht.

Bin ich heute unterwegs, dann habe ich meist drei dieser Geräte dabei, eines fest im Auto eingebaut und zwei weitere, die ich mit mir herumtrage, im Mobiltelefon und in meiner Reise-Knips-Kamera. Dass diese Geräte mittlerweile klein, selbstverständlich und unscheinbar geworden sind, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, welche außerordentliche Leistung hinter dem System steckt. Es wurde vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium aufgebaut, das 1978 den ersten Satelliten für ein globales System zur Ortsbestimmung ins All schickte und das System 1993 zunächst nur für militärische Zwecke in Betrieb nahm.

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Abb. 1-1  Links mein mittlerweile uraltes Garmin GPS (Preis damals: ca. 1 500 DM), das heute nahezu „gratis“ in jedem Smartphone (Mitte) und in so manchen anderen Geräten wie z. B. Fotoapparaten (rechts) eingebaut ist.

Letztlich basiert die Satellitennavigation auf sehr genauen Atomuhren: Etwa 30 davon fliegen um die Erde und senden dauernd, wo sie jetzt gerade sind und wie spät es jetzt gerade ist. Mit einem entsprechenden Empfänger kann man dann die Signale von mehreren Satelliten empfangen, und weil diese Signale Zeit brauchen, um vom Satelliten zum Empfänger zu gelangen, kann man dann dank Pythagoras & Co. durch Triangulation beim Vorliegen von mindestens vier Signalen ausrechnen, wo man sich befindet. In der Praxis arbeitet das System umso genauer, je mehr Signale man gerade empfängt. Weil Funksignale sich mit Lichtgeschwindigkeit – 300 000 Kilometer pro Sekunde – ausbreiten, müssen die Uhren sehr genau gehen: eine tausendstel Sekunde sind 300 Kilometer, einmillionstel Sekunde 300 Meter, 10-milliardstel Sekunden sind 3 Meter.1

Wer hätte vor 15 Jahren gedacht, dass man mit der gleichen Technik irgendwann einmal nicht nur jederzeit wissen kann, wo man ist, sondern auch jederzeit Sex haben kann, mit wem auch immer, der gerade auch dazu Lust hat: In Analogie zum Video on demand, bei dem man sich nicht das Programm irgendwelcher Sender aufdrängen lässt, sondern dies selber bestimmt, spricht man auch von Sex on demand. – Warum ist das so und wie kam es zu dieser Entwicklung?

Die moderne digitale Informations- und Kommunikationstechnik ermöglicht es, dass wir mit Menschen auf der ganzen Welt in Verbindung sein können und es zunehmend auch tatsächlich sind, weil wir die hierzu notwendige Hardware mittlerweile in der Hemd- oder Hosentasche mit uns herumtragen. Nicht nur Wissenschaftler, Ingenieure oder Geschäftsleute korrespondieren heute routinemäßig mit Kollegen oder Partnern auf der ganzen Welt, auch Millionen von Paaren tun dies und selbst die Großmutter aus Amerika skyped mit dem zweijährigen Enkel in Castrup-Rauxel. Es besteht kein Zweifel, dass die moderne Technik mit ihren Möglichkeiten des raschen Austauschs bis hin zur Telepräsenz unsere Sozialkontakte verändert hat.

Im Gegensatz zu Sozialkontakten, die bei Menschen, die sich (schon) kennen, über weite – ja: globale – Distanzen gut funktionieren können, ist es mit Sexualkontakten etwas ganz anderes: Intimität geht einfach nicht ohne räumliche Nähe.2 Und so mag mir Facebook den virtuellen Kontakt mit 500 „Freunden“ ermöglichen, realer oder gar körperlicher Kontakt braucht räumliche Nähe. An dieser Stelle kommen geosoziale Netzwerk-Anwendungen, die auf Smartphones mit eingebautem GPS laufen – auf Neudeutsch: geosocial networking phone apps – ins Spiel.

Hierbei handelt es sich um digitale Flirt-Portale, also um Programme zum Kennenlernen, die darauf basieren, dass sie zugleich die mobile Nutzung von Facebook erlauben und die geografischen Koordinaten des Nutzers preisgeben. Auf diese Weise findet man nicht nur jemanden, den man mag (d. h. auf einem Foto attraktiv findet – um mehr geht es nicht), sondern auch jemanden, den man erstens mag, und der sich zweitens „um die Ecke“ befindet und drittens seine „Bereitwilligkeit zum Kontakt“ signalisiert hat. Das bekannteste dieser digitalen Flirt-Portale ist Tinder (zu Deutsch: Zunder), das nach einer Meldung des Spiegel (3) hierzulande schon zwei Millionen und weltweit über 50 Millionen Nutzer hat, von denen die meisten es mehrfach täglich nutzen. Man sieht die Bilder möglicher Partner und wischt darüber: nach links für „kommt nicht in Frage“, nach rechts für „gefällt mir“. Männer wischen im Schnitt in 46 % der Bilder nach rechts, Frauen sind mit 14 % mehr als dreimal so wählerisch (6). „Vorbei die Zeit, als man sich in überfüllten Discos ‚Tut mir leid, ich bin schon vergeben‘ ins Ohr schreien musste. Heute filtert man per Handy schon vorher die Singles auf der Tanzfläche heraus“, schreibt dazu Alexander Demling im Spiegel (7). Nach einer im Fachblatt New Scientist publizierten Notiz stellt Tinder täglich etwa 15 Millionen Kontakte („matches“) her (4). Ein digitales Dating-Portal für homo- und bisexuelle Männer hat den Namen Grindr, existiert bereits seit 2009, funktioniert ähnlich und hat ebenfalls bereits Millionen Kontakte vermittelt.

Was manchen Menschen als die Erfüllung ihres Traums von ultimativer sexueller Freiheit erscheinen mag, gerät medizinischen Epidemiologen zunehmend zum Albtraum: Ärzte und Wissenschaftler aus Los Angeles stellten kürzlich eine Studie an insgesamt 7 184 homosexuellen Männern vor, die in einem Behandlungszentrum auf Geschlechtskrankheiten hin getestet worden waren, und bei denen zusätzlich die Nutzungsgewohnheiten der GPS-vermittelten Flirt-Portale erfragt wurden. Die Studie ergab, dass das Risiko der Übertragung von Geschlechtskrankheiten mit der Nutzung solcher Portale stieg: Wer sie nutzte, hatte ein um 25 % erhöhtes Risiko, an Gonorrhoe erkrankt zu sein, sowie ein um 37 % erhöhtes Risiko einer Chlamydien-Infektion (5).

Auch die Lues-Erkrankungen haben in den USA im vergangenen Jahrzehnt stark zugenommen, was von wissenschaftlicher Seite ebenfalls mit der Zunahme der Nutzung von Dating-Programmen, insbesondere durch homosexuelle Männer, erklärt wird. Entsprechend findet sich die Zuname auch nur bei Männern ( Abb. 1-2). Daten aus Australien zeigen dort die gleiche Entwicklung mit der höchsten je verzeichneten Zahl von Lues-Fällen im Herbst 2014 ( Abb. 1-3). Auch in Großbritannien wurden steigende Infektionsraten mit Geschlechtskrankheiten in Zusammenhang mit den Hook-up-Apps, wie die Kennenlern-Programme in Großbritannien auch genannt werden, gebracht (2): Von 2012 bis 2013 hat sich dort die Zahl der Gonorrhoe-Infektionen um 15 % von 25 577 auf 29 291 Fälle und die Zahl der Lues-Infektionen von 2 981 auf 3 249 erhöht, was einem Anstieg um 9 % entspricht. Experten des britischen öffentlichen Gesundheitswesens fanden heraus, dass Flirt-Programme bei sechs Ausbrüchen der Lues in Großbritannien seit 2012 eine Rolle gespielt hatten und für eine, wie es heißt, hyper-efficient transmission der Infektionen sorgten.

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Abb. 1-2  Anzahl der neu gemeldeten Lues-Fälle in den USA im Zeitverlauf (Daten des US-amerikanischen Center for Disease Control, CDC, nach 4).

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Abb. 1-3  Häufigkeit der Lues-Fälle je 100 000 Einwohner in Australien im Zeitverlauf (nach 8).

Ein Sprecher der British Association for Sexual Health and HIV wird mit den Worten zitiert: „Man muss kein Genie sein, um sich darüber klar zu sein, dass solche Programme flüchtige sexuelle Kontakte sehr viel einfacher machen. Mit einer Genauigkeit von bis auf einen oder zwei Metern kann jeder die naheste [an Sex] interessierte Person ausfindig machen. Diese Art der Verfügbarkeit gab es schlicht bis vor Kurzem nicht.“3 Gelegenheit macht Liebe, könnte man in Anlehnung an ein bekanntes deutsches Sprichwort auch formulieren.

Nach einer bereits 2011 publizierten holländisch-australischen Studie mit dem Titel When do online sexual fantasies become reality? ist auch das Chatten vor dem eigentlichen Sexualkontakt in der virtuellen Realität für manche sich in der wirklichen Wirklichkeit später realisierende Dummheit verantwortlich: Von 2 058 Männern, die Sex mit Männern im Internet anbahnten, hatten 32,1 % ungeschützten Verkehr, obwohl sich die meisten durch Kondome vor Ansteckung schützen wollten. „Dies wirft ein kritisches Licht auf die Annahme, dass das Online-Fantasieren keine Verhaltenskonsequenz in der realen Welt habe und unterstreicht die Bedeutung von Online-Plauderei für die Prävention von HIV-Infektionen“, kommentieren die Autoren ihre Ergebnisse (1, S. 506; Übersetzung durch den Autor).4 Manche Kommentatoren im Netz meinen zu solchen Befunden, dass sie nichts aussagen würden, weil nicht das Internet die Menschen risikobereiter mache, sondern jeder einzelne Mensch für sein Verhalten selbst verantwortlich sei. Das ist etwa so sinnhaft wie das Argument der Waffenlobby, dass nicht Revolver, sondern Menschen andere Menschen töten.

Eine weitere Studie von Psychologen an der Harvard University und einer New Yorker Universität an 110 homosexuellen Männern ergab ebenfalls, dass die Nutzung von Grindr oder ähnlichen Smartphone-Programmen mit einer höheren Anzahl an sexuellen Partnern und einer höheren Prävalenz von Geschlechtskrankheiten korreliert war (9).

Von den genannten Anstiegen der Geschlechtskrankheiten blieb auch Deutschland nicht verschont: Hier hat die Zahl der Infektionen mit Geschlechtskrankheiten – insbesondere Chlamydien, Gonorrhoe und Lues – in den letzten Jahren ebenfalls wieder zugenommen. Die Gründe hierfür sind sicherlich vielschichtig, aber wer wollte ausschließen, dass geändertes und oberflächlicheres Sozialverhalten nicht auch hierzulande zu entsprechenden Änderungen im Sexualverhalten führt? Digitale Informationstechnik birgt Risiken und Nebenwirkungen (12, 13). Diese können zuweilen kaum vorhersehbar sein, wie die hier diskutierten Daten zeigen. Wir werden damit umgehen lernen – müssen.

Literatur

1. Adam P, Murphy DA, de Wit JBF. When do online sexual fantasies become reality? The contribution of erotic chatting via the Internet to sexual risk-taking in gay and other men who have sex with men. Health Education Research 2011; 26: 506–515.

2. Adams S. Dating apps that pinpoint interested people down to the nearest metre blamed for soaring sex infections. The Mail on Sunday (3.1.2015) (http://www.dailymail.co.uk/health/article-2895639/).

3. Backhaus A. Sex-Dating mit Tinder: Bitte einmal willig lächeln. SPIEGEL online, 7.12.2014 (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/dating-app-tinder-sex-per-chat-a-1007073.html; accessed 11.2.2015).

4. Bhattacharya S. A date with disease: Get the app, risk the clap? New Scientist 3.1.2015 (Issue 3002).

5. Beymer MR, Weiss RE, Bolan RK, Rudy ET, Bourque LB, Rodriguez JP, Morisky DE. Sex on demand: geosocial networking phone apps and risk of sexually transmitted infections among a cross-sectional sample of men who have sex with men in Los Angeles county. Sex Transm Infect 2014; doi: 10.1136/sextrans-2013–051494.

6. Bilton N. Tinder, the Fast-Growing Dating App, Taps an Age-Old Truth. New York Times (29.10.2014); (http://www.nytimes.com/2014/10/30/fashion/tinder-the-fast-growing-dating-app-taps-an-age-old-truth.html?_r=2; vom 4.2.2015).

7. Demling A. Liebe auf den ersten Wisch. Der SPIEGEL 2015; 6: 124–125.

8. Kirby Institute. HIV, viral hepatitis and sexually transmissible infections in Australia Annual Surveillance. Report 2014. The Kirby Institute, UNSW, Sydney NSW 2052; 2014.

9. Lehmiller JJ, Ioerger M. Social networking smartphone applications and sexual health outcomes among men who have sex with men. PLoS ONE 2014; 9(1): e86603.

10. Pew Research Center, PRC (2015) Mobile Technology Fact Sheet (http://www.pewinternet.org/fact-sheets/mobile-technologyfact-sheet/, accessed 4.2.2015).

11. Simms I et al. Recent outbreaks of infectious syphilis, United Kingdom, January 2012 to April 2014. Euro Surveill 2014; 19(24): pii=20833 (http://www.eurosurveillance.org/ViewArticle.aspx?ArticleId=20833).

12. Spitzer M. Smartphones. Zu Risiken und Nebenwirkungen für Bildung, Sozialverhalten und Gesundheit. In: Denken – zu Risiken und Nebenwirkungen. Stuttgart: Schattauer 2015; 111–134.

13. Spitzer M. Handy-Unfälle. In: Denken – zu Risiken und Nebenwirkungen. Stuttgart: Schattauer 2015; 135–143.

Epilog zu „Sex on demand“

Ashley Madison ist ein „Seitensprungportal“ für Verheiratete, das sich als „Dienstleistungsservice für Erwachsene“ versteht. Es wurde schon im Jahr 2002 von dem Kanadier Noel Biderman gegründet und macht u. a. Werbung mit dem von ihm stammenden Spruch „Das Leben ist zu kurz. Gönn’ Dir eine Affäre“. Überhaupt war die Werbung das Unterhaltsamste an der ganzen Firma, glaubt man einem Bericht der Los Angeles Times: „Die Werbespots sind wahnsinnig komisch. Ein TV-Werbespot zeigt ein schickes Paar, das sich gerade der Leidenschaft hingibt. Die Bildunterschrift lautet: ‚Dieses Paar ist verheiratet, … aber nicht miteinander‘. In einem anderen Spot flüchtet ein Mann vor seiner übergewichtigen, schnarchenden Ehefrau auf das Sofa. Eine Stimme aus dem Off erklärt dazu: ‚Die meisten von uns können einen One-Night-Stand mit der falschen Frau verkraften, aber nicht, wenn es jede Nacht für den Rest des Lebens ist‘“ (4; Übersetzung durch den Autor).

Die Zahl der „Mitglieder“ belief sich weltweit vermeintlich auf über 30 Millionen ( Abb. 1-4), insbesondere da das Portal auch bald auf den damals gerade aufkommenden Smartphones lief, also immer und überall verfügbar war. Aus diesem Grund sprach das Magazin Time in einer entsprechenden Verlautbarung im Jahr 2009 von Cheating 2.0 (3). DIE WELT verkündete den Start der deutschen Version der Seite im Jahr 2010 und half wie alle Print-Medien schon zuvor kräftig bei der Werbung mit: „Vom Mittelalter bis in die 70er-Jahre war Kuppelei eine Straftat. Heute ist sie ein Geschäft.“ Sie erklärte den Deutschen auch gleich, wie es geht, was es kostet, was es der Firma einbringt und warum das Ganze gerade in Deutschland so lukrativ ist: „Für jede Kontaktaufnahme müssen die Kunden von Ashley Madison zahlen, […] mindestens 49 Euro. In den vergangenen zwei Jahren haben sich die Einnahmen verfünffacht, der Umsatz soll im Geschäftsjahr 2010 umgerechnet rund 45 Millionen Euro erreichen. Das Marktpotenzial sei gewaltig, [denn] laut Statistiken gehen circa 50 Prozent der Deutschen fremd“ (5).

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Abb. 1-4  Internetauftritt der Firma Ashley Madison. Ganz offensichtlich eine eingedeutschte Seite aus den USA, trägt man doch dort den Ehering links und nicht wie hierzulande rechts.

Im August 2015 veröffentlichten Hacker die Daten von 32 Millionen Nutzern des Seitensprungportals – einschließlich Namen, sexuellen Vorlieben, Adressen und Kreditkartennummern sowie Passwörtern. Damit konnte plötzlich jeder sehen, welcher verheiratete Mann gerne eine außereheliche Affäre hätte, was nicht gerade zur Belustigung der Beteiligten beitrug. Die Veröffentlichung der Nutzerdaten ist für manche Nutzer gefährlich, gibt es doch Länder, in denen Ehebruch unter Strafe steht. Hierzu schreibt die Süddeutsche Zeitung: „In Saudi-Arabien steht auf Ehebruch die Todesstrafe. Angeblich soll es Tausende saudische Nutzer gegeben haben, darunter Homosexuelle. Auf Reddit5 hat ein verzweifelter Nutzer bereits um Asyl in einem anderen Land gebeten, weil er fürchtet, gefoltert und hingerichtet zu werden“ (6).

An gleicher Stelle konnte man nachlesen, was es für einen ganz normalen westlichen Mann bedeutete, dass seine vermeintlich diskreten Daten öffentlich gemacht wurden: Nachdem er die Schlagzeile Gehackte Nutzerdaten von Seitensprungportal veröffentlicht gelesen hatte, ging es ihm wie folgt: „Zwei Minuten später habe ich realisiert, welche Konsequenzen das haben könnte und saß zitternd vor dem Computer. […] Mein Name, meine Anschrift, meine sexuellen Vorlieben, all das ist jetzt öffentlich. […] Ich komme mir vor, als hätte ich einen Aufkleber auf der Stirn: ,Seht her, dieser Mann hat Geld fürs Fremdgehen bezahlt.‘ Ich traue mich kaum noch vor die Haustür. […] Ich weiß gerade wirklich nicht, wie ich mit diesem Gefühl der öffentlichen Schande weiterleben soll. […] Ich habe meiner Frau alles erzählt.“

So wundert nicht, dass die kanadische Polizei zwei Suizide mit der Veröffentlichung der Nutzerdaten von Ashley Madison in Verbindung gebracht hat, wobei die Dunkelziffer höher liegen dürfte (8).

In der Folge der Datenaffäre kam durch die Analyse der zugänglichen Nutzerdaten heraus, dass die „Millionen Mitglieder“ nicht, wie vom Portal behauptet, zu etwa 30 % Frauen waren und 70 % Männer: der Frauenanteil lag mit nur wenigen Tausend vielmehr deutlich unter diesem Wert. Zehntausende der vermeintlichen Frauen waren „Bots“, also Computerprogramme, die so gestrickt waren, dass sie Männer in einen Dialog verwickelten, in dessen Verlauf sie Interesse an einem sexuellen Abenteuer signalisierten. Nachdem die Herren dann für näheren Kontakt bezahlt hatten, löste sich die Dame in Luft auf – sie hatte ja eh nie existiert. Hierzu kommentierte der Spiegel am 27.8.2015: „[Den Ehefrauen] bleibt nun der Trost, dass wohl kaum jemand über das Portal tatsächlich zu einer Affäre gefunden haben dürfte. Stattdessen bezahlten Millionen männlicher Kunden für eine Illusion. […] Für manchen Kunden von Ashley Madison ist das durchaus neu. Sie wären wohl kaum bereit gewesen zu bezahlen, wenn sie gewusst hätten, dass sie beim Versuch zu betrügen selbst betrogen werden“ (1).

Einen Tag nach dieser Meldung gab der Besitzer auf und trat zurück. Das Portal ist jedoch nach wie vor offen und wirbt mit der Zeile „mehr als 41.755.000 Mitglieder weltweit“, wie aus  Abbildung 1-4 zu entnehmen ist. Dort finden sich unten weiterhin viele vertrauensbildende Insignien, wie die BBC und die Wirtschaftswoche, ein „Trusted Security Award“ und gleich mehrfache „100 %“-Versprechen (erstens „Gleichgesinnte“ – stimmt: nur Männer gleicher Gesinnung nehmen teil; zweitens „diskreter Service“ – stimmt seit dem Hack definitiv nicht mehr!).

Wie konnte das Ganze überhaupt entstehen? – die Antwort scheint in der Biologie der Unterschiede männlicher und weiblicher Reproduktionsstrategien einerseits und in cleverem Marketing andererseits zu liegen. Denn Männer wissen eigentlich, dass die meisten Frauen an gelegentlichem Sex wenig Interesse haben, weswegen Herrn Bidermans Cleverness vor allem darin bestanden haben mag, Sze- narien zu beschreiben, wo dies dennoch denkbar und daher zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit möglich ist: „Die [mitmachenden] Frauen fallen in drei Kategorien: die Vorstadthausfrau, die sich ihrer Attraktivität versichern möchte; die sprichwörtliche Geliebte, die an keiner Familie interessiert ist und stattdessen lieber auf Reisen oder zum Essen geht; und die Frauen, die erst seit Kurzem verheiratet sind und sich plötzlich fragen, wo sie da hineingeraten sind“ (4, S. 2). Diese Szenarien mögen plausibel klingen, sind jedoch augenscheinlich eher selten (Männer wollen aus einer ganzen Reihe von Gründen im statistischen Mittel mehr Sex als Frauen; 2, 7). Sonst hätten die Macher von Ashley Madison keine „weiblichen“ Bots bemühen müssen, um aus den Männerfantasien Geld zu machen.

Und das war das eigentlich Verwerfliche an Ashley Madison: Unser heutiges Dasein kennt viele Spielarten von Liebe, Sexualität und Fortpflanzung, wir können nicht nur Sex ohne Liebe und Liebe ohne Sex haben, sondern auch Sex ohne Kinder und Kinder ohne Sex. In all diesen Fällen entscheiden sich Menschen für oder gegen bestimmte Handlungen. Das Seitensprungportal hingegen diente niemandem außer den Profitinteressen einiger skrupelloser Parasiten, die aus der Not mancher Männer Kapital schlugen; es war ein „Dienstleistungsservice“, der niemandem einen Dienst leistete, sondern nur abzockte, wie man heute sagt. Das ist kriminell, selbst wenn es legal erfolgt.

Literatur

1. Anonymus. Fake-Profile bei Ashley Madison: Betrogene Betrüger. SPIEGEL Online, 27.8.2015 (http://www.spiegel.de/netzwelt/web/ashley-madison-fast-alle-frauen-profile-sind-fake-a-1050055.html; accessed 10.10.2015).

2. Buss DM. The Evolution of Desire: Strategies of Human Mating. New York: Basic Books 1994.

3. Caplan J. Cheating 2.0: New Mobile Apps Make Adultery Easier. AshleyMadison.com, a personals site aimed at facilitating extramarital affairs, now has mobile apps that suspicious spouses can‘t trace. Time Magazine online, 29.6.2009 (http://content.time.com/time/magazine/article/0,9171,1909602,00.html; accessed 11.10.2015).

4. Daum M. Ashley Madison’s secret success. Los Angeles Times, 10.1.2009 (http://touch.latimes.com/#section/-1/article/p2p-44446733/; accessed 12.10.2015).

5. Fründt S. Größtes Fremdgeh-Portal startet in Deutschland. DIE WELT, 4.11.2010 (http://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article10591428/Groesstes-Fremdgeh-Portal-startet-in-Deutschland.html, accessed 12.10.2015).

6. Hurtz S. Ein Ashley-Madison-Nutzer spricht über den Hack: „Ich bete jeden Tag, dass ich meine Familie nicht verliere.“ Süddeutsche Zeitung, 25.8.2015, S. 2, (http://www.sueddeutsche.de/digital/ein-ashley-madison-nutzer-erzaehlt-ich-bete-jeden-tagdass-ich-meine-familie-nicht-verliere-1.2620969; accessed 10.10. 2015).

7. Meston C, Buss DM. Why Women Have Sex. Holt, New York: Time Books 2009.

8. Sharp A. Two people may have committed suicide after Ashley Madison hack: police. Reuters, 24.8.2015 (http://www.reuters.com/article/2015/08/24/us-ashleymadison-cybersecurity-idUSKCN0QT1O720150824; accessed 12.10.2015).

2  Kleider machen Leute

In seinem Buch You Are What You Wear schreibt der Autor William Thourlby das Folgende: „Wenn Sie einen Raum betreten, werden Entscheidungen über Sie ganz allein aufgrund Ihrer äußeren Erscheinung gefällt. Um erfolgreich und sicher zu sein, dass diese Entscheidungen positiv für Sie ausfallen, denken Sie daran, dass Sie sind, was Sie tragen, und kleiden Sie sich entsprechend“ (21, Übersetzung durch den Autor).

Die gut 140 Jahre alte Novelle Kleider machen Leute des Schweizer Dichters Gottfried Keller hatte eigentlich den Titel Die Leute von Seldwyla, gehört bis heute zum Schulstoff im Deutschunterricht, wurde mehrfach verfilmt und hat den folgenden, mittlerweile sprichwörtlichen Inhalt: Ein Schneider kleidet sich trotz Armut gut, wird daher für einen Grafen gehalten und bringt es nach einigen Wirrungen zum wohlverdienten Wohlstand. Das zuvor schon bekannte Sprichwort „Kleider machen Leute“ – die englische Version stammt von Mark Twain: „Clothes make the man. Naked people have little or no influence on society“ – stellt sich also als wahr heraus.

Auch hundert Jahre später schien diese Wahrheit ungebrochen, wurde doch John T. Molloys Buch Dress for Success (1975) über die Auswirkungen der Kleidung auf den persönlichen und geschäftlichen Erfolg im Leben ein Bestseller. Die unzähligen Ratgeber zum Problemkreis „impression management“, die man mittlerweile im Internet finden kann, scheinen dies noch weiter zu bestätigen. Die meisten Menschen sind daher davon überzeugt, dass die Kleidung ähnlich wie die Körperhaltung eine Form der nonverbalen Kommunikation darstellt: Wer sich ordentlich kleidet, signalisiert sein Bemühen, sich in der Gesellschaft einzuordnen und niemanden stören zu wollen. Staubige Lotterklamotten hingegen signalisieren: „Ihr seid mir egal“.

Entsprechende empirische Untersuchungen sind zwar nicht sehr häufig und meist schon älter (2, 16, 17). Es gibt sie aber in manchen Winkeln der psychologischen Fachliteratur. Und auch wenn sie kaum überraschen, so bestätigen sie doch das oben angeführte Diktum von den Kleidern, die die Leute machen: Die Kleidung von Frauen bei einem Interview bestimmt den ersten Eindruck im Hinblick auf die Persönlichkeitsvariablen Kraft, Selbstbewusstsein, Dynamik, Aggressivität und Entschiedenheit (6). Dozenten, die ernst genommen werden wollen, sollten sich korrekt kleiden, aber verwaschene Jeans machten dann doch das Rennen im Hinblick darauf, was den Studenten gefällt (15). Frauen wissen besser, was ein Business-Dress ist (5). Ein Blazer und eine Brille verleihen ihnen Respekt, werden aber weniger gemocht; ein langer Rock dagegen wird einfach nur weniger gemocht, ohne Respekt zu verleihen (13). Der Kleidungsstil hat eine Auswirkung auf die wahrgenommene Glaubwürdigkeit (12). Ganz allgemein mögen die Befragten eher das, was so ähnlich ist wie das, was sie selber tragen (4).

Erst in jüngerer Zeit wird die Forschung wieder interessanter und zeigt einen Zusammenhang zwischen drei der fünf Big Five-Persönlichkeitsvariablen – Neurotizismus, Extraversion und Offenheit – und der Bedeutung, die jemand seinem Erscheinungsbild gibt.1 Schließlich war schon vor 10 Jahren davon die Rede, dass rote Trikots bei etwa gleich guter Performance zweier Mannschaften die Chance zu gewinnen vergrößern (19).

Solche Studien zu den Auswirkungen des Tragens bestimmter Kleidung auf das Verhalten einer Versuchsperson stellen einen eigenen Zweig der psychologischen Forschung dar (10). Hier geht es also weder um den ersten Eindruck noch um mögliche Zusammenhänge von Kleidung und Persönlichkeit, sondern darum, was Kleidung mit demjenigen macht, der sie trägt. Eine der ersten Studien hierzu ging um die Frage, ob die in vielen Kulturen mit „böse“, „teuflisch“ bzw. „aggressiv“ in Verbindung gebrachte Farbe Schwarz tatsächlich zu mehr Aggressivität führt (7). Hierzu untersuchten die Autoren die Fouls der Nationalen Football-Liga und Hockey-Liga in den USA aus den Jahren 1970 bis 1986. Sie fanden, dass bei den Mannschaften mit schwarzen Uniformen vergleichsweise mehr Fouls verzeichnet wurden: In der Football-Liga lagen die Mannschaften mit schwarzen Uniformen im Ranking der Fouls auf den Plätzen 1, 3, 7, 8 und 12 von insgesamt 26 Mannschaften; in der Hockey-Liga entsprechend auf den Plätzen 1, 2, 3, 6 und 10 von insgesamt 23 Plätzen. Zudem wurden bei zwei Teams, deren Uniform im Beobachtungszeitraum von einer anderen Farbe nach schwarz wechselte, nach dem Wechsel deutlich mehr Fouls verzeichnet. In weiteren Experimenten (z. B. zur Beurteilung von Videos mit nachgestellten Fouls durch Spieler in weißen bzw. schwarzen Trikots) zeigte sich, dass der Effekt sowohl auf der Wahrnehmung durch die Schiedsrichter (Spieler in schwarzen Trikots werden als aggressiver wahrgenommen) als auch auf das Aggressionsniveau der Spieler (nimmt in schwarzen Trikots zu) zurückzuführen ist.

Weitere Studien zeigten, dass Frauen, die im Rahmen eines psychologischen Experiments, bei dem es vordergründig um das Einkaufen eines Pullovers bzw. eines Badeanzugs ging, weniger Nahrung zu sich nahmen, wenn sie einen Badeanzug trugen (bei Männern gab es keinen solchen Effekt2) und in einem Mathematik-Test schlechter abschnitten (8). Der Badeanzug führt bei Frauen also zu einer höheren Bewusstheit für den eigenen Körper und den entsprechenden Konsequenzen beim Essen.

Das Tragen von Imitaten teurer Sonnenbrillen (also von gefälschten teuren Sachen) ist keineswegs einfach nur kostengünstig, denn es bringt die Neigung mit sich, auch in anderer Hinsicht (z. B. bei einem Test) zu täuschen und führt darüber hinaus zur Tendenz, bei anderen eher Täuschung zu vermuten (9). Gerade weil sich die Probanden, wie ebenfalls gezeigt wurde, dieser Auswirkungen nicht bewusst sind, sind sie so bedenklich, wie die Autoren mit Recht hervorheben: „Geht man davon aus, dass Kostenersparnis der Hauptgrund für den Kauf von Fälschungen ist, könnten Leute, die Fälschungen für sich selbst oder als Geschenk für andere kaufen, glauben, dass sie einfach nur ähnliche Produkte für weniger Geld bekommen. Aber tatsächlich könnte es sein, dass sie auf längere Sicht einen höheren Preis dafür zahlen, nämlich den Verlust ihrer Moral. Vielleicht am Beunruhigstenden an unseren Ergebnissen […], ist, dass sie zeigen, dass der negative Effekt von Fälschungen sich nicht nur auf die Käufer erstreckt, sondern darüber hinaus auf ihr soziales Umfeld. Dies legt nahe, dass es weiterreichende negative Konsequenzen haben könnte, den negativen Einfluss von Fälschungen außer Acht zu lassen“ (9, S. 719; Übersetzung durch den Autor).

Wie genau diese Wirkungen von getragener Kleidung zu verstehen sind – als Auswirkung einfacher Bahnungseffekte (die Farbe Rot z. B. intensiviert den Affekt) oder als Auswirkungen des sog. verkörperten Denkens (embodied cognition) – wurde in einer Studie untersucht, bei der es nicht um sportlichen Wettkampf und auch nicht um die Farbe Rot ging: Es ging vielmehr um weiße Kittel, die prototypisch für Wissenschaftler und Ärzte stehen, und deren Auswirkungen auf das Denken untersucht wurden.

Wer einen weißen Kittel trägt, der verkörpert eine Einstellung, die Sorgfalt und Aufmerksamkeit sowie das Vermeiden von Fehlern einschließt. 58 Studenten (41 Frauen) im Alter von gut 20 Jahren nahmen an einer Studie zur Auswirkung des Tragens eines weißen Kittels auf die selektive Aufmerksamkeit teil. Der Zufall entschied, ob sie entweder das Experiment in ihrer ganz normalen Alltagskleidung durchführten oder ob sie zuvor einen weißen Kittel zum Anziehen bekamen. Um vom eigentlichen Anlass des Kitteltragens abzulenken und die Studenten nicht auf irgendwelche Ideen zu bringen, was wohl mit dem Kittel los sei, wurde ihnen erklärt, dass wegen Bauarbeiten frühere Teilnehmer des Experiments auch schon einen weißen Kittel hatten tragen müssen. Diese Bauarbeiten seien jetzt abgeschlossen, aber um für alle Versuchsteilnehmer die gleichen Bedingungen zu haben, müssten nun die Versuchspersonen auch ohne Bauarbeiten einen Kittel tragen, sodass alle Teilnehmer am Versuch unter gleichen Bedingungen teilnahmen.

Zur Anwendung kam dann der mittlerweile 80 Jahre alte Stroop-Test, in dem es darum geht, die Farbe von ausgedruckten Farbwörtern zu benennen. Hierbei können die Wortbedeutung und die Farbe übereinstimmen oder nicht und es kommt zu einer Verlangsamung der Reaktion, wenn z. B. das Wort Rot in blauer Farbe ausgedruckt ist und deswegen die richtige Reaktion auf dieses Wort „Blau“ ist. Man mischt in diesem Test kongruente Bedingungen (das Wort Rot in roter Farbe ausgedruckt) und inkongruente Bedingungen und misst die Zeit zum Benennen und die Fehler, die beim Benennen gemacht werden. Der Unterschied zwischen den Reaktionen (Reaktionszeit und Fehler) auf inkongruente Durchgänge im Vergleich zu kongruenten Durchgängen zeigt an, wie gut sich die Versuchsperson auf die Aufgabe konzentrieren kann, d. h., inwieweit sie in der Lage ist, irrelevante Aspekte des Stimulus – in diesem Falle das gelesene Wort – auszublenden.

 Abbildung 2-1 zeigt das Ergebnis dieser Studie. In der kongruenten Bedingung gab es insgesamt wenig Fehler, wohingegen sich in der inkongruenten Bedingung die Träger von weißem Kittel, von denen, die keinen weißen Kittel anhatten, dadurch signifikant unterschieden, dass sie weniger Fehler machten. Bei der Reaktionszeit ergaben sich keine signifikanten Effekte. Damit zeigt das Experiment, dass das Tragen eines weißen Kittels die selektive Aufmerksamkeit verbessert.

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Abb. 2-1  Selektive Aufmerksamkeit (relative Häufigkeit von Fehlern je Durchgang im Stroop-Test; Angaben in Prozent) bei kongruenten und inkongruenten Durchgängen in Abhängigkeit vom Tragen eines weißen Kittels (nach 1, S. 920, Abb. 1). In der kongruenten Bedingung machte der Kittel keinen Unterschied. In der inkongruenten Bedingung hingegen, die mehr Aufmerksamkeit verlangt, schnitten die Teilnehmer im weißen Kittel signifikant besser ab, d. h. sie machten weniger Fehler.

In einem zweiten Experiment wurde untersucht, ob der im ersten Experiment gefundene Effekt auf das reine Tragen eines Kittels oder auf dessen Symbolkraft zurückzuführen ist. 74 Studenten (47 weiblich) im Durchschnittsalter von knapp 20 Jahren wurden per Zufall in drei Gruppen aufgeteilt: Die einen trugen einen weißen Kittel, von dem gesagt wurde, dass es sich um einen Arztkittel handelt. Die zweite Gruppe trug einen weißen Kittel, der als Malerkittel deklariert war und die dritte Gruppe trug ihre Straßenkleidung, sah jedoch einen weißen Kittel, von dem gesagt wurde, dass es sich um einen Arztkittel handelt, vor sich auf dem Tisch liegen. Leider wurde in diesem Experiment auch die Art der getesteten Aufmerksamkeit geändert, es ging nämlich nicht mehr um selektive Aufmerksamkeit, sondern um das Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit über die Zeit (sustained attention), zuweilen auch einfach „Wachheit“ genannt. Diese wurde mit einer Suchbildaufgabe erfasst, in der es darum ging, Unterschiede auf zwei nahezu identischen Fotografien zu finden. Insgesamt vier solcher Suchbilder wurden verwendet, bei denen sich jeweils vier Unterschiede identifizieren ließen. Diese waren von den Versuchsteilnehmern so schnell wie möglich aufzuschreiben, und gemessen wurde die Zahl der gefundenen Unterschiede als Maß für die Güte der über den gesamten Experimentierzeitraum aufrechterhaltenen Aufmerksamkeit.

Die Ergebnisse ( Abb. 2-2) zeigen einen klaren Effekt des Tragens eines Arztkittels dahingehend, dass im Mittel zwei Unterschiede mehr von denjenigen Teilnehmern gefunden wurden, die einen Arztkittel trugen, im Vergleich zu denjenigen, die den gleichen Kittel trugen, der jedoch als Malerkittel bezeichnet wurde, oder denjenigen, die lediglich diesen Kittel auf dem Tisch liegen sahen.

Es könnte nun sein, dass dieser auf dem Tisch liegende Kittel ganz einfach zu wenig Einfluss auf das Denken der Teilnehmer gehabt hatte und aus diesem Grund keine Bahnungseffekte nachweisbar waren. Daher wurde ein drittes Experiment mit insgesamt 99 Studenten (62 Frauen) im durchschnittlichen Alter von ziemlich genau 20 Jahren durchgeführt. Nach randomisierter Aufteilung in drei Gruppen trugen die einen wieder den als Arztkittel bezeichneten weißen Kittel, die anderen den als Malerkittel bezeichneten – ansonsten aber identischen – weißen Kittel und die dritten hatten diesen Kittel – bezeichnet als Arztkittel – während der ganzen Zeit des Experiments vor sich und hatten zuvor einen kleinen Aufsatz darüber zu schreiben, welche Bedeutung ein weißer Arztkittel für sie ganz persönlich hat. Dann wurde wieder die aus Experiment zwei bekannte Suchaufgabe verwendet. Die Ergebnisse des dritten Experiments finden sich in  Abbildung 2-3.

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Abb. 2-2  Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit (Anzahl der erkannten Fehler in 4 Suchbildern mit jeweils 4 Fehlern) in Abhängigkeit vom Tragen eines Arztkittels, eines Malerkittels bzw. beim bloßen Ansehen eines weißen Kittels (nach 1, S. 921, Abb. 2).

Am besten schnitten erneut diejenigen Studenten ab, die einen weißen Kittel, der als Arztkittel bezeichnet wurde, trugen, gefolgt von denen, die sich mit einem weißen Arztkittel mental zuvor beschäftigt und identifiziert hatten. Am schlechtesten schnitten diejenigen Studenten ab, die einen vermeintlichen Malerkittel getragen hatten. Keine Unterschiede gab es, wie auch schon bei Experiment zwei, im Hinblick auf die Zeit, die mit dem Suchen verbracht worden war. Die Versuchspersonen waren also in den unterschiedlichen Bedingungen nicht einfach langsamer oder schneller, sie waren vielmehr insgesamt aufmerksamer bei der Sache oder weniger aufmerksam.

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Abb. 2-3  Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit (Anzahl der erkannten Fehler in 4 Suchbildern mit jeweils 4 Fehlern) in Abhängigkeit vom Tragen eines Arztkittels bzw. dem Identifizieren mit einem Arztkittel oder beim Tragen eines Malerkittels (nach 1, S. 921, Abb. 3).

Insgesamt zeigten die drei Experimente damit, dass das Tragen entsprechender Kleidung sowohl einen psychologischen (das Denken betreffenden) als auch einen körperlich vermittelten Effekt auf das Denken hat: Der weiße Kittel kann an Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt erinnern und damit das Verhalten entsprechend beeinflussen. Er tut dies aber nur dann, wenn er auch als solcher identifiziert ist, weil der gleiche Kittel als Malerkittel tituliert keinen entsprechenden Effekt hat. Andererseits sind die Effekte keineswegs nur „kognitiv“, weil das Tragen des Kittels einen größeren Effekt hat als das bloße Denken an einen solchen Kittel.

Eine ganze Reihe von Studien haben nachgewiesen, dass Bahnungseffekte dafür verantwortlich sein können, was wir denken. Sie reihen sich damit zwanglos in sehr alte Gedanken aus der Assoziationspsychologie ein, in der vor mehr als 100 Jahren bereits auf vielfache Weise nachgewiesen wurde, dass inhaltlich verwandte Gedanken „näher“ im Geist beieinander liegen (18). „Mutter“ bahnt „Vater“, „Sonne“ bahnt „Mond“ und „kalt“ bahnt „heiß“ etc. Die vorgestellten Ergebnisse zeigen zudem, dass ganz ähnliche Effekte nicht nur beeinflussen können, was wir denken, sondern auch wie wir denken: Ein blauer Hintergrund macht uns kreativer, ein roter hingegen genauer (20) und eine Reihe weiterer entsprechender Befunde werden durch die neuen Experimente daher um eine Facette erweitert: Sowohl die körperliche Erfahrung des Tragens bestimmter Kleidung als auch das Denken an bestimmte Kleidung haben einen Einfluss auf Aufmerksamkeitsprozesse, d. h., auf die Art wie wir denken.

Die Autoren kommentieren ihre Ergebnisse wie folgt: „Wir glauben, dass unsere Arbeit mehr ist als nur ein Beitrag zur Forschung über verkörpertes Denken. Wir gehen davon aus, dass sie aus einer Perspektive des bekleideten Denkens eine insgesamt sparsame und einheitliche Erklärung vieler, über die Literatur verteilter Effekte von Bekleidung bietet“ (1, Übersetzung durch den Autor). Mit anderen Worten: Unsere Kleidung beeinflusst tatsächlich, was wir denken und wie wir denken. Oder ganz kurz, Kleider machen wirklich Leute.

Historische Randbemerkung: Es gab in der Psychiatrie – vor gefühlten hundert Jahren – eine Zeit, da wurde hitzig über die Frage diskutiert, ob das medizinische Personal überhaupt irgendeine besondere Kleidung tragen dürfe oder sollte, weil doch allein dies schon eine Kluft zwischen den psychisch kranken und psychisch gesunden Menschen symbolisiere und damit die psychisch Kranken stigmatisiere. Erst durch die weißen Kittel, so lautete das Argument letztlich tatsächlich, werden die Patienten zu denselben (diejenigen auf einer Station ohne Kittel) gemacht. Schade, dass es die hier ausführlicher diskutierte Studie von Adams und Galinsky damals noch nicht gab. Vielleicht hätte sie zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen können.

Literatur

1. Adam H, Galinsky AD. Enclothed cognition. Journal of Experimental Social Psychology 2012; 48: 918–925.

2. Aiken LR. The relationship of dress to selected measures of personality in undergraduate women. Journal of social psychology 1963; 59: 119–128.

3. Aliakbari M, Abdollahi K. Does it matter what we wear? A sociolinguistic study of clothing and human values. International Journal of Linguistics 2013; 5: 34–45.

4. Buckley HM. Attraction toward a stranger as a linear function of similarity in dress. Home Economics Research Journal 1983; 12: 25–34.

5. DeLong MR, Salusso-Deonier C, Larntz K. Use of perceptions of female dress as an indicator of role definition. Home Economics Research Journal 1983; 11: 327–336.

6. Forsythe SM, Drake MF, Cox CA Jr. Dress as an influence on the perceptions of management characteristics in women. Home Economics Research Journal 1984; 13: 112–121.

7. Frank MG, Gilovich T. The dark side of self and social perception: black uniforms and aggression in professional sports. Journal of Personality and Social Psychology 1988; 54: 74–85.

8.