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Willi Darr

Digitale Transformation zum Einkauf 4.0

Nutzenbasierte Konzeptionen zum Smart Procurement

Willi Darr

Digitale Transformation zum Einkauf 4.0

Nutzenbasierte Konzeptionen zum Smart Procurement

tredition Verlag

Hamburg

HardcoverISBN 978-3-7439-6894-3
PaperbackISBN 978-3-7439-6893-6
e-BookISBN 978-3-7439-6895-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 Willi Darr

Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung. Dies gilt insbesondere für den Nachdruck, für Vervielfältigung, Bearbeitungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Herstellung und Verlag

tredition GmbH, Hamburg

Vorwort

Der Zusatz 4.0 steht in der aktuellen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussion für die Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit der industrialisierten Welt. Seinen Ursprung nahm diese Diskussion anlässlich der Hannover Messe 2011, bei der der Begriff Industrie 4.0 erstmals eingeführt wurde. Hierbei wird die sogenannte Smart Factory als ideales Ziel postuliert. Auf der Grundlage von cyber-physischen Systemen, dem Internet der Dinge und der horizontalen bzw. vertikalen Integration der Informationsverarbeitung sollen deutliche Vorteile im internationalen Wettbewerb erzielt werden. Die digitale Transformation der Fertigung schafft damit den Wechsel von der Industrie 3.0 zur Industrie 4.0.

In der Folge hat sich die Industrie 4.0-Diskussion auf fast alle Lebensbereiche ausgedehnt. So ist die Verwendung von Logistik 4.0, von Arbeit 4.0, von Innovation 4.0 oder vom Risiko 4.0 eine gleichberechtigte sprachliche Selbstverständlichkeit geworden. Es wird beispielsweise im Positionspapier des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesvereinigung Logistik e. V. die Forschung zur Logistik 4.0 als conditio sine qua non bezeichnet, da eine flexible Prozesssteuerung der Wertschöpfung ohne Logistik gar nicht denkbar ist. Den gleichen Anspruch kann das Einkaufsmanagement in die Diskussion einbringen, da die internationale Arbeitsteiligkeit von einem geringeren Anteil der Eigenfertigung (Make) und einem deutlich größeren Anteil des Fremdbezugs (Buy) ausgeht. Die Studien des Statistischen Bundesamtes hierzu sprechen in allen Branchen eine eindeutige Sprache: Die Einkaufstiefe ist deutlich höher als die Fertigungstiefe.

In dieser Arbeit wird die Thematik zum Einkauf 4.0 erörtert und diskutiert. Das Einkaufsmanagement, das historisch einen zeitlich späteren Aufschwung als das Management der Produktion, der Logistik, der Supply Chain oder des Controllings genommen hat, sieht sich nun in dieser Entwicklungsphase einer besonderen Herausforderung der digitalen Transformation gegenübergestellt. Diese intensive Diskussion der gleichzeitigen Entwicklung und Transformation zeigt sich an der Zahl der jüngsten Veröffentlichungen zum Thema Einkauf 4.0 bzw. Procurement 4.0.

Die Diskussion in dieser Arbeit wird durch zweierlei Brillen vorgenommen: zum einen basiert sie auf einer Einteilung des Einkaufsmanagements in die Themen des Lieferantenmanagements (Bei wem?), dem Materialmanagement (Was und wie viel?) und dem Management der Einkaufsorganisation (Wer?). Diese drei Managementbereiche werden jeweils aus Sicht der Infrastruktur und aus Sicht der Prozesse betrachtet. Zum anderen basiert die Konzeption auf einer Dreiteilung zur Bedeutung des Einkaufs innerhalb der Unternehmensführung: Es werden die drei Nutzenkategorien Prozessnutzen, Ergebnisnutzen und Kundennutzen unterschieden. Durch die differenzierte Nutzenbetrachtung können spezifische Strategien zum Smart Procurement im Rahmen der Unternehmensführung formuliert werden.

Die drei Strategien gestatten es, die digitale Transformation zum Einkauf 4.0 differenzierter auszugestalten und rational zu begründen. Zum Einstieg in diese Diskussion wird ein kurzer Status zur Industrie 4.0-Diskussion gegeben, um die Elemente und die Wirkungsweise der Digitalisierung besser verstehen und einordnen zu können. Danach erfolgt eine Beschreibung und Diskussion der in den letzten Wochen und Monaten erschienenen Konzepte zum Einkauf 4.0. Anschließend wird eine neue, nutzenbasierte Konzeption, d. h. drei Strategien zum Einkauf 4.0, in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht, die auf den drei Ebenen der Bedeutung des Einkaufs fußt.

Ich würde mich freuen, wenn Sie als Leser persönliche Erkenntnisse für die digitale Transformation im Einkauf gewinnen können. Für Studenten als Leser hoffe ich, ein besseres Verständnis der stattfindenden Entwicklungen zu erzielen, und für Praktiker als Leser hoffe ich, Anregungen für die eigene Diskussion und Umsetzung schaffen zu können.

Viel Spaß beim Lesen.

Willi Darr

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Abbildungsverzeichnis

1.Einführende Überlegungen

2.Grundgedanken der Industrie 4.0

a.Von der Industrie 1.0 bis zur Industrie 4.0

b.Elemente von Industrie 4.0

c.Weitere 4.0-Elemente: Logistik 4.0, Organisation 4.0, Kultur 4.0, Führung 4.0 und Einkauf 4.0

3.Diskussion von Konzeptionen zum Einkauf 4.0

a.Procurement 4.0 von h&z

b.Einkauf 4.0 von IML/BME

c.Einkauf 4.0 von Kleemann/Glas

d.Zwischenfazit

4.Entwicklung einer nutzenbasierten Konzeption zum Einkauf 4.0

a.Grundüberlegungen zu den Entwicklungsstufen des Einkaufs

b.Fundamente des Einkaufs 4.0

c.Technische Elemente, Reifegrade und Informationsprodukte

d.Konzeption des Einkaufs 4.0 aus der Perspektive des Prozessnutzens

e.Konzeption des Einkaufs 4.0 aus der Perspektive des Ergebnisnutzens

f.Konzeption des Einkaufs 4.0 aus der Perspektive des Kundennutzens

g.Ein ausführliches Zwischenfazit

5.Zum guten Schluss

a.Vier Perspektiven der (kritischen) 4.0-Diskussion

b.Was bleibt trotz 4.0 bestehen?

c.Fazit

6.Literaturverzeichnis

7.Stichwortverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung4.1: Grundaufbau des Auftragszyklus

Abbildung4.2: Erfassung, Analyse und Entscheidungen in den einzelnen Prozessschritten des Auftragszyklus

Abbildung4.3: Datenorganisation im Auftragszyklus

Abbildung4.4: Zusammenfassende Konzeption zum Einkauf 4.0 aus der notwendigen Perspektive (Prozessnutzen)

Abbildung4.5: Zusammenfassende Konzeption zum Einkauf 4.0 aus der wichtigen Perspektive (Ergebnisnutzen)

Abbildung4.6: Zusammenfassende Konzeption zum Einkauf4.0 aus der strategischen Perspektive (Kundennutzen)

Abbildung4.7: Konzeptaufbau zur digitalen Transformation zum Einkauf 4.0

Abbildung4.8: Zusammenfassende Übersicht der digitalen Transformation für die Aufgaben des Einkaufsmanagements hinsichtlich Struktur und Prozess

Abbildung4.9: Kategorien der Nutzen, der digitalen Transformation und der Roadmap zum Smart Procurement

1.Einführende Überlegungen

Der Zusatz 4.0 ist heutzutage ein selbstverständliches Merkmal aller Diskussionen zur Zukunft von Industrie und Gesellschaft. Mit diesem werden inhaltlich die Attribute der Digitalisierung, die Erhöhung der Flexibilität der Wertschöpfung und die Steigerung der globalen Wettbewerbsfähigkeit verbunden. 4.0 gilt als die dominante Zauberformel der Zukunft. Eine Diskussion zur Wettbewerbsfähigkeit auf Kongressen, in Fachzeitschriften oder in öffentlichen Debatten ohne den Zusatz 4.0 würde den Nimbus der Modernität und der Zukunftsfähigkeit verlieren.

Aus Sicht eines Industrielandes (z. B. Deutschland) ist es aus diesem Grunde nicht verwunderlich, dass hier die Diskussion zur Industrie 4.0 gestartet wurde. Der Zusatz 4.0 wird allerdings nicht mehr exklusiv für die industrielle Fertigung verwendet. Mittlerweile werden sämtliche Lebensbereiche mit diesem modernen ergänzenden Merkmal versehen: Arbeit, Organisation, Lieferant, Führung, Risiko, Logistik und viele weitere. In dieser Arbeit wird der Einkauf bzw. das Einkaufsmanagement hinsichtlich seiner 4.0-Ausgestaltung untersucht.

Die Arbeitsteiligkeit in der Lieferkette fordert diesen Fokus auf den Einkauf: Die seit längerem anhaltende Entwicklung zur Reduzierung der Fertigungstiefe bzw. zur Erhöhung der Einkaufstiefe bei gleichzeitiger Erhöhung des Innovationstempos und der weltweiten Verteilung der Fertigungsschritte haben das Einkaufsmanagement in den Rang einer strategisch bedeutsamen Funktion der Unternehmensführung katapultiert. Dem Einkaufsmanagement kommt damit nicht nur die Aufgabe der Abwicklung von Beschaffungsaufträgen zu, sondern auch der Aufbau des Lieferantennetzwerkes und die aktive Gestaltung von Innovationsprozessen in der Supply Chain. Die Leistungen des Einkaufs beeinflussen heute neben den Rahmenbedingungen der eigenen Fertigung auch die einzigartige Profilierung gegenüber Wettbewerbern. Demzufolge ist eine Industrie 4.0-Diskussion ohne den Einkauf 4.0 gar nicht denkbar. Der Einkauf 4.0 ist auch eine conditio sine qua non im Rahmen von Industrie 4.0.

Das Einkaufsmanagement hat sich erst in den letzten Jahren als gleichwertige Funktion innerhalb der Unternehmensführung entwickelt. Mit der Öffnung der Märkte haben sich globale Wertschöpfungsketten etabliert, die sich in allen Facetten des Leistungswettbewerbs weiterentwickelt haben. Das Einkaufsmanagement sollte hierbei neben der Produktion und dem Marketing eine gleichberechtigte Rolle einnehmen. Diese drückt sich auch in der aktiven Beteiligung an der 4.0-Diskussion aus und ist zumindest anhand der aktuellen Veröffentlichungen hierzu ablesbar. So sind in jüngster Zeit mehrere Konzeptvorschläge zum Einkauf 4.0 bzw. Procurement 4.0 veröffentlicht worden. Auf diese wird im späteren Verlauf der Arbeit im Detail eingegangen.

Die Entwicklung einer Wertschöpfungskette 4.0 mit den Elementen Industrie 4.0, Logistik 4.0 und Einkauf 4.0 stellt sich in der Realität allerdings noch nicht als Normalität ein. Der begründeten Bedeutungsdiskussion steht eine verhaltene Umsetzung gegenüber. Die fehlende praktische Ausgestaltung lässt die 4.0-Umsetzungen noch als riskant erscheinen, sodass hierzu auch Erfahrungswerte und Know-how bei den Führungskräften fehlen bzw. noch nicht ausgeprägt sind. Dieses Spannungsfeld zwischen Wunsch und Wirklichkeit kommt in zwei Zitaten zum Ausdruck.

Das erste Zitat stammt aus einer Veröffentlichung der Vandermeergruppe: „Was bedeutet Einkauf 4.0 im Tagesgeschäft und ist der Einkauf heutzutage nicht bereits Einkauf 3.9?“ (Krauskopf, 2017). Diese indirekte Frage lässt den Schluss zu, dass die digitale Umsetzung der Einkaufsprozesse weitestgehend abgeschlossen ist. Rein rechnerisch fehlen nur 0.1 zur vollständigen Umsetzung eines Einkaufs 4.0. Man ist eigentlich kurz vor der Ziellinie.

Das zweite Zitat stammt von M. Henke im Vorwort der gemeinsamen Studie von Fraunhofer IML und der Bundesvereinigung Materialwirtschaft und Einkauf e. V. aus dem Jahr 2016: „Dagegen wird der Einkauf in diesen Diskussionen [Anm.: zur Industrie 4.0] noch nicht wirklich wahrgenommen.“ (Vorwort von M. Henke in: Pellengahr et al., 2016, S. 6). Diese Aussage widerspricht der gleichberechtigten Bedeutung des Einkaufs im Vergleich zur Produktion und bringt den konzeptionellen Rückstand des Einkaufsmanagements zur modernen Ausgestaltung der Wertschöpfungsketten zum Ausdruck. Man ist eigentlich noch nicht wirklich gestartet.

Gerade dieses Spannungsverhältnis erfordert eine konzeptionelle Diskussion, um den Lückenschluss herzustellen und die Leistungsfähigkeit der eigenen Wertschöpfungskette nicht durch Engpässe im Einkaufsmanagement zu gefährden.

In dieser Arbeit wird eine nutzenbasierte Konzeption zum Einkauf 4.0 entwickelt, die den Anspruch eines gleichberechtigten Beitrages innerhalb der Unternehmensführung zum Ausdruck bringt. Hierzu werden auf der Grundlage der Kernelemente von Industrie 4.0 (Kapitel zwei) die aktuell diskutierten Konzeptionen zum Einkauf 4.0 (Kapitel drei) erläutert und bewertet. Vor diesem Hintergrund wird dann eine eigenständige Konzeption entworfen (Kapitel vier). Abschließend wird der Einkauf 4.0 vor dem Hintergrund einer gesellschaftskritischen Technologiediskussion und zentralen technologieunabhängigen betriebswirtschaftlichen Grundaussagen eingeordnet (Kapitel fünf).

2.Grundgedanken der Industrie 4.0

a.Von der Industrie 1.0 bis zur Industrie 4.0

Die Darstellungen zur Digitalisierung der Wertschöpfungskette beginnen mit einem historischen Rückblick in das 18. Jahrhundert.

Den Ausgangspunkt bildet der erste mechanische Webstuhl aus dem Jahre 1784 (Industrie 1.0), mit dem die Ära der Manufaktur abgelöst wurde. In der Folgezeit sind – insbesondere aus England – eine Reihe an Innovationen hervorgegangen. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Arbeitsteiligkeit in Form eines Fließbandes vollzogen (Industrie 2.0). Hierbei wurde die Gesamtproduktion in Form einer Abfolge von einzelnen Arbeitsschritten organisiert. Meilensteine dieser Entwicklung sind zum einen die wissenschaftliche Betriebsführung von Taylor, der mit seinem Buch The Principles of Scientific Management den Taylorismus begründete, und zum anderen die Fließbandproduktion des Ford T-Modells aus den zwanziger Jahren. Mit der Entwicklung der Elektronik konnte mit Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Automatisierung einen weiteren Entwicklungsschub vollziehen (Industrie 3.0). Die Entwicklung erfolgte dabei über die speicherprogrammierbare Steuerung der Fertigungsautomaten.

Den nächsten Quantensprung zur Leistungsfähigkeit der Wertkette wird der Industrie 4.0 zugeschrieben. Mittlerweile lassen sich mehrere Definitionen zur Industrie 4.0 finden. Eine zentrale Definition stammt von Kagermann et al. (2012):