SIE HEISST ÜBRIGENS ELEONORE, ODER: MEIN WEG INS FREIE

Ich werde selten wütend. Manchmal kommt mir nach einer Begebenheit irgendwann viel später in den Sinn, dass das eigentlich eine gute Gelegenheit gewesen wäre, um doch mal wieder richtig entrüstet zu sein. Wie damals, als mir die junge Frau auf dem Gehweg so mit ihrem Fahrrad gegen die Ferse gefahren ist, dass sie mir einen Schuh ausgezogen hat! Den Schuh mit dem Reifen ausziehen, wenn das eine Wette bei Wetten, dass ..? gewesen wäre, hätte niemand geglaubt, dass das möglich ist. In Eppendorf macht man das einfach so, ohne Aufwärmen.

Frederik, der mit mir den Weg entlangging, war empört. Er brachte mich erst auf die Idee, dass Wut in einer solchen Situation durchaus eine angemessene Reaktion hätte sein können: »Passen Sie doch auf, Sie Ziege, was fahren Sie auf dem Bürgersteig und mir dann noch gegen die Hacken!«

Ich wäre allerdings erst nach fünf Minuten so weit gewesen, sie anzuschnauzen, doch da war die rücksichtslose Radfahrerin natürlich schon längst über alle Berge.

Aber diese ganze Wut mit ihrer Energie steckt ja nach wie vor in mir. Ich halte sie nur im Zaum, weil ich mich an Regeln und Konventionen halte. Weil ich oft erst viel zu spät merke, dass ich eigentlich wütend bin. Weil ich es mir nur nicht erlaube, das zu sein. Weil ich ja brav und freundlich zu sein habe. Immer und überall. Diese Art Wut in Folge einer Verletzung oder einer Ungerechtigkeit brodelt in mir vor sich hin und sucht sich ein Ventil an anderer Stelle: Sie wird zu Angst.

Und dann gibt es noch die andere Wut, die sich gegen das richtet, was da mit mir passiert. Genauer: gegen mich selbst. Weil ich nicht funktioniere, weil ich mich oft fürchte, Dinge zu tun, die für andere ganz normal sind.

Für beide Wüte hätte ich dann manchmal am liebsten einen Sandsack, auf den ich einschlagen könnte, am besten mit Boxhandschuhen, linker Haken, rechter Haken, k. o. In Hamburg gibt es leider keinen Wutraum, in dem man – im Schutzanzug und gegen Entgelt – ein Zimmer mit Baseballschläger und Axt zerlegen und dabei laut rumschreien kann. Vielleicht muss ich dafür einmal nach Berlin fahren.

Stattdessen fahre ich regelmäßig in den Wald – nicht um zu schreien oder einen armen Baum zu Kleinholz zu verarbeiten, nein, ich muss ab und zu Bäume sehen, Grün um mich herum haben, gute Luft und Stille genießen. Zwischen all den Pflanzen kann ich mich gut mit Ruhe bevorraten.

Zum Glück kann sich mein Freund daran auch erfreuen, und so schlüpfen wir also eines Sonntags in bequeme Schuhe und pesen zum Wohldorfer Wald. Das Wetter ist perfekt, die Stimmung friedlich, und alles strotzt vor sattem Grün – herrlich!

Die Luft riecht wunderbar erdig nach dem Regen der vergangenen Tage, und wir suchen vorsichtig nach festem Untergrund zwischen Pfützen und Matsch.

Wir sind hier nicht weit weg vom Flughafen, daran erinnert uns das Donnern der Flugzeuge über unseren Köpfen. Eins nach dem anderen hebt ab, nur wenige Kilometer von uns entfernt, und trübt die verträumte Waldesstimmung. Der Versuch, die tosenden Geräusche auszublenden, gelingt nicht besonders gut.

Dennoch ist es wohltuend, im Wald zu sein, weit weg von Autolärm, Abgasen und Menschenmengen, nur Blätter, Stämme, Äste und winzige Fröschchen, die durch tiefe Pfützen schwimmen, um auf die andere Wegseite zu gelangen. Wenn gerade kein Flieger über uns lärmt, ist es idyllisch still. Und es könnte einfach nur angenehm und erquickend sein, die frische Luft zu inhalieren und sich am Grün zu laben.

Stattdessen entscheide ich mich, Angst zu bekommen. Einfach so aus Scheiß, vielleicht ist mir langweilig, zu wenig Action, zu kleine Fröschchen, zu wenig Abwechslung. Ein leichtes Kratzen im Hals genügt, um mein limbisches System oder welcher kranke Typ in meinem Gehirn jetzt gerade Bock auf Randale hat, in Alarmbereitschaft zu versetzen.

Sehr wahrscheinlich werde ich jetzt ersticken. Genau wie gestern schon.

Aber da war es noch heftiger:

Mein Freund und ich saßen in der lauen Abendluft in der Schanze. Vereinzelte Junggesellenabschiede torkelten über die Straßen, ansonsten war für einen Samstagabend herzlich wenig los. Eine träge, friedliche Stimmung lag über dem Viertel und wir unterhielten uns über Aquarien, Katzencafés und die Unsitte, Hunde in der Großstadt zu halten. Während wir dort saßen und Bier tranken, atmeten wir, wahrscheinlich aus alter Gewohnheit und vielleicht auch, weil es jeder macht.

Plötzlich atmete ich irgendetwas ein, vielleicht eine Minifliege, ein winziges Pöllchen, irgendetwas, was sich seinen Ausflug durch die Sommerluft wahrscheinlich auch anders vorgestellt hat und sich jetzt verdutzt in meiner Luftröhre wiederfand.

Von seiner Überraschung bekam ich allerdings nichts mit, war ich doch damit beschäftigt, mich in Horrorszenarios hineinzusteigern. Dieses Mal war ich sicher: Ich würde demnächst ersticken. Schon schnürte sich mir die Kehle zu, der Brustkorb wurde eng, ich bekam keine Luft, aus einem anfänglich zögerlichen Räuspern wurde Husten, immer mehr, ich entfernte mich von allem, griff nach der Hand meines Freundes, während ich mich alarmiert aufrichtete, zum Sprung bereit, die Panik raste durch meinen Körper, ich schien nur noch aus Herzschlag zu bestehen, atmen war Fehlanzeige, da meldet sich von weit her eine freundliche Stimme, die mir empfahl:

»Sprich mit ihr. Rede mit der Angst.«

Ich begrüßte sie still, dachte: Hallo Angst! Ich höre dich. Ich nehme dich wahr.

Was natürlich maßlos untertrieben war, schließlich war ich eingeschlossen in einer Angstblase – aber als ich, die Augen geschlossen, mit ihr sprach, wurde sie ein kleines bisschen weniger, wie um auszuholen für den finalen Schlag, denn sie steigerte sich gleich darauf noch mal und – rannte gegen meine Wand aus freundlichem:

»Hallo, Eleonore! Ist doch okay, wenn ich dich Eleonore nenne?«, um daran abzuprallen, in sich zusammenzusacken und abzutropfen. Anscheinend mögen Paniken es nicht, beim Namen genannt zu werden.

Oder ihr hat nur einfach dieser Name nicht gefallen.

Es ging mir besser, noch zitterte ich zwar und war fix und fertig, aber gleichzeitig war ich auch stolz, dass mir eingefallen ist, mit ihr zu reden. Das war zwar kein richtig neues, aber ein hilfreiches Werkzeug, an das ich viel zu selten denke. Mein Freund guckte besorgt: »Hast du dich verschluckt? Geht’s wieder?«

Ich nickte benommen und erzählte ihm, dass ich meine Angst angesprochen habe: »Eleonore heißt sie, ich hab ›Hallo Eleonore‹ gesagt, und dann ist es besser geworden.«

»Eleonore ist aber ein komischer Name für Angst. Es muss ein kurzer Name sein, Tim zum Beispiel.«

»Ich finde Eleonore gut. Das klingt so gouvernantenhaft. Wie eine strenge Tante oder so. Gleichzeitig klingt es warm und dunkel. Ich finde, es passt!«

Mein Freund ist nicht zufrieden: »Wolf Schneider (sein Sprachpapst) sagt: Große Emotionen sind einsilbig! Wut, Scham, Hass – und Angst.«

»Was ist mit Liebe? Und Eifersucht?«

»Na ja, es gibt immer Ausnahmen. Aber alle anderen sind einsilbig. Also müsste die Angst Tim heißen oder Sam oder so.«

»Meine heißt aber Eleonore. Ich fühle das so. Ich fühle meine Angst fünfsilbig.«

Nach dieser waschechten, zwar kurzen, aber intensiven Panikattacke blieb ich sitzen. Sie steckte mir zwar noch in den Knochen, dennoch verspürte ich nicht den Wunsch, wegzulaufen und sofort nach Hause zu fahren. Und darauf bin ich ziemlich stolz. Es war sehr unangenehm, aber ich konnte irgendwie mit der Angst – mit Eleonore – umgehen und bin nicht geflüchtet.

Als ich dann aber am nächsten Tag mitten in der grünen Idylle wieder Angst bekomme, aus für mich erst einmal unerfindlichen Gründen, bin ich sauer. Warum kann ich nicht einfach einen entspannten Sonntagsspaziergang genießen? Was soll das? Warum dieser Stress? Warum kann ich nicht endlich wieder »normal« sein?

Wieder habe ich ein leichtes Kratzen im Hals gespürt, und wieder bin ich so unverhältnismäßig darauf angesprungen. Ich will nicht wissen, was mit mir los ist, wenn ich mal Husten habe, richtigen Husten. Drehe ich dann vollkommen durch? Ich hasse es. Mein Verstand sagt mir eindeutig, dass keine Gefahr besteht, dass »alles gut« ist, wie der Volksmund sagt, und dennoch bin ich angespannt wie ein viel zu kleiner Hosenträger über einem riesigen Bauch.

Satt habe ich es, so satt, immer so verzagt zu sein, jede kleine Regung zu spüren und zu interpretieren, warum kann ich nicht einfach fröhlich und gelassen sein?

Was will mir denn diese Angst sagen? Ich weiß selbst, dass ich »zu lieb« bin, von allen zumindest gemocht werden will und Konflikten lieber aus dem Weg gehe, als sie durchzustehen. Aber das geht doch vielen so, warum muss ich denn deshalb so leiden?

Ja, ich tue mir leid, aber mehr noch bin ich wütend. Ich möchte das nicht mehr, und doch bin es ich selbst, die sich das antut! Wie soll das denn ein Mensch verstehen? Völlig genervt erkläre ich mich meinem Freund. Kurz kommen Tränen, aber selbst das kann ich nicht richtig. Ordentlich zu heulen, würde mir wenigstens mal Erleichterung verschaffen!

Richtig wütend bin ich auf die Angst, wütend, frustriert und ausgelaugt. »Einmal unterwegs sein, ohne über irgendetwas zu erschrecken, ohne mich zu fürchten und mein letztes Stündchen schlagen zu hören, das wäre schön!«, übertreibe ich.

Wahrscheinlich traue ich mich jetzt wieder gar nichts mehr, schlage ich meiner verängstigten Seele vor, und sie greift die Idee dankbar auf und fürchtet sich schon einmal prophylaktisch vor der nächsten U-Bahn-Fahrt in die Stadt. Prima!

Nach unserem Ausflug in den Wald gehen wir noch eine Pizza essen, und ich bin so aufgedreht, dass ich kaum etwas herunterbringe, was mich natürlich nur noch wütender macht. Warum kann diese Scheißangst sich nicht einfach mal verpissen? Das Leben ist so schön, es geht mir eigentlich wunderbar, es ist Sommer, und ich drehe am Rad! Muss das denn bitte sein, und wenn ja, warum?

Ich weiß ja, dass die Angst einen Sinn hat, aber dennoch wird man ja wohl auch mal genervt sein dürfen! Man muss doch nicht immer alles schönreden! Angst ist anstrengend und nervig und irgendwann muss es auch mal gut sein!

Über Wut freut sich meine fabelhafte neue Therapeutin. Ich mache eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie. Und es tut sich etwas. Auch wenn es sich eigentümlich anhört, ich spüre, wie ich wachse. Nein, nicht in die Breite, das kenne ich ja schon, das liegt an Nougatschokolade und Blaubeereis – ich wachse innerlich. Es passiert etwas mit mir. Das kleine, brave Mädchen, das es den Eltern immer recht machen wollte, wird jetzt, mit Mitte vierzig, allmählich erwachsen.

Oder anders gesagt: Ein Teil von mir ist immer noch das kleine Mädchen von damals, ein anderer inzwischen eine erwachsene Frau. Jedoch beginnen sich die Anteile immer mehr umzudrehen. Früher war ich zu siebzig Prozent klein und eher hilflos, im Laufe der Zeit hat sich das gewandelt, und jetzt, ein paar Jahrzehnte später, scheinen die siebzig Prozent eher erwachsen zu werden, und es bleiben nur noch dreißig Prozent für das Kind übrig.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Das Kind ist mir wichtig. Es ist ein besonderer Teil von mir, den ich nicht missen möchte. Ein Teil, der mich staunen lässt, der dafür sorgt, dass ich mit Kindern gut klarkomme, der einen Großteil meiner Kreativität ausmacht, der mich lustig und verspielt sein lässt. Er gehört zu mir. Aber mindestens genauso wichtig ist, wenn man, wie ich, auf die fünfzig zugeht, der erwachsene Teil. Der Teil, der für meine Bedürfnisse einsteht. Für selbstbestimmtes Handeln, für Lebensplanung und vernünftige Ernährung, Sport, Kultur und Gedöns.

Das ist bizarr und natürlich längst an der Zeit.

Seit ein paar Sitzungen bei meiner neuen Therapeutin fühle ich mich anders, mehr wie ein Pferd als wie ein Kaninchen.

Äh, ja.

Ich weiß schon sehr lange, dass es mir oft nicht leichtfällt, meine eigenen Bedürfnisse klar zu erkennen und auszusprechen. Aber ich habe mich damit arrangiert. Es ist eben so. Ich bin so. Und immer wieder kommt natürlich auch mein Unwillen zwischen mich und meine Bedürfnisse, einfach zu sagen, was ich möchte. Schließlich will ich ja auch gar keine Egoistin sein.

Es gefällt mir ja, dass mich meine Mitmenschen interessieren, dass ich freundlich bin und Mitleid empfinde, dass ich versuche, so zu leben, dass es anderen angenehm ist, mit mir zusammen diesen Planeten zu bewohnen. Ich bringe mein Altpapier weg und versuche, Verpackungen zu vermeiden, spare Strom und fahre Fahrrad, grüße meine Nachbarn, halte die Tür auf und lächle die Kassiererin im Supermarkt an. Nur verschwimmen die Grenzen zwischen freundlich zu anderen zu sein und es allen recht machen zu wollen außer mir selbst das ein oder andere Mal.

Natürlich war ich bislang auch erwachsen und führe schon lange ein eigenständiges Leben. Die Veränderung findet auf einer anderen Ebene statt.

Ich beginne, selbstbewusster zu werden. Ich merke regelrecht, wie ich mich innerlich aufrichte, mich bereit mache, mein Leben noch mehr selbst in die Hand zu nehmen und auf den Welpenschutz zu verzichten. Wird meine Umwelt das mitmachen? Insbesondere mein Freund? Nicht, dass er bisher alles für mich geregelt hätte (dazu hätte er gar keine Zeit), aber ich glaube, ich habe mich selbst bislang nicht sonderlich ernst genommen, geschweige denn mir viel zugetraut.

Natürlich könnte man sagen, um auf die Bühne zu gehen, braucht man ganz schön viel Selbstvertrauen. Das habe ich auf der einen Seite auch ganz gewiss, und ich bin froh, dass es diese Seite in mir gibt. Aber oft habe ich mir gewünscht, etwas mehr von der Frechheit und Unbekümmertheit von der Bühne in meinen Alltag mitnehmen zu können.

Jetzt, wo ich nicht mehr auf der Bühne stehen muss und endlich die richtige Therapie mache, ändert sich etwas in die Richtung. Inwiefern das mein Leben komplett umschmeißen wird, weiß ich nicht.

Es wundert mich nicht, dass der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Prof. Dr. Jürgen Margraf, eine Art Beipackzettel für die Nebenwirkungen bei Psychotherapien fordert. Schließlich ist das, was da mit mir passiert, nicht nur super. Im Gegenteil. Plötzlich stelle ich praktisch alles infrage. Die Schaffarm in Irland ist überhaupt nicht mehr unwahrscheinlich. Wie will ich leben? Wie verändert sich meine Partnerschaft, wenn ich mich verändere? Welche Freunde sind meine richtigen Freunde, und welcher Beruf gehört eigentlich zu mir? Wird das jemals wieder die Bühne sein? Diese Gedanken machen mich traurig und müde. Ist das jetzt eine Art Midlife-Crisis, oder ist das normal?

Was genau ist überhaupt normal?

Immer wieder habe ich während der Therapie in mich hineingehört, mich gefragt, ob, und wenn, was da passiert in mir. Ob ich das wohl mitbekomme. Oder ob ich plötzlich aufwache und fliegen kann. Ohne Flugzeug. Mit Flugzeug geht es ja schon eine ganze Weile länger wieder.

Ich habe meine Therapeutin mit großen Augen angeschaut, schon manches Mal, und ihr angekündigt, dass ich jetzt erst einmal eine Runde jammern werde, weil ich mir sehr leidtue. Weil ich wieder sehr viel Angst hatte, im Kino mit Freunden, weil ich den Film nicht genießen konnte und hinterher die fast volle Flasche Bier stehen ließ. Weil ich nicht in der Lage war zu trinken und ich wollte, dass meine Angst mich endlich in Ruhe ließ! Wann, wann, wann hört das endlich auf, habe ich sie gefragt. Und was kann ich dafür tun? Gibt es Übungen, Merksätze, Bücher, die ich lesen kann? Schreiben wir einen Test?

Und jetzt tut sich etwas. Plötzlich, unvorhergesehen. Wie einem nach einem langen Winter eines Tages unvermittelt gewahr wird, dass die Vögel wacher tirilieren. Dass der Baum vor dem Haus Knospen hat. Dass die Eisdiele wieder geöffnet hat und die Kleidung der Menschen auf den Straßen wieder bunter wird.

So fühlt sich meine Seele plötzlich anders an. Der Abschied von dem in der Kindheit eingeprägten Muster, das mein Verhalten jahrzehntelang bestimmt hat, tut weh; schließlich kenne ich es nicht anders. Aber etwas in mir richtet sich auf. Meine Seele macht sich gerade. Das kleine Mädchen, das ich war, bin ich zwar immer noch, aber zu einem weitaus größeren Teil werde ich eine erwachsene Frau.

Manchmal hatte ich das Gefühl, ein Kind zu sein, das eine Erwachsene spielt. Und plötzlich beginnen die beiden Teile, die unzweifelhaft in mir sind, zu verschmelzen. Es ist kein Erdbeben, es ist ein Seelenbeben, das mein Innerstes durcheinanderrüttelt. Natürlich bin ich schon seit vielen Jahren auch eine erwachsene Frau. Ich habe eine Kreditkarte, bin geschäftsfähig und mache einen Mittagschlaf, wenn ich die Möglichkeit habe und, vor allem, wenn ich es möchte. Ich kaufe mir Schuhe und mache freiwillig Zahnarzttermine aus. Ich verdiene Geld und gehe essen. Und dennoch habe ich Muster aus meiner Kindheit übernommen, Muster, die mir Geborgenheit und Sicherheit vermitteln, weil ich sie so gewöhnt bin.

Und jetzt, zack, gerade mal vierzig Jahre später, beginne ich aus diesen Mustern und Gewohnheiten auszubrechen. Das ist ja vielleicht ein Tempo, dass ich da an den Tag lege!

Was fehlt mir in meiner Partnerschaft? Bin ich zufrieden, mit dem, was ich habe, weil es mir genügt oder weil ich denke, nicht mehr haben zu dürfen? Oder ändern sich meine Ansprüche an meinen Partner?

Wunderbar ist, dass eine Therapie tatsächlich Gefühle, Verhaltensmuster und Grundlegendes an den Tag bringt, dass ich erfahre, was ich ändern kann und muss, damit es mir besser geht. Und letztendlich brauche ich die Angst dafür zu erkennen, was schiefgelaufen ist seit meiner Kindheit.

Ich brauche die Angst, um das zu werden, was ich eigentlich sein will: selbstbewusst und sicher, erwachsen und selbständig, nicht mehr das Kind, sondern eine Frau. Und jeder, der eine Therapie mit einem fitten Therapeuten oder einer fitten Therapeutin macht, wird dieses Wunder miterleben, das dafür sorgt, dass es einem mit einem besser geht. Der Weg dorthin ist gewiss schmerzhaft, traurig und zuweilen verstörend. Ich bin glücklich mit meinem Freund, entdecke aber während der Therapie alte Muster in meinem Handeln in der Beziehung und stelle plötzlich vieles infrage. Mir fallen Umstände in unserer Partnerschaft auf, die mich bislang nicht gestört haben. Jetzt, wenn alles an die Oberfläche dringt, habe ich die Möglichkeit, ein besserer Mensch zu werden. Einer, der besser zu sich selbst ist, genauer gesagt.

Meine Seele wehrt sich gegen das Ablegen alter Muster, und wenn ich schreibe, dass die Therapie anstrengend ist, dann nicht nur wegen der neuen Erkenntnisse, sondern auch weil ich spüre, dass meine Angst mir die Hölle heißmacht.

Ich gehe Konflikten nicht mehr aus dem Weg, ich beginne wieder, Auto zu fahren (was ich nie gerne gemacht habe), und poltere auch mal, wenn meine Nachbarn zu laut sind. Das gefällt meiner Angst nicht, sie will mich weiterhin klein halten, weil sie mich beschützen möchte. Durch die Erkenntnisse meiner Therapie geht es mir erst einmal viel schlechter. Der Reifungsprozess ist in vollem Gang.

Es ist nun an mir, weiter zu üben und dem kindlichen Teil meiner Seele klarzumachen, dass keine Gefahr besteht und ich auf mich selbst aufpassen kann. Dann brauche ich meine Angst nicht mehr so dringend.

Wieso sage ich nicht einfach: »Mir doch egal, ich find's gut, so wie es ist!« Weil es nicht gut ist, wie es ist. Sonst bräuchte ich die Angst ja nicht. Bei all der Anstrengung und Angst fühlt es sich wunderbar an, die Frau freizuschaufeln, die ich bin. Und erwachsen sein ist mit zunehmendem Alter ja genau richtig.

Vielleicht werde ich auch meine Angst nie vollständig verlieren, aber ich kann dann gucken, was sie mir sagen möchte, und es mir so gut wie möglich gehen lassen. Indem ich auf meine Grenzen achte und mir zugestehe, dass ich eigene Grenzen haben darf, egal, was andere können. Indem ich mir bewusst bin, dass ich nicht alleine bin mit meinen Psychomacken, dass ich von vielen Seiten Verständnis und Hilfe bekomme, wenn ich mit meinen Problemen offen umgehe und mich anderen anvertraue. Indem ich immer wieder übe in Schritten, die für mich richtig sind, und indem ich mich über meine Erfolge freue und mich nicht ärgere, wenn sie »nur« klein sind. Indem ich mir bewusst bin, dass auf schlechte auch wieder gute Tage folgen, dass es morgen schon wieder ganz anders aussehen kann.

Indem ich mit mir gnädig bin und nicht versuche, perfekt zu sein. Außer, ich bin mir sicher, dass ich perfekt bin, so wie ich bin, mit meinen Ängsten.

 

Dank

Zuletzt, aber nicht zumindest, möchte ich mich bedanken bei meiner (Bonus-)Familie und meinen Freunden, die beim Schreiben dieses Buchs mitgefiebert haben.
Auch danke ich meiner Literaturagentin Nina Arrowsmith, dass sie mich ermuntert hat, dieses Buch so persönlich werden zu lassen.
Ich danke allen von Gräfe und Unzer für die schöne Zusammenarbeit und ganz besonders meiner Lektorin Anna Cavelius, mit der ich, wie sie vermutet, in einem vorigen Leben schon zusammen auf einem Scheiterhaufen gestanden habe, für die sehr herzliche und gute Zusammenarbeit.
Und natürlich ganz vielen Dank an Gerald.

»The idea that you have to be protected
from any kind of uncomfortable emotion
is what I absolutely do not subscribe to.«

»Die Ansicht, dass man
vor unangenehmen Emotionen beschützt werden müsse,
teile ich keineswegs.«

JOHN CLEESE

 

BÜCHER, DIE WEITERHELFEN

Bücher & Apps aus dem
GRÄFE UND UNZER VERLAG

Eßwein, Jan Thorsten:

Achtsamkeitstraining (mit CD)

Grasberger, Delia:

Autogenes Training (mit CD).

Haimerl, Christian:

Frei von Angst- und Panikattacken in zwei Schritten (mit CD)

Hainbuch, Dr. Friedrich:

Progressive Muskelentspannung (mit CD)

Hoffmann, Ulrich:

Meditationen – 35 Übungen für mehr Wohlbefinden und Gelassenheit

Iding, Doris:

Ängste überwinden – Mein Übungsbuch für mehr Gelassenheit und Harmonie

Mannschatz, Marie:

Meditation. Mehr Klarheit und innere Ruhe (mit CD)

Schneider, Maren:

Heilende Meditationen
(mit CD)

Trökes, Anna:

Yoga Nidra. Die Yoga-Tiefenentspannung (mit CD)

App:

Angstfrei

Bücher aus anderen Verlagen

Baker, Roger:

Wenn plötzlich die Angst kommt. Panik-attacken verstehen und überwinden

SCM, Holzgerlingen

Ballet de Coquereaumont, Emmanuel:

Endlich angstfrei. Begegne deinem inneren Kind und besiege deine Angst

mvg, München

Basset, Linda:

Angstfrei leben. Das erfolgreiche Sebsthilfeprogramm gegen Stress und Panik

Beltz, Weinheim

Bernhardt, Klaus:

Panikattacken und andere Angststörungen loswerden. Wie die Hirnforschung hilft, Angst und Panik für immer zu besiegen

Ariston, München

Croos-Müller, Dr. med. Claudia:

Nur Mut! Das kleine Überlebensbuch Soforthilfe bei Herzklopfen, Angst, Panik und Co

Kösel, München

Peurifoy, Reneau Z.:

Angst, Panik und Phobien. Ein Selbsthilfe-Programm

Hogrefe, Bern

Schneider, Maren:

Stressfrei durch Meditation. Das MBSR-Kursbuch nach der Methode von Jon Kabat-Zinn

O.W.Barth, Frankfurt/M.

Wehrenberg, Margaret:

Die 10 besten Strategien gegen Angst und Panik. Wie das Gehirn uns Stress macht und was wir dagegen tun können

Beltz, Weinheim

Wolf, Doris, Dr.:

Ängste verstehen und überwinden.

PAL, Mannheim

ADRESSEN, DIE WEITERHELFEN

Gesellschaft für Angstforschung

Psychiatrische Universitätsklinik Göttingen

Von-Siebold-Straße 5 
37075 Göttingen
Tel.: 0551 / 39 66 06
Fax: 0551/ 39 20 04
Mail: Sekretariat.Bandelow@medizin.uni-goettingen.de
Internet: www.gwdg.de/~bbandel/gaf.htm

Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie e.V.

Corrensstraße 44-46
72003 Tübingen
Tel.: 07071 / 94 34 0
Fax: 07071 / 94 34 35
E-Mail: dgvt@dgvt.de
Internet: www.dgvt.de

Selbsthilfegruppen

Bundesverband der Selbsthilfe

Pyrmonter Straße 21
37671 Höxter
Tel.: 05271 / 69 99 056
Fax: 05271 / 69 99 014
E-Mail: info@vssp.de
Internet: www.vssp.de

Selbsthilfeforum

http://www.psychic.de/

Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe KISS

(regional organisiert, z.B. unter:)
www.kiss-hh.de (Hamburg)
www.kiss-mfr.de (Mittelfranken)

Club D&A, Selbsthilfe bei Depression und Angststörungen 

Schottenfeldgasse 40/8
A-1070 Wien 
Tel.: 407 77 27 
Fax: 407 77 27-71
http://www.club-d-a.at

Angst- und Panikhilfe Schweiz (aphs)

Schottenfeldgasse 40/8
www.aphs.ch

Therapeutensuche:

Über die Krankenkassen oder:
http://www.aerzte-im-netz.de/index_net.html
https://www.bpm-ev.de/arztsuche.html
http://www.psychotherapiesuche.de/pid/search
https://www.therapie.de/psyche/info/

Auswahl psychosomatischer Kliniken:

Christoph-Dornier-Klinik GmbH

Tibusstraße 7-11
D-48143 Münster (NRW)
www.christoph-dornier-klinik.de

Fachklinik Heiligenfeld

Euerdorfer Straße 4 - 6
97688 Bad Kissingen
www.heiligenfeld.de

Klinik für Psychosomatik

MEDIAN Zentrum für Verhaltensmedizin Bad Pyrmont

Bombergallee 10 
31812 Bad Pyrmont
www.ahg.de

 

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© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2018

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2018

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Birgit Reiter, Ilona Daiker

Lektorat: Anna Cavelius

Covergestaltung: independent Medien-Design GmbH, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Ina Maschner

ISBN 978-3-8338-6587-9

1. Auflage 2018

Syndication: www.seasons.agency

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Ihr GRÄFE UND UNZER Verlag
Der erste Ratgeberverlag – seit 1722.

VORWORT

»Angst klopfte an.
Vertrauen öffnete.
Keiner war draußen.«

AUS CHINA

Es ist geschafft. Dieses Buch zu schreiben, hat mich einige Überwindung gekostet. Schließlich habe ich mich sehr lange schon für meine Ängste geschämt, schäme mich heute noch manchmal dafür. Und jetzt – mache ich mich nackig!

Aber nicht einfach so. Ich hoffe, dass ich Menschen erreiche, die meine oder ähnliche Ängste kennen und die sich im Buch wiederfinden und merken: Ich bin nicht allein. Die während oder nach der Lektüre den Mut finden, sich jemandem anzuvertrauen, sich Hilfe zu holen. Es gibt so bescheuerte Ängste, doch keine ist so bescheuert, dass man sich dafür zu schämen braucht und sich keine Hilfe holen kann.

Angehörige möchte ich erreichen, Menschen, die sich fragen, was genau ist eigentlich mit meiner Mutter, der Nachbarin, meinem Bruder, der Kollegin – wie fühlt sie oder er sich?

Manchmal habe ich mich während des Schreibens gefragt: »Nehme ich mich nicht zu wichtig? Wen interessiert das denn, wie es mir geht?«

Aber eigentlich wusste ich die Antwort schon. Denn mir hat zu Beginn meiner Angstkarriere auch ein Buch gutgetan, ein reines Sachbuch über Ängste, durch das ich merkte: Ich bin nicht verrückt. Was ich habe, das ist eine Krankheit. Und es gibt sehr, sehr viele Menschen, die auch darunter leiden. Und: Man kann etwas tun, damit man besser mit ihr leben kann.

»Wo Lachen ist, ist keine Angst« heißt es, ich bin eigentlich Komikerin und kann das so nicht ganz unterschreiben. Anderen Menschen unbeschwerte Stunden mit meinem Humor zu bescheren, bedeutete in der Vergangenheit oft eine nahezu übermenschliche Arbeit für mich mit dicker, fetter Angst im Nacken.

Dennoch habe ich selbst in verzweifelten Zeiten immer mal wieder in kurzen Momenten auch das Glück, meinen Zustand aus einem anderen Blickwinkel sehen zu können und kurz darüber zu schmunzeln. Und weil mir als Angsterkrankter ein Erfahrungsbericht über Panik und Ängste auch eher Angst einjagt, habe ich versucht, meine komische Seite in diesem Buch mitreden zu lassen und es so etwas leichtfüßiger werden zu lassen.

Darüber zu reden, mit dafür zu sorgen, dass psychische Krankheiten als genauso normal angesehen werden wie körper­liche, ist mir ein großes Anliegen, und ich hoffe, dass ich mit diesem Buch ein Stück dazu beitragen kann.