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Dipl.-Pädagoge Erich Schützendorf, Fachbereichsleiter für Fragen des Älterwerdens und Direktor der VHS Kreis Viersen a. D. Mitglied im Arbeitskreis „Geragogik“ in der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie. Autor mehrerer Bücher zum Thema Älterwerden, Demenz, Altenpflege.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02570-1 (Print)

ISBN 978-3-497-60226-1 (E-Book)

ISSN 0939-558X

5. Auflage

© 2015 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Satz: Rist Satz & Druck GmbH, D-85304 Ilmmünster

Titelbild: Ausschnitt aus Carl Spitzwegs „Kakteenfreund“

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Einleitung

I.  Die alltägliche Erziehung, die niemand will

Der Beginn der Erziehung
Frau Schmitz ist nicht mehr die Alte

Anlässe zur Erziehung
Um alte Menschen muss man sich kümmern

Die Legitimation der Erziehung
Wenn Alter zum abweichenden Verhalten wird

Eine alltägliche Erziehungssituation
Herr Müller soll in der Gemeinschaft frühstücken

Die heimliche und verheimlichte Erziehung
Ein dunkles Kapitel

Entlastung durch Erziehung?
Die unerträglichen Alten und das doppelte Leiden der Pflegenden

Macht und Ohnmacht der Erzieher
Frau Müller macht es einem nicht leicht

Zielkonflikte
Schrumpfung oder Förderung

II. Die Verhinderung von Erziehung, an der alle leiden

Widersprüchlichkeiten ertragen lernen
Wenn die Alten wie die Kinder werden

Es gibt viele Normalitäten
Schleusen aus und in andere Welten

Ein anderer Umgang mit der Zeit
Frau Küster „tickt“ nicht richtig

Die Schätze der Kindheit heben
Eine Reise in die Kindheit

Die behutsame und langwierige Annäherung
Der Pflegende als „Afrikaforscher“

Das Aushandeln von Kompromissen
In der Beziehungsarbeit gibt es keine Lösungen

Probieren geht über Studieren
Übungen und Reflexionen

Wer pflegt, braucht Pflege

Anmerkungen

Literatur

Einleitung

Im Kern beschäftigt sich das vorliegende Buch mit der Frage, wie sich zwei Menschen, von denen der eine pflegt und der andere pflegebedürftig ist, begegnen. Die Beschreibung und Analyse dieser Frage geschieht allerdings unter einem bestimmten, nämlich einem pädagogischen Blickwinkel.

Dieser Blickwinkel, der das Handeln der Pflegenden als erzieherisches Handeln begreift, ist zugegebenermaßen ein eingeschränkter Blickwinkel. Mit seiner Hilfe aber werden all die Erziehungsziele und Erziehungsstrategien sichtbar, die von Pflegenden gerne ausgeblendet oder als für das tägliche Geschäft zu vernachlässigende Größe eingestuft werden. Wird nun, wie von mir beabsichtigt, das verdeckte, oft unreflektierte, aber keineswegs ungeplante erzieherische Handeln der Pflegenden ans Licht geholt, werden die Akteure unmittelbar für ihr Tun verantwortlich. Neben ihren vielen anderen Verantwortlichkeiten sollen die ohnehin schon in vielfacher Weise überforderten Altenpfleger eine weitere verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen: Sie sollen reflektiert und begründbar entscheiden, bei welchen Anlässen und in welchen Situationen sie erzieherisch auf alte Menschen einwirken wollen oder es eben bleiben lassen.

In den Beispielen, die ich zum Ausgangspunkt meiner Betrachtungen und Analysen gewählt habe, werden die handelnden Menschen, ob Pflegende oder Pflegebedürftige, nicht immer schmeichelhaft dargestellt. Ich will betonen, dass alle Beispiele authentisch und belegbar sind. Dabei handelt es sich keineswegs um besonders negative Beispiele, die ich ausgesucht habe. (Manches, was in der Pflege geschieht, ist einfach schlimm, und vieles, was im Alltag angemessen und selbstverständlich erscheint, wirkt erst durch die Analyse abstoßend und schrecklich.)

Ich habe Beispiele ausgewählt, in denen sich möglichst die Komplexität, die Banalität und das normale, oft unauflösbare Chaos in der Altenpflege widerspiegeln – ungeschönt, wie man so sagt.

Mir ist bewusst, dass viele Pflegende, die zu Hause oder im Heim mit großem Engagement, Menschlichkeit und Warmherzigkeit ihre Arbeit verrichten, angesichts meiner direkten und ungeschminkten Beschreibungen des Pflegealltags irritiert und erzürnt reagieren werden. Möglicherweise fühlen sie sich ertappt und demaskiert.

Insofern ist dieses Buch für Altenpfleger(innen) und pflegende Angehörige – und an diese wendet sich das Buch in erster Linie – keine leicht verdauliche Lektüre. Einiges wird ihnen schwer im Magen liegen. Vieles, was ihnen bisher Sicherheit versprach, wird gegen den Strich gebürstet und erscheint in einem anderen Licht. Denkgewohnheiten, Sicherheiten, Ideale, Menschenbilder und Selbstverständnisse werden infrage gestellt.

Entblößt von professionellen Denkmustern, routinierten Handlungsgewissheiten, von pflegerischen Standards und organisatorischen Rahmenbedingungen wird der Pflegende in diesem Buch unmittelbar als Mensch einem pflegebedürftigen alten Menschen gegenübergestellt. Diese Konstellation lässt den Rückzug auf übliche Gewissheiten und Verbalstrategien nicht mehr zu. Vertraute Aussagen werden als Schutzbehauptung entlarvt. Nach der Lektüre wird der oft verwendete Satz

Ich würde mir gerne mehr Zeit für Frau Schmitz nehmen. Aber leider fehlt mir die Zeit.

(hoffentlich) wie ein Schutzwall klingen, der einen davor bewahrt, über die Beziehung zwischen sich und Frau Schmitz nachdenken zu müssen.

Für diejenigen Leser, die ihre Schutzwälle nicht niederreißen, sondern im Gegenteil verteidigen wollen, wird dieses Buch ein Ärgernis werden. Denjenigen allerdings, die bereit sind, auf Distanz zu ihren Idealen und Handlungssicherheiten zu gehen, die bereit sind, Ungewohntes auf sich wirken zu lassen und dann eigene Schlussfolgerungen zu ziehen, wünsche ich ein auf- und anregendes Lesevergnügen. Und hoffentlich können diese Leser am Ende des Buches sagen:

Es ist nicht die fehlende Zeit.

Vielmehr ist es so, dass ich es nicht schaffe, länger als zwei bis drei Minuten bei Frau Schmitz zu verweilen. Länger kann ich die Langeweile, die Langsamkeit, die Angst, das Weinen, die

Ruhe, die Selbstzufriedenheit, das Nichtstun, die Überheblichkeit ... nicht ertragen.

Aber die zwei bis drei Minuten, die ich in ihrer Nähe aushalte, die schenke ich ihr so oft ich kann.

I. Die alltägliche Erziehung, die niemand will

Der Beginn der Erziehung

Frau Schmitz ist nicht mehr die Alte

Kaum jemand will den Begriff „Erziehung“ mit alten Menschen in Verbindung bringen.

Alte Menschen erzieht man nicht,

heißt es kategorisch. Diese Meinung vertritt auch Karin, die 48-jährige Tochter von Frau Schmitz in einem Gespräch mit mir. Die Erziehung alter Menschen scheint ihr unwürdig und widersinnig. Kinder und Jugendliche erzieht man. Aber doch nicht die Alten!

Und überhaupt,

beharrt Karin,

die Alten lassen sich doch gar nicht mehr erziehen.

Das mag so sein. Aber zu dieser Erkenntnis wird Karin erst nach vielen fehlgeschlagenen Erziehungsversuchen gekommen sein.

Ich gehe davon aus, dass nicht nur die Mutter von Karin erzogen wird, sondern überall und jeden Tag Menschen, die als alt angesehen werden, vielfältigen Erziehungsbemühungen ausgesetzt sind. Gnadenlos wird in das Leben alter Menschen eingegriffen, werden Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen und Rahmenbedingungen geschaffen, die ihren Entscheidungsspielraum und ihr Recht auf Selbstbestimmung einschränken. Meist fallen die Erziehungsakte als solche nicht mal auf, weil sie in der Logik des alltäglichen Handelns notwendig, folgerichtig und natürlich erscheinen. Sie ergeben sich gewissermaßen von alleine, weil es eine weitverbreitete Übereinkunft gibt, dass alte Menschen das Kümmern, Anleiten und Abnehmen von Entscheidungen brauchen, ja erwarten. Also lautet die Gegenfrage von Karin:

Was soll man denn tun, wenn die Alten nicht mehr einsichtig sind, ihre Dinge nicht mehr verlässlich regeln, wenn sie auf Hilfe angewiesen sind?

Dann stellt sie fest:

Man muss doch etwas tun.

Richtig. Aber bei dem, was so getan wird, will niemand von Erziehung reden. Erziehung klingt nach Reglementierung, Bevormundung, Gängelung und Bestrafung. All dies will keiner, aber genau dies geschieht.

Man tut doch alles für Mutter, zu ihrem Schutz und zu ihrem Besten,

erklärt Karin. Sicher, die Tochter von Frau Schmitz handelt nicht in böser Absicht; aber gerade die gute Absicht macht das Wesen des erzieherischen Handelns aus. Das erzieherische Einwirken auf alte Menschen ist ja nicht grundsätzlich zu verurteilen, wenn es darum geht, alte Menschen vor Schaden zu bewahren, sie von Verhaltensweisen, die andere belästigen oder gefährden, abzuhalten oder ihnen Entwicklungsmöglichkeiten zu erschließen, von denen man annehmen darf, dass sie zu ihrem Wohlergehen beitragen und in ihrem Interesse liegen könnten.

Insofern sind die Motive für Karins Handeln anzuerkennen. Die gute Absicht gerät jedoch leicht zur bösen Tat. Was zum Wohle der Mutter gedacht war, schlägt bei der Umsetzung ins Gegenteil um: Karin setzt die Mutter unter Druck, reglementiert und bevormundet sie. Dies geschieht, so behaupte ich, weil Karin ihr Handeln nicht als Erziehung begreift und deshalb nicht über die Absichten, Ziele und Wirkungen ihrer Bemühungen nachdenkt. Sie fragt sich beispielsweise nicht, wo die Grenzen liegen, bis zu deren Erreichung sie sich bei einer Gefährdung oder Belästigung zurückhalten sollte, oder nach welchen Kriterien sie entscheidet, was im Interesse der Mutter liegt.

Karin begreift die (An-)leitung ihrer Mutter als eine selbstverständliche Pflicht, der sie sich nicht entziehen darf, und dieses Selbstverständnis erlaubt es ihr, unbedacht und unüberlegt auf die Mutter einzuwirken.

„Wenn Erzieher nicht aufhören können zu erziehen, so deshalb, weil sie nie autorisiert waren zu beginnen.“

N. Luhmann[1]

Die Geschichte von Karin, die ihre Mutter erzieht, beginnt eines Tages, als Karin von einer Bekannten gefragt wird:

Wie geht es deiner Mutter?

Früher hätte Karin solche Fragen nicht sehr ernst genommen und geantwortet:

Der geht es so weit gut. Die kommt zurecht.

Sie hatte sich nie Sorgen um ihre Mutter gemacht. Bei ihren letzten Besuchen war Karin allerdings aufgefallen, dass die Kräfte ihrer Mutter nachgelassen hatten, sie wirkte wehleidiger, passiver, vergesslicher und unkonzentrierter. Deshalb antwortete sie der Bekannten:

Ich glaube, Mutter wird alt.

Sie ist nicht mehr die Alte.

Von diesem Moment, in dem Karin sich über den Zustand ihrer Mutter besinnt, ist Frau Schmitz für ihre Tochter nicht mehr die Mutter, die ihr Leben meistert, sondern eine alte Frau, die man beobachten muss.

Karin erlebt nun den Umgang mit ihrer Mutter als immer schwieriger werdend. Ihr scheint, dass Mutter in vielen Dingen interesseloser geworden ist und immer häufiger starrsinnig reagiert. Auch scheint die Ordnungsliebe und Sauberkeit der Mutter nachzulassen. Gut gemeinte Vorschläge von ihr führen bei der Mutter zu Trotzreaktionen oder Wutausbrüchen. Die Gespräche mit der Mutter werden von Besuch zu Besuch erregter:

„Mutter, komm uns mal besuchen.“

„Ich fühl mich nicht gut.“

„Du fühlst dich nie gut.“

„Heute geht es mir ganz schlecht.“

„Dir geht es immer ganz schlecht.“

„Lass mich!“

Eines Tages nimmt Karin den Geruch von Verbranntem in der Wohnung ihrer Mutter wahr. Frau Schmitz muss zugeben, dass sie vor einigen Tagen vergessen hatte, die Herdplatte auszuschalten und so das Fleisch in der Pfanne angebrannt war. Die Pfanne sei ja nun nicht mehr zu gebrauchen, befindet Karin. Frau Schmitz ist anderer Meinung; immerhin hat die Pfanne jahrelang gute Dienste getan, und ihr verstorbener Mann, Karins Vater, habe immer gesagt, dass diese Pfanne ihr Geld wert wäre.

Karin lässt die Pfanne in der Mülltonne verschwinden. Abends bespricht sie die neue Entwicklung ihrer Mutter mit ihrem Mann.

Natürlich,

erregt sich Karin, als ihr Mann den Vorfall mit der vergessenen Herdplatte herunterspielt,

natürlich vergesse ich auch hin und wieder, die Kaffeemaschine auszuschalten. Aber wann ist mir das zuletzt passiert? Dir ist das doch auch schon passiert. Außerdem ist das etwas ganz anderes. Mutter ist alt. 73 Jahre. Das ist keine normale Vergesslichkeit. Vergesslichkeit im Alter ist doch wohl bedrohlicher, als wenn wir mal was vergessen.

Da gibt ihr Mann ihr recht. Man müsse damit rechnen, dass Mutter nun öfter etwas vergesse.

Was da alles passieren kann,

sorgt sich Karin. Und dann setzt sich ein Gedanke bei ihr fest, den sie nicht zu Ende denken will:

Was da alles auf uns zukommen kann.

Karin ist in Sorge um ihre Mutter und sie beschließt, die Mutter aufmerksamer als bisher zu beobachten. Sie will sich nicht mehr darauf verlassen, dass Mutter alleine zurechtkommt. Leicht fällt ihr die Gewissheit, für die älterwerdende Mutter verantwortlich zu sein, nicht. Ihr Leben wird sich mit der neuen Verpflichtung verändern, und sie fürchtet sich vor den kommenden Belastungen. Frau Schmitz wird nun täglich von ihrer Tochter angerufen oder besucht. Die Tochter ist voller Sorge:

Wie fühlst du dich heute?

Denkst du auch an den Herd?

Vergiss nicht, das Bügeleisen auszuschalten.

Hast du deine Tabletten genommen?

Was sagt der Arzt?

Was hast du heute getan?

Ruf mich sofort an, wenn etwas ist.

Frau Schmitz reagiert gereizt:

Sag mal, glaubst du eigentlich, dass ich ein kleines Kind bin? Ich komme noch ganz gut alleine zurecht.

Karin ist irritiert:

Ja, nein, ...

sicher, Mutter, kommst du alleine zurecht.

Ich mein ja nur ...

Ja, also, dann bis morgen.

Abends bei ihrem Mann beklagt sich Karin:

Mutter will nicht einsehen, dass sie Hilfe benötigt.

Die besorgte Tochter versteht die Welt nicht mehr. Sie meine es gut, gebe sich alle Mühe und dann reagiere Mutter in dieser unverständlichen Weise.

So kann es doch wohl nicht weitergehen.

Also führt die Tochter in der Folgezeit ernsthafte (zermürbende und quälende) Gespräche mit der Mutter:

Mutter, mit dem Herd, das war doch nicht das erste Mal, dass du etwas vergessen hast.

Überleg doch mal!

Wie konntest du das nur vergessen.

Es gibt doch Essen auf Rädern.

Du kannst doch auch mal bei uns essen.

Hier bist du immer alleine.

Überhaupt, seit Vaters Tod gehst du kaum unter Leute. Geh doch mal in den Altenclub. Ich bring dich dort mal hin. Tante Elisabeth geht auch dahin. Das ist doch nett, mal ’ne Abwechslung.

Was sagt denn dein Arzt? Es gibt doch bestimmt ein Mittel gegen Durchblutungsstörungen.

Du hast doch früher nichts vergessen.

Ich versteh das nicht.

Ich spüle nachher mal alles.

Irgendwie, ich weiß nicht, also früher, da warst du immer so ordentlich. Sieh mal hier die Tasse, die hab ich gerade aus dem Schrank geholt, sind noch Ränder vom Kaffee drin.

Hast du einen Termin beim Arzt?

Nein? Das musst du aber.

Gut, wenn du nicht willst, kann ich dir nicht helfen.

Du musst selber wissen, was du willst.

Aber das ist sehr unvernünftig. Ich werde Dr. Anders bitten, dir einen Termin zu geben.

Wie komm ich überhaupt an dein Konto, wenn dir etwas passiert? Ich erkundige mich mal bei der Bank.

Ich bleib jetzt ein paar Tage bei dir und bring den Haushalt mal in Ordnung.

Morgen fahren wir dann zu Dr. Anders.

Du hast ja Bauchspeck eingekauft! Wie kann man in deinem Alter so fette Sachen essen. Und dann in Butter braten! Was glaubst du, was Dr. Anders dazu sagt.

Kein Wunder, dass du dich so schlecht bewegen kannst.

Frau Schmitz mag diese Gespräche nicht. Sie fühlt sich unter Druck gesetzt, bevormundet, in ihrer Entscheidungsfreiheit, die ihr immer sehr wichtig war, eingeschränkt und nicht mehr ernst genommen.

Sie lässt die Fragen, Anweisungen, Ermahnungen und Vorwürfe ihrer Tochter meist stumm über sich ergehen und sagt zu guter Letzt:

„Warte mal, bis du alt bist.“

Oder

„Ich komme ganz gut alleine zurecht.“

Oder:

„Kümmere du dich um dich, ich kümmere mich um mich.“

Früher hatte Frau Schmitz Karin die Fragen gestellt und Antworten erwartet, heute ist es umgekehrt.

„Zwischen dem, der befiehlt, und dem, der gehorchen muss, besteht keine so radikale Ungleichheit wie zwischen dem, der das Recht hat, eine Antwort zu verlangen und dem, der die Pflicht hat zu antworten.“[2]

Karin will etwas gegen den drohenden Abbau der Mutter unternehmen und versteht es nicht, wenn diese nicht mitzieht oder sich gar zur Wehr setzt.

Man kann es ihr nicht recht machen,

beklagt sie sich öfter bei ihrem Mann und zunehmend auch bei ihrem Bruder. Der jedoch begreift nach Meinung von Karin nicht den Ernst der Lage und verteidigt die Mutter. Er rät ihr sogar, die Entscheidungen der Mutter einfach hinzunehmen.

Wenn Mutter Bauchspeck essen will, dann lass sie doch,

sagt er. Da ist Karin aber ganz anderer Meinung.

Du hast gut reden,

entgegnet sie aufgebracht,

und wer hat anschließend die Arbeit?

Kümmerst du dich um Mutter?

Dann, eines Nachts, wird Karin von ihrer Mutter angerufen. Frau Schmitz ist aufgeregt, sie habe Geräusche gehört und befürchte Einbrecher:

Ich bin mit den Nerven fertig.

Bitte komm sofort!

Aufgeschreckt fährt Karin mit ihrem Mann zur Mutter. Dort findet sich keine Spur von einem Einbrecher. Frau Schmitz beruhigt sich wieder. Karin aber erregt sich immer mehr, je ruhiger die Mutter wird. Sie hat den bösen Verdacht, dass Mutter den Einbrecher vorgeschoben hat, weil sie nicht allein sein wollte. Sie sieht nicht ein, für derartige Kindereien um die Nachtruhe gebracht zu werden, zumal ihr Mann morgen früh zum Dienst muss.

So geht es nicht weiter,

teilt Karin der Mutter am nächsten Tag mit. Sie spricht mit dem Hausarzt und legt einen Termin für die Mutter fest. Am besagten Termin holt sie die Mutter ab:

Mutter, hast du dich sauber gewaschen?

Überall?

Mit diesem Kleid gehst du nicht vor die Tür.

Zieh dir bitte ein anderes Kleid an.

Mir ist egal, welches Kleid du anziehst, aber dieses nicht.

Was ist denn noch, Mutter?

Nein, du brauchst keinen Schmuck.

Hast du den Krankenschein?

Zeig mal!

Seit dem nächtlichen Anruf wird Frau Schmitz jeden Mittwoch Nachmittag in den Altenclub gefahren. Anfangs hatte sich Frau Schmitz gewehrt:

Was soll ich bei den Alten?

Bald jedoch sagt sie sich, dass die Nachmittage eine nette Abwechslung seien. Den anderen Besuchern erzählt sie gerne, wie aufmerksam ihre Tochter ihr gegenüber sei. Eine bessere Tochter könne sie sich nicht wünschen. Ihre Tochter tue alles für sie. Ihr Sohn wohne ja leider weiter weg, aber der kümmere sich auch um sie; er rufe fast täglich an und frage, wie es ihr gehe.

Ja, ja,

wiederholt sie sich,

es ist gut, wenn man Kinder hat, die für einen sorgen.

Wenn die Tochter sie gegen 17.00 Uhr im Altenclub abholt, führt sie vor, wie freundlich, hilfsbereit und folgsam ihre Tochter ist.

Kind, hol mir den Mantel,

weist sie Karin an.

Frag mal nach, wann wir uns nächste Woche treffen.

Wo hast du das Auto abgestellt?

Komm, gib mir den Arm.

Karin lächelt und schweigt. Sind Mutter und Tochter alleine, bittet Frau Schmitz nur selten Karin um einen Gefallen. Eine der wenigen Ausnahmen ist ihre als Frage verkleidete Forderung, zum Friedhof gefahren und zum Grab des Mannes begleitet zu werden:

Warst du schon an Vaters Grab?

Ob die Blumen noch Wasser haben?

Fahren die beiden dann auf dem Weg zum Friedhof am Altenheim vorbei, schüttelt Frau Schmitz jedesmal den Kopf:

Die armen Leute, die da wohnen müssen.

Man bekommt alles von den Kindern zurück.

Karins Antwort lautet jedesmal gleich:

Ja, ich weiß, Mutter.

Karin ist es längst leid, diesen immer gleichen Kommentar zu hören. Sie würde es nie über das Herz bringen, ihre Mutter in ein Altenheim abzugeben. Aber in solchen Momenten wünscht sie sich, dass ihre Mutter einmal wenigstens das Leben im Altenheim erfahren müsste, damit sie endlich wüsste, wie gut sie es bei der Tochter hat.

Früher, wenn Karin nicht gehorsam gewesen war, hatte die Mutter manchmal gedroht:

Denk mal an die armen Kinder im Waisenhaus. Die haben es nicht so gut wie du.

Wahrscheinlich hat Frau Schmitz recht: irgendwie bekommen die Eltern alles von den Kindern zurück.

Die Gespräche am Grab des Vaters erträgt Karin nur mühsam. Für Mutters Standardspruch

Ach, wär ich doch da, wo Vater ist.

hat sie nur ein vorwurfsvolles

Bitte, Mutter!

übrig. Wenn Frau Schmitz dann auch noch den Sohn erwähnt, der regelmäßig anruft, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, geht Karin schon mal Wasser für die Blumen holen, damit sie ihre Mutter nicht anbrüllen muss.

Schritt für Schritt übernimmt Karin den Haushalt ihrer Mutter. Sie macht nun auch die Wäsche für die Mutter. Dabei fällt ihr auf, dass die Mutter ihre Leibwäsche wohl zu selten wechselt. Karin besteht auf täglich frische Wäsche und entdeckt, dass der Mutter mancher Tropfen Urin in die Hose geht. Karin ist beunruhigt und stellt die Mutter zur Rede:

Wie lange hast du das schon?

Warum hast du nie etwas davon gesagt?

Mutter schweigt. Karin nimmt Kontakt mit der Sozialstation auf, denn nun droht ihr allmählich die Arbeit mit Mutter über den Kopf zu wachsen; zwei Haushalte versorgen und die Mutter zusätzlich baden. Das ist ihr zu viel.

Als die Krankenschwester zum ersten Mal ins Haus kommt, um Frau Schmitz zu baden, hat die alte Dame noch Hemmungen. Aber die Schwester versteht ihr Handwerk:

Frau Schmitz, haben Sie schon mal überlegt, was alles in der Badewanne passieren kann? Was glauben Sie, wie viele Oberschenkelhalsbrüche ich bei alten Menschen gesehen habe, die im Bad ausgerutscht sind.

Nein, das ist schon richtig, dass Ihre Tochter uns geholt hat.

Sie werden sehen, wie gut das geht.

Die Schwester scheint eine gesunde Portion Humor zu besitzen. So ermuntert sie die zögernde Frau Schmitz:

Ein junger Mann wäre Ihnen wohl lieber, der Ihnen den Rücken wäscht.

Beide lachen, das Eis scheint gebrochen. Frau Schmitz versucht ein Gespräch einzufädeln:

Die alten Menschen, zu denen Sie gehen, sind sicher nicht alle einfach, oder?

Die Schwester gibt zu bedenken:

Es gibt da schon ein paar, aber da kenn ich mich aus. Mit der Zeit weiß man, wen man vor sich hat und wie man mit Menschen umgehen muss.

Wir zwei kommen bestimmt gut miteinander aus, was, Frau Schmitz?

Na sehen Sie.

Karin ist beruhigt. Die Krankenschwester scheint bei der Mutter den richtigen Ton zu treffen. Dieses Problem wäre vorerst gelöst.

Die Geschäfte von Frau Schmitz werden in der Zwischenzeit alle von Karin erledigt. Die Tochter hat sich eine Vollmacht geben lassen und kümmert sich um die Rente, Bankauszüge und alle Zahlungen. Der Mutter legt sie regelmäßig Bargeld in eine Schublade des Wohnzimmerschrankes. Karin will ihrer Mutter auf keinen Fall das Gefühl zumuten, die Tochter um Geld anhalten zu müssen. Mutter soll mit dem Geld, das die Tochter ihr gibt, tun und lassen können, was sie will.

Fehlt ein Betrag in der Schublade, was nicht oft vorkommt, erkundigt sich Karin, ob sich Frau Schmitz denn was Hübsches gekauft habe, oder was sie denn wohl so ausgegeben hätte.

Seit Tagen ist ein Brief vom Finanzamt überfällig. Er müsste längst eingegangen sein. Karin verdächtigt die Mutter, den Brief verlegt zu haben:

Mutter, wo ist der Brief vom Finanzamt?

Mutter gibt sich erstaunt:

Welcher Brief?

Mir schreibt doch sowieso niemand.

Karin ist ungehalten:

Mutter! Bitte!

Der Brief muss da sein. Wo hast du ihn hingelegt?

Frau Schmitz will von einem Brief nichts wissen, da ihr doch nie einer schreibe. Karin beginnt unterdessen alle denkbaren Verstecke zu durchsuchen. Schließlich findet sie das Schreiben:

Hier ist der Brief, Mutter. Warum sagst du nicht, wo du ihn hingelegt hast?

Ja, da wirst du ihn da gerade hingelegt haben. Ich weiß von keinem Brief,

gibt sich Frau Schmitz gekränkt. Karin ist wütend:

Mutter, das ist doch die Höhe. Du lässt mich hier bis zum Verrücktwerden suchen, und dann tust du so, als habe ich den Brief hier hingelegt. So nicht, Mutter. Überleg, was du sagst.

In solchen Situationen fühlt sich Karin missbraucht, ausgenutzt und erniedrigt. Sie ist der Mutter überdrüssig und kann sie nicht mehr ertragen. Karin ist verzweifelt und mit ihrer Kraft am Ende. Meistens kommt alles zusammen. So auch heute: Mutter hat mal wieder alle Schubladen aus- und dann falsch eingeräumt. Solch unnötige Arbeiten kommen für Karin noch dazu.

Eine Nachbarin berichtet, dass die Mutter jetzt im Hochsommer mit Mantel und Pelzmütze spazieren gegangen sei. Karin findet das Gespräch peinlich, glaubt Vorwürfe zu hören, dass sie die Mutter so herumlaufen lasse. Sie schämt sich und hat Angst, dass ihrer Mutter etwas passieren könne. Ihren Mann fragt sie nach der Haftung, wenn Mutter einen Unfall verursacht. Der aber hat keine Zeit, er macht sich fertig für seinen Schützenverein und bittet Karin, ihm beim Ankleiden zu helfen. Sie legt ihm den Hut mit der Feder und das Holzgewehr mit der Blume bereit. Dann entlässt sie ihren so ausstaffierten Mann mit seinen Freunden auf die Straße.

Eines Abends ruft die Nachbarin an und berichtet, dass Frau Schmitz zu später Stunde um das Haus läuft. Karin will nach diesem Vorfall die Mutter auf keinen Fall mehr alleine lassen. Ihr Mann macht jedoch unmissverständlich klar, dass er die Schwiegermutter nicht auf Dauer in seinem Haus haben will.

Nach vielen Gesprächen in der Familie und im Bekanntenkreis und qualvollen Überlegungen entschließt sich die Tochter, Frau Schmitz in einem Altenheim anzumelden. Karin sucht das Altenheim aus, erledigt alle Formalitäten, verhandelt mit dem Sozialamt und der Heimleitung. Frau Schmitz überlässt alles ihrer Tochter. Als der Heimleiter Frau Schmitz bittet, den Heimvertrag zu unterschreiben, deutet sie auf ihre Tochter und bittet um Verständnis, wenn die Tochter alles für sie erledigt.

Am Tag des Einzuges in das Heim ist alles für Frau Schmitz geregelt, sie braucht sich um nichts zu kümmern. Die Mitarbeiterinnen auf der Station, auf der Frau Schmitz leben soll, haben sich Gedanken gemacht, mit welchen Bewohnern Frau Schmitz wohl am besten am Tisch zusammensitzt, und stellen nun Frau Schmitz den alten Bewohnern an dem Tisch vor. Als sich die Tischnachbarn nach wenigen Tagen über den Uringeruch von Frau Schmitz beklagen, sind es wieder die hilfreichen Mitarbeiterinnen, die überlegen, an welchen Tisch sie denn jetzt Frau Schmitz hinsetzen sollen.

Dienstags ist ein Lichtbildervortrag angekündigt. Eine freundliche Pflegerin holt Frau Schmitz in der Sitzecke ab.

Frau Schmitz, gehen Sie mal mit. Unten ist ein schöner

Dia­Vortrag. Der wird Ihnen gefallen.

Im Tagesraum ist Frau Schmitz mit zwölf anderen Bewohnern zusammen. Alle sitzen auf Stühlen, keiner sagt ein Wort. Mancher wird von einer Pflegerin mit dem Stuhl in die richtige Position geschoben, damit er alles auf der Leinwand sehen kann. Der Referent ist jung und nett. Frau Schmitz kennt ihn aus dem Altenclub. Derselbe Vortrag. Aber nun ja, so geht die Zeit vorbei.

Auf der Station gilt Frau Schmitz als pflegeleicht. Sie macht keine Schwierigkeiten, lässt alles mit sich machen. Die Tochter kommt fast täglich ins Heim, um Frau Schmitz Gesellschaft zu leisten oder ihr beim Essen zu helfen. Zu den Mitarbeiter(inne)n ist sie freundlich, passt aber auf, dass alles mit Mutter so geschieht, wie sie es sich für Mutter wünscht.

Das führt gelegentlich zu Auseinandersetzungen mit den Mitarbeiter(inne)n. Denn Karin fühlt sich nach wie vor für ihre Mutter verantwortlich, und sie will sich nicht ihre Entscheidungsbefugnisse über Mutter nehmen lassen. Die Mitarbeiter(innen) fühlen sich ihrerseits für Frau Schmitz verantwortlich, und sie wollen selbstverständlich die Frau Schmitz betreffenden Entscheidungen im Team ohne Beteiligung der Tochter treffen.

So wissen am Ende alle, was für Frau Schmitz gut ist. Karin bezieht ihr Wissen aus der gemeinsamen Lebensgeschichte, die Stationsleitung und einige examinierte Kräfte berufen sich auf ihre Professionalität, und die Hilfskräfte glauben aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Alltagsverständnisses vom Umgang mit alten Menschen zu wissen, was Frau Schmitz gut tut.

Und was entscheidet Frau Schmitz?

Anlässe zur Erziehung

Um alte Menschen muss man sich kümmern

Obwohl wir nicht genau wissen, wer alt ist, wann das Alter beginnt, und obwohl uns die Alternsforschung nachhaltig versichert, dass es das Alter gar nicht gibt, haben wir doch eine ungefähre Vorstellung im Kopf, wann wir einen Menschen als alt ansehen und ihn versteckt oder offen mit dem Etikett „alt“ versehen.

Ein Onkel von mir beispielsweise, ein gebildeter und weit gereister Mann, der charmant und geistreich erzählen konnte, war der Mittelpunkt unserer Familienfeste. Wir mochten ihn, nicht nur wegen seiner finanziellen Großzügigkeit. Seinen Geschichten aus der Kriegsgefangenschaft, von seinen erfundenen oder tatsächlichen Liebschaften und über seine Reisen hörten wir gerne zu.

Heinrich, erzähl doch noch mal jene Geschichte.

Und Onkel Heinrich erzählte. Ich selbst habe seine Geschichten dutzendfach gehört und kenn sie alle. Gelangweilt haben sie mich nie.

Onkel Heinrich ist nun 80 Jahre, geistig auf der Höhe, aber eben doch alt geworden. Er ist nicht mehr so behende, muss schon mal überlegen, was er sagen will, zittert ein wenig mit den Händen. In seiner angestammten Rolle als Erzähler, der sich in der Bewunderung der Familie sonnt, gefällt er sich immer noch. Er ist sich treu geblieben. Wir jedoch lassen ihn nicht mehr den sein, der er war und für den er sich zu Recht halten durfte. Beginnt er eine seiner Geschichten, mit denen wir uns früher gerne unterhalten ließen, gestehen wir ihm einige Minuten zu – aus Anstand und Schonung. Bevor er jedoch richtig in Schwung kommt, bremsen wir ihn:

Sag mal, willst du noch ein Stück Kuchen?

Dann übernehmen mein Schwager und ich die angestammte Rolle von Onkel Heinrich. Er versucht noch einige Male, seine Geschichten an den Mann zu bringen und verabschiedet sich vorzeitig aus unserer Runde mit dem Hinweis, er habe Schmerzen. Sicherlich hätte er die Schmerzen nicht bemerkt, wenn wir ihn hätten erzählen lassen. Onkel Heinrich ist alt geworden und wir nehmen ihn nicht mehr so ernst wie früher. Statt ihm zuzuhören, lenken wir lieber das Gespräch auf seine Gesundheit und werden selbst zum Gesprächsführer und Fragesteller. Statt ihn zum Erzählen zu ermuntern, fragen wir ihn:

Wie geht es dir?

Was sagt dein Arzt?

Meinst du nicht, dass du für dein Alter zu viel isst?

Ist es eigentlich gut, wenn du noch rauchst?

Derartige Fragen habe ich ihm gegenüber früher nicht gestellt. Was gibt mir eigentlich das Recht, nun, da er alt geworden ist, anders mit ihm umzugehen, ihn nicht mehr ernst zu nehmen und ihn dies gelegentlich spüren zu lassen?

Nichts und niemand geben mir dieses Recht. Aber ich tue es, und zwar ungestraft. Übrigens nicht nur bei Onkel Heinrich. Begegne ich einem alten Menschen – wobei es nicht darauf ankommt, ob der Mensch alt ist, sondern ob ich ihn als alt erlebe – scheint er mir unterlegen. Es geht keine Bedrohung und Gefahr von ihm aus, nicht mal eine erotische Spannung, die mich bei jüngeren Menschen auf Distanz hält. Und so nehme ich mir das Recht heraus, diesen Menschen anzufassen, ihn mit dem Stuhl an den Tisch zu rücken, ihm ungefragt Ratschläge zu erteilen oder ihn nach intimen Dingen zu fragen.

Die Veränderungen bei Onkel Heinrichs Erscheinungsbild und bei meinem Verhalten ihm gegenüber haben irgendwann unmerklich begonnen, und sie setzten sich schleichend und fast unauffällig fort, bis sie mir eines Tages unübersehbar wurden.

Da war es schon zu spät. Ich hatte mir längst Onkel Heinrich zum alten Mann gemacht. Wahrscheinlich hat dieser schleichende unmerkliche Prozess, in dessen Verlauf Menschen alt gemacht werden, so auch bei Karin und ihrer Mutter stattgefunden.

Am Anfang sind da kleine Entdeckungen von Altersanzeichen und versteckte Anspielungen. Mit der Zeit werden die Schwächen deutlicher und die Verächtlichmachungen unverhohlener. Wird dann Karin der eingetretene Abbau mit allen Konsequenzen bewusst, beginnt sie mit der Erziehung. Sie nimmt Einfluss auf das Leben der Mutter, respektiert nicht mehr alle Willensäußerungen der Mutter, trifft Entscheidungen für die Mutter und bestimmt, was diese zu tun hat. Die Gründe, die zu dem lenkenden Eingreifen führen, sind oft ein Gemisch aus

• Liebe (Ich will nicht, dass Mutter leidet),

• Fürsorge (Mutter kann es nicht mehr alleine),

• Verpflichtung (Mutter muss geholfen werden),

• Belastung (Wenn ich nichts unternehme, wird der Zustand von Mutter schlimmer, und ich habe die Arbeit),

• Rücksicht (Alles wird für Mutter zu viel),

• Normen (Ich muss etwas tun – was sollen die Leute sagen).

Nun wird möglicherweise Karin auch früher schon Erziehungsphantasien gegenüber ihrer Mutter gehabt haben. Tatsächlich, und das ist der entscheidende Punkt, beginnt sie mit der Erziehung erst, nachdem sie Mutter als alte Frau erlebt. Jetzt, da Mutter nicht mehr im Vollbesitz ihrer Kräfte ist, übt Karin die Rolle einer Erziehenden aus, fängt sie an, ihre Vorstellungen, wie Mutter sein soll, in die Tat umzusetzen. Karin übernimmt die Macht über ihre Mutter und drückt die Mutter in die Rolle des Zöglings, der einsehen soll, dass er der Führung bedarf. Als Zögling hat Frau Schmitz nur noch die Wahl als leicht führbar (pflegeleicht) oder als schwierig zu gelten. Denn einmal in der neuen Rolle, wird das Verhalten des alten Menschen nicht mehr daran gemessen, ob er durchsetzungsfähig oder kompromissbereit ist, ob er sich selbst behaupten kann oder entscheidungsfreudig ist, sondern ob er sich einsichtig, folgsam, willig und umgänglich verhält. Die Eigenschaften des alten Menschen erscheinen durch den Rollenwechsel in einem anderen Licht. Vergesslichkeit, Eigensinn, Beharrlichkeit, Genauigkeit, List gelten nicht länger als Charaktereigenschaften, die man einem Menschen zugesteht oder unter denen man leidet, sondern als Alterserscheinungen, denen es entgegenzutreten gilt.

Als die 75-jährige Frau Schmitz vergisst, die Herdplatte abzustellen, hat diese Vergesslichkeit eine andere Qualität als die Vergesslichkeit bei der 48-jährigen Tochter, die die Kaffeemaschine nicht ausschaltet.

In beiden Fällen ist die Vergesslichkeit ärgerlich, aber bei der Tochter bleibt der Vorfall ohne erzieherische Konsequenzen. Bei der Mutter ist er Anlass genug, sie zu ermahnen und zu kontrollieren. Selbst wenn sich Frau Schmitz im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte befindet und sie sich vornimmt, in Zukunft sorgfältiger auf die Elektrogeräte im Haushalt zu achten, haftet ihr nun der Makel an, nicht mehr hundertprozentig zu funktionieren. Die Tochter wird sich nicht länger vorbehaltlos auf die Fähigkeiten der Mutter verlassen. Sie beginnt, nach der Mutter zu sehen. Bei diesem „Nachsehen“ geraten schnell weitere alltägliche Vergesslichkeiten bei der Mutter in den Blick. Bislang wären sie übersehen worden, jetzt bestätigen sie die Richtigkeit und Notwendigkeit der Überwachung und Kontrolle. Vergesslichkeiten, die früher nicht auffielen, werden zum Anlass genommen, der Mutter mehr und mehr die Verantwortung für sich selbst zu entziehen.

Greift Frau Schmitz zu einer List, um sich der Überwachung durch die Tochter zu entziehen, wird auch dies nicht mehr als normale Reaktion verstanden, sondern als der unverständliche Versuch einer alten Frau, sich vernünftigen Maßnahmen zu entziehen. Die List meines 40-jährigen Kollegen wird dagegen anders gedeutet. Dieser Kollege hatte einen Herzinfarkt erlitten, und er erzählte mir nach dem Kuraufenthalt folgende Geschichte: Rauchen in der Klinik wäre streng verboten gewesen. Hätte man ihn beim Rauchen erwischt, hätte er die Kur abbrechen und die Kosten seiner Krankenkasse erstatten müssen. Da er auf seine Zigarette nicht verzichten konnte, er aber aus verständlichen Gründen auch nicht ertappt werden wollte, setzte er sich beim Rauchen vor die laufende Dusche. Dadurch erzielte er den doppelten Effekt, dass sich zum einen der Rauch rasch verflüchtigte und er zum zweiten darauf bauen konnte, dass niemand sein Zimmer betrat, weil man ihn unter der Dusche vermuten musste. Wir haben beide über den listigen Einfall, mit dem sich mein Kollege dem Erziehungsversuch der Klinik entzog, gelacht.

Man stelle sich vor, mein Kollege würde seine Taktik mit 80 Jahren im Altenheim anwenden. Er würde ganz gewiss nicht mehr als der für sich selbst verantwortliche Erwachsene betrachtet, der sich behauptet. Wahrscheinlich hätte er mit seinem Rauchen vor laufender Dusche den endgültigen Beweis geliefert, dass er noch strenger beaufsichtigt werden muss.

Wenn ich Hausbesuche bei alten Menschen mache, die mit Kindern zusammenleben, redet meistens die Tochter mit mir über Mutter oder Vater. Bitte ich die Tochter, mir die Möglichkeit zu geben, ohne ihre Einmischung mit Mutter oder Vater zu sprechen, reagiert diese mit Unverständnis.

Aussage eines Sozialarbeiters

Erzieherisches Einwirken auf alte Eltern ist in unserer Gesellschaft so selbstverständlich, dass Karin über die Legitimation ihres Handelns nicht nachzudenken braucht. Sie muss niemandem ihre Erziehungsbemühungen begründen, im Gegenteil: Sie erhält für ihr Kümmern um die Mutter Anerkennung und Lob.

Schön, dass Sie sich um Ihre Mutter kümmern.

Die Alten wissen oft nicht, was gut für sie ist.

Alleine käme Ihre Mutter nicht zurecht.

Was würde aus Ihrer Mutter ohne Sie.

Karin versteht ihr Handeln als Fürsorge. Sie fühlt sich für die Mutter, die nicht mehr wie gewohnt funktioniert, verantwortlich. Dabei kippt jedoch die gut gemeinte Fürsorge in eine die Entscheidungsfreiheit der Mutter einschränkende Vorsorge um. Die Fürsorge wird zum „fürsorglichen Zwang“ . Bevormundungen und Demütigungen werden nicht mehr erkannt.

Wie alle Erziehenden hat auch Karin eine Vielzahl von Erziehungszielen im Kopf, von denen einige eher allgemein, andere sehr präzise gehalten sind:

Mutter soll anständig gekleidet auf die Straße gehen.

Mutter soll sich gesund ernähren.

Mutter soll alles vermeiden, was sie krank machen könnte.

Mutter soll geistig fit bleiben.

Mutter soll sozialen Kontakt haben.

Mutter soll sich bewegen.

Mutter soll sich nicht aufregen.

Mutter soll Freude am Leben haben.

Mutter soll sich nicht hängen lassen.

Mutter soll nicht mit ihrem Gebiss spielen.

Mutter soll nicht rauchen.

Damit Karin ihre Ziele erreicht, arbeitet sie mit den aus der Kindererziehung bekannten Mitteln:

• Wörtliche Zuwendung wie Lob, Anweisung, Gebote, Verbote.

• Emotionale Zuwendung wie Liebe, Zärtlichkeit und deren Entzug.

• Arrangements der Umwelt wie Verstecken, Abschließen, Verheimlichen, Vereinbarung von Terminen, Ermöglichung oder Verhinderung von Kontakten.

Karin sieht das alles ganz anders. Sie behauptet, sie wolle ihre Mutter nicht erziehen und sie erziehe ihre Mutter auch nicht. Sie handle zum Wohle der Mutter, und dazu müsse sie sich eben bei der Mutter durchsetzen. Man müsse halt die Mutter gewissermaßen zu ihrem Glück zwingen. Und so sieht es beispielsweise aus, wenn Karin die Mutter zu ihrem Wohle zwingen will, sich zu freuen:

Karin betritt die Wohnung der Mutter und findet die alte Dame im dunklen Wohnzimmer sitzend. Alle Jalousien sind heruntergezogen. Noch bevor Karin die Mutter richtig begrüßt, eilt sie zu den Fenstern, um die Jalousien hochzuziehen.

Siehst du,

sagt sie fröhlich und beschwingt,

jetzt kommt die Sonne herein. Da fühlst du dich doch direkt besser. Na,

packt sie die Mutter an den Schultern und streichelt sie,

besser so? Jetzt mach mal ein anderes Gesicht.

Aber Mutter freut sich nicht. Sie braucht den dunklen Raum, der ihr Schutz und Geborgenheit gibt, in dem sie sich zurückziehen kann. Die Tochter hätte ihr eine Freude bereitet, wenn sie sich zu der Mutter in den dunklen Raum gesetzt hätte. Karin kann sich nicht vorstellen, dass für die Mutter gut ist, was der Tochter nicht gefällt. Die Mutter darf sich nicht hängen lassen und wehleidig werden, die Mutter soll sich freuen. Jammert oder weint Frau Schmitz, wenn die Tochter die Wohnung betritt, heitert Karin sie auf:

Nun freu dich doch, wenn ich komme.

Sonst kann ich auch wieder gehen.