Frédéric Lenoir

Der kleine

Philosoph

Wie Kinder
denken

Aus dem Französischen von Antje Peter

Tropen Sachbuch

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.klett-cotta.de/tropen

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Philosopher et méditer avec les enfants«

© 2016 by Éditions Albin Michel, Paris

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Zero Media GmbH, München

unter Verwendung einer Illustration © FinePic

Autorenportrait auf S. 1: © Eric Garault

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50350-0

E-Book: ISBN 978-3-608-11045-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Die Praxis der Achtsamkeit

Von der buddhistischen Meditation zum Hier und Jetzt

Meditation – eine Gebrauchsanweisung

Die Praxis der Achtsamkeit mit Kindern

Was Kinder und Lehrer dazu sagen

Die Praxis des Philosophierens

In welchem Alter sollte man mit dem Philosophieren beginnen?

Philosophieren mit Kindern: eine kurze Bestandsaufnahme

Die Grundregeln und zehn Empfehlungen

Einige Beispiele

Die Philosophiekurse

Was ist Glück?

Was ist eine Emotion?

Was ist Liebe?

Was ist ein Freund?

Ist der Mensch ein Tier wie andere auch?

Muss man auf Gewalt mit Gewalt antworten?

Was ist der Unterschied zwischen Glauben und Wissen?

Ist es besser, sterblich oder unsterblich zu sein?

Hat das Leben einen Sinn?

Was ist ein erfülltes Leben?

Zwanzig Grundbegriffe auf den Punkt gebracht

DIE LIEBE

DAS GELD

DIE KUNST

DER ANDERE

DIE SCHÖNHEIT

DAS GLÜCK

KÖRPER UND GEIST

DAS BEGEHREN

DIE PFLICHT

DIE EMOTION

DER MENSCH

DIE FREIHEIT

DIE MORAL

DER TOD

DIE RELIGION

DIE GESELLSCHAFT

DIE ZEIT

DIE ARBEIT

DIE WAHRHEIT

DIE GEWALT

Epilog

Danksagungen

Wer jung ist, soll nicht zögern zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh und für keinen zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern.

Epikur, Brief an Menoikeus

Vorwort

»Mama, kaum zu glauben, dass ich siebeneinhalb Jahre warten musste, bevor ich philosophieren konnte!«, ruft Julien, als er von seinem ersten Philosophieunterricht nach Hause kommt.

In diesem Buch möchte ich von dem faszinierenden Abenteuer berichten, das ich mit Hunderten von Grundschülern in der gesamten französischsprachigen Welt erlebt habe: von Paris über Molenbeek bis Montreal, Abidjan, Pézenas, Genf, Mouans-Sartoux, Brando, Fontenay-sous-Bois und Pointe-à-Pitre.

Kinder besitzen eine außergewöhnliche Fähigkeit, die Welt zu hinterfragen, Dinge wissen zu wollen, sich zu begeistern, zu reflektieren, ihre Überlegungen miteinander zu vergleichen – kurzum: zu philosophieren. Wie schon Montaigne empfahl, sollte man den Kindern möglichst früh zu einem »gut funktionierenden« Kopf verhelfen und nicht nur zu einem »gut gefüllten«. Statt vorgefertigte Konzepte zu akzeptieren (was gegenwärtig bis zum Abitur praktiziert wird), könnten die Kinder lernen, unter Einhaltung bestimmter Regeln zu debattieren und einen kritischen Geist zu entfalten. Sie könnten lernen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und eine persönliche Haltung zu entwickeln, die weniger auf Glauben und Meinungen basiert als vielmehr auf rationalen Argumenten. Deshalb bin ich seit langem der Überzeugung, dass man nicht erst kurz vor dem Abitur, sondern bereits in der Grundschule mit dem Philosophieunterricht beginnen sollte. In einzelnen Fällen wird dies übrigens bereits seit Jahrzehnten praktiziert – ich wusste nur nichts davon.

Das Abenteuer begann im Juni 2015, als ich mich mit Catherine Firmenich, Gründerin und Direktorin der Schule La Découverte, in Genf traf. Während einer Konferenz erörterte ich diese Frage, die mich so sehr beschäftigte. Nach meinem Beitrag wandte sich Catherine Firmenich an mich und sagte: »Das gibt es doch schon! Wir veranstalten seit mehreren Jahren Philosophiekurse für Kinder zwischen vier und elf Jahren.«

Vollauf begeistert nahm ich ihre Einladung an, zu Schulbeginn zum Hospitieren zu kommen. So wohnte ich also einem Philosophiekurs für Kinder zwischen sieben und acht Jahren bei, der von der Grundschullehrerin Bernadette Raymond geleitet wurde. Wie die anderen Lehrer der Schule wandte auch Bernadette bei ihrem Unterricht die sogenannte Lipman-Methode an. Sie geht auf den amerikanischen Pädagogen Matthew Lipman zurück, der sich in den siebziger Jahren als erster dafür einsetzte, Kinder in Philosophie zu unterrichten. In der französischsprachigen Welt wurde seine Methode vor allem von Michel Sasseville weiterentwickelt, der als Professor an der Université Laval in Québec lehrt. Die Methode besteht im Wesentlichen darin, die Kinder anzuregen, sich auf der Basis eines Textes eigene Gedanken zu machen und diese dann zu diskutieren. Michel Sasseville bildete dafür persönlich die Lehrer aus. An dem Tag, als ich hospitierte, waren die Kinder gerade dabei, einen Auszug aus der Geschichte von Helen Keller zu durchdenken, die sich, in Folge einer Krankheit blind, stumm und taub geworden, unnütz fühlte. »Warum fühlt sie sich unnütz?«, fragte Bernadette. Es folgte eine lebhafte, aber sehr strukturierte Diskussion, bei der jedes Kind die Hand hob, wenn es etwas sagen wollte, und bei der Argumente durchaus kontrovers abgewogen wurden. Ich war tief beeindruckt. Was ich mir vorgestellt hatte, gab es tatsächlich – und es funktionierte hervorragend.

Ich selbst hätte allerdings keinen Text als Ausgangspunkt genommen. Warum nicht direkt nach sokratischer Manier eine Frage in den Raum stellen wie: »Was bedeutet es, nützlich zu sein?« Ich entschloss mich also, selbst die Initiative zu ergreifen und Philosophiekurse ins Leben zu rufen, bei denen die großen philosophischen Fragen über das Glück, die Liebe, das Leben in der Gemeinschaft, den Sinn des Lebens, den Tod, die Gefühle, die Gerechtigkeit und so weiter diskutiert werden sollten.

Zwei Monate lang bereitete ich mich auf diese Reise mit den kleinen Philosophen vor, indem ich Kontakt zu Lehrern und Direktoren von Schulen in Frankreich, der Schweiz und in Belgien aufnahm. Und da ich ohnehin Reisen nach Guadeloupe, Kanada und an die Elfenbeinküste geplant hatte, beschloss ich, auch an diesen fernen Orten Philosophiekurse durchzuführen, um die kulturelle Vielfalt der französischsprachigen Welt vollkommen auszuschöpfen. Von Januar bis Juni 2016 widmete ich mich ausschließlich diesen Unterrichtsstunden, von denen ich etwa fünfzig an zehn verschiedenen Schulen und in achtzehn Klassen veranstaltete. Mehr als vierhundert Kindern begegnete ich mindestens drei- oder viermal, sodass ich ihre Fortschritte selbst verfolgen konnte.

Noch bevor ich mit den eigentlichen Workshops begann, kam mir eine weitere Idee. Jacques de Coulon, ein Freund von mir, der zur selben Zeit wie ich Philosophie in Fribourg in der Schweiz studiert hatte, setzte vor etwa zwanzig Jahren an einer dortigen Schule eine bahnbrechende Idee in die Tat um und sorgte lange Jahre dafür, dass sie beibehalten wurde: Meditationskurse mit Jugendlichen. Jacques hatte mir davon berichtet, in welchem Ausmaß diese tägliche Praxis in sämtlichen Klassen das Leben der Schüler veränderte. Darüber hinaus wurde übrigens auch das der Lehrer einfacher. Die Meditation, verstanden als eine nicht konfessionsgebundene Praxis der Achtsamkeit, ermöglicht es den Schülern, ihre innere Unruhe auszugleichen und zugleich konzentrierter zu arbeiten.

Da ich selbst seit mehr als dreiunddreißig Jahren diese Form der Meditation des Im-Hier-und-Jetzt-Seins praktiziere, entschied ich mich, den Philosophiekursen jeweils eine kleine Meditationssitzung voranzustellen, damit die Kinder die volle Kapazität ihrer Sinneswahrnehmungen ausschöpfen konnten und lernten, den ununterbrochenen Fluss ihrer Gedanken zu durchbrechen und sich stattdessen ganz auf den Augenblick zu konzentrieren.

Das Ergebnis dieser Kurse übertraf meine Erwartungen. Die Kinder waren begeistert von den Übungen, wie ich später anhand von konkreten Beispielen untermauern werde. Nach zwei oder drei Meditationssitzungen in der Klasse entschieden die meisten der Schüler spontan, sie allein für sich fortzusetzen – meistens, wenn sie in einem emotionalen Erregungszustand, zum Beispiel wütend, waren, und nach Beruhigung suchten. Mehrere Lehrer, die die Wirkung dieser Praxis beeindruckte, entschlossen sich, sie täglich weiterzuführen oder zumindest als Instrument des Zur-Ruhe-Kommens einzusetzen, wenn sie den Eindruck hatten, die Schüler wären aufgeregt und nervlich angespannt.

Es gibt mehrere Gründe dafür, weshalb sich Kinder so außerordentlich für Philosophiekurse interessieren. Zunächst, weil dies der einzige Raum ist, in dem sie frei heraus sagen können, was sie denken, ohne vorgefertigtes Wissen wiederholen zu müssen und ohne beurteilt oder benotet zu werden. Die Lehrer hätten, so sagen sie selbst, erst bei diesen Kursen festgestellt, welchen intellektuellen Scharfsinn der ein oder andere Schüler, der im normalen Unterrichtsalltag kaum aufgefallen war, auf einmal unter Beweis stellte, während sich andere Schüler, die mit Blick auf das konventionelle Lernpensum gute Erfolge erzielten, schwerer damit taten, eine persönliche Meinung zu formulieren, Argumente zu finden und diese zu verteidigen. Zudem lieben es Kinder, die großen existentiellen Fragen der Philosophie zu diskutieren: Was ist Glück, was bedeutet Leben und was Tod, was sind eigentlich Emotionen und Gefühle, wie können wir die Beziehung zu uns selbst und zu anderen beschreiben und dergleichen mehr. Sie bekommen nicht oft die Gelegenheit, über diese Fragen zu sprechen und zu sagen, was sie darüber denken. Und schließlich haben sie ganz einfach Spaß am Austausch von Ideen. Sie gelangen schnell von der bloßen Beschäftigung mit unterschiedlichen Meinungen und Vorstellungen zur Entwicklung eines klaren Gedankens – was voraussetzt, dass man einander zuhört und stichhaltige Argumente sammelt, die zur Weiterentwicklung des gemeinsamen Nachdenkens beitragen.

So kam ich auf die Idee, dieses Buch zu schreiben, um den Erziehern, Eltern und Lehrern zu zeigen, welche positiven Auswirkungen Meditation und philosophische Diskussionen auf die Kinder haben. Tatsächlich sollte die Praxis der Achtsamkeit nicht auf die Schule beschränkt bleiben. Genauso gut kann sie individuell zuhause geübt werden. Viele Kinder meditieren nicht nur weiter, wenn sie sich in ihr Zimmer zurückziehen, einige haben mir erzählt, dass sie die Technik sogar ihren Eltern beigebracht hätten. Und auch philosophische Debatten eignen sich wunderbar für den familiären Rahmen: Man setzt mehrere Kinder zusammen und lässt sie über eine Ausgangsidee oder einen vorgegebenen Text nachdenken.

Dieses Buch ist daher als eine Art Anleitung für philosophisch ausgerichtete Kurse zu verstehen. Um jenen Erziehern zu helfen, die selbst keine philosophische Ausbildung haben, führe ich zahlreiche konkrete Beispiele zu den wichtigsten Themen an. Sie sollen zeigen, wie man eine solche Diskussion leitet, ohne seine persönliche Meinung in den Vordergrund zu stellen, indem man sich auf das stützt, was die Kinder sagen, denn nur so können sich Reflexion und Diskussion fruchtbar entfalten. Am Ende des Buchs finden sich einige praktische Hinweise zu den großen philosophischen Begriffen, die den Lehrern und Erziehern helfen können, die Debatten anzuregen und zu leiten.

Die gesamte Welt der Erziehung befindet sich in einer Umbruchphase. Dabei geht es vor allem um ein besseres Verständnis für die Kreativität der Kinder, ihrer emotionalen Intelligenz, ihres kritischen Geistes und ihrer Verantwortung für die Gemeinschaft. Ich bin dankbar, einen Beitrag zu dieser Entwicklung leisten zu können, denn ich bin davon überzeugt, dass die Erziehung der Kinder Dreh- und Angelpunkt für eine bessere Welt und nicht zuletzt die Voraussetzung für den Kampf gegen jede Art von Fanatismus ist. Dabei geht es in erster Linie darum, die Intelligenz der Kinder und ihr moralisches Bewusstsein zu wecken, sie anzuleiten, ihre Gefühle zu kontrollieren und klare Positionen zu entwickeln, damit sie zu wahrhaftiger innerer Freiheit und Gelassenheit gelangen können.

Die Praxis
der Achtsamkeit

Die Meditation ist eine sehr alte Praxis, die in äußerst unterschiedlichen Formen betrieben wird. Im Westen versteht man darunter vor allem das Nachdenken über eine Idee oder einen Text. »Meditieren« nimmt hier also die Bedeutung einer in die Tiefe gehenden Reflexion über einen konkreten Gegenstand an. Nach der östlichen Weisheitslehre wird eine solche tiefgehende Reflexion ganz anders gedeutet: Hier geht es um eine Tätigkeit des Geistes, durch die ein höherer Verstehens- und Bewusstheitsgrad erreicht werden soll, der schließlich zur Befreiung führt, zu einem Erweckungserlebnis, um nicht mehr Gefangener der Illusionen und Gedanken des eigenen Ich zu sein.

Von der buddhistischen Meditation zum Hier und Jetzt

In der buddhistischen Tradition wurde die Praxis der Meditation als Methode der inneren Befreiung am weitesten entwickelt, erweitert und verfeinert. Ganz grob kann man hier zwei unterschiedliche Formen unterscheiden. Die erste, die Samatha-Meditation, besteht darin, zu innerer Ruhe zu finden und den Geist zu beruhigen, indem wir ihn vom unaufhaltsamen Fluss unserer Gedanken befreien. Die zweite Form, die Vipassana-Meditation, ist darauf ausgerichtet, mithilfe von Visualisierungsintentionen und -übungen den Geist zu befreien und Mitgefühl zu entwickeln. Meist bestehen beide Ebenen gleichzeitig, sobald sich der Meditierende eine spirituelle Praxis erworben hat. Es spricht jedoch nichts dagegen, beide Meditationsformen isoliert zu betrachten und die Meditation ausschließlich als Technik für die mentale und emotionale Beruhigung zu nutzen. Das angestrebte Ziel ist also weniger der spirituelle Schritt auf eine andere Ebene, der am Ende zu einer Befreiung führen soll, sondern vielmehr ein Zustand der Ruhe und Achtsamkeit. Genau diese »Verweltlichung« der buddhistischen Meditation findet seit gut dreißig Jahren in der westlichen Welt statt.

Die wichtigsten Pioniere dieser westlichen Form der Meditation sind Francisco Varela und Jon Kabat-Zinn. Beide Männer, die in den siebziger Jahren mit tibetanischen Zen-Meistern in Kontakt traten, hatten verstanden, wie wichtig die »nicht religiöse« meditative Praxis für die Individuen der modernen Welt ist, die, gefangen im hektischen Alltag ihres Lebens, nicht in der Lage sind, den unaufhaltsamen Fluss ihrer Gedanken und Emotionen zu verarbeiten. Francisco Varela, den ich in den neunziger Jahren während meiner Promotion über den Buddhismus in der westlichen Welt kennenlernte, war ein chilenischer Neurobiologe, der in Harvard studiert hat. Er hat seine Karriere am französischen Centre nationale de la recherche scientifique (Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung, CNRS) begonnen und am Krankenhaus Pitié-Salpêtrière ein Labor für kognitive Neurowissenschaften und Gehirn-MRT geleitet. Als Verfechter der buddhistischen Meditation gründete er 1987 das Mind & Life Institute, das sich um einen Dialog zwischen dem Dalai Lama und hochrangigen Wissenschaftlern zu den Themen Geist und Bewusstsein bemüht. Varela, den man als Vorreiter der Hirnforschung mit Blick auf die Meditation bezeichnen darf, starb 2001. Seine Arbeit wurde weltweit von zahlreichen Forschern fortgesetzt. Unter ihnen befindet sich auch der Franzose Antoine Lutz, der sich nach seiner von Varela betreuten Doktorarbeit über das Bewusstsein dem Thema Meditation aus neurowissenschaftlicher Sicht widmete. Als Forschungsleiter am Institut national de la santé et de la recherche médicale (Nationales Institut für Gesundheit und medizinische Forschung, INSERM) in Lyon und Mitarbeiter der University of Wisconsin in den USA, veröffentlichte er Studien über die Auswirkungen der Meditation auf das Gehirn. Unter seinen vielen Probanden, denen er Elektroden in den Schädel implementierte, befand sich auch der bekannte, aus Frankreich stammende buddhistische Mönch Matthieu Ricard. Varelas Beobachtungen zeigten, dass Menschen, die Meditation praktizieren, über eine größere Fähigkeit zur Aufmerksamkeit und Konzentration verfügen. Darüber hinaus wirkt die Meditation regulierend auf die Emotionen und fördert die Synchronisation der verschiedenen Hirnbereiche.

Viele Mediziner, vor allem Psychiater, interessieren sich seit mehreren Jahrzehnten für die Auswirkungen der Meditation auf die physische und psychische Gesundheit des Menschen. Inzwischen ist es erwiesen, dass regelmäßiges Meditieren bei Angststörungen und Depressionen hilft. Aus demselben Grund interessiert sich auch der amerikanische Mediziner Jon Kabat-Zinn, der als Dozent für Molekularbiologie am Massachusetts Institute of Technology (MIT) tätig war und selbst Anhänger der buddhistischen Meditation ist, seit Ende der siebziger Jahre für die positiven Auswirkungen der ersten Meditationsstufe (mentale Beruhigung durch die Konzentration auf den Körper) hinsichtlich der Bewältigung von Stress und Angst. Er benennt den Begriff Meditation in »mindfulness« um, womit er vor allem die Präsenz im Hier und Jetzt meint, bei der man seine ganze Aufmerksamkeit dem Atem und körperlichen Empfinden widmet. Deshalb benutze ich gern den Begriff der »Achtsamkeitsübung« oder des »Hier und Jetzt«. Im Jahr 1979 entwickelte Kabat-Zinn eine Methode zur Stressreduzierung, die auf der Praxis des Im-Hier-und-Jetzt-Seins basiert: MBSR, Mindfulness Based Stress Reduction.

Meditation – eine Gebrauchsanweisung

Das Prinzip einer solchen Achtsamkeitsübung ist durchaus simpel. Es geht in erster Linie darum, nichts zu hören, sondern einfach nur präsent zu sein, im Hier und Jetzt, im eigenen Körper. Zu diesem Zweck nimmt man am besten eine sitzende Position mit geradem Rücken ein und legt die Hände als geöffnete oder geballte Fäuste auf die Knie. Die Augen sind geschlossen oder halb geöffnet auf den Boden gerichtet. Dann konzentriert man sich auf die Atmung, den Luftstrom, der in Bauch und Lungen hinein und wieder hinaus fließt. Man lässt die Gedanken in ihrem unaufhaltsamen Strom vorbeiziehen. Man betrachtet sie ohne zu urteilen, ohne sich an sie zu heften, ohne sie festhalten zu wollen, um sich stattdessen erneut auf den Atem und die körperlichen Empfindungen zu fokussieren. So gesehen orientiert sich die Praxis des Hier und Jetzt an der Vittoz-Methode, die ich als junger Mann ebenfalls erlernt habe und bei der es um eine Umerziehung zur Achtsamkeit durch sensorische Wahrnehmung geht. Um nicht ständig dem unaufhaltsamen Fluss unserer Gedanken und unserer Vorstellungskraft ausgeliefert zu sein, versuchen wir, uns auf Berührungen, Gerüche, Geräusche zu konzentrieren, damit wir sehen und spüren. Diese Achtsamkeit auf den Körper ermöglicht es dem Geist, zur Ruhe zu kommen.

Die Praxis der Achtsamkeit mit Kindern

Erzieher, Eltern und Lehrer wissen gleichermaßen, dass es Kindern zunehmend schwerfällt, sich zu konzentrieren. Einigen Studien zufolge können sie sich kaum acht Sekunden konzentrieren. Die Meditation als Einübung von Achtsamkeit ist daher für sie äußerst nützlich. Seit etwa fünfzehn Jahren wurden dazu in vielen Kindergärten und Grundschulen Erfahrungen gesammelt. Die niederländische Erzieherin und Therapeutin Eline Snel hat sich in diesem Bereich besonders hervorgetan. Sie bringt seit mehr als zwanzig Jahren Kindern und Jugendlichen bei, wie man meditiert. Sie hat außerdem zahlreiche, auf das jeweilige Alter zugeschnittene praktische Ratgeber verfasst. In den Niederlanden bietet das Bildungsministerium allen Grundschullehrern eine kostenlose Ausbildung auf diesem Gebiet an. Der weltweite Erfolg ihres Buchs Stillsitzen wie ein Frosch hat dafür gesorgt, dass diese Praxis sehr populär geworden ist. Eline Snel engagiert sich nicht nur in den Niederlanden für diese Ausbildung, sondern auch in Frankreich, Belgien, Spanien und sogar in Hongkong. In ihrer Herangehensweise an das Hier und Jetzt empfiehlt sie den Kindern, ihre Hände auf den Bauch zu legen, um so ihre Atmung besser zu spüren – eine gute Idee, obwohl ich glaube, dass man jedes Kind selbst entscheiden lassen sollte, in welcher Position es sich am wohlsten fühlt.

Die Meditationspraxis an Schulen setzt sich in Frankreich langsam in Gestalt zahlreicher einzelner Initiativen durch, nicht zuletzt auch mithilfe von Vereinen, die für eine Vernetzung von Pädagogen und Erziehern sorgen.

Was Kinder und Lehrer dazu sagen

Als ich mich dazu entschloss, die Philosophiekurse mit einer Achtsamkeitsübung zu eröffnen, begann ich in jeder Klasse damit, die Kinder zu fragen, ob sie wüssten, was Meditation sei. Mir war bewusst, dass es an der jeweiligen Schule bislang keine solche Praxis gegeben hatte. Durchschnittlich konnten zwei von fünf Kindern etwas mit dem Begriff anfangen. Manche hatten eine sehr konkrete Vorstellung, andere eine nur vage. Hier ein Eindruck:

MAËL (9 Jahre): Man macht das, um sich auszuruhen und an nichts zu denken.

CHARLIE (9 Jahre): Damit kann man seinen Geist sehen.

ROBIN (11 Jahre, hat bereits Erfahrungen mit seinem Vater gesammelt): Wenn man genervt ist, macht man sich frei und stellt den Gefühlszähler auf null.

CLARA (9 Jahre): Es ist etwas, das beruhigt, man sucht nach Gelassenheit.

OUALI (7 Jahre): Das ist, wenn man etwas macht, das entspannt.

MAROUA (8 Jahre): Das hilft dabei, im Zen zu sein.

PÉNIEL (9 Jahre): Dabei konzentriert man sich auf den Geist, man lässt sich nicht stören.

DONATELLA (10 Jahre): Lernen, sich besser zu konzentrieren.

MARIE (9 Jahre): Es bedeutet, Zeit zu haben, über etwas nachzudenken.

LOUISE (10 Jahre): Man muss atmen und an Sachen denken … also, man soll eigentlich an nichts denken!

MARIUS (9 Jahre): Es ist eine Art Medizin gegen Stress.

ENZO (10 Jahre): Du setzt dich hin, konzentrierst dich und meditierst.

TEXANE (9 Jahre): Wenn du meditierst, vergisst du alles.

NOÉMIE (10 Jahre): Das ist, wenn dein Körper schläft, du aber wach bist.

PÉNÉLOPE (9 Jahre): Dann kann man besser arbeiten.

EVA (10 Jahre): Man wird ruhiger und kann sich entspannen.

Bei den allermeisten Kindern, die eine ungefähre Vorstellung von Meditation haben, entspricht diese der verweltlichten Version von östlicher Meditation, bei der es darum geht, den »Geist freizumachen«, sodass wir uns erholen, konzentrieren und zu innerer Gelassenheit finden können. Nur zwei Kinder haben die westliche Lesart des »über etwas Nachdenkens« ins Spiel gebracht, wobei ein Mädchen sofort zu der Schlussfolgerung gelangte: »Eigentlich soll man an gar nichts denken!« Dies zeigt, dass die Kinder infolge ihrer familiären und kulturellen Prägung mit dem Begriff der Meditation vorrangig jene Praxis der Achtsamkeit verbinden, die zu innerer Ruhe führen soll.

Ich habe die Kinder vor jedem Kurs gebeten, sich gerade auf ihrem Stuhl hinzusetzen, die Füße auf den Boden zu stellen, ohne die Beine übereinanderzuschlagen, die Hände vor sich auf den Tisch oder die Knie zu legen, die Augen zu schließen, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren und ihre Gedanken fließen zu lassen. Die ersten Übungen dauerten zwei bis drei Minuten. Ich konnte beobachten, dass die große Mehrheit der Kinder mitmachte und die Augen bis zuletzt geschlossen hielt, auch wenn fast immer Kinder dabei waren, die zappeliger waren und denen es schwerer fiel, bei der Übung mitzumachen. Aber auch diese Kinder schafften es mehrheitlich nach ein paar Sitzungen, sich fallenzulassen und bis zum Schluss still und konzentriert zu bleiben. So konnte ich die Dauer der Übung auf gute fünf Minuten ausdehnen. Dies fiel mir umso leichter, als mehrere Lehrer, die einigen Meditationsübungen beigewohnt hatten, beschlossen, selbst solche Übungen durchzuführen, auch wenn die Kinder nicht ausdrücklich danach gefragt hatten. So etwa auch Sophie Maire, die an der staatlichen Grundschule Jacques Prévert in Pézenas unterrichtet: