image

image

Copyright © 2018 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

ISBN 978-3-7117-2061-0

eISBN 978-3-7117-5368-7

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at

Stefan Schomann, geboren 1962 in München, studierte Germanistik und ist seit 1988 freier Autor und Journalist. Er schreibt für »Geo«, »Die Zeit«, »Frankfurter Rundschau« und »stern«. Im Picus Verlag erschien 2017 seine Lesereise China. Stefan Schomann lebt in Berlin und Peking.

www.stefanschomann.de

STEFAN SCHOMANN

DAS GLÜCK AUF
ERDEN

REISEN ZU PFERD

PICUS VERLAG WIEN

INHALT

DER BERITTENE BOTE

Aufgalopp im Schwäbischen

DER RITT ANS ENDE DER WELT

Auf Islandpferden über Gletscher und Fjorde

DURCHS WILDE RAJASTHAN

Pferde, Fürsten, Jodhpurhosen

EIN PFERD FÜR ALLE FÄLLE

Auf Haflingern durch Südtirol

ALLE MACHT DER FANTASIA

Das stolze Erbe der Berber

REITEN WIE GOTT IN FRANKREICH

Zu Pferd durchs Limousin

ÜBER DIE BERGE DES BALKAN

Auf Karawanenwegen durch die Albanischen Alpen

DER WILDE FREUND

Streifzüge durch die deutsche Pferdewelt

DAS FATIMA DER PFERDE

Golegã setzt auf Lusitanos

HEIMWEH NACH BEWEGUNG

Unterwegs mit Tieren

VOM WANDERN IM WIND

Tunesien auf die sanfte Tour

JEDER TAG EIN FEST

Hoch zu Ross durch die Vogesen

IN FREIER WILDBAHN

Der Fang der Dülmener Pferde

BELCANTO IM BUSCH

Auf Reitsafari in Südafrika

»DURCH ROCKIES GERITTEN – SEELE GERETTET!«

Im Sattel durch Montana

DIE LETZTEN WILDEN PFERDE

Die Rückkehr der Takhis

DIE MACHT DER BILDER

Die Pferde von Lascaux

REITEN, REITEN, REITEN

Nachwort in eigener Sache

Danksagung

Das Pferd

ist unter den vierfüssigen Thieren das

alleredelste

und allernützlichste.

Weswegen denn auch von ihm

hiesigen Ortes ein mehrers als sonst

soll gemeldet werden.

CONRAD GESSNER,
Allgemeines Thierbuch

DER BERITTENE BOTE

AUFGALOPP IM SCHWÄBISCHEN

Im Sommer 2016 tauchte am Südrand der Schwäbischen Alb ein Zeitreisender auf. Der Ausbau der Ortsumfahrung von Unlingen hatte fünf Keltengräber ans Licht gebracht. Das kostbarste Fundstück, eine Bronzestatuette, war nicht größer als eine Zigarettenschachtel und sorgte doch für eine Sensation: die mutmaßlich älteste Reiterdarstellung nördlich der Alpen. »So etwas findet man nur einmal im Leben«, bekennt Leif Hansen, einer der beteiligten Archäologen. Vor gut zweitausendsiebenhundert Jahren war die Figur einem hochrangigen Mitglied der damaligen Gesellschaft als Eskorte für die letzte Reise beigegeben worden. Und so ritt sie stoisch durch die Zeiten, bis sie schließlich unsanft wachgerüttelt wurde. Ihr Jenseits war das einundzwanzigste Jahrhundert.

Die hohe Stellung des Verstorbenen bescheinigte allein schon das Pferd, das seit alters her für Prestige und Macht steht wie kein anderes Tier. In diesem Fall sogar ein Doppelpferd, dessen beide Köpfe in entgegengesetzte Richtungen schauen. Auf dem walzenförmigen Rumpf sitzt rittlings ein Mann, der als »Unlinger Reiter« in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Anfangs wollten seine Finder ihn, angesichts seiner zierlichen Proportionen, als »Unlinger Reiterle« ansprechen. Doch dann gerieten sie in Sorge, die Volkstümlichkeit des Ausdrucks könnte die Seriosität der Entdeckung beeinträchtigen, und so entfiel der schwäbische Diminutiv, beim Reiterle ebenso wie bei seinen zwei Rössle.

Physiognomisch fallen seine großen Knopfaugen und die mächtige, pyramidenartige Nase auf. Mit seinen überlangen Armen scheint er sich hinter den Ohren des Pferdes festzuhalten. Auch wenn er kerzengerade draufsitzt, dieser Mensch reitet tatsächlich, aus seiner Haltung spricht sowohl Spannung als auch Elastizität. Ein gehöriger Unterschied zu den statuarischen Reiterstandbildern des Mittelalters, bei denen das Pferd oft lediglich als vierbeiniges Podest dient. Auch die beiden Rosse sind sichtlich in Bewegung. Nur dass ihre Unterschenkel abgebrochen sind; die Figur war offenbar auf einem Gefäß oder einer Truhe angebracht gewesen, womöglich gar auf der Urne.

Betrachtet man den Reiter in der Vitrine des Heuneburgmuseums, so trägt er einen gelassenen, gesammelten Gesichtsausdruck zur Schau. Als sänne er darüber nach, wohin die Reise führen könnte. Doch ähnlich einer Kippfigur offenbart er bei näherem Hinsehen zwei Gesichter. Das zweite kam im Computertomografen zum Vorschein. Auf dem Bildschirm lässt sich das Konterfei beliebig drehen und wenden. Und so suchten die Konservatoren seine Schokoladenseite aus, rückten sie ins rechte Licht, glichen mittlerweile die Korrosionsverluste aus und erstellten schließlich im 3-D-Drucker ein optimiertes Abbild des Originals. Und in dieser Version lacht der Kerl übers ganze Gesicht. Es ist das quietschvergnügte Gesicht eines Mannes, der drauf und dran ist, einen Juchzer auszustoßen. Ein Augenblick des Glücks, eingefangen für die Ewigkeit.

Unlingen liegt am Fuß des Bussen, der als Oberschwabens »heiliger Berg« gilt. Die nahe Heuneburg bildete die wichtigste Metropole der Kelten. Als Reiter waren sie bis dahin ebenso wenig in Erscheinung getreten wie die benachbarten Germanen. Anders die griechische Welt sowie der etruskisch-italische Kulturraum, mit denen die Heuneburger in Verbindung standen. Dort kannte man solche Darstellungen, doch auch sie waren nur wenig älter und dünn gesät. Pferde stellten Luxusgeschöpfe dar, kostbare Attribute für Feldherren und Fürsten, die Prestigetiere schlechthin. Ihre Haltung erforderte beträchtliche Mittel, vor allem aber gehörige Kompetenz, die damals nicht allzu weit verbreitet war. Alexander ritt auf Bucephalus, doch seine Armee marschierte überwiegend zu Fuß. Seine Kavallerie bestand zunächst aus wenigen Hundert Reitern, erst durch orientalische Hilfsvölker wie die Baktrier vermochte er sie aufzustocken. Lange erwarben die Griechen ihre Pferde im Tausch von Fachleuten, denen nicht nur die entsprechende Erfahrung zu Gebote stand, sondern auch der passende Lebensraum – jenen Reitervölkern aus der Steppe, für die sich die Bezeichnung »Skythen« eingebürgert hat.

Der Unlinger Fund darf als das bislang älteste Zeugnis reiterlicher Kultur im deutschsprachigen Raum gelten, als Vorreiter einer beispiellosen Entwicklung der Partnerschaft von Mensch und Pferd. Wenn das vorliegende Buch auch vor allem vom Reisen hoch zu Ross handelt – das wechselseitige Abenteuer der Domestikation lässt sich selbst als eine lange, immer noch andauernde Reise beschreiben. Dass ein wildes Tier, noch dazu ein derart großes und starkes, sich für unsere Bedürfnisse dienstbar machen lässt, erstaunt uns bis heute. Noch bei jedem Aufsitzen scheint etwas vom Wunder der Zähmung auf. Die alten Völker feierten diese revolutionäre Verbindung in ihren Kulten und Mythen. Einmal gefügig gemacht, ließ es sich vielfältig einspannen: als Milch- und Fleischlieferant, als Zug-, Last- und Reittier. Die Fohlen dienten als Spielkameraden für die Kinder; möglich, dass Kinder so das Reiten überhaupt erfunden haben. Bei Bauernvölkern kam Equus caballus als eine Art von Bio-Maschine zum Einsatz, die unermüdlich pflügte, schleppte und zog. Hirten gestattete es die Kontrolle ihrer Herden. Es ermöglichte Handelskarawanen, Forschungsreisen, Hilfsexpeditionen und Kurierdienste. Auch für Kriege und Raubzüge eignete es sich hervorragend und beeinflusste so den Lauf der Geschichte, von der Völkerwanderung bis zu den unaufhaltbaren Vorstößen der Mongolen, von der Ausbreitung des Islam bis zur Eroberung der Neuen Welt. »Nächst Gott verdanken wir den Sieg den Pferden«, bekannte Hernán Cortés.

Bis zur Erfindung von Dampfmaschine und Eisenbahn war das Pferd der wichtigste Dynamo der Zivilisation. Spätestens mit dem Aufkommen des Automobils freilich schien es endgültig obsolet – das Arbeitstier par excellence wurde arbeitslos. Es verschwand aus der Stadt wie aus der Landschaft, kam allenfalls noch in unwegsamem Gelände und in unterentwickelten Regionen zum Einsatz. Die Mangelwirtschaft des Zweiten Weltkriegs bescherte ihm dann noch einmal eine tragische Renaissance. Erinnert sei an die endlosen Nachschubkolonnen, die die deutsche Invasion Osteuropas sichern sollten, und an die bald folgenden Flüchtlingstrecks gen Westen. Oder auch an den epischen Ritt der Gräfin Dönhoff von Masuren bis Westfalen. Doch spätestens Mitte der fünfziger Jahre waren Pferde, wie es schien, ein für alle Mal passé.

Eine Generation später aber trat eine überraschende Wendung ein. Ausgerechnet in den hochindustrialisierten Ländern feierten sie ein machtvolles Comeback: als Seelentiere, Sportgeräte und Freizeitgeschöpfe, als Kind- oder Partnerersatz, als Renommierobjekte und Reisegefährten. Diese Entwicklung ist auch deshalb bemerkenswert, weil darin frühgeschichtliche Impulse fröhliche Urständ feiern. Ob bei der Wiederentdeckung rustikaler Pferderassen, beim Siegeszug der Pferdeflüsterer als neuzeitliche Schamanen, bei der Popularität der Westernreiterei oder bei der Karriere der Pferde in Folklore, Werbung und Tourismus – die Sehnsucht reitet immer mit. Wir fahren im Auto zur Arbeit, doch geheiratet wird in der Kutsche. Das Pferd repräsentiert ein Stück heiler Welt, verheißt Versöhnung von Natur und Moderne. Eines der stärksten Symbole für Freiheit überhaupt, verkörpert es das Animalische in gebändigter Form. Und gemahnt uns damit an unsere eigene, immer stärker domestizierte Natur. Erschöpft von der Last der Zivilisation, möchten wir wenigstens die Pferde wieder bodenständig und ungezügelt sehen. Wir sind auf dem besten Weg, erneut in ihren Bann zu geraten, gar nicht so viel anders als jene Steppenwanderer, die einst den wilden Herden nachblickten und wünschten, sie könnten ihnen folgen.

Und so erlebt denn auch das Wanderreiten eine Renaissance: Vom Bodensee bis zum Stettiner Haff bieten immer mehr Höfe nicht nur kurze Ausritte, sondern ausgewachsene Touren an. In aller Welt erfüllen sich Menschen den Traum vom großen Treck; von einigen der schönsten erzählt dieses Buch. Gut die Hälfte der Geschichten handeln von solchen Reisen zu Pferd. Andere berichten von Reisen zum Pferd, insofern ich dort allenfalls stundenweise selbst geritten bin, die Recherche jedoch ganz der jeweiligen Pferdewelt galt. Auch zwei Trekkingtouren habe ich mit aufgenommen, teilweise mit Maultieren. Denn die Nutzung als Zug- und Tragtier ist kulturhistorisch älter, Schlitten und Packtaschen gingen dem Sattel voraus. Dass dabei bodenständige Rassen im Mittelpunkt stehen, kommt nicht von ungefähr. In traditionellen Pferdekulturen kennen die Tiere keine Reithalle und kein Zuchtbuch, auch kaum Zäune oder Tierarzt, oft noch nicht mal einen Stall. Ihre robuste und pragmatische Haltung bildet ein Gegengewicht zur Verhätschelung und Vermenschlichung der Tiere in der Freizeitgesellschaft. Prompt stehen diese Rassen heute wieder hoch im Kurs, als ein Fleisch gewordenes »Zurück zur Natur«, weg von den hochgezüchteten und hochkapitalisierten Renn- und Springpferden, weg von der inzestuösen Aristokratie der Vollblüter.

Was wohl der Reiter von Unlingen zu alldem sagen würde? Er wäre sicher erfreut zu sehen, dass rund um den Bussen überall Koppeln und Stallungen liegen, dass das Turnierwesen blüht, dass Pferde dort noch zum Holzrücken im Wald eingesetzt werden und Gespannfahrer an der Heuneburg ihre Runden drehen. Nicht zu reden von der Landeshauptstadt, der ein Stutengarten den Namen gab. Das könnte freilich noch bloße Koinzidenz sein. Aber dass darüber hinaus hier auch die größte Reiterprozession Europas stattfindet, der Blutritt um die Abtei Weingarten, das erscheint doch als ein etwas seltsamer Zufall. Zumal die zweitgrößte Prozession durchs benachbarte Bad Wurzach zieht. Wenn da kein keltisches Erbe wirksam ist …

Hingegen dürfte es ihn überraschen, dass das einst hochherrschaftliche Pferd heute Gemeingut geworden ist. Dass eine staunenswerte Fülle an Rassen, Reitstilen und Nutzungsformen besteht und dass die Qualität der Tiere sowohl in der Breite wie in der Spitze so hoch ist wie noch nie. Sie werden auch umhegt wie nie zuvor, sodass man beinah glauben könnte, die Pferde hätten umgekehrt uns als Domestiken in ihre Dienste gestellt. Vermutlich kämen also wiederum beide Gesichter des Unlinger Reiters zum Vorschein: zunächst das ernste, versonnene. Und dann das andere, das vor Freude strahlt.

DER RITT ANS ENDE DER WELT

AUF ISLANDPFERDEN ÜBER GLETSCHER UND FJORDE

Ein Gewitter galoppiert auf den Kaldalón-Fjord zu. Achtzig Hufe donnern über den Fahrweg, setzen über den klirrenden, rasselnden, prasselnden Kieselstrand, pflatschen durch die bei Ebbe entblößten Tangwiesen, und schon geht es mitten hinein in die eisigen Fluten, mit Ross und Reiter, mit Sack und Pack. Vorwärts durch die nur für wenige Stunden bestehende Furt, vorwärts, auch wenn es rauscht und spritzt wie bei einer Wasserschlacht, vorwärts, aufs ferne, schmale Ufer zu.

Von alters her nehmen die Reiter entlang der zerfurchten Küste solche Abkürzungen und sparen so oft viele Stunden. Der Fjord wird von umbrabraunen Basaltwänden eingefasst, an denen selbst jetzt im Juli noch Schneekissen glänzen. Hoch droben lastet der Drangajökull als eisgraue Schabracke über dem Bergrücken, ein Gletscher von der Größe Hannovers, der nach allen Seiten hin herunterläuft wie Zuckerguss. Sieben Tage lang wollen wir ihn umreiten, bevor wir ihn am achten überqueren, um zurück nach Laugaland (sprich: Läugaland) zu gelangen, dem Hof unseres Führers þórður (sprich: Thordur) Halldórsson. Für uns ein Abenteuer, der vermutlich einzige Gletscherritt weltweit. Für þórður hingegen der gewohnte Weg von Laugaland nach Strandir, die seit Jahrhunderten genutzte Verbindung an die Ostküste, auf der Pferde früher kostbares Treibholz über den Berg zogen, manchmal auch Särge oder ganze Ruderboote, weil das immer noch einfacher war als die gefahrvolle Umrundung der Halbinsel. Noch zu Zeiten von þórðurs Großmutter war Laugaland Teil eines Siedlungsnetzwerks rund um den Drangajökull. In fast jeder Bucht hauste eine Familie oder auch ein ganzer Clan. Sie lebten vom Fischfang, zogen etwas Gemüse und hielten ein paar Rinder, Pferde und Schafe. In den fünfziger Jahren aber entvölkerte sich die Region, und heute bildet Laugaland den vorletzten Außenposten vor dem Polarkreis.

Die Schafzucht war lange das wichtigste Standbein der Familie. »Die Gegend eignet sich bestens dafür«, erklärt þórður. »Wir hatten einmal einen Botaniker hier. Der meinte, wenn er ein Schaf wäre, würde er am liebsten bei uns leben.« Doch davon allein kann die Familie schon länger nicht mehr existieren, sodass þórður sich, ganz isländischer Tausendsassa, auch als Schulbusfahrer und Postbote betätigt. Zweimal im Jahr aber zieht er mit Freunden und ein paar zahlenden Gästen durch die Wildnis. Es ist Islands letzter Treck im alten Stil, ohne Trossfahrzeug also. Wir bilden ein munteres Häuflein: zwölf Pferdenarren und -närrinen aus Island, Kanada, Holland und Deutschland. Neben unseren eigenen Kraftpaketen gilt es auch noch drei Pack- und fünf Ersatzpferde im Zaum zu halten. Denn was den Isländern vermeintlich fehlt, besitzen ihre Reittiere im Übermaß: Feuer. Sie gelten als die spritzigsten und zugleich ausdauerndsten Pferde Europas.

Und für ihre Liebhaber selbstverständlich als die schönsten. Farblich gibt es sie in allen Schattierungen, dennoch bilden sie eine der reinsten Rassen der Welt. Seit tausend Jahren schon gilt hier ein Importverbot für Pferde. Die Stammpopulation rekrutierte sich aus skandinavischen Fjordpferden, zu denen sich auch noch Ponys von den britischen Inseln gesellten, die damals weitgehend dem Exmoor-Typ entsprachen. Als echte Wikinger bilden ihre Nachfahren lebende Zeugen des Mittelalters, vergleichbar der isländischen Sprache, die sich ebenfalls unvermischt erhalten hat. Sie kennt übrigens gut vierzig Ausdrücke für »Pferd«, die Hälfte davon abwertend. Dessen ungeachtet entwickelten die Inselpferde sich in den letzten Jahrzehnten zum Exportschlager. Dazu hat auch ihr umgängliches Wesen beigetragen, das Kumpelhafte und Unverwüstliche, das ihnen eigen ist. Sie haben nicht nur Island erobert, sondern auch die Herzen der Menschen. Gerade im deutschsprachigen Raum fand dieser Mythos auf vier Beinen eine begeisterte Gefolgschaft, spätestens seit den Immenhof-Filmen.

Ohne Reit- und Tragtiere wäre die Besiedelung der unwirtlichen Insel unmöglich gewesen. Die Höfe liegen zu weit auseinander, als dass man von einem zum anderen gehen könnte. Auch die Steinwüsten des Landesinneren sind zu weitläufig, als dass sie sich zu Fuß durchqueren ließen. Vom Hochland rauschen zahllose Gletscherflüsse herab, und doch gab es bis vor hundert Jahren keine Brücken auf Island. Wer solche Pferde hat, der braucht auch keine. Unerschrocken durchqueren sie Fjorde und Flüsse, umrunden Klippen in der Brandung und nutzen in sumpfigen Tälern die Bäche als Wege. Zäune und Tierärzte kennen sie allenfalls flüchtig, dafür verschmähen sie weder Seetang noch Salzheringe und laufen mit Spikes sogar auf Eis. Sie haben, wie Nationaldichter Halldór Laxness befand, »Wind in den Nerven«, dazu eine unwiderstehliche Physiognomie. Laxness: »In den schräg stehenden Augen verbirgt sich ein Wissen, das den Menschen nicht gegeben ist, etwas vom Spott der Abgötter, und um Nüstern und Maul ein Lächeln, das kein Filmvamp nachahmen kann.«

Gerade die geografische Isolation, in vieler Hinsicht ein Standortnachteil, ließ hier eine einzigartige Pferderasse entstehen und unvermischt erhalten bleiben. Was Island heute sehr zugute kommt. Zucht und Ausfuhr der begehrten Pferde sind für viele Bauern zum lukrativen Nebengeschäft geworden. Und der Tourismus, der neben der Fischerei wichtigste Wirtschaftszweig der Insel, wäre ohne diese Zugpferde weit weniger ausgeprägt. Weltweit leben heute etwa zweihunderttausend davon, fast so viele, wie Island Einwohner hat. Mit siebzigtausend stellt Deutschland, nach Island, das zweitwichtigste Zuchtland dar. Jedes einzelne dieser Pferde fungiert als Sonderbotschafter seiner Kultur, verkörpert alle Wildheit und Romantik dieser Insel. Bis in die fünfziger Jahre waren sie außerhalb von Reykjavík oft die einzigen Verkehrsmittel, und noch heute führt jede Tankstelle auf dem Land selbstverständlich auch Hufeisen.

Kaum eine Region bietet eine derartige landschaftliche Vielfalt wie die Westfjorde, dieser korallenförmig in Richtung Grönland vorstoßende Auswuchs. Kaum eine Region aber ist zugleich derart abgeschieden. Hier liegt Islands Island – das Ende vom Ende der Welt. Dennoch siedelten Menschen auch hier seit Jahrhunderten. Sie hatten es schwerer als anderswo, aber sie hielten stand. Anfang der sechziger Jahre jedoch zogen auch die Letzten fort. Weil niemand ihre Höfe kaufen wollte, blieben sie in Familienbesitz, sodass die Kinder und Enkel sie heute als Sommerdomizile nutzen. þórður hat noch einen Nachbarn auf der anderen Seite des Trogtals, der nächste aber lebt dann schon sechzig Kilometer entfernt. Nach Ísafjörður, der einzigen Kleinstadt in den Westfjorden, sind es drei Stunden Fahrt.

Wir erreichen schließlich unseren Rastplatz am Hauptfjord, einem glitzernden Meeresarm, fast so weit und mächtig wie der Genfer See. Auf einer vorgelagerten Bilderbuchinsel kauert ein Gehöft – das i-Tüpfelchen der Einsamkeit. Ob die Menschen dort draußen glücklich sind? Auf einer sumpfigen Wiese stecken wir den Zaun für die Pferde ab. Während sie hier übernachten, kehren wir nach diesem Prolog per Auto nach Laugaland zurück. Letzte Gelegenheit, die Ausrüstung zu vervollständigen – und Lammkeule mit Rhabarber zu vertilgen.

Am nächsten Morgen wirkt der Himmel wie abgehängt: bleigraue Wolken, stahlblaue See. Wie ein träges, launisches Fabeltier liegt der Drangajökull über dem Bergrücken, eisgrau und ungeheuerlich. Ein kalter Hauch streicht die Hänge hinunter zum Meer. Bleibt mir vom Leib, scheint der Gletscher zu sagen, hier endet eure Welt. Doch sobald wir wieder bei den Pferden anlangen, sie aufzäumen und beladen, verfliegt alle Düsternis. Schon der Name meiner Goldfüchsin klingt programmatisch: Sunna, die Sonnige. Ihr Ego ist entsprechend ausgeprägt. Ebenso jene zusätzliche Gangart, für die Islands Pferde berühmt sind: der Tölt. Ein kraftvolles, rhythmisches Trippeln, der Viertakt des Nordens. Vom Boden aus wirkt er etwas grotesk, für den Reiter jedoch stellt er die bequemste Gangart dar. Ein volles Bierglas, heißt es, könne man dabei halten, ohne einen Tropfen zu verschütten. Vorerst bin ich schon froh, dass ich mich selber halten kann, wenn Sunna in stürmischem Stakkato über Mooskissen und Lavafelder töltet. Es gibt auch noch einen fünften Gang, den Rennpass, bei dem die Pferde abgehen wie die geölten Blitze. Doch dafür waren die Strände nicht lang oder mein Mut nicht groß genug.

Einige der jungen mitlaufenden Pferde haben noch nie einen Sattel, geschweige denn einen Menschen getragen. Dieser Ritt ist Teil ihrer Ausbildung. Sie sollen lernen, sich in die Gemeinschaft einzufügen und auch in schwierigem Gelände mit den erfahrenen Tieren mitzuhalten. Auf Island führen Reiter häufig ein Handpferd am Führstrick mit sich, so können sie gleichzeitig zwei Pferde in allen Gangarten trainieren. Dem Herdenverband folgen die Novizen auch ohne Führstrick. Schon der bloße Anblick dieses stattlichen Trecks lässt unsere Herzen höher schlagen. Die Tiere wirken nicht als Fremdkörper, sondern als Bestandteil, ja als Schmuck der Landschaft. Mit Hahnenfuß und Wollgras gesprenkelte Wiesen säumen den Fjord, stechend grüne Moose die vielen Rinnsale. Gegen Mittag beginnt auch der Himmel zu triefen, wir reiten durch ein kolossales Aquarell. Aber wollten wir nicht eben das: es gut gerüstet mit den Elementen aufnehmen?

Warum wird uns dennoch heimelig zumute, als wir in der Ferne ein Haus ausmachen? Doch es erweist sich als eine Bruchbude voller Schutt und Plunder. Zerschlissene Tischtücher und leere Bettgestelle künden von längst vergangener Behaglichkeit, in der Anrichte klebt ein Vogelnest. Einige Teilnehmer wollen die Nacht in diesem Geisterhaus verbringen, für die übrigen richtet þórður nebenan das große Tipi auf. Ein Zelt, wie es die Samen, die Ureinwohner Lapplands, seit Tausenden von Jahren im hohen Norden benutzen. Rund um den Kanonenofen, der mit feuchtem Treibholz vor sich hin qualmt, rollen wir sternförmig unsere Schlafsäcke aus. Bald baumeln Socken, Stiefel und Reithosen zum Trocknen im Gestänge. Das schmauchende Zelt, die vermummten Berge, die grasende Herde – ein Bild des Friedens. Das Geflüster des Regens lullt uns schließlich in den Schlaf.

Ein paar zeternde Raben übernehmen den Weckdienst. Erst jetzt sehen wir bis ans gegenüberliegende Ufer, wo eine ganze Schar scharfkantiger Tafelberge im Sonnenschein erstrahlt. Bald wallt der Haferbrei im Kessel, die Espressokanne faucht. Gemächlich packen wir unsere Siebensachen, þórður und seine Helfer justieren die Kisten auf den Rücken der Lasttiere. Zunächst trotten wir am Strand entlang, steigen dann im Gänsemarsch hinauf auf ein kahles, windgepeitschtes Plateau, das allein von den Steinmännchen entlang des Weges bevölkert wird. Einige der Pfade hier oben finden schon in der »Edda« Erwähnung. Würden þórðurs Treck und ein paar wackere Wanderer sie nicht benützen, sie fielen der Vergessenheit anheim. Stoisch ziehen wir dahin, wo es gar zu steil wird, sitzen wir ab. In den Pausen weiß þórður allerhand Geschichten zu erzählen, die sämtlich eins gemeinsam haben: Sie gehen schlecht aus. Wie die vom Briefträger, der hier mitsamt seinem Pferd durch eine Schneewechte ins Meer stürzte. Oder die von den gestrandeten spanischen Walfängern, die einst von den Eingeborenen erschlagen wurden. Oder die vom einarmigen kommunistischen Bergführer, der nach einem Sturz lieber sein Leben aufs Spiel setzte, als sich von amerikanischen Soldaten retten zu lassen.

Schließlich öffnet sich der Blick auf eine geschützte Bucht, in der wie hingewürfelt ein paar Häuschen stehen. Kaffeeduft und Schmalzgebäck erwarten uns, und mit frohen, glühenden Gesichtern lauschen wir dann der Saga der Jóhannessons. Vor achthundert Jahren, erzählt Friðrik, sei das Land um die Bucht urbar gemacht worden, und noch 1940 hätten hundert Menschen hier gelebt. Hart und einsam sei ihr Leben gewesen. Fischfang und Schafzucht hätten sie zwar ernährt, doch ihr einziger Reichtum seien die Kinder geblieben. »Solange alle zusammenhielten, vermochten sie sich zu behaupten. Doch als die Ersten gingen, löste das Netz sich auf.« Auch seine Eltern wanderten ab nach Ísafjörður, wo aus den Kindern Seeleute, Pflegerinnen und Beamte wurden. Seither nutzen sie den Hof als Sommerhaus. »Die Kindheit wirkt wie eine Droge«, bekennt Friðrik träumerisch, »davon kommt man nicht los.«

Damals kam häufig noch Pferdefleisch auf den Tisch, »es war praktisch Grundnahrungsmittel«. Diese Art der Nutzung ist so alt wie die Besiedelung der Insel, und bis heute gilt Fohlenfleisch vielen Isländern als das beste Fleisch überhaupt. Ein reines Naturprodukt. Es wird entweder frisch gebraten oder eingepökelt, dazu gibt es meist Kartoffeln.

Doch an so etwas denken wir natürlich nicht. Uns dienen die Pferde als Medien, um eine Freiheit zu erfahren, die so in Mitteleuropa längst nicht mehr zu finden ist. Dabei galt es einst als Strafe, hier leben zu müssen. Davon kündet das einsame Grab eines Geächteten, das wir am nächsten Fjord passieren, ein weißes Kreuz für einen Vogelfreien, mit einem kleinen Felsbrocken als Grabstein. Einen letzten Bergrücken haben wir noch zu überwinden, bevor wir schließlich vor einem weiteren Puppenhäuschen absitzen. þórður zaubert einen Schlüssel hervor – es ist unser.

Über Nacht zieht dann echt isländisches Rheumawetter auf: Sprühregen wie aus tausend Sprinklerdüsen, böiger Wind, schwarze Wolkenbäusche über den Bergen. Am Morgen ziehen wir alles an, was wir bei uns führen, stülpen sogar Plastiktüten über die Socken. Denn beim Durchqueren der Flüsse und dem Umreiten der Klippen reicht uns das Wasser oft bis an die Waden.

Mal am Spülsaum entlang, mal über Pässe und Grate, kämpfen wir uns durch eine Landschaft von brachialer Wildheit. Die Ankunft der Wikinger scheint hier erst noch bevorzustehen. Entsprechend heroisch wird uns zumute. Die nordische Mythologie ist bekanntlich voll von Heldengestalten. Nicht alle haben eine Frau, doch jeder von ihnen hat ein Pferd. Was wäre Sigurd ohne Grani, Odin ohne Sleipnir? Selbst die Sonne käme nicht vom Fleck, zögen nicht »Frühwach« und »Allgeschwind« ihren Wagen. Versteht sich, dass hier auch der Tod und die Geister beritten sind. Weshalb die alten Recken darauf bestanden, mit ihren Pferden bestattet zu werden, um nicht zu Fuß ins Jenseits eingehen zu müssen. Die Luftrösser der Walküren beflügelten Richard Wagner zum berühmtesten Ritt der Musikgeschichte (»Roßweiße, Schwester, leih mir deinen Renner!«). Selbst die Elfen halten sich Pferde: Elfenpferde. Weniger zum Reiten, eher als Gefährten.

Als eine der letzten Weltgegenden überhaupt wurde Island vor gut elfhundert Jahren vom Menschen in Besitz genommen. Und zwar, als einziges Land Europas, nicht zu Fuß, sondern von Anfang an zu Pferd. Die Sagas nennen sogar den Namen des ersten Tieres: »Zu jener Zeit kam ein Schiff in den Skagafjord, beladen mit Haustieren. Eine Jungstute sprang über Bord und schwamm ans Ufer. Sie wurde Fluga genannt.« Fluga heißt Fliege. Von Beginn der Landnahme an waren die Nordmänner derart eng mit ihren Tieren verbunden wie sonst nur die Reitervölker Zentralasiens. Pferde hielten die Nation zusammen. þingvellir (sprich: Thingvetlir), das erste Parlament Europas, hätte ohne sie nie funktioniert. Sternförmig ritten die Männer von allen Ecken der Insel zum Alþing (sprich: Althing), um Recht zu sprechen und über ihre Geschicke abzustimmen. Eine der ersten Verfügungen betraf die Reinerhaltung der Pferde. Selbst nach Grönland nahmen die Isländer sie mit; womöglich sogar bis nach Nordamerika. Auch in der Volkspoesie und in den Gesängen der Barden nehmen sie eine prominente Stellung ein.

»Für uns Bauern sind sie bis heute unverzichtbar«, erklärt þórður. »Besonders beim Schafabtrieb im Herbst.« Spätestens im Juni lassen die Viehzüchter ihre Schafe ins Hochland laufen, wo diese den ganzen Sommer lang sich selbst überlassen bleiben. Die Lämmer haben nach der Geburt gerade mal für eine Woche Kontakt zu Menschen, dann ziehen sie mit der Herde in die Berge. Der Schafabtrieb im September gestaltet sich dann als eine generalstabsmäßige Unternehmung. Obwohl Hütehunde sie unterstützen, haben die Treiber ihre liebe Not mit den versierten Schafen, die ihnen immer wieder entwischen. Diese Arbeit wäre ohne Pferde undurchführbar. Bei Dúna und Þórður packen dabei Nachbarn, Verwandte und sogar Freunde aus der fernen Hauptstadt als Aushilfshirten mit an.

Alles, was kein Schneesturm ist, gilt auf Island noch als gutes Wetter. Dickfellig trotten unsere Pferde durch Wind und Regen. Die ja aus ihrer Sicht auch Vorteile bieten: Der Boden ist weich, und sie müssen weder Staub noch Fliegen oder Mücken abschütteln. Uns jedoch setzen die Elemente heftig zu. Früher oder später schlägt jeder irgendwo leck. Und die Aussicht, am Ende im pitschnassen Gras das Zelt aufzurichten, die triefenden Klamotten in den Rauchfang zu hängen, nur um am Morgen erneut hinaus in den Regen zu müssen, diese Aussicht lässt uns fast verzagen.

Erschöpft langen wir nach sechs Stunden in Furufjörður an. Und dort geschieht ein Wunder: Der Sommersitz ist bewohnt, und die Großfamilie gewährt uns schlammbespritzten, schlotternden Gestalten ohne viel Aufhebens Obdach. Verständlich, dass wir uns am nächsten Morgen noch mehr Zeit lassen als sonst. Denn davon haben wir reichlich. Die Mittsommertage hier oben, sie beginnen und sie enden nicht, sie gehen nahtlos ineinander über. Die Nacht bildet nur eine vorübergehende Eintrübung, während der eine schlaflose Sonne den Horizont touchiert. Weiter südlich bringen die Bauern um Mitternacht noch das Heu ein.

Eine dreihundert Meter hohe Wand versperrt uns den Weg, doch irgendwie erklimmen wir auch sie. »Wir werden steile und weniger steile Berge hinaufreiten, aber dann auch wieder hinunter«, hatte þórður vorab lakonisch erklärt. »Zwischendurch müssen wir die Pferde über längere Passagen führen. Das Ganze ist sehr gesund, sowohl für die Tiere als auch für die Menschen.« Oben auf der Hochfläche weiden wir uns dann am Rundblick über die tiefblauen Fjorde und den gleißenden Schild des Gletschers. Wie ein Glasauge glänzt ein Bergsee in einer Senke. Dem gleichen Wind zu trotzen, den gleichen Matsch zu durchwaten, das stärkt die Bindung zwischen Mensch und Tier. So wie sie unser Leben teilen, so werden wir in ihre merkwürdig missgünstige Pferdewelt einbezogen. Wie alle anderen besitzt auch Sunna feste Vorstellungen, wer vor und wer hinter ihr zu gehen hat. Noch auf den schmalsten Pfaden herrscht ein ständiges Gerangel. Während þórður an der Spitze seine ganze Autorität einsetzen muss, damit die Lasttiere nicht über alle Berge rennen, reiten zwei seiner Freunde als Lumpensammler hinterdrein, um die Ersatzpferde auf Trab zu halten.

In Reykjafjörður gönnen wir uns dann einen Ruhetag. Gönnen uns vor allem ein Bad in dem riesigen, von heißen Quellen gespeisten Freibecken, bevor wir in ein seliges Koma verfallen. Die Faulheit der Pferde scheint ebenso ansteckend wie ihre Gefräßigkeit: Wir futtern Ragnar Jakobsson und seiner Sippe die halbe Speisekammer leer. Gut, dass das Versorgungsboot bald wieder anlegt. Es wird auch Reykjafjörðurs einzige Erzeugnisse mitnehmen: Bretter. Die Fjorde hier wirken wie ein riesiger Rechen, der Treibholz aus dem Nordatlantik fischt. Was Sibiriens Ströme ins Meer schwemmen, dient hier seit alters her zum Haus- und Bootsbau. Bald sechzig Jahre schon betreibt der alte Ragnar ein Sägewerk, das er uns fachmännisch vorführt. Stolz spreizt er dabei die Finger: »Sind alle noch dran!« Er zählt zu den lebenden Legenden der Westfjorde. Als junger Kerl erkletterte er, Jahrzehnte vor »Erfindung« des Freeclimbing, einen vierhundert Meter hohen Vogelfelsen, der als uneinnehmbar galt. Und wenn drüben an der Westküste etwas gefeiert wurde, preschte er in acht Stunden über den Gletscher, tanzte bis in den Morgen hinein und ritt dann irgendwie wieder zurück. Auch seine Schafe musste Ragnar Jakobsson seinerzeit drei Tage lang zum Schlachthof treiben.

Längst verbringt auch seine Familie nur mehr die Sommer hier draußen. Den Eiderenten aber steigt Ragnar immer noch nach. Für ein Kilo Daunen muss er sechzig Nester erleichtern. Auch Spatel-, Pfeif- und Löffelenten, Raubmöwen und Eistaucher bevölkern die Bucht. Scharen brütender Seeschwalben betrachten das Tal als ihr alleiniges Revier und stoßen mit ihren spitzen Schnäbeln auf alles herab, was sich bewegt. Vom Gäste- zum Haupthaus sind es vielleicht hundert Meter, doch die geraten für uns zum Spießrutenlauf. Mit Helmen bewehrt hasten wir zum Frühstück und halten noch Zaunlatten wie Blitzableiter über unsere Köpfe.

Als wir schließlich weiterziehen, flattert die Wäsche waagrecht an der Leine. Das Gras wogt, die Mähnen fliegen. Wir saugen die Bilder gierig in uns ein, der vorletzte Tag bricht an. Klirrende Lavafelder wechseln mit hypnotisch grünem Sumpfland. Ab und zu passieren wir schläfrige Robben, die sich wie Meerjungfrauen auf ihren Felsen rekeln. Am Abend kommt noch einmal das Zelt zum Einsatz, in dem wir dann selbst wie die Kegelrobben dicht an dicht liegen.

In der Früh brechen wir zeitig auf, denn anders als Ragnar dürften wir für die Überquerung des gut neunhundert Meter hohen Drangajökull mindestens zehn Stunden brauchen. Durch eine totenstille Geröllwüste steigen wir auf, höher und immer höher. Ein gespenstisch kalter Wind versucht uns zu verscheuchen. Ein letztes Mal noch halten wir Rast, Schokotafeln und eine Rumbuddel gehen von Hand zu Hand. Dann endlich erreichen wir den Rand des Firns. Munter trotten die Pferde hinein und setzen dabei kraftsparend Huf um Huf in die Stapfen ihrer Vorgänger. Brav, Sunna, brav.

Bald setzt Schneeregen ein. Himmel und Gletscher verschmelzen zu einer arktischen Turbulenz, zu einem ungeheuren weißen Nichts. Ein Ritt über einen anderen Planeten: Bis zu den Nasenspitzen vermummt, ziehen wir als archaische Karawane über den spröden Firn. Schritt um Schritt. þórður hatte uns am Morgen zu beruhigen versucht: Spalten bildeten sich bei diesem Gletschertyp nur wenige, und wenn, dann weiter oben. Aber an einer Stelle schwenken wir dann doch in weitem Bogen nach unten ab.

Doch oben, unten, vorne, hinten – bedeutet das noch etwas? Der gleichförmige Trott und das allumfassende Weiß lassen uns fast in Trance fallen. Eine erhabene Gleichgültigkeit für alles, was nicht akut lebenswichtig ist, breitet sich innerlich aus. Im Sattel bleiben, Kräfte sparen, nicht erfrieren, nur darum geht es jetzt. Manchmal bricht eines der Pferde bis zum Bauch ein, doch sofort fasst es wieder Tritt, und die meiste Zeit über stapfen sie munter dahin. Sogar eher noch bereitwilliger als auf festem Boden, denn sie wissen, dass es heimwärts geht. Schritt um Schritt.

Nach zwei Stunden ragen die ersten Felsen aus dem Eis hervor. Wenig später bricht die Sonne durch und zaubert tief drunten eine silbrige Blässe auf den Kaldalón-Fjord. »Jetzt kann uns Dúna schon als schwarze Punkte auf dem Eisschild sehen«, freut sich þórður. »Nun kocht sie entweder Lammkeule oder Fischsuppe oder auch beides.« Und dann gibt es kein Halten mehr: In wilder Hatz fegen die Pferde die moosgepolsterten Hänge hinunter, hechten über Gräben, stürmen durch reißende Schmelzflüsse, jagen im Zickzack über Moränenhügel, auch die Packpferde mit ihren schaukelnden Lasten, alles drängt vorwärts, nur vorwärts, und so sausen wir denn als eine jubelnde Lawine zu Tal, schnurstracks auf Laugaland zu.

DURCHS WILDE RAJASTHAN

PFERDE, FÜRSTEN, JODHPURHOSEN

Es lief durch die Wüste; es lief durch die Berge; es lief durch die Schilfbetten; es lief, bis die Vorderbeine schmerzten. Es musste! Es lief durch das Langgras; lief durch das Kurzgras; lief durch die Wendekreise von Krebs und Steinbock; es lief, bis die Hinterbeine schmerzten. Es musste!

RUDYARD KIPLING,
Just So Stories

Ein altes Sprichwort aus Rajasthan empfiehlt »das Kamel für die Liebe, den Elefanten für das Glück, das Pferd für den Sieg«. Worin die erotische Funktion der Kamele besteht, lässt sich nicht ohne Weiteres bestimmen, vermutlich darin, dass die Liebenden mit ihrer Hilfe überhaupt zueinanderfinden. Dass Elefanten Glück bringen, braucht man keinem Hindu zu erklären: Der Elefantengott Ganesha wird immer dann angerufen, wenn eine Entscheidung ansteht oder etwas Neues beginnt. Doch das am meisten verehrte und verhätschelte Tier unter den dreien ist das Pferd, bevorzugt in seiner örtlichen Spielart, dem Marwaripferd. Benannt nach dem Fürstentum von Marwar, das der Maharadscha von Jodhpur einst regierte. Man braucht kein Pferdefachmann zu sein, um sie unter allen übrigen Rassen herauszukennen: an den krummen, sichelförmigen Ohren, deren Spitzen sich gelegentlich sogar berühren.