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Der große Roman
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Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-661-8

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Das Wort, das sie für immer trennte

Roman von Helga Winter

»Was will der denn?« fragte Ulla von Kirstein ihre Freundin Laetitia, allgemein nur Letty genannt. »Der sieht ja ordentlich feierlich aus.«

»Ach, Peter, keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht.« Letty zuckte die wohlgeformten Schultern. »Was machen wir heute? Schlag etwas vor. Wollen wir uns heimlich das Boot nehmen und segeln?«

»Deine Eltern haben es dir streng verboten, und ich weiß nicht recht…« Ulla machte ein nachdenkliches Gesicht. »Immerhin hast du das Boot schon zweimal zum Kentern gebracht«, erinnerte sie. »Ich kann deine Eltern verstehen. So ungefährlich ist es schließlich auch nicht, mitten auf dem See Schiffbruch zu erleiden.«

»Angsthase! Ich verstehe überhaupt nicht… Ja, was gibt es?« unterbrach sich Letty und schaute das eingetretene Hausmädchen fragend an.

»Die Herrschaften lassen das gnädige Fräulein bitten, nach unten zu kommen.« Käthe wurde rot, als Letty sie prüfend anschaute. »Es dreht sich um den Herrn von Kunatzki. Ich glaube, er will um Ihre Hand anhalten.«

»Der hat wohl nicht alle Tassen im Schrank«, meinte Letty kopfschüttelnd. »Also gut, folge ich dem Ruf meiner Regierung. Bin ja gespannt, was die alten Herrschaften wieder verkünden. Alles, was Spaß macht, ist bei denen verboten.«

Sie ging hinaus, und als Ulla ihr nachschaute, bewunderte sie wieder ihre Freundin. Letty von Striebeck besaß nicht nur ein ungewöhnlich schönes rassiges Gesicht, sondern auch eine Figur, von der jedes Mädchen träumt. Ulla stieß einen tiefen Seufzer aus, denn obwohl sie selbst recht hübsch war, wußte sie doch, daß sie sich mit Letty nicht messen konnte.

Ihre Freundin betrat unterdessen äußerlich unbekümmert den Salon, in dem ihre Eltern und Peter von Kunatzki sie erwarteten. Ihre Eltern machten strenge Gesichter, und prompt regte sich bei Letty das schlechte Gewissen. Das war nichts Neues bei ihr, sie hatte meistens ein schlechtes Gewissen, denn sie konnte sich nun einmal nicht an die vielen Verbote halten, die ihre Freiheit auf Schloß Striebeck einengten.

Sie begrüßte Peter von Kunatzki mit kameradschaftlichem Handschlag. Der junge Mann trug einen dunklen Anzug, und Letty fiel als erstes auf, daß seine etwas abstehenden Ohren vor Erregung glühten. »Nett, daß du uns einmal besuchst«, meinte sie leichthin.

»Herr von Kunatzki hat uns um deine Hand gebeten«, äußerte Graf Robert finster. »Und ich muß sagen, diese Werbung war für uns eine Überraschung.«

Letty senkte betreten den Kopf. »Das tut mir wahnsinnig leid«, behauptete sie. »Aber glaubt mir, ich habe Peter niemals ermutigt. Das mußt du doch auch zugeben«, wandte sie sich um Beistand bittend an ihren Freier.

Peter blickte sie verwirrt an. »Aber Letty… ich verstehe nicht… Ich dachte, wir wären uns einig…« Er konnte einfach nicht mehr zusammenhängend sprechen, so verstört war er. »Wir lieben uns doch«, schloß er hoffnungsvoll sein Gestammel ab.

»Nicht die Bohne«, behauptete Letty wegwerfend. »Ich habe dich wirklich gern, Peter, ich weiß, daß du ein feiner Kerl bist, aber lieben…«

Auf Vater Roberts Stirn bildeten sich ein paar tiefe Falten. Sein Blick forderte Herrn von Kunatzki zu einer Erklärung auf. Der junge Mann wurde noch verlegener.

»Aber wir haben uns doch geküßt«, stieß er hervor. »Und – und du warst immer so nett zu mir… viel netter als zu den anderen… und wir haben uns doch geküßt«, wiederholte er.

»Geküßt?« Letty zuckte die Achseln. »Mag sein, daß ich dich geküßt habe, das weiß ich nicht mehr so genau. Aber wenn man jeden heiraten wollte, den man küßte…« Diese Vorstellung erheiterte sie so, daß sie in herzhaftes Lachen ausbrach. »Tut mir leid, daß du dich meinetwegen in seelische Unkosten gestürzt hast, aber ich denke nicht ans Heiraten. Nun setz dich doch. Ich finde es schrecklich ungemütlich, wenn ihr alle hier steht. Das ist ja fast wie vor Gericht.«

»Ich verstehe nicht…« Peter warf einen flehenden Blick auf Graf von Striebeck. »Glauben Sie mir, ich war fest überzeugt, daß Letty mich liebt. Man küßt doch nicht Männer, die man nicht gern hat.«

Der Graf wandte den Blick verlegen zur Seite. »Ich verstehe Ihr Verwirrung«, sagte er. »Was ich nicht verstehe, ist meine Tochter. Glauben Sie mir, ich habe mich wirklich bemüht, Laetitia anders zu erziehen. Es tut mir leid, daß es mir nicht gelungen ist. Nun setzen Sie sich. Trinken wir noch ein Fläschchen Wein miteinander…«

Peter von Kunatzki schüttelte heftig den Kopf. Er sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Ich danke Ihnen… aber leider… ich habe keine Zeit, Sie verstehen…« Beim Sprechen ging er rückwärts auf die Tür zu und verneigte sich ein paarmal. »Ich bitte um Entschuldigung.« Er hatte die Tür erreicht, seine tastende, rückwärts greifende Hand spürte die Klinke. Noch eine letzte tiefe Verneigung, dann stürzte er hinaus.

»Was für ein komischer Vogel«, sagte Letty verwundert. »Er hätte doch ruhig noch einen Schluck mit uns trinken sollen. Was hast du denn Feines, Vati?«

Graf Robert musterte sie von oben bis unten. »Ich hätte mir niemals träumen lassen, daß ich mich meiner Tochter einmal so schämen müßte. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, Herrn von Kunatzki derartig zu ermutigen? Er stammt aus einer angesehenen Familie, und er ist ein Mann, der überall anklopfen kann, ohne befürchten zu müssen, einen Korb zu bekommen. Nur du schickst ihn fort, wie… einen dummen Jungen. Was hast du dir dabei gedacht?«

»Aber Robert«, mahnte seine Frau Irene. Sie kannte die seltenen Jähzornausbrüche des Gatten. So sehr Graf Striebeck sich in der Regel auch beherrschen konnte, manchmal platzte ihm der Kragen, und dann kannte man ihn kaum wieder.

»Misch dich nicht ein!« schrie Vater Robert seine Frau an. »Ab heute weht für Laetitia ein anderer Wind. Sie ist kein Kind mehr. Sie macht uns in der ganzen Umgebung unmöglich. Unsere Tochter küßt einen jungen Mann und erinnert sich nicht einmal daran!«

Die Stimme versagte ihm vor Erregung. »Aber das hört jetzt auf. Warte ab, mein liebes Kind! Geh erst einmal in dein Zimmer. Und wage nicht, es ohne meine Erlaubnis zu verlassen. Geh mir jetzt aus den Augen, ich kann deinen Anblick einfach nicht mehr ertragen.«

Frau Irene faßte bang den Arm des Gatten.

Letty schlich sich verstört zur Tür. »Vati, ich habe mir doch gar nichts dabei gedacht«, brachte sie als Entschuldigung hervor.

»Nichts dabei gedacht«, keuchte Graf Striebeck. »Auch das noch! Wer weiß, was man hinter dem Rücken meiner Tochter alles über sie spricht.«

Als letztes sah Letty noch, wie er sich schwer in einen Sessel fallen ließ und die Fäuste gegen die Stirn preßte. Sie floh förmlich durch die Halle die Treppe hinauf und atmete erst auf, als sie die Tür ihres Zimmers hinter sich geschlossen hatte.

»Du siehst aus, als wärest du eurem Schloßgespenst begegnet«, stellte Ulla von Kirstein verdutzt fest. »Was ist denn los?«

»Mir ist nicht nach Lachen zumute.«

Laetitia setzte sich auf die Couch und stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Peter wollte mich heiraten. Und weißt du, warum? Weil ich mich von ihm habe küssen lassen. Also – wäre die Geschichte nicht so ernst, ich könnte mich kringelig lachen.«

»Vielleicht liebt er dich«, sagte Ulla leise.

»Und…?« Letty zuckte die Achseln. »Man kann doch nicht jeden heiraten, der einen liebt. Wie oft haben sie mir das schon gesagt, daß sie ohne mich nicht leben können und all dieses Zeug. Mein Vater tat so, als müsse die Welt untergehen, nur weil ich Peter und ein paar andere geküßt habe.«

Ulla drehte den Kopf zur Seite, trat ans Fenster und zupfte an den Gardinen. »Es könnte sein«, meinte sie, »daß manche dein Verhalten… nun falsch verstehen.«

»Wie meinst du das?« fragte Letty hellwach. Es kam eigentlich selten vor, daß ihre Freundin Ulla einmal Kritik an ihr übte.

»Nun… man könnte dich für leichtfertig halten. Ein guter Ruf ist schnell zerstört. Zu reparieren ist er meistens nicht.«

»Das hätte direkt Vati sagen können.«

Letty schob die Unterlippe trotzig vor. »Meine alten Herrschaften sind spießig«, urteilte sie wegwerfend. »Sie haben keine Ahnung, daß die Jugend heute anders ist als zu ihrer Zeit. Mag sein, daß ein Kuß vor fünfzig Jahren eine Staatsaffäre war, aber heutzutage…«

Letty von Striebeck war nicht bereit, ein eventuelles Unrecht zuzugeben.

»Und nun will Vati eine große Schau abziehen. Erst einmal hat er mir Stubenarrest aufgebrummt. Stell dir vor, ich soll dieses Zimmer nicht verlassen, bis er es mir erlaubt. Direkt mittelalterlich! Jetzt gehe ich gerade. Kommst du mit? Ich nehme das Boot und segle ein bißchen auf dem See. Heute ist gerade der richtige Wind.«

»Es ist viel zu böig. Letty, sei doch vernünftig! Es hat keinen Zweck, daß du deine Eltern noch weiter aufbringst.«

»Ich weiß selbst, was ich zu tun habe. Ich brauche keinen Aufpasser mehr. Du hast ja nur Angst. Na ja, du bist eben das brave Mädchen aus guter Familie! Halt die Stellung, Mädchen, und wenn jemand nach mir fragt, ich bin segeln gegangen.« Sie kleidete sich beim Sprechen um und sah in ihren weißen Hosen und dem gleichfalls weißen Rollkragenpullover zum Anbeißen hübsch aus. Ulla verstand, weshalb die Männer Letty umschwärmten.

Selbst sie, die Lettys Schwächen gut kannte, konnte einfach nicht anders, als sie gern haben. Nur manchmal verstand sie die eigenwillige Art der Freundin nicht. Begriff Letty denn gar nicht, daß ihre Eltern im Recht waren, wenn sie sich über ihre etwas leichtfertige Lebensauffassung entsetzten?

*

Graf Striebeck riß die Tür zum Zimmer seiner Tochter auf. »Laetitia!« sagte er scharf.

Ulla schreckte zusammen. »Ihre Tochter, Herr Graf…«

»Wo ist Letty?« brüllte Vater Robert sie an. Die Zornadern an seinen Schläfen traten wie Stränge hervor. »Ich habe ihr verboten, das Zimmer zu verlassen. Wo steckt sie?«

Ulla senkte den Kopf. »Ich weiß nicht genau, vielleicht ist sie zum See gegangen.«

»Zum See?« wiederholte der Mann fassungslos. »Womöglich will sie segeln, und das bei diesem Wetter? Es ist ja fast Sturm.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Wenn Laetitia kommt, sagen Sie ihr, daß ich sie sofort sprechen möchte. Sofort!« Grußlos, wie er hereingekommen war, ging er auch wieder hinaus. Die Tür warf er hinter sich zu.

Ulla hatte Angst um ihre Freundin, die sich so unbekümmert benahm. Ihr war es immer gut gegangen, alles hatte man ihr ferngehalten. All die Schicksalsschläge, die sonst kaum einem Menschen erspart blieben, Letty hatte sie noch nicht erlebt.

Und anstatt dankbar zu sein, machte sie solche Sachen, dachte Ulla und schüttelte den Kopf. Letty wußte gar nicht, wieviel ein gutes Elternhaus wert war. Sie, Ulla von Kirstein, lebte anders. Ihre Eltern waren geschieden, und einen Teil des Jahres verbrachte sie bei der Mutter, den anderen beim Vater. Heimisch fühlte sie sich bei beiden nicht. Irgendwie war sie immer die Besucherin, die ein klein wenig störte.

Das sensible Mädchen litt unter diesem Zustand, und vielleicht lag es daran, daß sie schon früh das unbekümmerte Lachen verlernt hatte. Sie war genauso alt wie Laetitia, wirkte aber viel reifer und vernünftiger.

In der Schule hatten sie sich angefreundet, zwei gegensätzliche Mädchentypen, die sich doch sehr gut verstanden. Letty hatte nämlich trotz ihrer Oberflächlichkeit ein sehr gutes Herz, und Ulla tat ihr leid. Ulla hielt sich scheu von allen lauten Vergnügungen zurück. Aber schließlich hatte Letty es geschafft, Ullas Freundschaft zu erringen.

Seit jener Zeit war Ulla ein häufiger Gast auf Schloß Striebeck. Auch Laetitias Eltern begrüßten die Freundschaft der beiden, denn ihnen war klar, daß Ulla einen guten Einfluß auf ihre Tochter ausüben konnte.

Die Zeit verging, es begann schon zu dämmern, und noch immer war Letty nicht zurückgekehrt. Ob ihr vielleicht etwas passiert ist? Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Sie zog sich einen Mantel an und lief aus dem Haus.

Eine unerklärliche Unruhe trieb sie voran. Der Wind pfiff ihr ins Gesicht, heulte in ihren Ohren, und vielleicht lag es daran und an ihrer verständlichen Aufregung, daß sie den Wagen nicht hörte.

Erst an einer Wegbiegung bemerkte sie das Auto. Mit kreischenden Bremsen hielt der Wagen unmittelbar vor ihr.

»Können Sie nicht besser aufpassen?« schrie der Herr am Steuer sie wütend an.

»Ach, Sie sind es, Graf Wildhagen.« Ulla keuchte vom Laufen. »Verzeihen Sie, ich hatte Sie nicht gehört. Ich will zum See, meine Freundin…«

Mitten im Satz brach sie ab. Auf dem Rücksitz des Wagen lag Letty, die Augen geschlossen, das Haar naß. Es hing ihr in Strähnen ins Gesicht.

»Mein Gott«, flüsterte Ulla. »Ist sie…?«

»Nein, gottlob nicht. Sie muß sofort in ärztliche Behandlung. Steigen Sie ein.«

Axel von Wildhagen öffnete ihr von innen die andere Tür des Autos und forderte sie mit einem herrischen Wink auf, an seiner Seite Platz zu nehmen.

»Das Boot ist gekentert. Was für ein Wahnsinn, bei diesem Wind zu segeln! Ich traute meinen Augen nicht, als ich sie zufällig sah. Gottlob sprang der Motor meines Bootes sofort an. Ich weiß nicht, was sonst geschehen wäre«, schloß Axel von Wildhagen mit rauher Stimme.

Ulla wurde einen Moment übel vor Angst. Hatte sie nicht geahnt, daß heute noch irgendetwas geschehen würde? In tollem Tempo raste Graf Wildhagen über die Schlaglöcher dem Schlosse zu.

Auf starken Armen trug er Letty dann die breiten Stufen empor. Ulla öffnete ihm die Tür.

»Rufen Sie sofort einen Arzt an«, befahl Axel mit einer Stimme, der man anmerkte, daß sie gewohnt war zu befehlen.

Das Mädchen gehorchte eingeschüchtert.

Letty hatte die Augen noch nicht geöffnet. Ihr Kopf ruhte an der Brust des Mannes, der sie trug, als spürte er ihr Gewicht überhaupt nicht. Ulla ging neben ihm, und einmal sah sie zufällig in sein Gesicht. Ein Schmerz durchzuckte sie, wie sie meinte, ihn nie zuvor gespürt zu haben.

Liebe hatte auf seinem Antlitz gelegen, sehr viel Liebe und Zärtlichkeit, als er Laetitia anschaute. Auch er liebte sie also, wie jeder Mann, der sie kennenlernte, dachte Ulla. Für sie war Graf Wildhagen immer ein Ausnahmemensch gewesen, und nur deshalb, sagte sie sich, war sie so enttäuscht, daß auch er nicht imstande war, hinter Lettys hübscher Fassade das oberflächliche Mädchen zu sehen.

Frau Irene und Vater Robert stürzten fast gleichzeitig ins Zimmer. Das Gesicht der Mutter war von Angst gezeichnet. Vater Robert hatte sich etwas besser in der Gewalt, ihn verriet nur das nervöse Spiel seiner Finger.

Mit ein paar Sätzen informierte Wildhagen die Eltern über das, was sich draußen abgespielt hatte.

Ulla stellte fest, daß er seine Rolle in dem Drama bescheiden nur am Rande erwähnte.

»Ihr Boot ist allerdings wahrscheinlich verloren«, schloß Axel von Wildhagen bedauernd.

Mit einer Handbewegung gab Graf Robert zu verstehen, wie wenig ihm in diesem Moment an seinem Segelboot lag, auf das er sonst so stolz war.

Der Eintritt des Arztes unterbrach ihr Gespräch. Sie verließen das Zimmer.

»Sie sind ja ganz naß«, stellte Frau Irene erst jetzt fest. »Mußten Sie denn ins Wasser springen, um Letty herauszuholen?«

»Ja.«

»Und wenn das Boot in der Zeit abgetrieben worden wäre?« Die Gräfin schloß entsetzt die Augen, als sie sich diese Möglichkeit vorstellte.

»Es ist ja alles gutgegangen«, beruhigte Axel mit charmantem Lächeln.

Graf Robert bestand darauf, daß der junge Mann seine Kleider wechselte. Zehn Minuten später saß Axel wieder am Tisch, und Ulla stellte fest, daß der Anzug des Hausherrn sehr knapp saß. Erst jetzt fiel ihr auf, wie kräftig er war. Ein Bild von einem Mann, dachte sie. Und er liebt Letty.

Der Arzt beruhigte sie über den Zustand der Komteß. Er hatte ihr eine Spritze gegeben, wenn sie am nächsten Morgen aufwachte, dann würde sie sich wieder wohl fühlen.

»Ich möchte einmal nach ihr schauen.« Gräfin Irene erhob sich, und Ulla folgte ihrem Beispiel. »Darf ich mitkommen?« fragte sie bittend.

»Selbstverständlich, mein Kind.« Frau Irene strich ihrem jungen sympathischen Gast leicht über das Haar.

»Sorgen hat man mit seiner Tochter«, seufzte Graf Striebeck, als er mit Axel allein war. »Ich weiß manchmal nicht, was ich von Letty denken soll. Sie kann so liebenswert sein, und dann wiederum…. Manchmal habe ich direkt Angst, sie könne leichtfertig sein.«

»Ausgeschlossen«, widersprach Wildhagen temperamentvoll.

Seine Antwort war so schnell gekommen, daß Vater Robert stutzte und ihm einen nachdenklich prüfenden Blick zuwarf.

»Ihr Fräulein Tochter ist bezaubernd«, stellte Axel von Wildhagen fest. »Der Mann, der einmal das Glück hat, sie zu erringen, ist zu beneiden. Ich wünschte…«

»Was?« fragte Striebeck gespannt.

»Ich wünschte, meine Vorfahren hätten etwas besser gewirtschaftet und mir ein rundes Vermögen hinterlassen«, vollendete der junge Graf seinen Satz.

»Und wenn es so wäre, was würden Sie dann tun?« fragte Vater Robert hartnäckig.

Wildhagen lächelte traurig. »Ich würde eines Tages mit einem Blumenstrauß bewaffnet bei Ihnen antanzen und Sie bitten, mir Letty als Frau anzuvertrauen. Aber so, wie die Verhältnisse liegen… Meine Klitsche wirft gerade genügend ab, um gut davon leben zu können. Für Luxus reicht es nicht.«

»Geld haben wir genug«, stellte Robert von Striebeck nachdenklich fest. »Es kommt auf den Menschen an, Wildhagen.« Vater Robert preßte die Fingerspitzen auf die Tischplatte. »Wenn Sie mit einem Blumenstrauß bewaffnet bei mir aufkreuzen und mich um Letty bitten, ich würde Ihnen keinen Korb geben. Nur eine Bedingung müßte ich allerdings stellen.«

»Und die wäre?« fragte Graf Wildhagen gespannt. Er war blaß geworden, man sah ihm an, wie es in seinem Inneren arbeitete.

Graf Striebeck lächelte verständnisvoll. »Sie müßten mir versprechen, Letty nicht jeden verrückten Wunsch zu erfüllen, etwas härter zu ihr zu sein. Wenn Sie sich das zutrauen, lieber Wildhagen…«

»Ich liebe Letty. Ich wäre der glücklichste Mann der Welt, wenn sie mich heiraten würde. Haben Sie Ihre Worte wirklich ernst gemeint, Graf?«

»Ja.« Striebeck nickte nachdenklich. »Und ich weiß, daß meine Frau genauso denkt. Also wie ist es? Dürfen wir Sie morgen um elf Uhr erwarten?«

»Ich kann es noch gar nicht fassen.« Axel von Wildhagen schüttelte benommen den Kopf. »Ich hätte niemals damit gerechnet… und Letty, wird sie mich überhaupt wollen?« fiel ihm ein.

Das Gesicht des Grafen Striebeck verhärtete sich. »Darüber machen Sie sich keine Sorgen, lieber Wildhagen, Letty ist im Grunde genommen noch ein törichtes Kind und braucht eine harte Hand.«

»Ich werde alles versuchen, um Letty glücklich zu machen«, versprach Wildhagen, und Vater Robert glaubte ihm aufs Wort.

»Seien Sie vor allem nicht zu weich, hören Sie! Es ist schwer, Letty etwas abzuschlagen, wer wüßte das besser als ich.«

Graf Wildhagen war viel zu aufgewühlt, um für diese Ermahnung eine Entgegnung zu haben. Letty, das Mädchen, für das er seit langem heimlich schwärmte, Letty würde seine Frau werden? Er konnte so viel Glück einfach nicht fassen.

Als Letty am nächsten Morgen aus dem Schlaf aufwachte, fühlte sie sich sterbenselend. Sie versuchte, sich zu erinnern, was geschehen war.

Erst als Ulla, durch ihr Stöhnen alarmiert, in ihr Zimmer huschte, erinnerte sie sich wieder.

»Du kannst froh sein, daß Graf Wildhagen dich gerettet hat«, sagte Ulla. Sie vermied es, Letty beim Sprechen anzuschauen. »Ich hoffe, es geht dir jetzt wieder gut«, sagte sie mit spröder Stimme.

»Das hält sich in erträglichen Grenzen. Du, waren meine Eltern sehr böse?« fragte Letty doch ein wenig ängstlich. »Ich verstehe gar nicht, wie das alles so kommen konnte. Anfangs ging das Boot wunderbar unter meiner Hand, und nur diese eine Bö… Das kann schließlich jedem passieren. Mach nicht solch ein Gouvernantengesicht. Manchmal bist du genauso altmodisch wie meine Eltern. Ich möchte jetzt aufstehen. Gibt es denn sonst noch etwas Neues?«

»Ja«, sagte Ulla mit dünner Stimme.

»Graf Wildhagen hat um deine Hand angehalten.«

Letty, die schon beide Beine aus dem Bett geschwungen hatte, schüttelte konsterniert den Kopf. »Ist er denn verrückt geworden? Ich denke gar nicht daran, ihn zu heiraten. Er ist mir viel zu langweilig. Hat Vater ihm seinen Korb schon gegeben oder überläßt er das mir?«

»Ich glaube, dein Vater ist mit Graf Wildhagen sehr einverstanden.«

»Aber ich soll ihn doch heiraten, nicht er.« Letty schüttelte den Kopf. »Was für eine verrückte Idee, daß ich den Wildhagen heiraten soll. Ausgerechnet den. Ich glaube, der kann noch nicht einmal richtig tanzen.«

»Aber was hat es denn damit zu tun?« fragte Ulla verstört. »Wildhagen ist zuverlässig, er wird seiner Frau bestimmt treu sein, er wird sie niemals im Stich lassen…«

»Puh, wie langweilig das klingt, was du da alles aufzählst. Wenn dieser Musterknabe dir so gut gefällt, dann heirate du ihn doch.«

»Das war gemein!« schrie Ulla die Freundin an. »Du hast kein Herz. Ich will nichts mehr von dir wissen.«

»Was hat die nur?« fragte Letty laut, als Ulla hinausgestürzt war und in ihrer Erregung die Tür hinter sich zuknallte.

Kopfschüttelnd sah sie ihr nach, doch als sie etwas später unter der Brause stand, hatte sie Ulla und deren seltsames Benehmen schon wieder vergessen.

Die junge Dame fühlte sich munter und unternehmungslustig, als sie bald darauf zum Frühstück nach unten ging.

Ihr Vater schien sie erwartet zu haben. Um diese Zeit pflegte er nämlich sonst die Arbeit draußen zu überwachen. Einen Verwalter gab es auf Schloß Striebeck nicht, denn Vater Robert war Landwirt mit Leib und Seele und verstand seine Arbeit.

»Guten Morgen«, wünschte Letty gewollt munter. »Hoffentlich habt ihr alle gut geschlafen. War wohl gestern ein kleiner Schreck für euch, als der Wildhagen mich nach Hause brachte? Aber so schlimm, wie es aussah, war es gar nicht. Ich wäre auch ohne ihn an Land gekommen. Du, Vati, was ist eigentlich aus dem Boot geworden?«

»Abgesoffen«, erwiderte der alte Herr kurz. »Hatte ich dir nicht verboten, das Zimmer zu verlassen?«

Letty schob die Unterlippe schmollend vor. »Ich bin kein Kind mehr, du kannst mir nicht einfach Stubenarrest aufbrummen. Was gibt es denn heute zum Frühstück? Ich möchte gern Schinken und ein gebratenes Ei haben. Würdest du es dem Mädchen sagen, Vati?«

Letty lächelte ihrem Vater in ihrer charmantesten Art zu. Diesmal war es allerdings verschwendete Liebesmüh, denn Graf Robert schaute sie nur finster an, ohne ihr Lächeln zu erwidern.

»So wie jetzt kann es mit dir nicht weitergehen. Du wirst heiraten.«

»Was werde ich?« fragte Letty und lächelte ironisch. »Du irrst dich, Vater, ich habe keineswegs die Absicht, jetzt schon zu heiraten. Ich bin noch viel zu jung und will mein Leben außerdem erst richtig genießen. Was hat man denn davon, wenn man verheiratet ist? Den langweiligen Haushalt, womöglich auch noch Kinder…«

»Du wirst den Grafen Wildhagen heiraten«, erklärte Graf Striebeck in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Auf ihre kindischen Worte ging er überhaupt nicht ein. »Wildhagen wird heute nachmittag kommen und mit dir sprechen. Ich erwarte, daß du ihn so empfängst, wie es sich für eine Komteß Striebeck gehört. Eure Hochzeit könnt ihr im Frühjahr feiern, Weihnachten werdet ihr euch verloben.«

»Ich denke ja nicht daran!« Flammende Empörung loderte in Lettys hübschen, tiefblauen Augen. »Ich bin doch nicht verrückt. Schlag dir den Gedanken aus dem Kopf! Und wenn Wildhagen heute nachmittag kommt, dann kannst du ihm ja sagen, ich danke ihm für seine Mühe, aber seine Motorbootfahrt, um mich an Land zu ziehen, berechtige ihn nicht, gleich ganz über mich zu verfügen.«

In Striebecks Gesicht arbeitete es. »Mir scheint, du hast immer noch nicht begriffen, daß es mir diesmal Ernst ist«, stellte er grollend fest. »Du kannst froh sein, daß ein Ehrenmann wie Wildhagen dich heiraten will. Er hat mein Wort, dabei bleibt es!«

»Aber Vati, sei doch nicht so schrecklich böse mit mir.« Letty flog ihm an die Brust und schlang die Arme um seinen Nacken. »Du bist doch mein liebster, bester Vati. Du kannst doch nicht wollen, daß ich unglücklich werde. Ich habe dich und Mutter so schrecklich lieb und möchte bei euch bleiben. Nicht wahr, Vati, das sagst du auch dem Wildhagen.«

Es war nicht leicht für Robert von Striebeck, dem Betteln seiner Tochter zu widerstehen. Der kleine Racker wußte genau, wie er den Vater zu behandeln hatte.

»Aber wir meinen es doch nur gut mit dir.«

Seine Worte verrieten Letty, daß er weich wurde. Sie küßte ihn, wohin sie ihn traf. »Ich wußte doch, daß ich bei euch bleiben darf«, rief sie lachend. »Und jetzt sprechen wir nicht mehr von diesem steifen Wildhagen, einverstanden?«

Sie hat sich leichtsinnig in Lebensgefahr begeben. Ohne Wildhagen säße sie mir jetzt nicht am Tisch gegenüber, dachte Graf Robert. Er spürte seine Vernunft zurückkehren. »Wildhagen hat mein Wort«, sagte er steif. »Weihnachten ist Verlobung, dabei bleibt es.«

Letty machte große Augen vor Erstaunen. »Aber du hast mir doch gerade versprochen, nicht mehr von ihm zu sprechen«, sagte sie mit reizend wirkendem Schmollmund.

»Wildhagen hat mein Wort«, wiederholte Graf Robert monoton.

»Ich nehme ihn nicht! Ich will nur einen Mann, den ich mir selbst aussuche.«

»Überleg es dir gut. Wenn du dich weigerst, unseren Wunsch zu erfüllen, dann wirst du das Schloß verlassen. Dann haben wir keine Tochter mehr. Ich habe es satt, mir von dir immer auf der Nase herumtanzen zu lassen. Du hast den Bogen überspannt. Richte dich gefälligst danach.«

»Was, ihr wollt mich rauswerfen?« Letty schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich glaube, du weißt nicht, was du sagst.«

»Zum Donnerwetter noch mal, wie sprichst du eigentlich mit deinem Vater?« tobte Graf Striebeck. Er holte aus und haute Letty eine kräftige Ohrfeige herunter. »Das ist für deine Unverschämtheit!« schrie er. »Noch ein Wort, und du bekommst noch mehr Ohrfeigen. Wir haben dich immer zu sehr verwöhnt, aber jetzt ist Schluß damit, ein für allemal Schluß! Entweder du parierst oder du packst deine Sachen und verschwindest.«

»Das werde ich dir nie vergessen! Du hast mich geschlagen!« Letty wich Schritt für Schritt vor dem Vater zurück. »Du bist ein Unmensch! Ich will nichts mehr von dir wissen. Ich werde gehen, damit du es nur weißt, und ich werde niemals wiederkommen.«

Graf Striebeck wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn. »Merke dir, Letty, du betrittst dieses Haus erst wieder, wenn du zur Vernunft gekommen bist. Und nun geh. Es ist besser, wenn wir uns eine Zeitlang nicht sehen. Ich werde Wildhagen sagen, daß du plötzlich zu einer erkrankten Freundin fahren mußtest. Er wird auf dich warten.«

»Dann hat er wenigstens was zu tun.«

»Geh jetzt und hör auf, dich so kindisch aufzuführen.«

»Ich habe immer gedacht, ich könnte auf meinen Vater stolz sein. Jetzt weiß ich, daß man über dich nur lachen kann, lachen…« Letty stieß tatsächlich ein hysterisches Gelächter aus.

Der Kopf des Mannes rötete sich beängstigend. »Überspann den Bogen nicht«, sagte er drohend. Dann ging er. Er wußte, daß es für ihn und seine Tochter besser war, wenn sie dieses Gespräch nicht fortsetzten. Es wäre sonst leicht möglich gewesen, daß einer von ihnen ein Wort sprechen würde, das sie für immer trennte.

*

»Was willst du tun?« fragte Ulla die Freundin verzagt, als Letty ihr von dem Verhalten ihres Vaters erzählt hatte.

»Ich werde packen und von hier verschwinden. Ich lasse mich nicht verheiraten.«

»Und wovon willst du leben?«

Letty von Striebeck lachte kurz. »Geld habe ich genug, Gott sei Dank. Meine Großmutter mütterlicherseits hat mir ihr Vermögen hinterlassen. Finanziell bin ich unabhängig, und zu Kreuze kriechen werde ich nie. Kommst du mit?« fragte Letty lässig. »Wir können uns ein paar schöne Monate machen, bis mein lieber Vater mich reumütig zurückruft. Endlich einmal kann ich reisen, wohin ich will, niemand wird mich bevormunden. Ach, du glaubst gar nicht, wie ich das genießen werde. Sonst haben sie mich ja nie allein fortgelassen. Ich war ja immer noch die Kleine, das Kind, auf das man aufpassen mußte. Komm mit, Ulla.«

»Ich weiß nicht recht…« Einerseits reizte es Ulla selbstverständlich, einmal ungebunden reisen zu dürfen, andererseits war sie schließlich Gast der Striebecks und scheute sich ihnen in den Rücken zu fallen.

»Du hast nur Angst!« hetzte Letty. »Was kann uns denn schon passieren? Solange das Geld reicht, wird alles in bester Ordnung sein. Es war schon immer mein Wunsch, einmal etwas von der Welt zu sehen. Und jetzt ist gerade die richtige Jahreszeit, nach Südfrankreich, nach Spanien zu fahren. Dort kann man noch baden. Vielleicht machen wir noch einen Abstecher nach Nordafrika…«

»Ich muß es mir noch einmal überlegen«, murmelte Ulla und verließ Letty, die jetzt beim Packen war.

Ist sie tatsächlich so oberflächlich oder spielt sie ihre Unbekümmertheit nur? fragte sich Ulla auf dem Flur. Sie war nämlich immer der Meinung gewesen, daß Letty trotz des Frohsinns, den sie ausstrahlte, ein tief veranlagter Mensch war.

»Sie sehen so traurig aus.« Gräfin Irenes Stimme riß sie aus ihren Gedanken.

Ulla zuckte schuldbewußt zusammen. »Ich habe Sie gar nicht kommen hören«, murmelte sie.

»Ich wollte gerade zu Letty. Sie haben doch Einfluß auf unsere Tochter, können Sie nicht versuchen, sie dahin zu bringen, sich bei ihrem Vater zu entschuldigen und Herrn von Wildhagen zu heiraten? Wildhagen ist wirklich ein Mann, wie ihn ein Mädchen sich nicht besser wünschen könnte. Außerdem liebt er Letty.«

Ullas Augen wurden feucht. »Ich weiß«, sagte sie. »Aber Letty will ihn nicht. Sie will verreisen. Und sie hat mich gebeten, sie zu begleiten.«

»Was für ein Unsinn!« Gräfin Irene versuchte, wenn auch vergeblich, ihre Bestürzung hinter einem Lächeln zu verbergen. »Ich werde mal mit Letty reden.«

Dann betrat sie das Zimmer ihrer Tochter. Letty wird bleiben und Axel heiraten, dachte Ulla und warf sich todunglücklich auf ihr Bett. Natürlich gönne ich ihr diese Ehe, ich weiß ja, was für ein prächtiger Mensch sie ist, nur… warum muß es gerade Axel sein?

Sie wußte nicht, wie lange sie so gelegen hatte, als jemand ihr die Hand auf die Schulter legte. Mit einem erstickten Schrei fuhr Ulla hoch.

»Ich bin es nur«, sagte Gräfin Irene und tupfte sich verstohlen die Augenwinkel trocken. »Ich habe mit Letty gesprochen, aber sie will nicht hören. Sie packt, und… sie will noch heute fahren. Und mein Mann will auch nicht nachgeben. Wildhagen hat sein Wort, und ein Striebeck hält sein Wort, hat er mir gesagt. Fräulein von Kirstein… ich habe eine Bitte.«

»Ja?« fragte Ulla.

»Begleiten Sie unsere Kleine und passen Sie auf, daß sie nicht zu viele Dummheiten macht. Und wenn Letty einmal Hilfe braucht, dann wissen Sie ja, wo Sie uns erreichen können. Wollen Sie mir die Liebe antun und mit ihr fahren?«

Ullas Herz klopfte zum Zerspringen hart. War das nicht wie ein Wunder? Würde es etwas Besseres geben als solch eine Reise, um Axel von Wildhagen zu vergessen?

»Es ist ein Opfer, um das ich Sie bitte.«

Die Gräfin tupfte sich wieder die Augenwinkel. »Aber ich wüßte sonst niemanden, zu dem ich so viel Vertrauen hätte wie zu Ihnen.«

»Ich begleite Letty gern, wenn es Ihnen recht ist«, beeilte sich Ulla zu versichern. Sie schämte sich fast ein wenig, als die Gräfin sie dafür liebevoll auf die Wangen küßte.

»Dann bin ich beruhigt. Und, nicht wahr, wenn Letty Dummheiten macht, rufen Sie uns an oder schicken Sie ein Telegramm. Wir werden sofort kommen.«

Dann fügte sie etwas verlegen hinzu: »Ich weiß, daß Sie… falls Sie Auslagen haben…« Gräfin Irene drückte der verdutzten Ulla einen Briefumschlag in die Hand. »Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse?« fragte sie, erhob sich und verließ eilig das Zimmer.

Verwirrt öffnete Ulla den Umschlag. Er enthielt fünftausend Mark in großen Scheinen.

Ein erleichtertes Lächeln legte sich um ihren Mund, als sie die Scheine in ihre Handtasche stopfte. Es war nett von Gräfin Irene, ihr Geld zu geben, damit sie nicht ganz und gar von Letty abhängig war.

»Nun, hast du es dir überlegt?« fragte ihre Freundin recht kurz, als sie ins Zimmer zurückkehrte. »Ich bin nämlich fertig. Wir nehmen den Mercedes, der ist geräumig, und außerdem gibt er am meisten her.«

»Ja, ich komme mit. Warte noch eine halbe Stunde, dann habe ich meine Sachen auch gepackt. Letty, hast du dir deinen Entschluß auch reiflich überlegt? Du weißt, wie nachtragend dein Vater sein kann. Verdirb es nicht mit ihm.«

»Ich lasse mich nicht verheiraten. Außerdem hat er mich geohrfeigt, das vergesse ich ihm niemals. Pack deine Sachen und red nicht so viel. Ich bleibe keine Nacht mehr auf Striebeck.«

Eine halbe Stunde später trug ein Diener tatsächlich die Koffer der beiden jungen Damen aus dem Schloß. Der Mercedes stand blitzblank geputzt vor der Freitreppe, und Letty betrachtete ihn voller Stolz. Allerdings konnte einem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, daß ihr Blick immer wieder verstohlen das Schloßportal suchte. Sie können mich doch nicht einfach ohne Abschied gehen lassen, dachte sie. Sie müssen doch noch irgendetwas sagen. Mich zum Beispiel bitten, zu bleiben.

Aber niemand ließ sich sehen. Ulla trat aus dem Herrenhaus, und danach schloß sich das Portal. Letty ahnte nicht, daß Graf Robert seine Frau fast mit Gewalt daran gehindert hatte, sich von ihrer Tochter zu verabschieden.

»Es kommt überhaupt nicht in Frage, daß du diesem dummen Gör nachläufst und ihm womöglich noch gute Worte gibst«, hatte er gegrollt und seiner Frau den Weg zur Tür versperrt. »Sie wird sich schon melden, wenn es ihr schlecht geht, warte nur ab.«

»Robert, sie ist unsere Einzige. Wenn ihr unterwegs nun etwas zustößt…«

»Unkraut verdirbt nicht«, knurrte der Graf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür.

»Nimm es nicht so schwer, Irenchen«, sagte er und schloß sie behutsam in die Arme. »Glaube mir, es ging nicht anders. Sie darf nicht immer mit dem Kopf durch die Wand. Sie wird zurückkehren, wenn sie draußen in der Welt erst einmal erkennt, wohin sie gehört. Komm, wir trinken einen Kognak«, schlug er dann vor. »Wir haben ihn beide nötig.«

»Sie haben sich nicht von mir verabschiedet«, sagte Letty im gleichen Augenblick mit leiser Stimme. »Es ist ihnen also tatsächlich Ernst.«

»Ich glaube nicht«, widersprach Ulla. Sie hatte sich auf dem Vordersitz ganz klein gemacht und den Kopf wie fröstelnd zwischen die Schultern gezogen. »Du brauchtest nur das zu tun, was dein Vater von dir will. Und er meint es gut mit dir.«

»Nein!« sagte Letty hart, und in ihrer Erregung trat sie das Gaspedal so stark durch, daß der schwere Wagen einen Satz nach vorn machte.

Sie fuhren gen Süden, über die Autobahn, dann über die schmalen Serpentinen des Brenners nach Italien. Letty fuhr, als wolle sie vor etwas fliehen. Aber mit der höherstehenden Sonne, mit der freundlichen Landschaft jenseits der Alpen wurde auch ihre Stimmung wieder besser.

»Wohin wollen wir eigentlich?« fragte Ulla am dritten Tag ihrer Fahrt.

Letty lachte. »Weiß ich nicht. Immer gen Süden. Und in Sizilien kehren wir dann wieder um. Ist es denn wichtig, wo man ist? Wie gut, daß wir unser Badezeug mitgenommen haben.«

Die Tage wurden zu Wochen, zu Monaten, die beiden jungen Damen wurden von der sizilianischen Sonne dunkelbraun gebrannt, und Letty schlug vor, die Nase ihres braven Autos zur Abwechslung mal gen Norden zu richten. »Fahren wir an die Riviera. Und von dort aus dann weiter nach Spanien. Einverstanden?«

Ulla von Kirstein blieb nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken. Es war für sie klar, daß auch Letty die Ungebundenheit der völligen Freiheit keineswegs genoß, wenn sie auch so tat.

*

Das Frühjahr verbrachten die beiden jungen Damen in San Remo. Letty hatte sich ein kleines Haus gemietet, und sie kochten sich ihr Essen selbst. »Es wird Zeit, daß wir beide uns ein wenig seßhaft machen«, hatte sie erklärt.

Ob sie schon anfangen mußte zu sparen? dachte Ulla. In den letzten Monaten hatte Letty nämlich das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinausgeworfen. Und auch eine Erbschaft nahm schließlich einmal ein Ende, wenn man das Vermögen so vergeudete, wie Letty es getan hatte.

Immer häufiger überraschte Ulla ihre Freundin dabei, wie sie in der warmen Sonne saß und grübelnd vor sich hinstarrte. Ob sie schon bereut, die Heimat Hals über Kopf verlassen zu haben? fragte sie sich. Es schien ja fast so.

Laetitia allerdings hätte niemals zugegeben, daß sie ihre Eltern und das Gut schmerzlich vermißte.

»Jetzt werden bei uns zu Hause die Buchen grün«, sagte sie eines Tages, ganz in Gedanken versunken. »Und das Wintergetreide steht schon ein paar Zentimeter hoch… Ob sie noch manchmal an mich denken?«

»Ganz bestimmt«, versicherte Ulla eifrig. Sie fing einen mißtrauischen Blick der Freundin auf und zwang sich zu einem harmlosen Lächeln. »Die beiden lieben dich doch. Vergiß deinen Dickkopf und kehre nach Striebeck zurück. Sei vernünftig!«

»Und dort soll ich dann den schrecklichen Wildhagen heiraten«, murmelte Letty und schüttelte den Kopf. »Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Erst wenn mein Vater mir zusagt, daß ich ihn nicht zu heiraten brauche, wird er mich wiedersehen.«

»Das tut er bestimmt nicht«, platzte Ulla heraus und wurde rot, als Letty sie mißtrauisch musterte.

»Schreibst du ihnen etwa?« wollte die junge Komteß wissen. »Nun raus mit der Sprache, gestehe die Wahrheit!«

Ulla warf den Kopf in den Nacken. »Ab und zu habe ich deinen Eltern geschrieben. Hast du etwas dagegen?«

Letty schüttelte den Kopf. »Mich geht es ja nichts an, was du tust. Wie geht es ihnen denn?«

»Angeblich gut. Aber sie vermissen dich sehr, Letty. Auch dein Vater.«

»Dann soll er mir schreiben und mich bitten, nach Striebeck zurückzukommen.«

»Graf Wildhagen… ist häufiger Gast bei euch«, fuhr Ulla gepreßt fort. »Ich glaube, dein Vater besteht nach wie vor auf seiner Absicht…«

»Genug!« fuhr Letty hoch. Ihre Augen blitzten. »Ich will nichts mehr davon hören. Wollen wir heute einmal baden? Uns unter das Volk mischen?« Ihr Ton sollte scherzhaft klingen, aber ganz schaffte sie es nicht.

»Meinetwegen«, gab Ulla lustlos zu. Das ungebundene Leben, das sie anfangs gereizt hatte, war auf die Dauer langweilig geworden.

Uneingestanden sehnten die beiden jungen Damen sich nach Pflichten. Aber um nichts in der Welt hätte Letty das zugegeben.

Den Badeanzug unter dem Kleid, fuhren sie ans Meer hinunter. Trotz der frühen Jahreszeit herrschte schon allerhand Betrieb.

»Sieh an, die neue Attraktion.« Mit einer Kopfbewegung wies Letty auf das kleine, schnelle Motorboot, das eine junge Dame auf Wasserskiern hinter sich herzog. »Solch ein Boot möchte ich auch gern haben. Wasserskilaufen muß viel Spaß machen.«

»Mag sein. Vielleicht kann man solch ein Boot mieten.« Auch Ulla hätte diesen neuen Sport gern einmal ausprobiert. »Dort hinten steht ein Schild neben der Dreiecksfahne.«

»Der Kerl ist verrückt geworden«, schnob Letty, als sie die Preise las. »Umgerechnet will der zehn Mark für eine Fahrt haben. Und da kommt er schon zurück, die Fahrten bei ihm sind recht kurz. Auf die Art und Weise muß der Mann ja reich werden.«

Sie gingen auf den Mann zu, der von einer Schar Frauen umringt war.

»Er sieht nicht schlecht aus«, stellte Ulla von Kirstein fest. Ihre Bemerkung war entschieden untertrieben, denn der junge Mann im Boot sah ungewöhnlich gut aus, eine blendende Erscheinung. Wenn er lachte, und das schien er meistens zu tun, dann wirkte sein Gesicht wie das eines vergnügten Jungen.

»Es tut mir leid, meine Damen, aber eine kann nur zur Zeit laufen. Wollen Sie es jetzt versuchen, Contessa?« wandte er sich an eine aus dem Kreis.

Das Stimmengewirr der anderen schwoll sofort an. Offenbar war man gar nicht damit einverstanden, daß er die Contessa bevorzugte. Aber den jungen Mann schien der Protest nicht zu stören. Mit ein paar lachenden Worten beschwichtigte er die durcheinander redenden Damen.

»Schrecklich, solch ein Getue um einen Mann.« Letty schüttelte empört den Kopf. »Nur weil er ein bißchen besser aussieht als die meisten anderen, drängen sich diese Gänse, ihm ihr Geld oder vielleicht mehr das Geld ihrer Männer in den Rachen zu werfen.«

»Ist Wolf nicht bezaubernd?« fragte eine Frau in Lettys Nähe eine andere. »Also, wenn er einen so anschaut mit seinen stahlblauen Augen…«